In der Neuzeit wurde die Theodizee entwickelt; es war eine philosophische, nüchtern abwägende Denkoperation, in der das Leiden von Menschen als Kalkül neben anderen Faktoren im Weltgeschehen eingesetzt, aber nicht als unerträgliche Erfahrung ernst genommen wurde. Deshalb kann es als ein Glücksfall gelten, dass die Hiobfrage in den vergangenen Jahrzehnten das Theodizeeproblem gesteuert und teilweise ersetzt hat.
Durch Jahrhunderte galt Hiob in der jüdischen, der christlichen und der muslimischen Tradition als der Dulder, der sich vor Gott seinem Schicksal ergab. Auf Todesanzeigen las man gerne: „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen: gelobt sei der Name des Herrn.“ (1,21b). Dieser Satz, der noch der Prüfung Hiobs durch den Satan vorangeht, wurde als Grundthese des gesamten Buches verstanden. Gegenüber solcher Unterwerfungspose übernahm die Theodizee als Kind des religionskritischen Denkens zunächst den Gegenpart [Ammicht-Quinn]. Ihre klassische Form beim christlichen Schriftsteller Laktanz (250-317) überliefert und kritisch besprochen [Laktanz], finden wir zum ersten Mal bei Epikur (341-217), der die Vereinbarkeit von Gottes Macht, Güte sowie den Übeln der geschaffenen Welt in der Form eines Trilemmas ablehnt. Also gibt es, wenn überhaupt, einen schwachen oder einen übelwollenden Gott. In zahllosen Spielarten wird diese Denkfigur seit der Aufklärung vielfältig ausgeweitet und zum großen neuzeitlichen Thema [Janßen]. Oft wird dieser Ursprung übersehen. Diese Denktradition begann in religionskritischer Absicht, wurde in diesem Sinne immer wieder aufgegriffen [Hitchens] und prinzipiell als Unternehmung abgelehnt [Kant, Marcel]. Entscheidend ist jedoch, dass sie sich seit der Aufklärung auf der Ebene philosophischer Reflexion präsentiert und deshalb seit Leibniz eine grundlegende Wende erfahren kann. Vom Gedanken einer besten aller möglichen Welten her will er (Schöpfer des sprachlich fragwürdigen Begriffs „Theodizee“) die Übel im Weltgeschehen mit Gottes Macht und Güte versöhnen und die Freiheit des Menschen darin integrieren [Leibniz]. Vor allem die katholische Theologie hat diese Tradition aufgenommen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben Verfeiner und Differenzierer der Argumentationen an ihr gearbeitet und die Bedeutung des Begriffs auf die philosophische Gotteslehre insgesamt ausgeweitet. Doch konnten sie sich, dem Anspruch auf einen Gottesbeweis ähnlich, im allgemeinen Diskurs nicht durchsetzen [Marquard].
1. Die Wende
Warum bleibt das Theodizeeproblem dennoch ein lebendiges und belastbares Thema? Das hat seinen Grund in dem grundlegenden Bedeutungswandel des Begriffs. In der Regel wird mit „Theodizee“ keine distanziert reale Denkübung mehr umschrieben, wie sie uns Leibniz vorgemacht hat, sondern eine selbstkritische Auseinandersetzung mit dem Gottesglauben angesichts von Unrecht und Leid. Zur Diskussion stehen nicht mehr abstrakt die Existenz Gottes, dessen Allmacht und Liebe als rational durchkonstruierte Eigenschaften, sondern die Bedeutung solcher Aussagen für das gelebte, von Unrecht und Leiden durchzogene Leben. Was bedeuten in Gottes Abgründen und in den Abgründen der Welt noch Macht und Liebe? Warum leiden und zweifeln Menschen an Gott und Welt, warum und mit welchem Recht protestieren sie gegen ihn? Was an menschlichem Leiden ist göttlicher, was ist menschlicher Verantwortung zuzuschreiben? Diese Fragen leben nicht nur bei Christen, sondern auch bei Juden und in der muslimischen Tradition [Kermani].
