Theologische Nach(t)gedanken zum Weihnachtsfest
Seit Jahrhunderten wird Weihnachten in unserem Kulturraum als ein reiches und vieldimensionales Fest erfahren. Sie wirkte als eine enorm fruchtbare Geburtsstätte von Sitte und Brauchtum. Kein anderer Tag hat im Christentum so viel Volksnähe erreicht und so bewegende Emotionen geprägt. Das spricht für das Fest, setzt es aber auch zahllosen Verfremdungen, Missverständnissen und Banalisierungen aus. Noch heute sind an diesem Tag die Kirchen voll, weil heimelige Krippenfeiern und kerzenstrahlende Metten die Gemüter erwärmen, nostalgische Erinnerungen wecken und ein beseligendes Liedgut aktivieren.[1] Doch genau diese heimelige Vertrautheit lenkt auch von der hochdramatischen Kernbotschaft was: Was passiert, wenn Gott sich in dieser Weise der Menschheit annähert?
Dieses Fest ist auch ein Teil von mir. Ich stamme aus einem katholischen Elternhaus, wuchs als Kind in einem geschlossen katholischen Dorf auf, genoss später ein katholisches Internat, verbrachte acht konfliktfreie Jahre in einem Orden, schließlich erzogen meine Frau und ich drei Kinder katholisch und ich widmete mein ganzes Erwachsenenleben der christlichen Theologie. So lebt eine breite Skala von grandiosen und innigen, familien- und naturverbundenen Weihnachtsgefühlen auch in mir. Kein christliches Fest geht mir mehr zu Herzen, aber in ihm spiegeln sich auch die Grundbeben, die mein Glaubensleben über Jahrzehnte hin erfahren hat.
Mensch mit Haut und Haaren
Deshalb habe ich mehr Fragen zu stellen denn je. Warum nämlich die Menschen so zahlreich zu den Weihnachtsgottesdiensten kommen, kann ich nicht mehr eindeutig beantworten. Mir begegnet eine recht diffuse Skala von Motivationen, über die man vor Jahrzehnten noch ausführlich gepredigt hat.[2] Doch heute scheinen die Verkünder des Glaubens das Problem zu spüren. Je unklarer den Menschen dieser spontane Zugang wird, je mehr er sich in Richtung Kinderseligkeit, Kerzenschein oder bloße Brauchtumspflege verkürzt und je weniger das klassische Bild von der Jungfrauengeburt noch als Blickfang dienen kann, umso schmuckloser und nachdrücklicher wenden sich die Predigten dem theologischen Kernthema zu: „Gott ist Mensch geworden“; seit Christi Geburt ist Gott uns nahe.
Die Sache wird auch heute noch in vielfache Worte gefasst: „Gott ist Fleisch geworden“, sagte 2020 Bischof Voderholzer, „Gott ist hier zu Hause (dahoam)“, erklärte Kardinal Marx. „Gott wird ganz Mensch mit Haut und Haaren“, war in meiner Tageszeitung zu lesen; er werde also einer von uns und so seien wir mit Seiner Gnade beschenkt, nicht mehr allein. Gotthard Fuchs versucht, aus diesem Denkschema auszubrechen. Er schreibt mit existentieller Farbgebung vom „Abenteuer Gottes mit den Menschen“ und davon, dass Menschen zu ihrer Quelle finden. Weihnachten hebt für ihn die ständige Erwartung auf Gottesnähe nicht auf. Fuchs erinnert an Meister Eckharts „Gottesgeburt in der Seele“. Zugleich erinnert er an Jesu „Art, von Gottes Güte nicht nur zu reden, sondern sie zu leben“.
Doch je „zeitnaher“ dieser Bekenntnissatz interpretiert wird, umso mehr bleibt meine Ausgangsfrage auf der Strecke: Was genau ist mit dem höchst abstrakten Weihnachtsbekenntnis von der Menschwerdung Gottes gemeint? Unausgesprochen gehen die aktuellen Verkünder von der klassischen Dreifaltigkeitslehre aus, die sie bis in Unerträgliche vereinfachen, so als könne man das Jesuskind einfach mit dem lieben Gott identifizieren.[3] Diese Simplifizierung mag lange funktioniert haben. Aber heute vergessen sie, wie diffus und beliebig unsere Vorstellungen von Gott selbst geworden sind, ja, wie sehr die Gottesfrage unserer Gesellschaft überhaupt entglitten ist. Seitdem läuft diese Vorstellungswelt schlicht ins Leere. Das spricht nicht gegen die hörbereiten Empfänger, denn ihr Gottesverlust ist durch das Verstummen der Kirchen mit verursacht. Es spricht vielmehr gegen die amtlichen Sender der Botschaft, denn geradezu mechanisch repetieren sie einen Satz, der nicht falsch sein muss, aber faktisch zur leeren Hülse geworden ist.
