Gehalten von Gott – engagiert für die Menschen – Eine Rückschau auf Hans Küng „Christ sein“

30 Jahre nach seinem Erscheinen (2006) ist „Christ sein“ von Hans Küng immer noch ein hoch umstrittenes theologisches Buch. Sein Ziel war es, die klassisch-metaphysische Christuslehre historisch zu verantworten, so vom Kopf auf die Füße zu stellen und Interessierten verständlich zu machen, worum es in der Lebenspraxis Jesus geht.

Einleitung: Zeuge des Umbruchs

Neue Fundamente gesucht ‑ Anfrage zur Unfehlbarkeit – Erzählende Theologie ­ Ohne Überfremdung

Das Buch „Christ sein“ von Hans Küng zählt zu den erstaunlichsten katholisch-theologischen Büchern nicht nur der 1970er Jahre, sondern der Epoche nach dem 2. Weltkrieg überhaupt. Der Vorgabe der Veranstalter gemäß möchte ich es zum Vergleich mit der „Einführung ins Christentum“ von Joseph Ratzinger (1968) und der „Einführung in den Glauben“ von Walter Kasper (1972) darstellen. In den Monaten nach seinem Erscheinen (1974/75) war das öffentliche Echo enorm, wie sich aus Bestseller-Listen, aus der Fülle der Rezensionen und aus den bald einsetzenden Reaktionen der katholischen Amtskirche ablesen lässt. Allerdings hat die katholische Theologie den Entwurf zu deren eigenem Schaden bis heute noch nicht rezipiert.

Die zu beobachtende neue Rückkehr zu transzendental-theologischen Reflexionen führte in der Regel zu hochkomplizierten, unendlich reflexiven Traktaten. Sie kann nur noch jemand verstehen, der zuvor einige Jahre antikes Denken, idealistische Philosophie und Martin Heidegger studiert hat. Anstatt den Mut zu neuen Ansätzen zu erproben, treibt man die Widersprüche und offenen Fragen der klassisch-antiken Trinitätslehre und Christologie weiter vorangetrieben, dies ohne sichtbaren Erfolg. Der Preis ist eine Unverständlichkeit, die letztlich dem Verstehen des christlichen Glaubens schadet. Ich bin kein Anwalt einer Sprache, die um der Wirkung willen Oberflächlichkeit und Banalität in Kauf nimmt. Genaues und differenziertes Denken haben wir bitter nötig. Aber ich bin davon überzeugt, dass unsere Glaubenssprache tief in die Sprache unserer Kultur eintauchen und es mit ihr aufnehmen muss. Insofern ist öffentlicher Erfolg kein hinreichendes Kriterium, aber ein wichtiger Hinweis auf die öffentliche Wahrheitskraft einer Sprache, eines Buches, einer Theologie.

Der Beginn des Buches „Christ sein“ von Hans Küng fällt in eine für ihn dramatische Zeit. Die Verwirklichungen der Reformvorhaben des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) hatten nur zögernd begonnen und wurden – wie sich allmählich abzeichnen sollte – von der Kurie erfolgreich blockiert. Küngs Intervention zur Frage der Unfehlbarkeit (1970) musste zu Konflikten führen; das war vorauszusehen. Allerdings erwartete er sie in Form theologischer Diskussion und Argumentation. Ihm war schon damals klar: Die Anfrage an den päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruch ließ sich nicht auf Machtfragen beschränkten, sondern provozierte tiefgreifende hermeneutische Weichenstellungen; sie erforderte eine theologische Klärung der christlichen Fundamente. Zudem war die Frage nach dem „historischen Jesus“ in den sechziger Jahren intensiv und vielseitig besprochen worden. Nicht mehr die Renovierung klassischer Theologie, nicht einfach eine fromme Selbstvergewisserung in unruhiger Zeit war angesagt, sondern eine Verständigung über den Kern des christlichen Glaubens, dies in einer Kultur, der tiefe Brüche und Umbrüche bevorstanden. Zur Vorbereitung des Unternehmens hält Küng zum SS 1970 ein Seminar mit dem Titel: „Was ist die christliche Botschaft?“.

Konkret: Pünktlich zum 100. Jahrestag der Unfehlbarkeitsdefinition vom 18. Juli 1870 lag Küngs Unfehlbarkeitsanfrage der Öffentlichkeit vor. Im August erschienen die ersten Rezensionen. Am 11. September schreibt Karl Lehmann in der katholischen Wochenzeitung „Publik“ einen kritischen Artikel mit vorsichtigen Andeutungen eines heraufziehenden Konflikts, den er wohl nicht nur geahnt hat. Karl Rahner beginnt in denselben Tagen, wie wir heute wissen, sich seinen Ärger über das Buch von der Seele zu schreiben; er könne, wie es da hieß, mit Küng nur noch wie mit einem „liberalen Protestanten“ reden. Bis heute sollte dieses schlimme Wort seine Wirkung behalten und jede innerkatholische Konsensmöglichkeit zerstören. In denselben Tagen präsentiert Küng in Brüssel auf dem ersten internationalen Kongress von Concilium – wohlgemerkt im Beisein von K. Rahner ‑ einen Text von 20 Minuten über den Jesus der Geschichte; es ist das Grundkonzept von „Christ sein“. Gegenwind erzeugten auf diesem Kongress aber weder Karl Rahner noch andere Kollegen von der theologischen Zunft, sondern eine junge Garde kritischer, politisch orientierter, großenteils lateinamerikanischer Theologen, die eine Überwindung dieses bürgerlichen Denkens forderten. Lehramtstheologie also hier, Befreiungstheologie dort. Was war zu tun?

Küng fühlte sich in seinem Unternehmen bestärkt. Ein Ausweg aus den Polarisierungen war zu finden; er wollte kirchliche Binnenfragen ebenso wie gesellschaftliche Strukturfragen ernstnehmen, ohne dass sie in ihrer Eigendynamik dominierten. Mit Bedacht mussten wir uns ebenso von den Denkfiguren der antiken Philosophie wie vom Rationalismus der Aufklärung lösen, ohne damit geschichtliche Kontinuität einerseits und nüchterne Rationalität andererseits zu verwerfen. Die für menschliche und religiöse Identität hohe Bedeutung des Erinnerns und Erzählens lag zu Beginn der siebziger Jahre in der Luft[1]. Küng greift den Grundgedanken einer erzählenden (also: „narrativen“) Theologie konsequent auf und erwartet von ihrer Erarbeitung eine neue Basis, die für die Zukunft tragen sollte.

Küng kann die schwierigen Auseinandersetzungen um die Unfehlbarkeitsfrage und die moderne theologische Rationalitätsproblematik also im Bewusstsein beginnen, dass ein königlicher Ausweg möglich ist. Er würde nicht darauf angewiesen sein, die großen Formeln der antiken Christologie noch einmal auszulegen, vielleicht etwas kritischer und noch komplexer zu interpretieren! Er weiß sich einem tiefer liegenden Fundament auf der Spur. Zunächst erzählt er, wer Jesus war, was er verkündete, tat, erlitt und was den Jüngern an Ostern widerfuhr. Es musste der Mühe wert sein, eine solche Christologie „von unten“ einmal zu erarbeiten und es darauf ankommen zu lassen, wie weit sie führt. Dem Faktor Geschichte, also der Zeitverwobenheit menschlichen Denkens, Vorstellens und Handelns, fällt dabei eine grundlegende Rolle zu.