Die Überfülle der angedeuteten Fragen ist hier nicht zu behandeln [Hermanni]; nur ein Aspekt sei herausgegriffen. Diese Kehre im Theodizeeproblem geht Hand in Hand mit der Neuentdeckung des Hiob als einer leidenden, mit Gott hadernden Gestalt. Beide Fragefelder wurden von einer metaphysisch spekulativen Ebene herabgeholt und durchlässig für Geschichte und Existenz. Die Wende fand im 19. Jahrhundert ihre Vorläufer. Schon Kierkegaard (1813-1855) sah Hiob nicht mehr als Vorbild der Ergebung, auch nicht einfach als Urbild des Protests, sondern als den Leidenden, wie es in der Geschichte zahllose Leidende gibt [Kierkegaard]. Diese Sicht höhlt die traditionelle Theodizee als religiöse Verteidigungsstrategie unmerklich aus, denn jetzt verflüssigen sich die Fronten. Bald zeigt sich, dass im Hiobbuch nicht der Mensch geprüft, sondern Gott zur Verantwortung gerufen wird [Jung]. Umgekehrt beziehen H. Küng und andere seit den 60er Jahren Glauben und Vertrauen in das Spiel von Protest und Annahme ein. G. Greshake u.a. erklären das Leiden zum Preis der Liebe [Greshake], angelsächsische Theologen wie R. Swinburne machen sie zum Preis der Freiheit [Swinburne]. Bei buddhistisch inspirierten Ansätzen schließt sich die Frage an, ob (oder inwieweit) Leiden und Schmerz nicht überhaupt Schein sind. Zwar kann ein behutsamer Umgang in all diesen Argumenten etwas Wahres finden, aber alle sind sie missbrauchbar, gegen die Instrumentalisierung des Leidens und den Missbrauch der Leidenden nicht resistent. Selbst eine vorschnelle Parallelisierung von Hiob und Christus hält dieser Gefahr nicht stand. Denn wer meint, Christus sei die Antwort auf Hiob, muss zuerst dafür sorgen, dass in Christus das Leiden Hiobs nicht verharmlost wird. Solche Verharmlosung klingt noch immer aus mancher Erlösungstheorie und Karfreitagspredigt [Limbeck].
Nach und neben dieser Phase der Verflüssigungen stellt sich die wirkliche Wende erst allmählich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts ein. Angesichts der Grauen des 2. Weltkriegs und der Schoa war der Blick auf ein Leiden frei geworden, das sich nicht mehr wegdiskutieren oder in ein höheres Gut aufheben lässt. Deutschland konnte seine Täterrolle nicht mehr leugnen, auf die Dauer nicht mehr metaphysisch überhöhen. Auch das Christentum lässt sich von seiner Mitschuld nicht mehr freisprechen. Das Unrecht an den Juden zwang die Theologie, endlich Farbe zu bekennen und den eigenen Anteil an diesem Leiden zu thematisieren. Mit der Schoa hat die Theodizee einen zeitgemäßen, herausfordernden Namen bekommen. Zugleich erschien in Literatur und Theologie mit Hiob eine Leitfigur, die aller Verharmlosung des Leidens widersteht; sie wurde in diesem schmerzvollen, zur Wahrhaftigkeit zwingenden Prozess zur vermittelnden Figur, die uns sprachfähig machte. Neben den vielen Verarbeitungen durch jüdische Literatur schaltete sich auch jüdische Theologie in die Debatte ein. Es fällt auf, dass Hiob dort zunächst nur zurückhaltend behandelt wird, so als möchte die Theologie ihre klassischen Denkwege zunächst nicht aufgeben [Oberhänsli].
2. Sechs Beobachtungen
Vergleichbares ist von der christlichen Theologie zu sagen. Dennoch schälen sich Konturen heraus, die allmählich und oft indirekt die Denkfiguren der christlichen Theologie bestimmen. Ich will versuchen, die Vielschichtigkeit und komplexe Vielfalt der Veränderungen in sechs Beobachtungen zu bündeln.
