Liebe Freundinnen und Freunde aus Kämpfelbach,
In Besinnung auf unsere Gebrechlichkeit!
Noch leben wir in einer Phase der Hilflosigkeit und Angst. Endlose Fragen nach unserer persönlichen und gemeinsamen Zukunft bleiben ohne Antwort. Bislang mussten wir etwa 7000 Väter, Mütter, Geliebte, Geschwister und Freund/innen für immer aus unserer Obhut geben und niemand kann richtig abschätzen, wie viele Abschiede uns noch bevorstehen, ab wann wir auf einen medizinischen Schutz hoffen können. Viele unter uns ängstigen sich vor einem unerwarteten Tod. Nach 1945 verschwand er aus dem öffentlichen Bewusstsein und wurde auf ein privates, öffentlich möglichst verschwiegenes Ereignis zurückgestuft. Plötzlich ist er präsenter denn je. Bis weit ins vergangene Jahrhundert hinein war das Sterben vieler noch von Sünden- und Höllenangst geplagt, unversehens beherrschen die Schreckensbilder aus lombardischen Hospitälern unsere Phantasie: ein qualvolles, oft einsames Ersticken, das die Beatmungsmaschinen nicht verhindern konnten. Natürlich haben Christen inzwischen gelernt, dass uns ein Gott der Güte erwartet, wie schrecklich wird aber der Weg zu ihm sein? Über Nacht sind alle medizinischen Sicherheiten und die Hoffnung auf die Palliativmedizin zerbrochen, der Schwarze Tod aus dem 14. Jahrhundert wird erneut zur Projektionsfläche unserer Ängste. Wie sollen wir gerade jetzt mit Gewinn vom Gedenken und Danken reden? Es ist eine Frage, die sich nicht nur meine Heimatgemeinden im Tal des Kämpfelbach stellen.
1. Warum nicht einfach vergessen?
Gewiss, im Vergleich zu anderen Ländern können wir uns glücklich schätzen. Die erste Infektionswelle gilt als gebändigt. Wir leben in einem hochindustrialisierten, medizinisch gut gerüsteten Land und würden wahrscheinlich selbst bei schwerster Erkrankung wahrscheinlich gut versorgt. So sind unsere Ängste von leichter Hoffnung durchmischt. Dennoch ziehen die Sorgen viele von uns nieder, zu sehr erinnern sie an andere dunkle Stunden, die wir erlebten. Wir denken an andere Unglücksperioden, die wir während unserer Lebensspannen erlebten. Familienmitglieder, schlimmer noch, Kinder oder Enkelkinder sind durch Krankheit oder Unglücke aus dem Leben geschieden, Partnerschaften zerbrochen, Arbeitslosigkeit oder Krankheit haben uns aus der Bahn geworfen. Die Ältesten unter uns erinnern sich an die letzten Kriegsjahre und an das Kriegsende. Viele Wunden sind bis heute geblieben, andere tragen die Wunden ihrer Eltern sowie das bedrückende Schweigen ihrer Väter nach dem letzten Krieg noch immer in sich.
Gewiss, auch aus diesen Erfahrungen erwuchsen vielleicht hellere Seiten, manches wurde durch spätere positive Entwicklungen ausgeglichen. Wir konnten den bleibend Hilflosen beistehen, gerade im Zusammenhalt der Familien, in kleineren Städten und dörflichen Kommunen, selbst in vielen Vereinen, Interessengemeinschaften und Selbsthilfegruppen, auch in kirchlichen Gemeinden oder großen Gemeinschaften, die von humanen oder religiösen Idealen getragen sind, in ihnen gehört der gegenseitige Beistand noch immer zu den selbstverständlichen und kostbaren Tugenden. Dieser vielfältige vitale Zusammenhalt ist wohl der Grund, weshalb sich in unserem Zusammenleben immer wieder ein positiver Grundton durchgesetzt hat. Wir fühlen uns mitgenommen, geführt und in einer Gemeinschaft geborgen. Auch bei allem Elend wurden wir beschenkt und durch die Prüfungen hindurch konnte wieder ein Vertrauen in Mitmenschen und das Leben wachsen.