Für die Frage nach Jesus Christus sollte sich dies als enormer Vorteil erweisen. Von den vielen Gründen möchte ich nur drei nennen:
– die vor-kirchliche Gestalt Jesu tritt ohne naive spätere Überfremdung ans Licht,
– die Wandlungen des Christusglaubens werden kulturell eingeordnet,
– als Kern des Christusglaubens erweist sich eine lebenspraktische Kategorie: die Nachfolge.

Im christlichen Glauben verbinden sich also ein kirchenkritisches, ein kulturkritisches und ein lebenskritisches Element. Vor allem versucht Küng, den traditionellen Leserkreis theologischer Bücher für andere Menschen zu öffnen. Damit zeichnet sich jetzt schon ein auffallender Unterschied gegenüber Ratzinger und Kasper ab

I. Jesus geht der Kirche voraus – Kirche in ständiger Reform

Dem Zug der Evangelien folgen

Angesichts ihrer literarischen Art und von ihren Inhalten her gesehen gehören die Evangelien zu den kostbarsten und außerordentlichsten Dokumenten der religiösen, auch der christlichen Literatur. Der Grund liegt nicht einfach in der Verschränkung von historisch-realer Erinnerung und bekennender Deutung, die in ihre geschieht, sondern auch in dem normativen Gewicht, das die Sacherinnerungen von den Texten her erhalten. Geltungsanspruch brauchten ihnen nicht erst dadurch auferlegt zu werden, dass sie später kanonische Geltung erhielten, sondern dadurch, dass der Erinnerung an eine Person ein einzigartiger Raum gewährt wird. Mit hoher religiöser Eindringlichkeit entsteht bei den Lesern das Bild von einer Person, die – trotz Ärgers und Enttäuschung, trotz Unsicherheit und Irrtum – ganz Mensch bleibt und als solche göttlich handelt. Die entscheidenden Inspirationen kommen in den Erzählungen nicht von Gott selbst, sondern von diesem Menschen, ‑ durchaus menschlich in Gleichnissen und Intuitionen, in Gastfreundschaft und gewinnender Menschenliebe, in einer todbereiten Solidarität, bis hin zu dem, was man in einem solchen Text am wenigsten vermutet, – der Verlassenheit von Gott.

1.1 Gesellschaftliche Kontexte

Establishment – Revolution – Emigration – Kompromiss – Gesellschaftliche Perspektive unverzichtbar

So ist die Erzählstruktur der Dokumente und vieler ihrer Teile elementar um Grundfragen des Menschen angeordnet: um Essen und Trinken, Krankheit und Geduld, gegenseitige Beziehungen, das Verhältnis zu Mitmenschen und zu Gott, um die Sorge für das eigene Heil und Versagensangst, – so elementar also, dass die Geschichten, Gleichnisse und Worte aktuell bleiben. Mit „aktuell“ meine ich gerade nicht: fertig, verbrauchergünstig abgepackt, sondern im Blick auf eine neue Gegenwart für eine ständige neue, immer wieder mitreißende Auslegung offen.

Küng macht im Blick auf die Gestalt Jesu von dieser Eigenart Gebrauch. Auf die intensive Präsenz der historisch kritischen Forschung in Christ sein gehe ich hier nicht näher ein; von ihrer Seite kam später auch keine schwerwiegende Kritik, was den Autor sehr beruhigte. Offensichtlich hat das hohe Maß solcher Forschung gerade nicht zur Destruktion des christlichen Glaubens, sondern zur Vertiefung seines Verständnisses geführt. Sie macht, wie Küng mit Bedacht ausführt, einen „verantworteten Glauben“ (153-157) möglich. Auch lasse ich hier Küngs konsequenten und folgenreichen Versuch aus dem Blick, eine Sprache zu entwickeln, die keine theologischen oder christlichen Insiderkenntnisse voraussetzt. Wichtig ist mir jedoch der Hinweis, dass Küng den Juden Jesus zunächst als Juden in den gesellschaftlichen Kontext seines Volkes einordnet. Er tut dies mit Stichworten wie „Establishment“, „Revolution“, „Emigration“ und „Kompromiss“. Als Leitfiguren dienen ihm dabei
– die Kaste der Priester und ihr Ordnungssystem,
– die Gruppe der Revolutionäre (Zeloten) und deren politische Utopien,
– die Bewegung eines apolitischen Radikalismus (Mönche, Essener), die sich dieser Welt entziehen,
– die große Volkspartei der Sadduzäer mit ihren human gemeinten moralischen Kompromissen.

Auf alle reagiert Jesus in verschiedenem Maße mit Zustimmung, aber letztlich entzieht er sich allen (167-204). „Provokatorisch nach allen Seiten“ ist Küngs Folgerung. Jesus verlangte Veränderung, aber gewaltlos und ohne Elitekultur; mit den Priestern hatte der Nicht-Priester Jesus offensichtlich am wenigsten gemein.

Manches Detailwissen ist inzwischen verändert, doch wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung sind diese Ausführungen nicht überholt. Die Perspektive einer gesellschaftskritischen Interpretation bleibt unverzichtbar; sie wird zur indirekten, aber stets gegenwärtigen Mitdeuterin aller nachfolgenden Analysen. Von Anfang an und wie selbstverständlich verhindert sie das Abgleiten in religiöse Innerlichkeit und in eine unpolitische Nächstenliebe. Die Sache Jesu erschließt sich als ein Projekt, das konkret auf eine bedrohte, von Untergangsangst und religiöser Unsicherheit getriebene Gesellschaft bezogen ist.

1.2 Die Sache Gottes

Reich Gottes, nicht Kirche – Apokalyptischer Horizont – Gott ist voraus – Gottes Willen nicht relativieren

Oft (und gern) wurde übersehen, dass Küng dem Gottesbild, der Gotteserfahrung und dem Gottesglauben Jesu vielleicht die intensivsten Seiten dieses Buches widmet. Allerdings, diese Intensität erwächst einer schmerzlichen Erfahrung: Heute droht uns ein intellektuell glaubwürdiges Reden von Gott Stück um Stück wegzugleiten: Wie sollen wir heute Gottes Reich verstehen? Wie soll und kann es kommen? Ist uns noch klar, dass auch die bald einbrechende Apokalypse auch den Erwartungshorizont Jesu bestimmte? Mag er sich gar getäuscht haben? Wie steht es mit den Wundern, die aus nachvollziehbaren Gründen eben nicht mehr der Gegenwart liebstes Kind geblieben sind?