2.1 Das Buch als autonomer Text
Der Text des Hiobbuchs wird als autonomer Text mit seinen eigenen literarischen Gesetzen wahr- und ernstgenommen, Hiob damit vom Korsett der systematisch-theologischen Verzweckung und von der Absicht befreit, die Rätsel des Leidens vor Gottes Angesicht zu lösen. Stattdessen präsentiert sich ein komplexes Netz von Fragen, die einander bedingen [Wolde]. Natürlich taucht Hiob immer noch als Prototyp und Lehrstück für Duldsamkeit oder Protest auf, aber jetzt entfaltet sich die Theodizeefrage in einem vielschichtigen Drama, dessen Abgründe sich aus der Demütigung des Leidenden, der Konfrontation mit Gott sowie aus dem Gerechtigkeitspostulat ergeben. Das Geschehen in sich, nicht ein Lösungsinteresse tritt ins Zentrum [Köhlmoos]. Zugleich spiegelt der Text die klassischen Widersprüche einer religiösen Antwort. Man denke an den Widerspruch zwischen der mythisch verfassten Rahmenerzählung und dem konkreten Unheilsverlauf, zwischen den Verteidigungsreden Elihus und Hiobs Reaktionen, zwischen den Fragen Hiobs und der Antwort Jahwes. Geht es um die Rettung des göttlichen Vorhersehungsglaubens oder den Realismus menschlichen Leidens, um das Misslingen aller Theodizee oder um die Legitimation menschlichen Protests, um den Versuch, dieses Schicksal zu verstehen oder um eine letzte Resignation vor Gottes Machterweis? In erster Linie meint das Hiobbuch ein theatrum mundi, das eine menschliche, uns allen gemeinsame Situation zur Kenntnis gibt, also die Realitätsnähe des Gottesglaubens erprobt [Theobald]. Das Hiobbuch macht die Theodizeefrage gemäß den Regeln einer dramatischen, von Reflexionen unterbrochenen Erzählung begreifbar. Es sorgt dafür, dass die Rede von Gottes Handeln „theodizeesensibel“ wird [Stosch], ihr Maß also am Leiden des Menschen nimmt und nicht umgekehrt. So erhält die Theodizee insgesamt eine neue Stoßrichtung, weil das Drama des Leidens selbst zu Wort kommt. Deutlich wird, dass sich die Theodizeefrage an jedem Leidens- und Katastrophenbericht zu bewähren hat. Diesem Modell können immer noch harte oder beschwichtigende, herausfordernde oder tröstende Modelle entwachsen. Das wird sich je nach kultureller, sozialer und persönlicher Situation der Adressaten entscheiden. Es kommt aber darauf an, dass das narrative Element des Theodizeeproblems endlich begriffen und primär mit den Mitteln der Narrativität gelöst wird [Langenhorst].