Wenn wir aber solche Tiefpunkte überwunden haben, warum sollen wir immer wieder in die Abgründe der Vergangenheit zurückblicken? Warum rufen gerade die Religionen, aber auch säkulare Gemeinschaften, die es doch verstehen, neue Hoffnungen keimen zu lassen, das Geschehen immer wieder in unser Gedächtnis zurück? Warum halten wir in Ersingen und Bilfingen, aber auch anderswo, so unbeirrt an unserer schwierigen Erinnerungskultur fest, die wir immer auf einen schwierigen Grat zwischen masochistischer Schmerzverherrlichung und kitschig verklärender Folklore bringt? Warum erfahren wir trotz dieser Gefahren in unseren Feierkulturen neue Möglichkeiten des Zusammenhalts, der Freude und des Neubeginns? Warum zeigt gerade ein solches Gedenken, dass sich noch keine Epoche von Schrecken, Gewalt oder einem fürchterlichen Tod kleinkriegen ließ?
2. Aus Lehm gebildet
Mit Hilfe von drei Hinweisen möchte ich auf eine biblisch begründete, zugleich zutiefst menschliche Elementarerfahrung aufmerksam machen.
Erstens: Die Schöpfungsgeschichten, die wir in den ersten Kapiteln der Bibel lesen, erinnern uns an den meist vergessenen, höchst überraschenden, uns frei geschenkten Beginn von Welt, Leben und Mensch. Selbstverständliches wird uns da bewusst gemacht. Wie in eine Nussschale, die schon einen mächtigen Baum enthalten kann, packen diese Geschichten kurz und anschaulich zusammen, was in der Moderne zu enormen Wissensschätzen geführt hat. Wir kennen sie
– als Kosmologie, Physik und moderner Chemie mit ihren Fragen nach Ursprung und Struktur des Weltalls,
– als Evolutionslehre mit den grandiosen Entwicklungsepochen und -modellen des Lebens,
– als Wissenschaft vom Menschen mit ihren ungeheuer breiten organischen und medizinischen, psychologischen und neurologischen Erkenntnissen,
– als Technikwissenschaften, die uns zeigen, wie erfolg- und einfallsreich wir unsere Welt auch ausgestalten können, wenn wir sie nicht im Machtrausch zerstören.
Wir Menschen sind Teil von Kosmos und Natur, haben inzwischen Zugriff zu ihnen und brauchen uns dafür nicht zu entschuldigen, auch wenn wir verantwortlich zu handeln haben. Das biblische Anfangsszenario ist einladend und in uns allen gegenwärtig. Unser Leben und Lieben, unsere Intelligenz und Empathie, die Fähigkeit, uns zu freuen, glücklich zu sein und unser Glück weiterzugeben, vieles davon haben wir uns vielleicht erarbeitet, aber die Anlagen dazu sind uns kostenlos geschenkt, vom göttlichen Atem „eingehaucht“, wie es der Schöpfungsbericht (Gen 2,7) schreibt. Doch wie am Beginn ist und bleibt dies alles zerbrechlich und schutzbedürftig, wie es heute noch neugeborene Babys sind, die in uns alle Gefühle des Beschützens und Umsorgens aufrufen. Nichts hat eine Bestandsgarantie, alles bleibt „Ungewissheit und Wagnis“, wie P. Wust sagte, und es ist wichtig, dass wir diese Zerbrechlichkeit nie vergessen, denn nur dann kann sie uns begreifen lassen, was für ein Geschenk dieses Neue ist. Aus dieser Dankbarkeit, die uns täglich umgibt, erwächst ein Grundthema, das uns immer umgibt: Unverdient sind wir vom Leben umgeben! Diese naturgegebene und natürliche Bescheidenheit kann uns in Notzeiten zu unserer eigenen Mitte bringen.
