Günther Doliwa, Hätte aber die Liebe nicht ‑ Zeichen der Zeit ‑ Anders unterwegs sein, DO‑Verlag, Ostern 2020, 276 Seiten, ISBN 978-3-939258-26-1
Das ist ein erfrischendes Buch, genauer: eine wild erfrischende Mischung von ziemlich vielfältigen, immer überraschenden Texten. Günther Doliwa ist ein Meister kleiner Textformen und nachdenklicher Gedichte, aufmunternd und quer-orientiert, fromm und weltverliebt zugleich. Nicht dass ihn oft Fragen von Glauben und Lebenssinn beschäftigen, ist sein besonderes Merkmal, sondern dass er sie nicht in einer muffigen Vergangenheit, vielmehr in der Welt, in menschlichen Abgründen oder mitreißenden Zukunftsphantasien findet: „Christen müssten Zeitung lesen“ (103).
Wie zufällig versammelt Doliwa seine Texte um bestimmte Orientierungspunkte und sie eignen sich als kleine Erfrischungen zum gelegentlichen Lesen. Da werden etwa Gerechtigkeit, Friede und Liebe, aber auch Weihnachten, Ostern oder Pfingsten zu Wegmarken. Bisweilen taucht ein aufmüpfig umgedichtetes Kirchenlied auf, eine Erinnerung an Greta Thunberg oder ein Loblied auf alles, was eine Trennung bewirkt, was das „christliche Kraftwerk“ ausmacht oder in Zeiten der Corona-Entbehrung möglich wird. Politische und gesellschaftliche Fragen, für den Autor eng mit religiösen verbunden, sind – doppeldeutig wie immer ‑ im Spiel: „Diese Stadt hat / Diese Stadt hat viel / außer einem Bewusstsein für / ihr zweifelhaftes Doppelleben“ (207). Doch finden sich auch längere Texte, etwa zu Josef mit seiner ägyptischen Erfolgsgeschichte, zum Kreuzweg Jesu oder zu Fragen der Kirchenreform.
Der philosophisch und literarisch Kenntnisreiche widmet, ebenso überraschend, seine Texte bekannten und unbekannten Personen, Hans Küng etwa und Shakespeare, Martin Scorsese und Hanna Arendt, Hubertus Halbfas, Jürgen Habermas und dreißig weiteren Personen; meistens entdeckt er Originelles in ihnen. Ein eindrucksvoller Text gilt den im Mittelmeer Ertrunkenen, andere nehmen biblische Stichworte auf oder denken über Jesu Geschwister nach, einer reduziert das Vaterunser auf seine zentralen Stichworte oder erklärt, was Frieden, Liebe oder unerforschlich ist. Immer wieder taucht die nicht zu erschöpfende Frage auf, wer Jesus war und wie man ihn falsch verstehen kann. Doliwas Antworten lauten meistens anders, als wir es erwarten, zum Beispiel: „Obwohl Jesus nur in den Augen der Opferpriester / Priester war In Wirklichkeit war er / ein Opfer der Priester.“ (204) Aus manchen Versen spricht eine übersprudelnde, höchst nachdenkliche Kraft der Sprache: „Auf einem endlichen Planeten sind unendliche / Wachstumsspiele undenkbar. Die Eskorte rückt ab. / Entzückend, das frei gewordene Feld.“ (257) Dort bleibt einem der Atem im Halse stecken, wo sich in einer Nachdichtung der sterbende Knabe des Erlkönigs als das Missbrauchsopfer eines „Sackmenschen“ (170f) entpuppt.
Man lese jeden Morgen, Abend oder in jeder Arbeitspause einen der Texte von meist einer oder zwei Seitenlängen. Manchen mag man dann gerne wiederholen. Doliwa macht auch den Ungeübten die ungezwungene Kurzmeditation zu einem unaufdringlichen Gewinn. Sollten die Texte den Frommen zu weltlich und den Weltlichen zu fromm sein, dann hätten die Gedanken genau die Situation getroffen, die zum kreativen Weiterdenken verlockt.