2.2 Die Autorität einer leidenden Person
Die Figur Hiobs wird vom Geschichtsmangel einer abstrakten Heilslehre befreit. Er wird als menschliche Person wahrgenommen, deren Autorität bei all ihren Reaktionen in ihrem Leiden besteht. Wie bei allen Leidenden erfährt dieses Leiden bei verschiedenste, im Grunde unwiederholbare Konkretisierungen. Im Kern erscheint es als das Andere, mit dem sich niemand identifiziert und zu dessen Abwendung Religion oft instrumentalisiert wird (Lévinas). Deshalb behält es gegenüber allem Begreifen einen Überschuss an einem Erfahrungsgehalt, der prinzipiell nicht aufzuarbeiten ist [Nemo]. Angesichts einer interreligiösen Diskussionslage wird deutlich: Bei Hiob, der schon im Hiobbuch als der Fremde erscheint, geht es weder um einen Christen noch um einen Juden, sondern – unabhängig von seiner Kultur – um einen leidenden Menschen. Zwar setzen seine Fragen einen monotheistischen Bezugsraum voraus, aber genau ihn stellen sie auf die Probe. Aus der Perspektive des unmotiviert Leidenden geraten alle festen Voraussetzungen in die Schwebe, so dass niemand aus der Klage, dem zweifelnden Diskurs oder der Religionskritik ausgeschlossen wird. Wir stoßen so zu einer Wurzel vor, aus der Glaube und Glaubenskritik gleichermaßen hervorgehen: „Ich glaube, dass ich glaube“ (Vattimo), „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,24), oder vielleicht: „Eine jede konkrete Glaubensantwort muss versagen“. Aus diesem Ansatz entsteht eine neue Freiheit, an Gott selbst Fragen zu stellen, für die Offenheit der Theodizeefrage zu sorgen, die gängigen Voraussetzungen und Vorurteile zu enthüllen und die Antwort den Leidenden selbst zu überlassen, auch wenn sie sich – wie in der Jesusgestalt des Markus – von Gott verlassen weiß. Auch diese Schwebe kann zu verschiedenen Lösungen führen, sofern sie nur das Leiden von Menschen respektiert.
2.3 Theodizee als Drama
In dem neuen Ansatz verliert Hiob seine utopische und seine moralisierende Stellung. Keine Utopie ist im Spiel, weil Hiob angesichts des 20. Jahrhunderts millionenfach verifiziert wurde, keine Moral, weil er in allen abrahamitischen Religionen seine Stellung als heiliger und reich belohnter Dulder verloren hat. Sein Drama wurde zum Prototyp eines Geschehens, das sich beliebig wiederholt hat und wiederholen kann; er wurde zum Zeitgenossen (E. Wiesel). Durch Jahrhunderte und trotz der Einsprüche von Voltaire und Kant war die Theodizeefrage am Erdbeben von Lissabon orientiert (1755), das als Naturkatastrophe alle Fragen auf eine göttliche Zulassung konzentrierte. Der neue Blickpunkt lautet Auschwitz, das stellvertretend nicht nur für das Schicksal des jüdischen Volkes, sondern auch für das nationalsozialistische Handeln, den westlichen Antisemitismus und die Früchte der sogenannten christlichen Kultur steht [Ammicht-Quinn, Häring]. Diese Frage macht Gottes Zulassung vom politischen Handeln von Menschen abhängig und zeigt die hohe Komplexität der zeitgemäßen Theodizeefrage, in der eine vorbehaltlose Sozial-, Kultur- und Religionskritik zum Vorraum der Gottesbefragung wird. In diesem neuen Verständnis von Theodizee wird Hiob zur besprechbaren Gestalt, die nicht die Ursachen, wohl aber die Auswirkungen eines gesellschaftlich und machtpolitisch hochkomplexen Gesamtgeschehens symbolisiert. Viele Details des Hiobbuches mögen heute verblassen, weil sie vom Gegenwartsgeschehen überrundet sind. Genau dies öffnet den Weg zu einer zeitbezogenen Interpretation der Hiobgestalt, die nicht nur Gott, sondern alle Mächte befragt, denen sie in ihrer Demütigung und in ihrem Tod ausgeliefert ist. Theodizee und Anthropodizee verschränken sich [Härle]. Von Gott kann nur reden, wer zugleich von Mensch und Gesellschaft redet. Vor diesem Hintergrund wird das Hiobbuch auch zur Warnung von einem überkodierten Gottesbild, dessen Entflechtung oft zu Unrecht als Säkularisierung oder Glaubensmangel interpretiert wird.