3. Noch einmal davongekommen
Die biblische Tradition ergänzt diese Ursprungserinnerung durch einen zweiten Aspekt, dem sich auch der Koran anschließt. Meistens haben wir vergessen: Das jüdische Testament präsentiert der gesamten Menschheit neben Adam und Eva noch ein zweites Stammelternpaar, das sind Noach und seine Frau (deren Name nicht genannt wird). Sie bauen die Arche, um in ihr die eigenen Kinder und alle Tiere, die gerade noch Platz fanden, zu retten. Für Kinder ist das eine wunderbare Vorstellung. Doch im Grunde hat die Schrift weniger Idyllisches zu erzählen, denn da geht eine ganze Welt unter, nahezu die gesamte Menschheit, und das sie umgebende Leben stirbt. Die Wasser steigen, bis nichts mehr übrig bleibt und die Geretteten erst nach langem Warten der Quarantäne entkommen (Gen 6-8). Die gesamte Menschheitsgeschichte beginnt von Neuem. Wir alle, so die Botschaft, sind eine Schicksalsgemeinschaft von solchen, deren Geschichte Unglück und Verderben aufbaut und die noch einmal davongekommen sind, wie es der Theologe K.-J. Kuschel eindrücklich an Hand der biblischen und koranischen Texte beschreibt. Wir Menschen leben im ständigen Todesrisiko und setzen die Verlust- und Todesgeschichten unserer Vorfahren fort; dennoch lohnt es sich, sich auf eine neue Zukunft einzulassen, die der Ölzweig im Schnabel der Taube verspricht.
Natürlich gab es keine historische Wasserflut, die die gesamten Kontinente unter sich begraben hätte. Aber man erinnerte sich schon immer an verheerende Wasserfluten, Überschwemmungen und Tsunamis, an Feuersbrünste und tödliche Krankheiten. So spielt die Nähe zum Tod auch in anderen biblischen Berichten eine Schlüsselrolle. Ich erinnere an die lebensgefährliche Flucht Israels aus Ägypten, an den waghalsigen Durchzug Israels durch die Wüste und – hochdramatisch, wenn auch symbolisch verdichtet – durch das Rote Meer (Ex 13,17-22). Diese Geschichte wiederholt sich bei den Jünglingen im Feuerofen (Dan 3), bei Jona im Bauch des Fisches (Jona 2), beim Kind Moses, das seine Mutter in höchster Gefahr in einem Binsenkorb auf dem Nil aussetzte (Ex 2,3), und schließlich beim neugeborenen Kind Jesus, das nur knapp den Schergen des Herodes entkam (Mt 2,16). Die Todeserfahrung findet schließlich ihre höchste Verdichtung im Abstieg Jesu in die Unterwelt, die ihn vorbehaltlos dem Tode aussetzt. Diese Todesnähe wird selbst in der Osternacht und bei jeder Taufe wiederholt, in der die Täuflinge ins Wasser hinab getaucht und wieder nach oben geholt werden.
4. Nüchterne Freude
Umso wichtiger ist für uns das Symbol des Wassers. Einerseits ist ohne Wasser kein Leben möglich, andererseits können uns seine Fluten verschlingen. Es macht uns hilflos, man denke nur an die Schicksale von Tausenden, die in den vergangenen Jahren über das Mittelmeer flohen. Alle Religionen weisen mit ihren Geschichten und Symbolen auf diese rettende, zugleich tödliche Naturmacht hin, genauso wie Krankheiten und Seuchen immer wieder zu Symbolen unseres Verderbens wurden. Oft verdrängen wir solche Erfahrungen, die unsere eigene Geschichte prägen, wie etwa bei Geburten und schweren Erkrankungen. Auch mir erzählte mein Bruder erst, als ich schon 80 wurde, nach meiner Geburt habe meine Mutter monatelang nicht gewusst, ob und wie sie mich durchbringen konnte. Später, ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein, bangte man wegen eines ärztlichen Kunstfehlers einige Tag um mein Leben. Kein Wunder, dass meine Eltern später so glücklich darüber waren, dass ich noch lebte, und – zu meiner Schande sei es gestanden ‑ ich dachte mir immer, was für ein außerordentlicher Junge ich sei.
