Zur Revision des Opfermodells im Diskurs von Gnade und Sünde
„Es geht ums Ganze“, lautet der Titel eines aktuellen theologischen Beitrags zur Frage der Gnade.[1] Dieser Satz gibt das Pathos des religiösen Gnadenbegriffs wieder und genau das ist sein Problem. Niemand kann einfach über „das Ganze“ reden, ohne anfällig zu werden für unbewusste Interessen, verführerische Ideologien und die Denkgleise der eigenen Tradition.[2]
In der Schrift, auch in Jesu Verkündigung, gibt es keinen geeichten Gnadenbegriff, wohl aber ein Bedeutungsfeld von (Gottes) Güte und Erbarmen, das Gott den Menschen schenkt und das in Gottes Worten und Taten zum Ausdruck kommt.[3] Doch bei Paulus gewinnt „Gnade“ (charis) ein spezifisch christliches Profil[4]; er spricht von jener neuen und endgültigen Gnade, zu der wir durch Jesus Christus Zugang erhalten haben (Röm 5,2). Gnade meint jetzt die Erlösung in Jesus Christus, also die Befreiung vom Joch der Sünde und des Gesetzes, ermöglicht durch die Rechtfertigung der Sünder von einer universalen Schuld, der Juden wie Heiden unterliegen (Röm 2,12). Damit ist das Begriffsfeld eingegrenzt, in dem sich der christliche Gnadendiskurs bis heute bewegt. Zwar meint „Gnade“ immer noch Gottes Güte insgesamt, aber zunehmend wird sie von einem epochal neuen Gedanken bestimmt. Es ist der Tod Jesu, der „für unsere Sünden“ gestorben ist und Gott damit versöhnt hat. Seitdem ist der Sündendiskurs der entscheidende Attraktor einer chaotisch vielfältigen Gnadentheologie. Notgedrungen wird sie zur Schicksalsgenossin aller Verstrickungen, die das christliche Sündenverständnis mit sich gebracht hat.
Mehrere Stationen sind zu nennen, die einander nicht ablösten, sondern bestätigt und verstärkt haben: Es ist der paulinische Gedanke vom Sühnetod Jesu, der den Menschen die Rechtfertigung von Gott ermöglicht. Es ist das augustinische Axiom einer universalen Menschheitsschuld vor Gott, die unsere Freiheit schon ruinierte, bevor wir überhaupt geboren wurden.[5] Wir kennen Luthers massiven Zweifel an unserem Vermögen, für unser Heil überhaupt etwas zu unternehmen[6] und schließlich – Folge all dieser Selbstentmächtigung vor Gott – die Destruktion aller Freiheitselemente gegenüber einem übermächtigen, zudem vorherbestimmenden Gott, bei dem nur noch ein hilf- und aktionslos vertrauender Gehorsam gilt.[7] Was kann da Gnade noch bedeuten vor einem Menschen, von dem nur noch „nichts und Sünde“ übrig bleibt?[8] Angesichts des neuzeitlichen Freiheitsgedankens brach die evangelisch-fiduziale Gnadenversion ebenso in sich zusammen wie die katholisch-sakramentale, die Gottes Zuwendung zu einem System verschiedenster „Gnaden“ verdinglichte.[9] Das Fiasko dieser Explikationen zwang zu neuen, radikalisierten Verhältnisbestimmungen von Gnade und menschlicher Freiheit, die zu einer Neukonzeption des Sündenbegriffs zwingen.