2.4 Scheitern einer rationalen Koordination
Ähnlich wie beim Hiobbuch zeigt sich bei der Theodizeefrage, dass eine harmonisch rationale Koordination aller Teilaspekte aus der Perspektive einer lösungsorientierten Glaubenslehre scheitert. Drei Gesichtspunkte müssen genügen:
* Schon lange ist die Rolle von Glaube und Theologie als Rätsellösern in Misskredit geraten. Für eine an Hiob orientierte Theodizee überzeugt theologische Arbeit nur dann, wenn sie selbstkritisch vorangeht, sich ihrer Grenzen und ihres drohenden Zynismus bewusst ist. Für Elihus Scheitern im Hiobbuch sind nicht einfach Moralismus und Besserwisserei verantwortlich. Es geht um die prinzipiellen Grenzen rationaler Argumentation gegenüber einem irrationalen Geschehen.
* Im Hiobbuch dient Satan der Dramatisierung des Prozesses (vgl. Schlange im Paradies, Versucher in der Wüste); im Geschehen selbst spielt er keine Rolle. Menschliche Sprache bedarf der Veranschaulichung, sobald Unaussprechliches ausgesagt werden soll. Die Theodizee tut gut daran, ihre konkreten Fragen nicht auf simplifizierende Ursachen zu projizieren, die nur Scheinlösungen anbieten [Claret]. Das Hiobbuch verpflichtet sie auf einen konkreten Realismus.
* Nach wie vor dunkel bleibt die Frage nach Gott, der sein Antlitz vor Hiob verbirgt, um plötzlich im Sturm zu erscheinen. Ist es der weltüberhoben autoritäre Gott, von dem wir keine Ahnung haben, oder der in seiner Macht Begrenzte, der das Chaos von Leviathan und Behemoth nie ganz besiegen wird? Ist Gott ein Menschenfeind (z. B. Kap. 6) oder derjenige, der im Überfluss belohnt? Als schmerzlich erfährt man den Gott, der am Ende die Geduld mehrfach belohnt. Darf Hiob Gott als Bedrohung anklagen oder muss er sich ihm stumm unterwerfen? Diese Fragen werden nicht eindeutig beantwortet. Auch eine aktuelle Theodizee kommt nicht weiter, sondern muss diese Abgründe akzeptieren, in denen Gott sich letztlich verbirgt [Baum, Jonas, Zuidgeest].
2.5 Expressive und praktische Theodizee
Mit einem breiten, hier beschriebenen Konsens über das Ende einer rational argumentierenden, also einer „theoretischen“ Theodizee haben sich zwei weitere Wege eröffnet. Nennen wir sie eine expressive und eine praktische Theodizee.
Die expressive Theodizee (eine poetische eingeschlossen) wird laufend vollzogen, aber kaum wahrgenommen. Gemeint sind die Prozesse des Erzählens und Zuhörens, der gegenseitigen Mitteilung, Verständigung und sachbezogenen Auseinandersetzung. So sind etwa die Freunde Hiobs – ungeachtet ihres unsolidarisch wirkenden Widerspruchs – in die Dramatik des Hiobbuchs ebenso positiv einbezogen wie Jahwe selbst. Denn sie kommen, reden und reagieren, machen also eine Bearbeitung der aufgebrochenen Fragen möglich. Einer expressiven Theodizee dient das Hiobbuch ebenso wie alle Hiobliteratur der vergangenen Jahrzehnte, ein Gespräch mit Betroffenen ebenso wie ein geduldiges Zuhören, denn in ihnen können Betroffene sich spiegeln und Interessierte Anteil nehmen. Auf der Ebene authentischer Kommunikation wird Leiden zum gemeinsamen Geschick. Daraus erwachsen Sinnbearbeitung und Trost. Das Buch Hiob lässt sich als eine Verführung zu solchem zutiefst religiösen Handeln beschreiben.