Ja, dieses Gottesreich war und ist eben keine hierarchische Gottesherrschaft, keine politisch-religiöse Theokratie und kein Rachegericht, sondern „Gottes grenzenlose Güte und unbedingte Gnade gerade für die Verlorenen und Elenden“. Es ist ein „durch Gottes freie Tat zu schaffendes Reich“, so wie es in vielen Gleichnissen beschrieben ist: „als der neue Bund, die aufgegangene Saat, die reife Ernste, das große Gastmahl, das königliche Fest“ (206); Schmerz, Leiden und Tod werden ein Ende haben. Gott gehört die Zukunft.

Intensiv wird für Küng die Gottesfrage,
– weil hier – im Blick auf eine zeitgebundene Weltanschauung damals wie heute – eine umstürzende Neuinterpretation vonnöten ist,
– weil auch kirchliche Vorstellungen von Gerechtigkeit und Frömmigkeit immer neu zu durchbrechen sind.
– weil jeder selbst verstehen muss, was es heißt, dass Blinde sehen, Lahme gehen, dass Aussätzige genesen und Taube hören, dass also Tote auferweckt werden und Arme eine wirklich frohe Kunde empfangen. Jesu Bild von Gott, der die Zukunft schlechthin ist, zeigt sich am prägnantesten solchen Ereignissen der Erfüllung, allerdings auch in der Bergpredigt mit ihren eindeutigen Forderungen; wieder spielt der Zeitfaktor eine Rolle. Hier und jetzt tritt Gottes Wille hervor. Gott ist reine Nähe. Diese Nähe gibt den Forderungen Jesu „außerordentliche Dringlichkeit, aber auch die frohe Gewissheit der Erfüllbarkeit.“ (237)

Wer diese Seiten liest, spürt noch heute, wie sehr Küng mit dem Gottesbild Jesu ringt. Da bleibt vieles unabgegolten, nur indirekt auszusagen. Alles schwankt zwischen Forderung und Erfüllung, zwischen Zukunftsutopie und reiner Gegenwart. Offensichtlich bricht das Reich Gottes mit jeder Tat der Liebe, der Vergebung und Versöhnung an. In ihr zeigt sich, dass und wie Gott uns voraus ist. Ich bin auch davon überzeugt, dass sich die eigene Stellungnahme zum Buch insgesamt nicht an der Christologie (die wir noch besprechen werden) entscheidet, sondern an diesen Seiten über Gott. Denn ich kann diese Seiten, die sich jeder eindeutigen Definition entziehen, als vorläufig und unfertig betrachten; dann hilft auch die Frage nach Jesus Christus nicht weiter. Ich kann sie aber auch als ein Dokument theologischer Authentizität lesen, die das Anderssein Gottes und die Unmittelbarkeit des Gottes Jesu in seiner fragmentarischen Besprechbarkeit stehen lässt. Im zweiten Fall zeigt sich der unausgesprochene Überschuss dieses Gottesverständnisses in dem durchaus Menschlichen, was von Jesus noch zu sagen sein wird.

1.3 Die Sache des Menschen

Humanisierung als ständige Gegenwart – Der mich gerade braucht – Solidarität

Küng liebt die rhetorische Antithese (Sache Gottes – Sache des Menschen), aber diese hat ihren Grund. Nicht nur in unserer Zeit, auch in der Zeit Jesu trat Gott in der Geschichte nicht auf; das schmerzliche Bewusstsein davon ist auch in seiner Zeit bekannt. Wieder bestimmt der Zeitfaktor die Perspektive. Die Umkehr des Menschen hat hier und jetzt zu beginnen. Aber jetzt erst lässt sich genauer sagen, was konkret Gott von uns will:
– nichts weniger als das Wohl des Menschen, das in der religiös hochorganisierten und zugleich hochkonservativen Zeit Jesu zugleich die Relativierung von Traditionen, Institutionen und Hierarchen bedeutet.
– nichts weniger als die Klarstellung, dass Gottesliebe und Menschenliede nicht miteinander konkurrieren, weshalb sich die sehr pragmatische Nächstenliebe („der mich gerade braucht“, 246) bis zur Feindesliebe intensivieren und die 10 Gebote radikalisieren kann.

Es sind Forderungen, die Jesus vorlebt, erst dadurch glaubwürdig macht und als Möglichkeit erscheinen lässt. Im gesellschaftlichen Zusammenhang aber realisiert sich diese Liebe nicht als neutrale Freundlichkeit, sondern als Parteilichkeit für die Benachteiligten, seien es Schwache, Kranke, Vernachlässigte, Frauen, Kinder, das unwissende Volk. Belassen wir es dabei, nicht ohne die Frage, was an alle dem nun spezifisch christlich sei. In der Tat, spezifisch christlich brauchen diese Ideale nicht zu sein; sie sind nur menschlich im radikalst möglichen Wortsinn. Der spezifisch christliche, auch der situationsverändernde Sinnrahmen ergibt sich allerdings aus Jesu lebenspraktischer Konsequenz, den Folgen also, die dieses Verhalten für Jesus selbst zeitigte. Er riskiert (und verliert) den Konflikt auf Leben und Tod.

1.4 Der Konflikt

Unausweichliche Entscheidung – Enthüllt sich als Streit um Gott – Gehorsam oder Anmaßung? – Partei für die Benachteiligten

Küng widmet der Rekonstruktion und der Deutung von Jesu Tod allein 67 wiederum intensiv gearbeitete Seiten (268-331). Zur Rekonstruktion der letzten Stunden vom Verrat zu zum letzten Schrei am Kreuz kann und will auch Küng nicht viel Neues sagen. Angesichts der umfassenden späteren Erlösungstheorien von Paulus bis Anselm von Canterbury ist hier aber Neuarbeit zu leisten, wenn eine historisch verantwortete Deutung gelingen soll. Küng versucht sie, indem er – von den Fakten des Prozesses und der Kreuzigung abgesehen – das ganze Todesgeschehen noch einmal als den Austrag eines Konflikts, als einen Streit um diese Deutung begreift. Er spiegelt die Sache Gottes und die Sache des Menschen wie sie Jesus gelebt hat, im Handeln derer, die seinen Tod aus vermeintlich religiösen Gründen herbeiführen. Ein Konfliktpotential mit religiösen Dimensionen wird aufgebaut. Er, so denken wir, handelte als wahrer Gesetzeslehrer und mosaischer Prophet, als Gottessohn und Opfer heuchlerischer Ablehnung. Jetzt steht er – an den damaligen heiligen Maßstäben gemessen – da als Irrlehrer, Lügenprophet, als Gotteslästerer und Volksverführer. Sein durch die Tora sanktionierter Tod bedeutet für seine Anhänger keine Bestätigung sondern eine zerrissene Identität. Selbst Gott hat ihn verlassen, – so haben sich seine Gegner nicht in Gottes Willen getäuscht. In Küngs Darstellung verbindet sich die Identität Gottes so sehr und so vorbehaltlos mit der Identität dieses Menschen, dass Jesus am Ende zum Gegner oder zum Antlitz von Gottes Willen wird. Gottes Wahrheit kommt nur als dieser Streit um Vorschein. Nur vor diesem Hintergrund ist ein Glaube an Jesu Sache möglich. Dann aber – und unter dieser revolutionären Last – erweist sich Jesus als „Sachwalter“ Gottes (281) und erhält Gott ein menschliches Antlitz.

