Wer darauf hoffte, dass das Jahr 2017 in Sachen Ökumene substantielle Fortschritte bringt, wurde bitter enttäuscht. Die vielen Gesten der Annäherung bewegten sich an der Oberfläche. Sebst die evangelische Theologin Dorothea Wendebourg nannte das Christusfest ein Ausweichmanöver.
„Nur 500 Jahre Reformation feiern, ohne die Kirchenspaltung wirklich zu beenden, heißt, neue Schuld auf sich zu laden.“ (Hans Küng)
Am 31. Oktober 2017 findet das 500-jährige Reformationsjubiläum in Deutschland seinen Höhepunkt und Abschluss. Die römisch-katholische Kirche in Deutschland hat sich an den Feierlichkeiten der vergangenen Monate intensiv beteiligt und den Eindruck eines tiefen ökumenischen Einvernehmens erzeugt. Doch es gibt vielfache Gründe, die diesem versöhnlichen Eindruck widersprechen. Mehr als 50 Jahre nach dem 2. Vatikanischen Konzil verharrt die römisch-katholische Amtskirche noch immer in einem ökumenischen Stillstand. Rom verweigert sich einer Rehabilitation Luthers sowie der Aufhebung von Exkommunikationen aus der Reformationszeit. Die Anerkennung protestantischer und anglikanischer Ämter wird ebenso abgelehnt wie eine gegenseitige eucharistische Gastfreundschaft, dies wider alle biblische, historische und theologische Vernunft. Dies ist kein Grund zum Feiern, sondern Anlass zu tiefer Bestürzung.
Versagen seit 60 Jahren
Wie konnte es soweit kommen? Seit den 1950er Jahren, also schon vor dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965), hat sich im römisch-katholischen Raum eine ökumenisch orientierte Theologie entwickelt. Mit Erfolg brachte sie Klarheit in die ökumenischen Differenzen und zeigte, wie sie sich überwinden lassen. So wies Hans Küng 1957 nach, dass die Rechtfertigungslehre kein Trennungsgrund zwischen den Kirchen sein kann. Dann verlieh das Konzil der Vision der gegenseitigen Versöhnung einen gewaltigen Schub. Vor nunmehr 44 Jahren erschien das erste große ökumenische Memorandum zur „Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter“, das von drei evangelischen und drei katholischen Ökumenischen Universitätsinstituten auf Basis einer breit angelegten Argumentation erarbeitet wurde. Spätere Arbeiten haben dessen positive Ergebnisse vielfach bestätigt, erweitert und vertieft.
Doch hat die römisch-katholische Amtskirche diese Forschungen nie wirklich zur Kenntnis genommen. Stattdessen versuchte sie, den Einfluss dieser ökumenisch weiterführenden Dokumente zu diskreditieren und beschickte ökumenische Kommissionen nur mit Vertretern, die der offiziellen Kirchenlehre treu ergeben waren. So konnten keine Durchbrüche erzielt werden. Diese Überheblichkeit der römisch-katholischen Hierarchie hat sich unter Johannes Paul II. und unter Benedikt XVI. massiv verhärtet und ist bis heute nicht überwunden. Leider hat die Amtskirche übersehen, wie sehr sie dadurch ihre ökumenische Glaubwürdigkeit ruinierte. Zwar hat Papst Franziskus versöhnliche Töne gefunden, doch die offiziellen Regelungen blieben unangetastet.
Im Gegensatz dazu haben die Kirchen an der Basis ihre Vorurteile abgebaut. Engagierte Christinnen und Christen lernten einander in vielfältiger Kooperation kennen. Sie beschäftigten sich in biblischen und theologischen Arbeitskreisen mit der ursprünglichen christlichen Botschaft, an die sich alle Kirchen zu halten haben. Inzwischen fördern viele Stellungnahmen reformorientierter Kreise diese Annäherung, doch möchten sie jeden offenen Konflikt mit der Amtskirche vermeiden. Deshalb sprechen sie ihren ökumenisch gesonnenen Freunden in vagen Formeln Mut und die Hoffnung zu, ihre Bemühungen würden irgendwann von Erfolg gekrönt. Wann aber soll das sein?