Wenn ich recht sehe, überschreitet die praktische Theodizee den Horizont des Hiobbuchs, aber es führt zu ihr hin. Eine praktische Theodizee knüpft an die Erfahrung der Gegenwart an, dass sich Gottesbild und Gottesglaube immer durch menschliches und gesellschaftliches Handeln vermitteln: Wer konkret hat Hiob Böses angetan und wer konkret erweist ihm Solidarität? Wir brauchen uns nur ein Opfer von Auschwitz als Hiob der Gegenwart vorzustellen, dann folgen die weiteren Fragen: Wem gilt der Gottesprotest, wenn Jugendliche heute im Stich gelassen werden? Wer tritt für die Geschundenen des Irakkriegs als Menschenfeind auf? Angesichts einer machbaren Gesellschaft, angesichts globaler Gestaltungsmöglichkeiten in Wirtschaft und Politik, auch angesichts der sozialen und politischen Dimensionen aller Religionen wächst die Hiobsgestalt in neue Dimensionen hinein. Deshalb haben die Befreiungstheologien die Frage nach der Veränderung der Welt jener anderen nach deren Interpretation vorgezogen, eine kollektive und je individuelle Grundoptionen zugunsten der Opfer eingefordert. Die expressive und die praktische Theodizee leben aus der Grundeinsicht, dass sich niemand unverbindlich aus der Leidenssituation von Leidenden entlassen kann. Kein Beobachter kann sich aus der Täterrolle verabschieden. An dieser Schnittstelle beginnen Sinn- und Theodizeefrage, von der Hiobfrage belehrt, ihren eigenen Weg, indem sie den Blick auf die Praxis integrieren [Ammicht-Quinn 267-284].
2.6 Religion als Schrei
Angesichts der modernen Theodizeefrage wird das Buch Hiob zu einer genialen Grenzliteratur; denn sie dramatisiert genau die Grenzen, an die jede Theodizeefrage stoßen muss.
* Beispielhaft sei noch einmal der Kontrast zwischen objektivierender Rahmengeschichte und vorbehaltlosem Gottesprotest genannt. Im letzten bleibt offen, ob Hiob gegen dieses Gottesbild oder gegen die Gottesfrage selbst protestiert. Angesichts der aktuellen Elementarisierung der Gottesfrage in einer szientistischen Epoche entfaltet diese Frage eine erhellende Kraft. Religionen beginnen ja nicht mit der Erkenntnis eines umfassenden Gottesbildes, sondern immer mit dem Schrei nach einer rettenden Kraft [Joas]. Zu diesem elementaren Schrei kehrt Hiob zurück.
* Dies rettet auch die Ehre von Hiobs Theologenschar. Sie produzieren ja nur jene Klischees, auf die allerbeste Theologie immer wieder zurückgefallen ist (Tun-Ergehen-Zusammenhang, Einforderung der Gehorsamspflicht, Aufruf zu Buße und Demut), und vor allem: sie können nicht schweigen, weil man sie um Trost und Ratschläge bittet. Das Hiobbuch provoziert also die auch religionspädagogisch wichtige Frage, wie zwischen Handeln, Schweigen und Kommunikation eine situationsgerechte Balance zu erreichen ist.
* Schließlich bleibt noch jenes Wort, das – trotz aller Übersetzungsprobleme – als Findling aus der Fülle der Texte herausragt und immer wieder so begriffen wurde: „Doch ich, ich weiß, mein Anwalt lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub“ (19,25). Dieser Ausruf und sein Kontext (9, 23-29) sprengen den Zusammenhang, denn Jahwe gilt als Bezugspunkt, wird zugleich relativiert. Wie sollte außerhalb dieses Gottes ein Anwalt oder Erlöser vorstellbar sein. Aber auf ihn bezieht sich Hiobs Imagination, in der selbst Gottesbilder als letzter Halt des Weltverständnisses versagen. Das Leiden Hiobs überschreitet das Maß seiner eigenen Möglichkeiten von Vorstellung und Sprache; Gott ist Hoffnung und führt – wie in der Gegenwart so oft – zum Appell an Gott gegen Gott [Bloch].