1.5 Zusammenfassung:

Gesellschaft – Gott Mensch – in Auseinandersetzung

Man hat Küng vorgeworfen, seine Antworten blieben weit hinter dem Gewissheitsgrad der theologischen Erlösungstheorien zurück. Mit Häme hat man ihm die Grenzen einer „Christologie von unten“ demonstriert, die den Überstieg ins Göttliche nicht schaffe. Ein damaliger Kollege, der inzwischen zu höchsten Würden aufgestiegen ist, sprach von der Fäulnis, der der Glaube an Christus hier übergeben sei. Ich fürchte, dass man Küngs Mut zur Bescheidenheit und Nüchternheit nicht verstanden und den enormen Vorteil dieses Ansatzes bis heute nicht begriffen hat. Er macht endlich damit ernst, dass Gott auch im christlichen Glauben ein Geheimnis bleibt. Auch die Gottnähe Jesu bleibt nur in Spuren, im Streit auszuloten. Der genannte Kollege hielt Küng einmal in aller Schlichtheit entgegen, es kommen doch darauf an, dass Jesus Gottes Sohn ist. Mit vielen anderen hat er übersehen, dass dieses “ist“ eine moderne Nachfrage unbeantwortet lässt: Wie soll ich denn dieses „ist“ verstehen, das sich später mit griechischer Ontologie gefüllt und seine semitische Ereignisnähe verloren hat? Doch greife ich damit schon auf den nächsten Punkt voraus.

Die Urschicht christlicher Erzählung ist mit dem Abschluss von Jesu irdischem Leben abgeschlossen. Dem damit erhobenen Material ist auch später nichts hinzuzufügen. Alles, was jetzt kommt, ist Deutung, Realisierungsversuch und Konfrontation mit einer widerständigen Wirklichkeit. Das bedeutet, dass auch Kirche im klassischen Sinne noch nicht in diese Phase der Grundlegung eingreift. Es gibt, wenn Sie so wollen, einen Kanon der Erinnerung, der – genetisch und intentional – dem Kanon der Schrift wie dem Kanon des späteren Glaubens prinzipiell vorausläuft. Die Kirche als Gemeinschaft derer, die ihm folgen, wird Jesus nie einholen können. Sie braucht weder unfehlbar zu sein noch Reformen zu fürchten. Es würde ihr gut tun, sich einer Christologie von unten anzuvertrauen. Das ist der Zusammenhang zwischen Unfehlbarkeitsdiskussion und Christ sein.

II. Christus in der Sprache einer Kultur

2.1 Die Last der Geschichte

ER lebt für immer – biblische Titel – hellenistische Interpretation – Christus heute verstehen

Die Unterscheidung zwischen dem Jesus der Geschichte und dem Christus des Glaubens schließt Interaktionen nicht aus. Natürlich können wir auch die Jesusgeschichte nur als Christen und Christinnen oder als Außenstehende, vielleicht als Gegner, lesen. Das schließt nicht aus, dass sich jede Deutung mit geschichtlichem Sachverstand noch einmal befragen, bisweilen korrigieren lässt. Die christliche Wahrheitsbildung, die nach Jesu Tod folgt, ist zwar unverzichtbar. Ihre Wertung unterliegt aber dem, was wir– bei aller asymptotischen Beschränktheit ‑ von Jesus selbst wissen können. Unter dieser Voraussetzung analysiert Küng nicht nur die Auferstehungszeugnisse, sondern auch die zentralen Aussagen über Jesus Christus, die im 5. Jahrhundert (d.h. 325 in Nikaia und 351 in Chalkedon) eine abschließende, noch heute bindende Gestalt erhalten haben.

Die Auferstehungszeugnisse werden ausführlich und unter Einbeziehung moderner, mit Natur- und Humanwissenschaften abgeglichener Vorstellungswelten analysiert und dargelegt. Der Schlüsselsatz lautet: „Der Gekreuzigte lebt für immer bei Gott – als Verpflichtung und Hoffnung für uns“ (345). Der Getötete ist nicht im Tod geblieben. Damit ist weder eine Fortsetzung des raum-zeitlichen Lebens, noch eine Rückkehr in dieses, sondern die Aufnahme in eine „unfassbare und umfassende letzte Wirklichkeit“ gemeint. Darin erweist sich, dass der Gott des Anfangs auch der Gott des Endes ist. Es geht um einen radikalen Schöpferglauben. Anders als gegenüber einem vergleichbaren Versuch von E. Schillebeeckx haben diese Passagen (332-371) später zu keinen kirchenamtlichen Problemen geführt.

Umso aufmerksamer wurden Theologen und Vertreter des Lehramts auf Küngs Auseinandersetzung mit der Frage: Wer nun ist Jesus von Nazareth eigentlich, den Christen als Messias und Gottes Sohn bekennen? Was sind seine Identität und Aufgabe, wie sollen wir sein Verhältnis zu Gott beschreiben und wie können wir heute als Christen über diese Fragen angemessen reden? Küng beginnt klassisch und konventionell mit der Besprechung der vielen Titel, die Jesus Christus schon im Neuen Testament zuerkannt werden. Kritische Leser haben natürlich sehr schnell bemerkt, dass der Autor folgenreiche Perspektiven eingenimmt; ich nenne sie genetisch, traditionsgeschichtlich und hermeneutisch: Wie sind etwa die vielen Titel entstanden, aus welchen Traditionen sind sie entlehnt und wie können wir sie heute auslegen? Um nur ein Beispiel zu nennen. Wenn (genetisch) darauf hingewiesen wird, wann und wie der Christustitel entstanden ist, dann folgen unbefangene Leser, dass auch andere Titel möglich sind. Wenn (traditionsgeschichtlich) deutlich wird, dass der Titel „Sohn Gottes“ in Israel den Königen, Propheten, jedem „Gerechten“ sowie dem ganzen Volk zukommt, dann entstehen mehrere Bedeutungen. Wenn ich schließlich (hermeneutisch) erkläre, wie sehr sich diese ursprünglichen Zuordnungen von der späteren hellenistischen unterscheiden, dann relativiert sich auch die spätere Entwicklung in der hellenistischen Kultur erheblich. Hellenistische Kultur wird nun das entscheidende Stichwort.