Die Weisheit wurde sichtbar
In den Entstehungsjahren der christlichen Glaubens war das anders. Der Neutestamentler Michael Theobald legte 2016 eindrücklich dar, wie sprachlos Jesu Anhänger nach seinem Tod waren und wie mühsam sie nach Worten, Titeln und Symbolen rangen, um die Bedeutung Jesu überhaupt besprechbar zu machen. Man fand sie in den jüdischen Schriften und gewann dadurch ziemlich konkrete Vorstellungen. Hans Küng rekonstruierte schon 1973 diesen Prozess aus systematischer Sicht. Wer aber mit Theobald, Küng, Hubertus Halfbas und anderen in der jüdischen Bibel auf die Suche geht, findet neben anderen Sprachfiguren (Diener Gottes, Menschensohn, Gottessohn, Messias) dort auch die Figur der Weisheit.
Sie erlangte in der vorjesuanischen Epoche eine besondere Bedeutung, als z.B. in Alexandrien ägyptisches, zeitgenössisch jüdisches und griechisches Denken aufeinander stießen. Man erstrebte in diesem kulturellen Schmelztiegel ein ganzheitliches und (modern gesagt) kulturübergreifendes Denken. Auf biblischer Basis sollten ein kosmisches und ein anthropologisches Denken einander durchdringen. So griff man den Grundgedanken der (aus jüdischer Sicht späten) Weisheitsbücher auf: Die Weisheit ist am Anfang geschaffen und von Ewigkeit her bei Gott. Sie tummelt sich auf dem Erdkreis und ihre Wonne ist es, bei den Menschenkindern zu sein (Spr 8,22-31). Poetischer kann man Schöpfung und Schöpfer nicht loben.
Auch die griechische Stoa konzentrierte sich auf diese Weisheit, die sie Logos nannte und als ein alles durchdringendes Weltprinzip, bisweilen gar als einen apersonalen Gott verstand. Diese Vorstellung leitete dazu an, Welt und Mensch(en) direkt als Abbild von Gottes Weisheit zu verstehen. Der große jüdische Synthetiker Philon von Alexandrien (15 vor – 40 nach Christus) hat diese Bedeutungsstränge miteinander verschmolzen und der Johannesprolog konnte auf diese Vorstellungswelt zurückgreifen. In Jesus ist dieser Logos erschienen. Die bildhafte Ausschmückung dieses Grundgedankens mit seinen kosmischen Dimensionen ist stark und in der christlichen Tradition nie ganz verschwunden. Schon als Kind fiel mir am Sonntag nach Weihnachten der poetische Satz der Liturgie auf: „Tiefstes Schweigen hielt alles umfangen, die Nacht hatte in ihrem Lauf die Mitte des Weges erreicht. Da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron“ (Weish 18, 14f).
Der Johannesprolog stellt diesen Logos ins Zentrum und schafft damit für Jesus ein starkes Kernsymbol: Und das Wort [die Weisheit] ist Fleisch geworden und hat unter uns ein Zelt aufgeschlagen. In Jesus kam die Weisheit, die schon immer bei uns und in uns war, ganz neu, jetzt in historischer Gestalt zu uns und wurde in ihm zur gelebten Wirklichkeit. Seitdem können Jesu Botschaft, Handeln und Wirken als der Ausfluss göttlicher Weisheit gelten. Diese biblische Bildsprache, die unsere Wirklichkeit verändern kann, hat überzeugt.[4] Sie will nichts objektiv beschreiben, sondern dynamisiert Verbindungslinien und bewirkt Konturen, die aufscheinen, sobald man sich lebenspraktisch mit der Jesusgeschichte auseinandersetzt.
Doch die Gegenfrage liegt auf der Hand
Steht in den offiziellen Glaubensbekenntnissen nicht etwas anderes? In der Tat, denn das Subjekt hat sich bald geändert: Jetzt kam nicht mehr die Weisheit ins Fleisch, sondern der eingeborene Sohn wurde zum Menschen. Gut so, jubeln unsere Glaubenshüter, denn damals habe ein intensives, vom Geist gelenktes Nachdenken zu dieser Umformulierung geführt. Allmählich (und nach schwierigsten theologischen Auseinandersetzungen) wurde das Wort der Weisheit vorbehaltlos mit der Zweiten göttlichen Person, also mit Jesus Christus identifiziert. Diese Identifikation fand im Jahre 325 eine universalkonziliare Bestätigung und gilt seitdem als unverrückbar.