Genau um solche Missverständnisse und eitlen Selbstüberschätzungen zu vermeiden, müssen wir lernen, den Tod auszuhalten und uns mit ihm anzufreunden. Die prekäre Situation derer, die schon immer im konkreten Risiko lebten, kann uns unsere eigene Wahrheit näherbringen, eine geläuterte Lebensliebe wachsen lassen. Immer und ohne Unterlass haben wir, die gerade noch Erretteten, Grund zu einer tiefen Dankbarkeit. Es macht keinen Sinn, den Tod ins Private, in die Krankenhäuser und in die letzte Stunde zu verbannen. Der Tod, so schmerzlich er ist, gehört zur Normalsituation des Lebens. Nur wer das weiß, lässt sich von ihm nicht beherrschen.
Gewiss ist es nicht angenehm, dieses Thema zu besprechen. Doch in unserer Verunsicherung sollten wir es tun. Es führt nämlich zur Frage: Wenn wir die Menschheit mit all ihrer Gewalt- und Todesgeschichte ins Auge fassen und wenn uns klar wird, dass wir immer schon den Mächten des Verderbens ausgeliefert sind ‑ obwohl wir doch tausend Überlebenstechniken entwickelt haben und einkalkulieren ‑, darf sich dann diese Menschheit überhaupt noch ihres Lebens freuen? Wäre es nicht angemessener, wir führten ein Leben in Trauer und Niedergeschlagenheit, in Entsagung sowie in tiefem Schuldbewusstsein, weil wir ein gutes Leben überhaupt nicht verdient haben?
Leider haben auch christliche Kirchen in manchen Perioden diesen masochistischen Schluss gezogen. Doch aus zutiefst menschlichen sowie aus christlichen Gründen halte ich ihn für unangemessen. Angemessener wäre es, konsequent die vielfachen Impulse zu Freude, Hoffnung und Lebensvertrauen zuzulassen, denn sie sind uns von einer höheren Macht geschenkt. Nach wie vor lieben wir Menschen und werden wir von Menschen geliebt; wir umsorgen unsere Lieben und werden von ihnen umsorgt. Wir geraten in oft unerträgliche Spannungen zwischen Zerstört-Sein und neuer Erfüllung, zwischen Resignation und unbändigem Lebensmut, aus denen wir gereift hervorgehen. Wir atmen auf, wenn wir erleben, wie unsere Kinder neue Utopien und Visionen entwickeln oder wie selbst die Älteren unter uns von einem Neubeginn träumen können. Nein, es geht nicht darum, dass wir die Welt, unser Leben oder unsere Liebe zu Mensch und Natur leugnen. Vielmehr sollten wir alles akzeptieren, was uns unerwartet, aus reiner Güte und Großzügigkeit neu geschenkt wird.
5. Erinnerung, Treue und Dank
Noch einmal komme ich auf den „Gelübdetag“ meiner früheren Heimatgemeinden zurück, weil sich das Gesagte an ihm illustrieren lässt. Seit Jahrzehnten werden die Gottesdienst- und Besinnungsfeiern mit den vier letzten Strophen, dem dritten Teil des „Gelübdetagsliedes“, beendet. Sie rufen zum feierlichen Jubel auf und haben ihre eigene Melodie, die – vielleicht zu forsch? ‑ im Marschrhythmus daherkommt.
Doch heute am Jahrtag unseligen Sterbens
froh lasst uns erneuern den Bund mit dem Herrn
Erinn‘rung zu feiern des göttlichen Werbens,
der leidenden Väter in Zeiten wohl fern.