2.2 Neue Versuche sind unabdingbar

Problem eines statischen Denkens – Ontologie des Handelns und der Beziehung – Neue Nähe zu biblischem Denken

Gemeint ist mit „hellenistisch“ die großräumige Kultur des ursprünglich griechischen Lebensraums, die sich seit den Diadochenreichen immer weiter ausbreitete und seit Augustinus in wachsendem Maße das römische Reich bestimmte. Dieser Prozesse war ungeheuer vielfältig, so dass sich die Fachleute noch heute um dessen angemessene Definition bemühen. Es gehört zu den ungeheuren Kulturleistungen der Christen, die leider bald ihren jüdischen Mutterboden verloren, dass sie sich und ihr Glaubensverständnis mit hoher Intensität in diesen hellenistischen Kulturraum einpassten; das war eine ungeheure Leistung der Integration. Neben dem stoischen Denken übernahmen sie vor allem die Denkfiguren der griechischen Philosophie, eines Aristoteles, mehr noch eines Platon. Dessen Grundmodell eignete sich hervorragend für diese neue Religion, aber die inneren Umdeutungen waren massiv. Die jüdische Vorstellung vom Reich Gottes wurde zur Vorstellung vom Himmel umgeformt, der Gedanke von Gottes unverbrüchlicher Treue wurde jetzt in der Unveränderlichkeit und zeitlosen Ewigkeit des Geistes begründet. Seit dem 3. Jahrhundert erhielt selbst die eschatologische Trias von Vater – Sohn – Geist ein metaphysisches Fundament im Sinn dieser neuen, bewusst überzeutlichen, auf das Wesen der Dinge gegründete Ontologie.

Bis heute ist dieser erste Inkulturationsprozess des Christentums für die spätere Glaubenslehre von ungeheurer Bedeutung, denn allmählich wurden die zentralen christlichen Glaubenssätze in die Denkformen dieser hellenistischen Ontologie umgegossen. Jesus bleibt „Sohn“ und „Wort“ Gottes, aber wir grundlegend hat sich das Verständnis dieses Sohnseins gewandelt. Noch immer ist das Wort „Fleisch geworden“, aber wie umfassend hat sich die Vorstellungswelt geändert, in der diese Worte jetzt wirken. Wie bekannt wird Jesus Christus jetzt mit philosophischen Begriffen erklärt: Zwei Naturen, d.h. zwei Willens-, zwei Verstandeskräfte, dieses menschliche Doppel jeweils nicht in sich, sondern in der einen göttlichen Person („Hypostase“) existierend. Diese göttliche Person und Natur bestehen in Gott und als „Gott“ schon vor aller geschaffenen Zeit. Auf die hochkomplexen Zusammenhänge der metaphysisch verstandenen Trinität ist hier nicht einzugehen.
Hier setzt Küng an, nicht aus Übermut, sondern aus pastoraler und intellektueller Sorge, die aus zwei einfachen Gründen, einem Sach- und einem Verstehensgrund.

Der Sachgrund lautet: die Diskrepanzen zwischen biblischem und hellenistischem Verständnis sind enorm; aus einer aktuellen, auf Handeln und Ereignis bezogenen Vorstellungswelt ist eine Vorstellungswelt von zeitlos statischer Ewigkeit geworden. Wenn wir also hellenistisch reden und denken wollen, dann bedarf dies einer eigenen Begründung. Diese mag es nach Küng gegeben haben, deshalb nennt er die klassische Christologie auch nicht falsch; ebenso wenig entzieht er ihr seine Glaubenszustimmung. Aber wir sind uns heute der komplizierten kulturellen Übertragungsprozesse bewusst. Das schafft intellektuelle Distanz. Als Vergleich kann unsere selbstverständliche Redeweise vom Auf- und Untergehen der Sonne dienen; sie ist nicht falsch, aber wir wissen, was damit gemeint ist; nicht die Sonne geht unter, sondern ein Wirklichkeit dreht sich die Erde. Doch gibt es zwischen Christologie und Sonnenaufgang einen wichtigen Unterschied. Letzterer ergibt sich aus unserer unmittelbaren, elementaren Anschauung, die ihre Symbolik und Wahrheit in sich selbst trägt. Das ist bei einer hellenistischen Christologie nicht der Fall. Denn so sehr man es bedauern mag: nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz der Christen kann diese Denkoperation noch nachvollziehen und es ist nicht zu erwarten, dass die Christenheit einige Jahre Philosophie studiert, um ein einfaches, elementares Bekenntnis zu verstehen.

Küng schlägt deshalb vor (und darin ist er nicht einmal originell), neue Wege der Übersetzung und des Verstehens zu versuchen. Denn wenn und zumal der Hellenismus nicht die ursprüngliche Vorstellungswelt des Christentums ist, warum sollen dann weitere Inkulturationsprozesse verboten sein, zumal dann, wenn die Symbolkraft der elementaren Worte dieselben bleiben können? Ich zitiere den Autor:

Die ganze Bedeutsamkeit des Geschehens in und mit Jesus von Nazaret hängt daran, dass in Jesus … für die Glaubenden der menschenfreundliche Gott nahe war, am Werk war, gesprochen hat, gehandelt hat, endgültig sich geoffenbart hat.“

Zugleich gilt,

dass Jesus ohne Abstriche mit allen Konsequenzen (Leidensfähigkeit, Angst, Einsamkeit, Ungesichertheit, Versuchungen, Zweifel, Irrtumsfähigkeit) voll und ganz Mensch war.“ (439-440)

Vollzieht sich in solchen Worten ein anderer Inkulturationsprozess? Geht es um ein Inkulturation in die Moderne, in die Postmoderne, in westliches Denken? Ich persönlich neige den Typen der Moderne und der Postmoderne zu, denn philosophische Wesensbestimmungen sind schon durch einen erzählenden Grundzug abgelöst. Wichtiger ist für mich, dass das Denken in Kategorien des Wesens durch Kategorien des Handelns abgelöst ist: Gott ist in Jesus nahe, am Werk, Gott spricht, handelt, offenbart sich. Die Aussagen sind ferner so formuliert, dass sich nicht mehr hinter einer philosophischen Beschreibung versteckt, sondern sich darin eine symbolisch performative Sprachhandlung zeigt. Wer solche Aussage auch hört, muss sich ja selbst fragen, was es denn heißt, Gott sei am Werk … Der wichtigste und m.E. entlarvende Satz, der mir sei 30 Jahren aus den harten Auseinandersetzungen geblieben ist, von J. Ratzinger formuliert, lautete, Küng übersehe, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist. Dieses Pathos des kursivierten „ist“ verdeckt aber nur, dass jetzt die Fragen erst beginnen, denn es gibt keinen mehrdeutigen Begriff als das grammatikalische „ist“ einer Proposition.

Küng argumentiert also pastoral, denn er will das ständige Schwanken zwischen allgemeinem Un- und Missverständnis einer Klärung zuführen und Verständnis dafür wecken, dass über die zentralen Glaubenssätze in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich nachzudenken ist. Allerdings zerschlägt er damit jedes Interpretationsmonopol; zumindest müsste es neu definiert werden. Denn Küngs Redeweise bezieht das Mitdenken, die Kreativität der Hörenden mit ein. Die Frage dieser Definitionsmacht, nicht die Suche nach sachgemäßen Übersetzungen hat wohl den Ausschlag gegen Küng gegeben. Ich sehe leider nicht, wo in der europäischen Theologie der Impuls Küngs entschieden aufgenommen und weiter vorangetrieben wurde. Ein wichtiger Grund dafür war, wenn ich richtig vermute, die ablehnende Haltung von Karl Rahner, dessen Wirkung wohl dem Gesetz des hemmenden Fortschritts erlegen ist.