Doch dabei gerät ein zentrales Problem unter die Räder: Der Bedeutungswechsel von der Weisheit zur göttlichen Person ist eher die Folge einer abstrakt philosophischen, nicht einer biblisch theologischen Denkoperation. Er ist nicht mehr von den erzählend poetischen Denkregeln der Bibel geprägt, sondern von einer Philosophie, die überzeitlich Wesensaussagen sucht, die man definitorisch festlegen und nach Belieben präzisieren kann. Jetzt will man – durchaus von gutem Willen angetrieben ‑ die Sache an sich beschreiben und genauestens auf den Punkt bringen. Deshalb werden jetzt Dingaussagen produziert. Sie müssen genaue Unterscheidungen zwischen Glauben und Häresie ermöglichen und zum Reichsgesetz taugen. Dieses entfremdende Sachinteresse an einer klaren Doktrin war enorm; man wollte der übernationalen Reichseinheit dienen.
Mehr als 1600 Jahre später steht es mir nicht zu, die damaligen Vorgänge zu kritisieren; nur noch einige Spezialisten können diese unbiblisch abstrakte Redeweise umfassend verstehen. Heute wirkt sie wie eine banale Identifikation des Jesus von Nazareth mit seinem Gott, der er irgendwie selbst ist. Noch einmal: Die Schrift nimmt Metaphern zu Hilfe, hier das Bild der Weisheit bzw. des Wortes, das in Jesus neu erscheint. Damit will sie uns nicht den Heilbringer Jesus von Gott her näherbringen. Sie sagt umgekehrt: Wer sich der Weisheit und dem Geheimnis Gottes auch nur ein Stücken nähern will, der schaue auf die Geschichte Jesu. Im Gegenzug fällt ja schon lange auf: Die klassischen Glaubensbekenntnisse klammern – wie Halbfas immer wieder betont – das konkrete Jesusleben einfach aus, als ob zwischen der Geburt und dem Kreuzestod Jesu nichts Wichtiges geschehen sei.[5] So wurde in den ersten fünf Jahrhunderten die irdische, mit Weisheit werbende Jesusfigur von einer überwältigenden Herrscherikone, dem erhabenen Pantokrator übermalt. Doch dies verrät mehr vom byzantinischen Hofzeremoniell als von Jesus, der sich in aller Schlichtheit den Menschen zuwandte. So erhalten (im Jahre 2020, also in religionskritischer Zeit!) auch gutwillige Gottesdienstteilnehmer außer einer abstrakten Gottesformel und wenigen diffusen Erklärungen an Weihnachten keine Anleitung mehr in die Hand, die ihnen Gott näher bringt.
Instrumentalisierungen
Hier bietet sich ein kleiner Exkurs an. Der heute aussagearme Satz von der Menschwerdung Gottes verführt dazu, das ursprünglich poetische Bekenntnis von Gottes Herabstieg nach Gutdünken zu instrumentalisieren. Die Bücher von Papst Benedikt, dem mancher noch immer folgt, haben es schlicht verfremdet und alle Andersdenkenden mit dem Ruch der Glaubenszersetzung belegt. Im Jahre 2000 dichtete Kardinal Ratzinger allen Nichtchristen eine „objektiv … schwer defizitäre Situation“ an, weil Gottes menschgewordenes Wort endgültig sei. In seiner Regensburger Rede (12.09.2006) stilisiert Benedikt XVI. die Weltinterpretationen von Augustinismus und Platonismus zur einzig gültigen Denkform des Christentums. An Weihnachten 2020 bestand Papst Franziskus (ohne es vielleicht zu bemerken) faktisch auf dem absoluten Vorrang der christlichen Religion, denn „kein anderer außer ihm kennt den Vater“, also auch keine andere Religion. Andere Bischöfe legitimieren mit der Menschwerdung regelmäßig ihre exklusive Amtsvollmacht. Bischof Voderholzer brachte das absurde Kunststück fertig, angesichts der Menschwerdung Gottes Frauen von kirchlichen Leitungsämtern abzuhalten; durch die Hintertür machte er Gott zum Mann. Bischof Oster stellte am Tag der Heiligen Familie (sein Modell: „Mama, Papa, Kind“) alle Gendertheorien ins Unrecht. Er hält es auf Biegen und Brechen mit der traditionellen kirchlichen Lehre und erklärt die Probleme von sexueller Fremd- und Selbstzuschreibung schlicht für nicht-existent. Biologisch begründete Intersexualität wird so zum bedauerlichen Mangel, wie es eben auch blinde Menschen gibt.