Doch sie thematisieren auch die Spannung zwischen der heutigen Freude und den „leidenden Vätern“ von damals und beschwören die Treue zum alten Versprechen:
Treu lasset uns halten, was einst sie versprochen;
zu fasten, zu beten, nie werd‘ es gebrochen.
Dann wird der Dank für Gottes rettendes Handeln bezeugt:
O Herz des Erlösers, wie danken wir dir,
sei ewig und immer der Deinigen Zier.
Der Dreiklang lautet also: Erinnern, Treue und Dank. Die Feiernden erinnern an das damalige Elend und unsere Zerbrechlichkeit. Das ist, wie wir am Adams- und Noachbericht gesehen haben, vielleicht die religiöse und menschliche Grundhaltung schlechthin, die uns eine letzte Orientierung bieten kann. Wir kommen aus unserer Vergangenheit und wir tun gut daran, sie nicht zu vergessen, denn sonst würden wir uns selbst vergessen. Dies führt zu einer Treue, die besagen will, dass wir uns nicht aufgeben, sondern uns dem Leben stellen wollen, das geschenkt, deshalb auch aufgegeben ist. Jahwe hat den Bund seiner Treue mit den Menschen wiederholt erneuert und in Jesus, wohl auch in anderen Religionen besiegelt.
Schließlich erscheinen noch vier Zeilen, bei deren Singen wir vielleicht zögern, weil wir alles Leid, wie es scheint, nicht vergessen sollten:
O göttliche Güte, du hast es gelenkt,
dass heute und immer man Deiner gedenkt.
Wie einst unsre Väter, bevor du geschenkt
Gesundheit und Friede, den Himmel gesprengt.
Bestand Gottes Zweck der damaligen Pest wirklich nur darin, dass wir seiner gedenken, dass wir – um Gottes Frieden zu erlangen – mit unseren Gebeten den Himmel sprengen müssten? Diesen Überschwang würden wir heute zurückhaltender, gelassener, vielleicht auch demütiger formulieren. Andererseits können wir für ihn auch Verständnis aufbringen, wenn wir den Blick auf den Sinn dieser Erinnerung noch einmal ausweiten: Was kann an einem solchen Tag geschehen, an dem eine Gemeinschaft zusammenkommt, um sich über ihre Situation Rechenschaft zu geben? An einem solchen Tag werden sich menschliche, religiöse, christliche Zentrallinien verknoten.
6. Die Last unserer Leben
Es ist immer gut, sich die eigene Geschichte in Symbolen darzustellen. Die Lilien des Kämpfelbacher Wappens erinnern an die Zugehörigkeit zum Kloster Frauenalb, seine Farben an die ehemals badische Landeshoheit. Unser „Gelübdetag“ symbolisiert eine Schicksalsgemeinschaft, die vor 663 durch übermächtige Todeszonen geschickt wurde und später oft eine vernichtende Todesnähe verspürt hat. Jede der 20 bis 25 Generationen, die zwischen dem Schwarzen Tod und der aktuellen Corona-Pandemie lebten, erinnerte sich auf ihre eigene Weise und setzte sich mit anderen Erfahrungen und Hoffnungen auseinander: mal an Ausbeutung, bittere Armut und tödlichen Hunger, mal an konfessionelle Auseinandersetzungen, die oft tödlich verliefen, vielleicht an durchziehende Soldatenhorden mit den Tiefpunkten während des Dreißigjährigen Krieges, ganz sicher an die großen Weltkriege, während derer unsere Väter und Söhne nicht am Kämpfelbach, sondern auf fernen Schlachtfeldern oder in Gefangenenlagern starben, an die Zerstörung Pforzheims am 23. Februar vor 75 Jahren mit seinen 17.000 Toten. Lebendig ist manchen noch die Not der Ostvertriebenen, die geschwächt und mittellos hier ankamen. Im Laufe seiner Geschichte lud sich dieser Gedächtnistag immer mehr Elend auf seine Schultern. Er hat die in der Bibel vorgebildeten Katastrophen versammelt und steht insgesamt für das solidarische Gedenken an die Not von zahllosen Generationen, ohne die unser Leben nicht zu denken ist.