III. Vom Sinn der Nachfolge – Lebenspraxis in ständiger Umkehr

Christus selbst – Christus Jesus – der Gekreuzigte

Vielleicht erhellt sich der Neuansatz Küngs erst vom letzten Gesichtspunkt her. Aus dem vielfältigen letzten Teil von Christ sein greife ich nur einen Aspekt heraus, nämlich Sinn und Bedeutung der Nachfolge. In Christ sein formuliert Küng eine kühne These, die den Leser auf den ersten Blick nahezu ratlos lässt. Das Unterscheidende des Christentums, so Küng, sei weder eine Lehre, noch ein Moralsystem oder eine liturgische Praxis. Christsein sei nichts anderes „dieser Christus selbst“, konkret „Christus Jesus“, dieser als „der Gekreuzigte“. Das ganze Buch wird von dieser These geleitet. Es muss ja auffallen: Dieses Buch, das von Jesus Christus handelt, trägt nicht etwa den Titel „Jesus Christus“, sondern „Christ sein“. Es muss also eine enge Identifikation und Verbindung zwischen einem Christen und Jesus von Nazareth geben, den wir als Messias bekennen.
Lässt sich diese Identifikation näher umschreiben?

3.1 Welche Identifikation?

Geschichtlich – als Lehre – ethisch – existentiell – angebotene Gemeinschaft

Küng bemüht sich, seine Rekonstruktion von Person und Sache Jesu so breit wie möglich anzusetzen. Gesellschaftlicher Kontext, Beziehung zu Gott, Lehre und Verhalten, sein Geschick, schließlich das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, das sind die Stichworte, in denen dieses Bild von Jesus Christus verankert ist. Eine geschichtliche Identifikation zwischen Christus und Christen ist natürlich nicht ausgeschlossen, aber sie wäre zu wenig, ebenso wie eine rein lehrhafte oder ethische Identifikation. Weiter greift schon der Begriff des Erinnerns, der Erfahrung, Vergegenwärtigung und Solidarität mit umschließt. Eine existentielle Identifikation schwingt bei Küng intensiv mit, aber auch sie steht in Gefahr reiner Innerlichkeit, die kontextuelle und geschichtliche Verschiebungen eher auszublenden droht. Bei Küng spielt auch der Gedanke der Rechtfertigung eine wichtige Rolle; aber sie würde die Spannung zwischen Handeln und Loslassen nicht hinreichend thematisieren. Was also ist es, das diese Identifikation bestimmt. Es ist der Gedanke des Mitgehens, der angebotenen Gemeinschaft, der Nachfolge, die in Christ sein die vielseitigen Gesichtspunkte zusammenhält.

Wenn für Küng Christ sein also nichts anderes ist als Jesus Christus selbst, führt er uns damit nicht in eine gefährliche Enge, die innerhalb des Christentums – in einer Heilsausschließlichkeit schlimmster Art – nichts anderes zulässt als eben die spezifisch christliche Wahrheit?

Das ist gerade nicht die Folge; genau deshalb setzt sich Küng davon ab, dass wir Christ sein in erster Linie als eine Lehre, eine Moral oder als eine sakramental-liturgische Praxis bestimmen oder das Heil des christlichen Glaubens in eine korrekten philosophischen Bestimmung von Christi Person und Werk entdecken. Küng versteht die Identifikation mit Jesus Christus als „Nachfolge Jesu“; Nachfolge und nichts anderes, ist seine Botschaft.

3.2 Nachfolge im Horizont Jesu

 In gesellschaftlichen Kontexten – in Gottes Zukunft – im Anruf von Menschen – in Konflikten – im Wissen um Vergebung

Was ist damit gemeint? Zunächst ist „Nachfolge“ ein durch und durch biblisches, ein evangelisches Paradigma. Männer (und wohl auch Frauen) lassen sich auf einen Weg ein, den sie mit Jesus gehen. Sie hören, fragen, begeben sich in seine Welt der Gleichnisse, Provokationen und Wohltaten, teilen seine Erwartungen und Ängste, erleben ihr eigenes Leben neu und wissen sich in allem in die Gemeinschaft mit Jesus aufgenommen. Paradoxerweise ist diese neue, durch und durch menschliche Lebenspraxis Beginn und (verborgene) Gegenwart von Gottes Reich. Es geht also um eine lebenspraktische Gemeinschaft mit Jesus. Diese neue Lebenspraxis bedeutet vertrauender, gemeinschaftsfähiger Glaube konkret. Dieses Urbild evangelischer Jesusgemeinschaft ist unsere Erinnerung eingesenkt, durch sie gegenwärtig. Doch überschreitet auch dieses Erinnern eine intellektuelle Repetition. Es geschieht selbst als Lebenspraxis. Nachfolge ist heute nur als aktuelle, je neue Übersetzung zu haben.

Deshalb schließt sich mit dem Paradigma der Nachfolge Jesu Christi der Kreis zu den Ausgangspunkten dieses Projekts.
–  Wir leben hier und jetzt: in gesellschaftlichen, in geradezu globalen kulturellen, politischen und sozialen Kontexten. Nachfolge ist weder mit Rückzug, noch mit Moralisierung oder Sakralisierung, schon gar nicht mit revolutionärer Gewalt sondern immer nur im Blick auf die Wirklichkeit zu haben, die uns (und wie sie uns) umgibt.
– Wir leben im Aufbruch vorbehaltloser Zukunft: Gottes Gegenwart gibt dieser Lebenspraxis eine Dringlichkeit, die keinen Aufschub duldet. Genau deshalb geht es um die Gegenwart in Menschheit und Welt, gleich ob sie das Jahr 28, 1974 oder 2006 meint.
– Wir leben mit Mitmenschen, verwoben in all die intellektuellen, moralischen, emotionalen, geistigen und leiblichen Bezüge, in die Anrufe, Erwartungen und Geschenke, in die Erfahrungen des Lebens und Sterbens, die damit gegeben sind.
– Wir werden in der Nachfolge Jesu schließlich damit konfrontiert, dass die Zukunft Gottes durch einen Weg der Konflikte und Bedrohungen, des Leidens und des Vergebens, der Gemeinschaft mit den Verlorenen und Diskriminierten, der Gefolterten und Ermordeten führt.

Vor diesem breiten Hintergrund, der Gott und die Gegenwart, die Mitmenschen und das Versagen ständig im Auge behält, können wir die christliche Lebenspraxis als eine Lebenspraxis der Humanität betrachten, die von der christlichen Botschaft getragen ist.

3.3 Die abschließende Formel

Küngs Formel dafür lautet sein Christ sein, in leichten Variationen später oft wiederholt:

In der Nachfolge Jesu Christi
kann der Mensch in der Welt von heute
wahrhaft menschlich leben,
handeln, leiden und sterben:
in Glück und Unglück, Leben und Tod
gehalten von Gott und hilfreich den Menschen (594)

Es fällt nicht schwer, von hier aus Linien den Schwerpunkten zu ziehen, die Küng in seinem späteren theologischen Denken gesetzt hat.