All diese vielfältigen Ansätze mögen ihren Sinn und ihre Verdienste haben. Doch für das allgemeine Glaubensbewusstsein, so mein Eindruck, hat der Wirbel dieser Konstellationen dem Gnadenbegriff alle Konturen geraubt; er wurde zum erstrangigen Problemträger des christlichen Heilsverständnisses überhaupt. Andererseits behauptete er sich als der zentrale Qualifikator einer göttlichen Zuwendung, die auf das Sündenproblem verzichten kann.[10] Inzwischen ist dem Gnadenbegriff der gespaltene Charakter des christlichen Heilsverständnisses zwischen Sünde und Freiheit tief eingeschrieben. Man frage durchschnittliche Katholikinnen oder Katholiken auf der Straße, was sie unter Gnade verstehen. Vermutlich beginnen sie etwas hilflos zu stammeln.[11]
1. Von der Verinnerlichung zum Realitätsverlust
In den Zeugnissen der Evangelien, damit auch in den jesuanischen Zeugnissen, ist die Dialektik von Gnade und Schuld noch wenig greifbar. Um Gottes Güte und Freundlichkeit geht es allemal, um die Freude des Wiederfindens, um das Augenlicht der Blinden und die Befreiung der Gefangenen sowie um die Überzeugung, dass Gottes Reich hier und jetzt beginnen kann. Nicht menschliche Schuld ist dabei zu verarbeiten, sondern die Schicksale, die Menschen und Völker treffen; die Opfer stehen im Zentrum des Interesses. Die jesuanische Botschaft ist noch ganz von der prophetischen Leidenschaft nach Gerechtigkeit getrieben.[12]
Anders bei Paulus: Nach ihm bricht eine Lawine der Schuld und mithin des göttlichen Zorns über die Menschheit herein. Zur Begründung verweist er aber nicht auf empirische Missstände, sondern auf „die Sünde“. „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen.“ (Röm 5,12a-c). Dementsprechend wird auch Gottes Gnade ganz kontextfrei formuliert: „Die Gabe, die durch die Gnadentat des einen Menschen Jesus Christus bewirkt worden ist, den vielen reichlich zuteil geworden.“ (V. 15) Gottes Gnade ist und wirkt also universal und das Gesamtkonzept wird in Adam und Christus als dem Neuen Adam symbolisiert. Die Begründung lässt jedoch aufhorchen: Dies alles geschah, „weil alle sündigten“ (Röm 5,12d). In der Erinnerung mag der Menschheitsbeginn mit seinen Katastrophen (Gen 3-10) nachgewirkt haben. Die Schuldfrage ist aber als sündige Freiheitstat verinnerlicht, deren Folge als Verstrickung in eine Gegenmacht konkretisiert. Als Ausweg bleibt nur noch die Rechtfertigung des Sünders, der „ohne die Werke des Gesetzes“ Gott zu vertrauen hat (Röm 3,28). Gläubiges Handeln wird so, weil rein äußerlich, zum Folgehandeln relativiert. Der Jakobusbrief hat auf diese Einseitigkeit reagiert (Jak 2,14).
Dass Paulus das Sünde-Heil-Problem zur Glaubensfrage verinnerlichte, mag die Folge einer jüdisch-christlichen Auseinandersetzung sein. Problematischer ist, wie Augustinus diese Verinnerlichung platonisierend vorantrieb. Er sucht Gnade als eine rein geistige, von der Welt unbehelligte Freiheitserfahrung. Gnade bedeutete jetzt jenseitige, wenn auch erfahrbare Gottesnähe. Es ist die Gottesnähe von unwürdigen Menschen, die aus sich heraus nichts als Verdammung verdienen. Auf diesem Nährboden wuchert das menschliche Schuldbewusstsein in mittelalterlichen Sakraments- und Frömmigkeitspraxen aus. Martin Luther entzieht ihnen ihre Legitimität, indem er alle Gnade auf die Frage reduziert, wie ich einen gnädigen Gott bekommen kann.
So waren der christliche Sünden- und sein korrespondierender Gnadendiskurs kaum vorbereitet auf die aufbrechende Neuzeit mit ihrer selbstbewussten Entdeckung von Individuum und Wissenschaft, von Welt und Gesellschaft. Es ist das bekannte Adagium von der Erbsünde, das mit dem aufkommenden Erkenntnisdurst, Gestaltungswillen und Freiheitsbewusstsein unverträglich ist. Diese Unverträglichkeit überträgt sich auf eine Gnade, zu der die Neuzeit keine Affinität mehr entwickelt. Die dem Sündenbewusstsein entsprechende Gnade wirkt auf die Betroffenen demütigend, auf die Beobachter nichtssagend oder irreal, nach Nietzsche nur dazu geschaffen, den Menschengeist klein zu halten. Trotz seiner guten jesuanischen Papiere konnte sich das menschliche Freiheitsbewusstsein jetzt nur noch im Konflikt mit katholischen Altären und protestantischen Kathedern entwickeln.
Gewiss, diese schematische und überschlägige Problemanzeige ließe sich vielfach modifizieren. Zwei Bemerkungen dazu sind unverzichtbar. Erstens: Der Begriff der Gnade lässt sich nicht auf die Sünde als deren Kehrseite reduzieren. Schon Paulus vermerkt unmissverständlich, dass Gottes Gnade den vielen im Übermaß zuteil wurde (Röm 5,12.15). Dieses Übermaß geht auch aus den Erfahrungen des Augustinus hervor und ich vermute, dass die überstarke Profilierung von Sündigkeit und Elend genau dieser Kontrastfunktion diente. Sünden- und Gnadenbekenntnis begannen einander zu übertrumpfen. Zweitens: Die Erfahrung von Gnade hatte immer viele Gesichter und konnte sich oft vom niederdrückenden Sündenbewusstsein befreien. Dies zeigt sich in der Mystik wie in der Volksfrömmigkeit, im tätigen Christsein wie in außerordentlichen Situationen, die man als Geschenk Gottes deutete. Deshalb ist die Rede von Gottes Gnade nie zusammengebrochen, sondern behält bis heute ihre Vitalität. Die Erfahrung von Gottes Güte gehört zu den reichsten Schätzen, die eine Religion zu bieten hat. Wie schrecklich man sich Bosheit und Unheil auch vorstellte und wie sehr man auch unter ihnen litt, letztlich wurde die christliche Heilsbotschaft immer selbst zum Maß und zur letzten Interpretin des Unheils. Dieses hermeneutische Prinzip hat – wenn auch oft diskriminiert – von Anfang an bis in die Gegenwart durchgehalten.[13] Nur wer weiß, dass wir Gottes Gnade alles verdanken, erschrickt vor der Undankbarkeit derer, die solches ignorieren. Umso enttäuschender ist es, dass sich die beschriebene Korrespondenz in der verbindlichen Erlösungslehre und in einer weit verbreiteten Frömmigkeitspraxis festgesetzt hat.[14] Der Grund dieser unseligen Dynamik liegt in der (ganz unjüdischen und unjesuanischen) Verinnerlichung des Heilsbegriffs.