Dennoch stelle ich meine zitternde Frage noch einmal: Können wir die Last dieser Erinnerungen überhaupt noch tragen? Sollten wir sie nicht irgendwann abschütteln, um befreiter in die Zukunft zu blicken? Sind die aktuellen Erschütterungen unserer Endemie nicht genug?
Mit einem einfachen Ja oder Nein kann und darf ich diese Frage nicht beantworten; damit würde ich Sie und mich selbst überfordern. Denn es geht um keine moralische Frage, die wir in freier Entscheidung regeln könnten, sondern um ein existentielles Wagnis, mit dem wir zu kämpfen haben. Jedes Mitglied dieser Schicksalsgemeinschaft kennt ihre oder seine eigene Last und niemand von uns ist mit der aktuellen Krise fertig.
Doch es gibt auch die andere, vielleicht paradoxe Seite der Erinnerung. Wie uns jüdische Gelehrte sagen, ist die Erinnerung das Geheimnis der Erlösung. Wem es gelingt, verdrängte Wunden wieder wachzurufen und mit anderen, vielleicht auch mit Gott darüber zu reden, kann deren zerstörende Wucht besiegen. Die offene Auseinandersetzung mit früheren Niederlagen weckt neue Kräfte. Die Erinnerungen an unsere Zerbrechlichkeit zeigen uns: Alles, was wir jetzt verlieren, haben wir zuvor erhalten; deshalb war es ja so kostbar.
7. Dank
Natürlich sollten wir an diesem Punkt realistisch, weder naiv noch unmenschlich sein. Unser Leben lässt sich nie überlisten und Dankbarkeit lässt sich nicht antrainieren. Dennoch bleibt es erstaunlich, dass sich zwei Dorfgemeinschaften über so viele Jahrhunderte hin zum jährlichen Dank vor Gott getroffen haben. Wie war das möglich? Ich finde die Antwort in der heilenden Kraft einer solidarischen Gemeinschaft, in der die augenblicklich Starken die aktuell Schwachen immer mittragen, ihnen Hilfe anbieten und Zuversicht gewähren, so wie Christophorus das Jesuskind durch die Fluten trägt. Wir stehen füreinander ein im Namen eines uns zugewandten, immer gegenwärtigen Gottes. Und indem wir einander konkret wahrnehmen, erleben und unsere Zusammengehörigkeit erfahren, können neu ein elementares Grundvertrauen und das Gefühl eines tiefen Einverständnisses zu Kräften kommen. So lange es menschliche Gemeinschaft gibt und sie täglich gelingt, ist nie alles verloren, ist Gott unter uns und bleiben wir zur Dankbarkeit fähig, auch wenn sich Trauer in sie mischen und in ihr bittere Tränen fließen. Das ist ein zutiefst menschliches Phänomen. Und warum sollte es nicht zugleich tragender Grundpfeiler der monotheistischen Religionen und des Christentums sein, der uns Gott immer neu danken lässt.
Vielleicht lässt sich der Zusammenhang von Trauer und Hoffnung besser mit Dichterworten sagen. Zum Schluss erinnere ich an das Gedicht Eingeständnis von Josef Hasl, der vor wenigen Wochen verstorben ist:
Verzichten wir
auf die Versteckspiele
des Intellekts
auf seine wurmstichig
gewordenen Veränderungsneurosen
die den Erdball
leer und leblos machen
Rufen wir uns
ins Bewusstsein
dass wir Lebendige sind
Schneegekrönte
von Strömen
Fruchtbare
Vertrauen wir darauf
dass unsere Hände
im Dunkel wachsen
um anderswo
die Tore in die Verwandlung
zu bauen
von Finsternissen durchschürft
von Ebenen
erleuchtet
fortwährend auffindbar
im Eingeständnis
der Endlichkeit