Es ist die Öffnung seiner Projekte zu anderen Religionen hin, mit denen er jetzt auf Grund seiner eigenen christlichen Nachfolgeerfahrung sprechen, vergleichen, werten, in einen Wettstreit eintreten kann. Denn der Gedanke der Nachfolge schließt nicht aus, dass andere Menschen (Religionen oder Kulturen) auf anderen Wegen dasselbe Ziel anstreben.

Es ist zugleich die Öffnung seines Ansatzes zum Projekt Weltethos hin, in dem der eine Gedanke der Menschlichkeit (wie gesagt: im konfliktbereiten Sinn) zu einem Suchraster, einem heuristischen Verstehensmodell und zugleich zu einem dringenden Appell ausgeweitet wird. Es leitet uns dazu an, solche Menschlichkeit in anderen Religion ebenfalls zu entdecken und als religiöse Motivation zu begreifen. Es fordert die Religionen zugleich als macht- und gesellschaftspolitische Akteure heraus, die unsere Welt nach ihren eigenen Werten mitzugestalten hat.

Schluss: Was ist zu lernen?

Kommen wir noch einmal zu einer theologischen und pastoralen Standortbestimmung des Buches Christsein zurück.

– Christologie im Bruch

„von oben“ – „von unten“

Wiederholt und auch in diesem Vortrag habe ich den Neuansatz von „Christ sein“ als einen Bruch mit der traditionellen Christologie erscheinen lassen. Auch an anderen Orten ist dies oft zu lesen: Die traditionelle Christologie „von oben“ wird jetzt von einer Christologie „von unten“ abgelöst. Auf ein dogmatisch orientiertes Reden von Jesus Christus folgt jetzt eine historisch verantwortete Rekonstruktion. Das überholte klassisch-metaphysische Rahmenkonzept wird in ein ontologisches Konzept überführt, das nicht mehr überzeitlich an „Sein“ und „Wesen“, sondern geschichtlich an „handeln“ und „erfahren“ orientiert ist. In der Tat lässt sich Küngs Ontologie als eine Handlungs- und Beziehungsontologie charakterisieren. Deshalb stellt sich mir manche Ablehnung von Küngs Entwurf als philosophischer Konservatismus dar, dem es an der nötigen Reflexion fehlt. Dazu rechne ich auch neuere transzendentaltheologische Konstruktionen, auch wenn die Liebe an die Stelle der Wahrheit setzen. Denn im Grund machen sie Kants unverzichtbare Metaphysik wieder rückgängig. Auf diese Zusammenhänge gehe ich hier nicht weiter ein. Mich interessiert noch ein gegenläufiger Gesichtspunkt; denn auch Küng ist nicht zum einsamen Heroen hochzuloben

– Christologie in Kontinuität

Gott in der Geschichte – Bedeutung des Kreuzes – Bedeutung der christlichen Gemeinschaft

Denn neben allen heroischen Brüchen, steht natürlich auch Küng in einer tiefen Kontinuität. Karl-Josef Kuschel hat dies an Küngs intensiver Auseinandersetzung mit G.W.F. Hegel (1970) verdeutlicht. Das Ergebnis seiner Untersuchungen lautet: zwar können wir den idealistischen Lösungen von Hegel nicht mehr folgen, auch wenn sie die klassische Christologie nachdrücklich unterstützen. Aber die früheren Fragen und Orientierungsmarken von Hegel sowie der früheren Christologie bleiben natürlich erhalten. Es sind das Erscheinen Gottes in unserer Geschichte, der radikale Konflikt und die paradoxe Heilsbedeutung von Jesu Kreuz und Tod, die aktuelle Gegenwart Christi in der Gemeinde. Wer einmal durch die Provokation der formalen, hier angedeuteten Brüche hindurchgestiegen ist, wird beim zweiten Blick ein zutiefst intellektuelles und pastorales Anliegen entdecken. Küng versucht, die Fragen und Erfahrungen neu zu heben, die in den klassischen Formeln aufgehoben und zugleich domestiziert wurden. Der christliche Glaube bietet keine intelligenten Antworten, sondern leitet – im Angesicht des gegenwärtigen und zugleich verborgenen Gottes – zu einem sachgemäßen, konflikt- und zukunftsfähigen, also vertrauenden Umgang mit der Wirklichkeit an.

– Christologie in weltweitem Horizont

Heil als globale Menschheitsfrage

Wer dies nicht sieht – und viele von Küngs Kollegen sehen das nicht – entdeckt in „Christ sein“ ein etwas naives Produkt, die etwas vereinfachende, gut bürgerliche publizistisch glänzend aufbereitet Nacherzählung einer hochgeistigen Sache, das sich den Eingeweihten in viel anspruchsvollerem Gewand darbietet. Er übersieht die pastorale Leidenschaft dieser Arbeit, die bewusst kritische Relativierung einer christologischen Metaphysik sowie die kirchenkritischen, kirchenerneuernden Implikationen. Es sind vermutlich dieselben Kollegen, die nie begriffen haben, warum Luther dem Volk aufs Maul schauen wollte. In einer säkularisierten Gesellschaft dient wohl niemand dem Glauben besser, als wer die Fragen und Abgründe dieser Erinnerung neu öffnet, um die Auseinandersetzung damit den Menschen zurückzugeben.

Im November vergangenen Jahres (2005) legte ein Meinungsforschungsinstitut[2] die interessanten Ergebnisse einer Studie zu weltanschaulichen Einstellungen in verschiedenen Milieus der deutschen Bevölkerung vor. Wie ist ihr Verhältnis zur (katholischen) Kirche? Mit traditionsverwurzelten Gruppen, gleich ob Eliten, Bildungsbürgern oder anderen, sieht man da weniger Probleme. Argumentiert wird allerdings nicht auf der Ebene des Glaubensengagements, sondern auf der Ebene der Kultur, die doch auf dem Christentum basiere. Problematischer ist schon die Sicht der Etablierten der mittleren Generation, die in der Kirche mehr Vernunft und Professionalität anmahnen und Religion mehr funktional als Sache der Haltsuchenden versehen. Schwierig wird es jedoch mit den materiell und in der Bildung schlechter Gestellten zwischen 30 und 55.. Von Jesus und Christus wissen sie nichts, es sei denn aus dem Fernsehen. Andere holen sich aus den religiösen Angeboten nur, was sie wollen. „Auch Hedonisten, so Bischof Renz, ‚gehen schon mal zum Weltjugendtag, weil sie sich sagen, zur Love Parade gehen wir auch.’“ Bischof Renz folgert daraus, wir müssten neuere basisnahe Formen der Jugendseelsorge entwickeln.

Diese Folgerung ist nicht falsch, aber sie greift entschieden zu kurz. M.E. kann da nur eine konsequent auf Erzählung gegründete Weitergabe und Symbolisierung des Glaubens weiterhilft, die den Notstand einer hellenistischen Glaubensvermittlung endlich überwindet. In einer Tagesszeitung erschien dieser Bericht unter dem Titel: „Anschluss gesucht an die Postmoderne“[3]. Man wird diesen Anschluss nicht finden können, solange unser Reden von Jesus Christus noch vor-modern bleibt.