3. Die Zukunft
Am Kreuzungspunkt von Hiob und Theodizee wird die Wende der Fragen unverkennbar. Das logische Theodizeekalkül formt sich zu einer existentiellen und solidarischen Problemerhellung um. Dass diese Umformung aber in Gang kam, ist – religiöse Vorzeichen vorausgesetzt – für die zukünftige Aneignung der Fragen nach Sinn und Absurdität unseres Lebens ein Glücksfall. Man kann diese Entwicklung mit Derridas Idee der Dekonstruktion vergleichen. Unhaltbar gewordene Argumentationslinien wurden aufgelöst, zu verarbeitende Konstruktionselemente – Hiob sei Dank – neu zusammengesetzt.
Vom Standpunkt des christlichen Glaubens aus ist auf eine letzte Transformation hinzuweisen. Ich stelle dazu die Frage, ob und warum es – nach allgemeinem Verständnis – bis zur Aufklärung keine Theodizee gab. Man kann sich auf einen Allgemeinplatz als Antwort zurückziehen: Die Theodizee im klassischen Sinn ist ein Kind der Aufklärung. Man darf aber die Kehrseite nicht übersehen: Die Erinnerung an Leiden und Tod Jesu bildete schon immer die intensiv gegenwärtige innerchristliche Folie für das Leidensproblem [Crenshaw]. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein fiel dem Theodizeeunternehmen innerhalb des christlichen Glaubens nur eine Stützfunktion zu. Das änderte sich in dem Maße, als die christliche Tradition ihre kulturelle Kraft verlor. Wenn seitdem ausgerechnet Hiob für die Theodizee zum Glücksfall wurde, ist damit für denkend entschiedene Christen die zentrale Bedeutung Jesu nicht verschwunden. Es ist deshalb wichtig, dass Hiob nicht als Konkurrent Jesu in das religiöse Gedächtnis eingeführt und Jesus nicht als dessen Steigerung begriffen wird [Neuhaus]. Aber in den religiös unentschiedenen, weithin säkularisierten und interreligiösen Milieus unserer Gegenwart hat die Hiobgestalt einen entscheidenden Vorteil. In ihm verkörpern sich nicht von vornherein hohe Normen und Werte, wird auch nicht eine hochkodierte religiöse Identität vermutet. Beide könnten Nichtchristen und Nichtgläubige (vielleicht auch suchende Christinnen und Christen) von vornherein aus dem Gespräch ausschließen. Mit Hiob dagegen verbindet sich ausschließlich ein schweres Schicksal, in dem sich Ungezählte wiedererkennen.
In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Theodizeefrage auf die Hiobfrage hinbewegt. Das bedeutete für das theologische Denken einen ungeheuren Gewinn. Wenn aber neuere Literatur nicht täuscht, gibt es auch eine Entwicklung zurück zu einer theoretischen Theodizee, in der die Hiobfrage wieder verschwindet [Dalferth, Kreiner]. Das muss kein schlechtes Zeichen sein, denn dem christlichen Glauben sollte an einer rational verantwortbaren, d.h. argumentativ durchdachten Beantwortung der vorliegenden und immer wieder aufbrechenden Sinnfragen liegen. Auch könnte es sein, dass die sehr existentielle und auf ein Individuum zugeschnittene Tönung der Hiobproblematik auf die Dauer umfassende, philosophisch relevante Sinnfragen überdeckt. In jedem Fall ist zu erwarten, dass diese neue, philosophisch argumentierende Theodizee drei Bedingungen erfüllt: Sie sollte nicht in den belehrenden Ton allwissender Rätsellöser zurückfallen. Sie sollte in kluger Selbstbegrenzung ihre Arbeit mit der Arbeit der Religionen koordinieren und sie sollte – der Kritik Kants gemäß – auf ihre Authentizität, d.h. auf unbedingte Ehrlichkeit auch dort achten, wo sie Antworten schuldig bleibt, genau darüber das Gespräch sucht und für die Möglichkeiten einer praktischen Theodizee arbeitet.