Solche Aufrufe sind gut gemeint und nicht unbedingt falsch. Doch auf die Dauer verschleiern sie den Ernst der prinzipiell verhärteten Situation. Mit Freundlichkeit und diplomatischem Geschick kommen wir nicht weiter, das hat die Vergangenheit zur Genüge bewiesen und wird aus dem weltweiten, interkulturell höchst vielfältigen Charakter des Katholizismus plausibel. Wie will man Europa, Asiatische Länder, Süd- und Zentralafrika, Nord- und Südamerika unter einen Hut bringen, ohne klar, verbindlich und möglichst von der Schrift her zu argumentieren?
Vorgängig zu freundlicher Diplomatie und psychologischem Einfühlungsvermögen in die Psyche der Bischöfe bedarf es einer doppelten Einsicht. Erstens: Mit der Schrift und einem engagierten Glaubensbewusstsein lassen sich die offiziellen Blockaden in keiner Weise rechtfertigen; vor Gott und der Welt sind die Bischöfe und ihre Mitkämpfer im Unrecht. Zweitens: Diesem unerträglichen Missstand können wir nur wirksamen Widerstand bieten, indem wir ihn ungeschönt benennen, offen anklagen und die Bischöfe zur Verantwortung ziehen. Genau das kann man bei Martin Luther lernen.
Manche mögen widersprechen, denn unter Katholiken ist das Harmoniebedürfnis unendlich groß. Zudem setzten unsere Kirchenleitungen in den vergangenen Monaten eindrucksvolle Zeichen der gegenseitigen Annäherung. Man denke an die Reise römisch-katholischer und evangelischer Bischöfe und Bischöfinnen nach Israel, an das gemeinsame Christusfest zur Heilung der Erinnerungen in Hildesheim sowie an die gemeinsamen Verlautbarungen von Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx. Doch sie alle versuchten nur, von der Unbeweglichkeit der römisch-katholischen Bischöfe abzulenken und die skandalöse Stagnation zu verschleiern. Damit hatten sie keinen Erfolg. Nicht einmal in Jerusalem gelang es, ein gemeinsames Abendmahl zu feiern. Der Hildesheimer Gottesdienst vermied in seiner kunstvoll austarierten Sprache jede Anspielung auf ökumenisches Unrecht, das heute wehtut und Menschen verletzt. Auch die Freundschaftsbekundungen der beiden obersten Kirchenrepräsentanten hielten sich genauestens an die Grenzen des gegenwärtig Erlaubten. So haben sich die Beiden verpflichtet, „insbesondere der Frage nach der sogenannten ‚sichtbaren Einheit‘ nachzugehen und zu klären, was sie bedeutet“; von Papst Franziskus erhoffen sie eine „anhaltende Ermutigung unserer ökumenischen Bemühungen“. Vorsichtiger, verschleiernder und ängstlicher kann man kaum formulieren.
Wahrheit macht Arbeit
Natürlich haben auch andere vorwärtsdrängende Stimmen recht: Die immer noch hemmenden offiziellen Lehrstreitigkeiten sind nicht nur vor-modern, sondern auch vor-neuzeitlich und hoffnungslos überholt. Ihre Grundtendenz stammt aus dem 11./12. Jahrhundert. Damals konnte Gregor VII. noch feierlich erklären, über den Papst sitze niemand zu Gericht. Aber solche Positionen, wie veraltet auch immer, sind zutiefst gefährlich und vergiften noch heute unsere ökumenische Zukunft. Zudem sind die Bischöfe nicht mutlos, sondern theologisch uninformiert und in ihren Überzeugungen irregeleitet. In ihrem Gewissen fühlen sie sich an diese Überbleibsel des Mittelalters gebunden. Manche möchten fortschrittlicher sein und werben um Sympathie, aber ihre dogmatischen Überzeugungen zwingen sie ständig zu inneren Vorbehalten, die sie am liebsten verschweigen. Keine freundlich mahnenden Worte bewegen sie zur Bekehrung, sondern allenfalls der klar argumentative Widerspruch gegen dieses unverantwortliche Lehrsystem. Um seine bodenlosen Irrtümer aufzudecken, haben wir die Verirrungen zahlreicher Lehraussagen zu analysieren und an den Pranger zu stellen. Wahrheit macht Arbeit, auch das ist bei Luther zu lernen.