Exkurs:
J. Ratzinger – W. Kasper – H. Küng, ein kritischer Vergleich

Zu vergleichen sind:
J. Ratzinger (JR), Einführung ins Christentum (Regensburg 1968)
W. Kasper (WK),  Einführung in den Glauben (Mainz 1972)
H. Küng (HK) ,     Christ sein (München 1974

Implizite Leser:

JR:    Kirchlich orientierte Katholiken
WK:  Theologisch orientierte Katholiken
HK:   Christlich orientierte Zeitgenossen

Fundament / Ausgangspunkt der Argumentation:

JR:   Glaubensbekenntnis der katholischen Kirche (sensus fidei)
WK:  Glaubenssinn katholischer Gläubiger (sensus fidelium)
HK:   Bericht von Jesus als dem Christus des Glaubens

Fokus/Intention:

JR:   Neugewinnung katholischer Spiritualität
WK: Verstehen und Integration moderner Perspektiven
HK:  Durchbruch zu erneuerter Glaubenspraxis

Was heißt Glauben?

JR:    Annahme der Offenbarung in hellenistischer Form
WK:  Zustimmung zur heilsgesch. Zuwendung Gottes
HK:   Auf Gott vertrauen, gegenw. verankerte Nachfolge Jesu

Leitende Hermeneutik:

JR:   Konsens der ersten fünf Jahrhunderte
WK:  Amtlicher innerkirchlicher Konsens
HK:  Gegenwärtig verantwortete Schrift

Krisenhermeneutik/Grenzziehung:

JR:   Bischöfliches Lehramt
WK: Amtlich festgestellter Konsens
HK:  Verantwortetes Schriftverständnis

Denkrahmen:

JR:   Hellenistische Philosophie (Plato / Augustinus)
WK: Unkritisch idealistische Hermeneutik (Tübinger Schule)
HK:  Ideologiekritische Hermeneutik (moderne Schriftinterpretation)

Konfliktmanagement positiv:

JR:   Katholisch amtliche Glaubenstradition
WK:  Katholisch integrierendes Glaubensverstehen
HK:   Beziehung zwischen Schrift – (Tradition) – Gegenwart

Kirchliches Denken:

JR:  Sakrament als Maß (Amt und Eucharistie)
WK: Tradition als Zeichen (Institution vs. Ereignis)
HK:  Botschaft streng auf Jesus als Ursprung bezogen

Konfliktmanagement negativ:

JR:   (päpstliche) Unfehlbarkeit
WK:  (kirchliche) Unfehlbarkeit
HK:   umfassend institutionalisierte Kommunikation

Ideologiekritische Beurteilung:

JR:  unbedingt systemimmanent
WK: bedingt systemimmanent
HK:  systemkritisch

Faktische Wirkung:

JR:  Stabilisiert prinzipiell die hierarchischen Strukturen
WK: Stabilisiert faktisch die herrschenden kirchlichen Strukturen
HK:  Beurteilt und beunruhigt kirchliche Strukturen

Ausblick/Schwäche:

JR:  Setzt sich keinem kritischen Dialog aus
WK: Hält offiziellem Druck von innen nicht stand
HK:  Setzt argumentative, nicht akzeptierte Konfliktstruktur voraus.

Ausblick/ Stärke:

JR:   Schafft massive symbolische/kirchliche Identität
WK: Erweitert kirchenoffizielle Kommunikationsräum
HK:  Setzt auf Botschaft, die in säkulare Räume eindringt


 

Gliederung:
Gehalten von Gott – engagiert für die Menschen
Eine Rückschau auf Hans Küng „Christ sein“

Einleitung: Zeuge des Umbruchs
Neue Fundamente gesucht ‑ Anfrage zur Unfehlbarkeit – Erzählende Theologie ­ Ohne Überfremdung

 I. Jesus geht der Kirche voraus – Kirche in ständiger Reform
Dem Zug der Evangelien folgen

1.1 Gesellschaftliche Kontexte
Establishment – Revolution – Emigration – Kompromiss – Kritik unverzichtbar
1.2 Die Sache Gottes
Reich Gottes, nicht Kirche – Apokalyptischer Horizont – Gott ist voraus – Gottes Willen nicht relativieren
1.3 Die Sache des Menschen
Humanisierung als ständige Gegenwart – Der mich gerade braucht – Solidarität
1.4 Der Konflikt
Unausweichliche Entscheidung – Enthüllt sich als Streit um Gott – Gehorsam oder Anmaßung? – Partei für die Benachteiligten
1.5. Zusammenfassung
Gesellschaft ‑ Gott – Mensch – in Auseinandersetzung

 II. Christus in der Sprache einer Kultur

2.1 Die Last der Geschichte
ER lebt für immer – Biblische Titel – hellenistische Interpretation- Christus heute verstehen
2.2 Neue Versuche sind unabdingbar
Problem eines statischen Denkens – Ontologie des Handelns und der Beziehung – Neue Nähe zu biblischem Denken

 III. Vom Sinn der Nachfolge – Lebenspraxis in ständiger Umkehr
Christus selbst – Christus Jesus – der Gekreuzigte

3.1 Welche Identifikation?
Geschichtlich – als Lehre – ethisch – existentiell – angebotene Gemeinschaft
3.2 Nachfolge im Horizont Jesu
In gesellschaftlichen Kontexten – in Gottes Zukunft – im Anruf von Menschen – in Konflikten – Im Wissen um Vergebung
3.3 Die abschließende Formel
In der Nachfolge Jesu …

 Schluss: Was ist zu lernen?

– Christologie im Bruch
„von oben“ – „von unten“
– Christologie in Kontinuität
Gott in der Geschichte – Bedeutung des Kreuzes – Bedeutung der christlichen Gemeinschaft
– Christologie in weltweitem Horizont
Heil als globale Menschheitsfrage

 Exkurs:
J. Ratzinger – W. Kasper – H. Küng, ein kritischer Vergleich

 

[1] 1973 erschien bei CONCILIUM die bahnbrechende Themennummer “De crisis van de geloofstaal” (Nr. 5 mit u.a. den Artikeln von E. Schillebeeckx (Crisis van de geloofstaal als hermeneutisch probleem, 33- 47), H. Weinrich (Narratieve theologie, 48-57), J.B. Metz (Kleine apologie van het verhaal, 58-73) en J.-P. Jossua (Christelijke ervaring en geloofsmededeling, 74-86). 1976 erschien das grundlegende Werk von H. Peukert (Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – Fundamentale Theologie, Düsseldorf 1976, Frankfurt 51988). Siehe als zusammenfassende Würdigung: K. Wenzel, Narrative Theologie, in: Lexikon für Theologie und Kirche3, Band 7, Freiburg 1998, 640-643; ferner: H.W. Frei, Theology and Narrative, New-York 1993.

[2] Sinus Sociovision, Heidelberg.

[3] Schwäbisches Tagblatt . 8. 23. 2006, S. 25.