Literatur:
– R. Ammicht-Quinn, Von Lissabon bis Auschwitz. Zum Paradigmawechsel in der Theodizeefrage, Freiburg 1992.
– W. Baum, Gott nach Auschwitz: Reflexionen zum Theodizeeproblem im Anschluß an Hans Jonas, Paderborn 2004.
– E. Bloch, Atheismus im Christentum, Nr.24.
– J. Claret (Hg.), Theodizee: das Böse in der Welt, Darmstadt 2007.
– L. Crenshaw, Defending God: biblical responses to the problem of evil, Oxford 2005.
– U. Dalferth, Leiden und Böses. Vom schwierigen Umgang mit dem Widersinnigen, Leipzig 2006.
– G. Greshake, Der Preis der Liebe. Besinnung über das Leid, Freiburg 1978.
– H. Häring, Das Böse in der christlichen Tradition, in: J. Laube (Hg.), Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt 2003, 63-130.
– W. Härle (Hg.), Menschenwürde, Marburg 2005.
– F. Hermanni, Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh 2002.
– Ch. Hitchens, Der Herr ist kein Hirte. Wie Religion die Welt vergiftet, München 2007.
– H.-G. Janßen, Gott – Freiheit – Leid. Das Theodizee-Problem in der Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 21993.
– H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997.
– H. Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt 1987.
– C. G. Jung, Antwort auf Hiob, Olten 1973.
– I. Kant, Über das Misslingen aller theologischen Versuche in der Theodizee, in: Akademie-Ausgabe VIII, 253-271.
– S. Kierkegaard, Die Wiederholung, Düsseldorf 1955, z.B. 59.
– A. Kreiner, Gott im Leid. Zur Stichhaltigkeit der Theodizee-Argumente, Freiburg 1997.
– Laktanz, Vom Zorne Gottes, hg. und übersetzt von H. Kraft und A. Wlosok, Darmstadt 31974, 13,20 (S. 46/47).
– N. Kermani, Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte, München 2005.
M. Köhlmoos, Das Auge Gottes, Textstrategie im Hiobbuch, Tübingen 1999.
– G. Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung, Mainz 1994, 321-406.
– G. W. Leibniz, Die Theodizee. Von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, Frankfurt 1986.
– M. Limbeck, Alles Leid ist gottlos. Ijobs Hoffnung contra Jesu Todesschrei, Stuttgart 2005.
– G. Marcel, Metaphysisches Tagebuch, Wien/München 1955.
– Ph. Nemo, Job et l’excès du mal (Postface de Emmanuel Levinas), Paris 1999.
– G. Neuhaus, Theodizee – Abbruch oder Anstoß des Glaubens, Freiburg 1993.
– G. Oberhänsli-Widmer, Hiob in jüdischer Antike und Moderne. Die Wirkungsgeschichte Hiobs in der jüdischen Literatur, Neukirchen-Vluyn 2003 (Kap. V und VI).
– O. Marquard, Entlastungen. Theodizeemotive in der neuzeitlichen Philosophie, in: – ders., Apologie des Zufälligen. Philosophische Studien, Stuttgart 1986, 11-32.
– Th. Pola, Gott fürchten und lieben. Studien zur Gotteserfahrung im Alten Testament, Neukrichen-Vluyn 2007, 79-149.
– von Stosch, Gott – Macht – Geschichte. Versuch einer theodizeesensiblen Rede vom Handeln Gottes in der Welt, Freiburg 2006.
– R. Swinburne, Providence and the problem of evil, Oxford 1998.
– G. Theobald, Hiobs Botschaft. Die Ablösung der metaphysischen durch die poetische Theodizee, Gütersloh 1993.
– E. van Wolde (Hg.), Ijobs Gott, Themenheft Cocilium 40 (2004). Nr. 4, 373-499.
– P. Zuidgeest, The absence of God: exploring the Christian tradition in a situation of mourning, Leiden 2001.
Erschienen in:
rhs/Religionsunterricht an höheren Schulen 50, 2007, Nr. 5, 276-282.