Wir hören auch die vertröstenden kirchenloyalen Kräfte, die sich gleichwohl liberal geben. Sie meinen, wir sollten betend und geduldig auf den Heiligen Geist warten, denn er allein könne uns die Einheit der Kirchen schenken. Meinen diese Herren wirklich, dass wir solchem Trost auf den Leim gehen? Sie übersehen, dass Gottes Geist die Wege gegenseitiger Versöhnung schon längst gebahnt hat. Es ist die römisch-katholische Amtskirche, die sich seinem Wirken entgegenstellt, nicht das ungeduldige Gottesvolk. Wir warten nicht mehr. Die kirchenamtlichen Verbotstafeln beschädigen die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft massiv. Deshalb sind sie zu missachten; Fortschritte können wir nur durch wohlbedachten Ungehorsam erzielen. Die Schuld für diesen gebotenen Widerstand ist nicht an der Basis, sondern weiter oben zu suchen. Wir haben katholische Priesterinnen und Bischöfinnen, ausgebildete Theologinnen und Theologen, spirituell geprägte Mitglieder in unseren Gemeinden. Worauf warten wir noch?
Allerdings gehen die Herausforderungen weiter, denn auch ökumenische Bemühungen können im Provinzialismus enden. Auch dies hat sich im vergangenen Jubiläumsjahr gezeigt, das leider nicht zu einem großen, uns alle bewegenden Thema gefunden hat. Weder ökumenisch gelungene Kuschelnester noch eine aktualisierte Rechtfertigungslehre reichen aus, um die christliche Stimme in der gegenwärtigen Welt wieder hörbar zu machen. Dazu müssten die Kirchen endlich wieder die urjüdische prophetische Botschaft Jesu selbst entdecken. Jesus verkündigte nicht die Rechtfertigung des Sünders, sondern den Beginn des Gottesreichs; das ist damals wie heute eine zutiefst politische Botschaft. Das Thema der Gegenwart ist die Vision einer in Frieden und Gerechtigkeit versöhnten Menschheit, die vor Ort beginnen kann. Deshalb ist die Säkularisierung für Christen kein Unfall, der uns unsere Chancen verdirbt, sondern ein Glücksfall, der uns mit weltoffenen, wirklich globalen Perspektiven konfrontiert. Allein diese Vision hat auch die Kraft, die Kirchen wieder zu einer überzeugenden und nach außen wirksamen Einheit zu führen, weil sie die grassierende Selbstverliebtheit der Kirchen aufbricht und die Not der Menschheit an deren Stelle rückt. Ohne diese Bekehrung sind noch mehr tröstende und ermutigende Worte nutzlos, weil man sie zur Vertröstung pervertiert.
Jesu prophetische Vision zeigt für Katholiken auch ein Zweites: Unsere Kirche, zerrissen oder ökumenisch vereint, ist nicht mehr Mutter und Lehrerin der Völker, wie Rom noch immer behauptet. Vielmehr braucht sie den interreligiösen Dialog. Statt erneut auf den Streit um alte innerkirchliche Differenzen zurückzufallen, sollten wir unsere Vision endlich auch an anderen Menschheitsvisionen messen und diesen Wettstreit zum Zentrum unseres Handelns und Betens, unseres Denkens und unserer Spiritualität erheben. Vielleicht werden dann die Ströme des Lebens wieder fließen.
Veröffentlicht in: Querblick 35 (Dez. 2017), S. 9-11.