Im Blick auf diese Beispiele erkenne ich im höchst abstrakten, identifikatorisch ausgelegten Satz von Gottes Menschwerdung die Urquelle römisch-katholischer Intoleranz, also auch ein Schlüsselproblem des gegenwärtigen Gottesverlustes. Die Chance, das Geheimnis Gottes mit Hilfe von historisch und hermeneutisch verantworteten Nachfragen „im Licht und in der Kraft Jesu“ (Küng) zu ergründen, wird umfassend und gedankenlos in den Wind geschlagen.
Sinn finden in der Welt
Daraus ziehe ich einige Folgerungen.
Erstens: An Weihnachten geht es, biblisch gesprochen, gerade nicht um eine Göttliche Person (gleich, was mit „Person“ damals gemeint war), sondern um Gottes in der Welt entdeckte Weisheit, also um Vernunft, verstehendes und vernünftiges Gespräch, geistige Versöhnung und einen toleranten Austausch, um das gemeinsame Projekt und den tiefen Sinn einer einvernehmlichen Sprache, ohne die kein Frieden möglich ist. Schon immer wirkt dieses Sinnhafte in der Welt, so schon jüdische Überzeugung, aber in Jesus hat sie einen neuen und glaubwürdigen Boten erhalten („Betrachte die Vögel des Himmels …“). Wenn „Menschwerdung“ eine religiöse Formel sein soll, dann ist sie nicht als Sachbeschreibung zu verstehen, sondern als eine hohe, aus dem Bild von der Fleischwerdung des Wortes entwickelte Poesie. Sie könnte die Suchenden, die nach ihrem Lebenssinn suchen, zu Jesu konkreter Lebenspraxis hinführen und ihnen besser aus ihrer Gottesfinsternis helfen als eine Formel mit aktuellem Sinnverlust.
Zweitens: Wir sollten damit aufhören, Weihnachten zu einer Botschaft vom göttlichen Jesuskind und von der „Heiligen Familie“ zu verengen, auch wenn man daraus schöne Gedanken entwickeln kann. In erster Linie erinnert Weihnachten an die Würde der gesamten Schöpfung, in der schon immer ein tiefer Sinn wirkt und der in Jesus neu erkennbar wird. Jesu Geburt setzt keinen absoluten Weisheitsbeginn unter uns in Gang, sondern aktiviert eine neu vitalisierte Weltordnung, die Mensch und Natur schon immer miteinander verbindet. Dies könnte uns darin bestärken, die Zukunft von Mensch und Erde nicht mehr gegeneinander auszuspielen.
Drittens: Diese biblische Achtsamkeit für den Sinn alles Wirklichen eröffnet uns viele Möglichkeiten, Gottes verborgen wirkende Gegenwart in Welt und Menschheit zur Sprache zu bringen. Die christliche Botschaft engt uns gerade nicht auf eine Christusmanie ein, auch nicht auf eine neue Jesus-Symbolik, sondern übernimmt eine Weisheits- und Verstehensdynamik, die alles zusammenhält: die Natur, Menschen und Gesellschaften, ihre Schönheit und Größe mit ihren organischen Potenzen, politischen Machtgefügen, den natürlichen Gemeinschaften, Religionen und Weltkulturen. Wir Menschen kommen zu uns selbst.[6] Zu erinnern ist an die großen mystischen Entwürfe, die in der Liebe die Grundkraft der Welt erkennen. Ich denke an die große Vision eines Teilhard de Chardin, auch an die grandiosen Modelle der Kosmologie und der Evolution irdischen Lebens, in die wir alle eingebettet sind. Zum Jahreswechsel schrieb der passionierte Himmelsbeobachter Andreas Leber in der ZEIT: „Habe ich meinen Vater gefunden? Jedenfalls war ich ihm in unzähligen Nächten sehr nah. Heute denke ich, es gibt nur eine Sünde gegen Gott: wenn man diesem grandiosen Theater, in das man hineingeboren wurde, nichts abgewinnen kann.“ Weihnachten könnte wieder zur umfassenden Weltfeier werden. Übrigens könnten nach M. Khorchide Muslime problemlos mitfeiern.
Viertens: Der Theologe und Religionswissenschaftler Karl-Josef Kuschel weist auf die Rolle hin, die heilige Nächte auch in anderen Religionen spielen.[7] Im Buddhismus, so Kuschel, geht es um die Nacht der großen Erleuchtung, im Judentum um die Nacht der Befreiung aus Ägypten, im Islam steigen die großen Offenbarungen des Koran vom Himmel herab. Im Christentum erscheint in der Mitte der Nacht die göttliche Weisheit mit all ihren politischen Implikationen, die Lukas zur Sprache bringt. Dabei wandeln sich die Ängste der Nacht zum Ruf: Fürchtet euch nicht!, denn jetzt verschwimmen die Grenzen zwischen Himmel und Erde, jetzt hören wir auf das Schweigen und kommen zu uns. Jetzt kann sich das göttliche Geheimnis zeigen, das unser Inneres stärkt. Blockaden werden überwunden, Eigeninteressen relativiert, die Zukunft wird zum offenen Raum.
Von Austausch, Toleranz und offener Vernunft
Wäre Jesus heute unter uns, würde er keinen Kniefall vor der Zweiten göttlichen Person erwarten, sondern uns trotz aussichtsloser Nächte unsere Hoffnungen zeigen. Zusammenhalt kann gelingen, die guten Seiten des Lebens werden wahrnehmbar, unser Grundvertrauen gewinnt an Kraft. Leider haben die etablierten Kirchen ihre Glaubensaussagen schon früh zu einem System starrer Definitionen verfremdet. Das versprach für ungezählte Jahrhunderte eine trügerische Sicherheit. Doch spätestens mit dem Erstarken der Moderne und dem Zusammenbruch der „christlichen“ Monarchien erlitt dieses System Schiffbruch.
Es ist endlich an der Zeit, wieder die erzählenden, poetischen und performativen Dimensionen biblischer Rede und anderer religiöser Texte zu entdecken und damit den engstirnigen Mythos der Unfehlbarkeit zu durchbrechen. Solange diese Bekehrung aussteht, bleiben alle aktuellen Reformforderungen sinn- und wirkungslos. Sie alle scheitern an der Grundfrage, wie lange noch das altkirchliche Modell von überzeitlichen Wahrheiten andauern soll. So rate ich auch allen reformwilligen Frauen und Männern, sich erst an der Grundfrage abzuarbeiten, was christliche Wahrheit wirklich meint und wie sie sich darstellt, ob sie uns einengt oder eine weltweite Öffnung schafft.
Bei der biblischen Weisheit haben wir es mit einem Symbol zu tun, das weltliche und spirituelle Energien zu integrieren vermag. Die Erfahrung einer von Weisheit – also von Austausch, Toleranz und offener Vernunft ‑ gesättigten Nacht könnte zum Ausgangspunkt einer erneuerten Weihnachtstradition werden, die unsere Jesuserfahrung an uralte Menschheitserfahrungen zurückkoppelt und mit ihnen verbindet; sie würde zur überzeugenden Ergänzung der Osternacht. So wird der österliche Durchbruch zur Befreiung durch das weihnachtliche Ja zur Wirklichkeit vorbereitet. Wir können Gott, das große Weltgeheimnis, in allen Menschen und Dingen finden und respektieren. Die Öffnung der christlichen Tradition auf die Geheimnisse der Welt hin ist ihr in die Wiege gelegt.
Erschienen in: imprimatur 1.2021, 4-8
Anmerkungen
[1] Ich übergehe hier die spezifische Situation, der das Fest 2020 durch die Corona-Krise ausgesetzt war.
[2] Monique Scheer/Pamela E. Klassen (Hg.), Der Unterschied, den Weihnachten macht: Differenz und Zugehörigkeit in multikulturellen Gesellschaften, Tübingen 2019.
[3] Vgl dazu Karlheinz Ohlig, Ein Gott in drei Personen? Vom Vater Jesu zum „Mysterium“ der Trinität, Mainz 1999.
[4] Die durch und durch symbolische Handschrift der christlichen Glaubenssprache wurde konsequent und umfassend im Lebenswerk von Hubertus Halbfas herausgearbeitet. Vgl.: Der Glaube. Erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas, Ostfildern 2010.
[5] Günter Lange, Die Lücke im Glaubensbekenntnis, in: Katechetische Blätter 2013, 67-68.
[6] Vgl.: https://www.hjhaering.de/von-engeln-getragen-wie-das-weihnachtsfest-einen-aktuellen-sinn-zurueckgewinnt.
[7] Ich beziehe mit auf ein noch nicht veröffentlichtes Manuskript. S. ferner: Karl-Josef Kuschel, Das Weihnachten der Dichter. Originaltexte von Thomas Mann bis Reiner Kunze neu erschlossen, Stuttgart-Ostfildern 2011, Kap. 1: Die Heiligen Nächte der Weltreligionen.