2. Vom Realitätsverlust zur Ideologieanfälligkeit
In einem nächsten Schritt sei auf den beschriebenen Realitätsverlust und dessen Folgen in der Neuzeit eingegangen. Wie schon gesagt, bezog die biblische Tradition die Gnade, Gottes wirksame Güte also, auf Gottes Reich und die Versöhnung der Menschheit, die hier und jetzt beginnt. Die abendländische Theologie fixierte sich im Gefolge von Paulus und Augustinus auf Rechtfertigung und Erlösung. Die spätere Tradition der Scholastik stellt der Gnade, durchaus im Sinne der Neuzeit, die „Natur“ gegenüber.[15] Im Gegensatz zu allem „Übernatürlichen“ meint sie damit umfassend die (von Gott geschaffene) diesseitige Wirklichkeit mit all ihren immanent erschließbaren Zusammenhängen. Dies eröffnet für das Gespräch mit Philosophie und Wissenschaften zwar neue Perspektiven, drängt aber die Gnade ab in einen jenseitigen Raum, der von dieser Welt noch weiter entfernt ist. Als übernatürlich gelten die durch Wort und Sakramente vermittelten Gaben. Sie zielen auf einen Zustand, der den Erlösten im Jenseits zuteil wird. Jetzt wird Gottes erfahrbares Wirken in dieser Welt auf innere Erfahrungen oder – in Sonderfällen – auf die wunderbare Durchbrechung von „Naturgesetzen“ beschränkt. Die oft beklagte, wachsende Gottferne der Neuzeit hat durchaus Wurzeln in dieser Theologie. Denn jetzt läuft alles auf die Frage hinaus, wie die übernatürliche Gnade den Menschen überhaupt noch erreichen kann, wenn sie nicht zu einem Arsenal von vertröstenden Jenseitsvorstellungen verkümmern soll.
Die katholische Kirche hat aus dieser Frage Nutzen gezogen, denn in ihr spielt die Ritualisierung des Heils eine wichtige Rolle. Sie feiert die Sakramente und versteht ihre Gemeinschaft als Leib Christi, entfaltet die barocke Pracht als „Triumph der Gnade Christi“. Göttliche Gnade lässt sich in Zeit und Ort lokalisieren. Im evangelischen Raum geht es abstrakter zu, denn dort werden Gnade und Vergebung „nur“ im Wort zugesprochen; die Bedeutung der konkretisierenden Rituale tritt merklich zurück. In beiden Fällen aber schreitet heute die Entweltlichung und damit die Ideologisierung voran. Denn je mehr sich die Kirchen aus dem Zusammenhang dieser Welt entfernen, umso schärfer tritt für die Glaubenden wieder ihr paulinisch-augustinisches Heilsmonopol hervor. Für alle anderen sind die Brücken äußerst schmal geworden, denn erneut konzentriert sich alle Gnadenerfahrung auf die Sündenvergebung und das Bekenntnis der eigenen Unwürdigkeit. Wie aber sollen Sünde und Unwürdigkeit für diejenigen erfahrbar werden, denen jede vorausgehende Erfahrung von Gottes ungeschuldeter Güte abhanden gekommen ist? Die Sprache von Gnade und Heil bleibt blind und nichtssagend, solange sie sich über normalen Weltsphären bewegt. Diese Realitätsferne, nicht der Unglaube oder eine böse Welt, haben der Säkularisierung ihren Weg geebnet.
Der Begriff der Gnade ist zu einer Leerformel degeneriert, weil er nach wie vor von einem verinnerlichten und derealisierten Sündenbegriff gesteuert wird. Er hat uns nicht nur die konkreten Kriterien geraubt, die ein Gespräch zwischen Glaube und Welt ermöglichen, sondern auch die Elemente genommen, die eine überzeugende und ideologieresistente Verhältnisbestimmung zwischen dem christlichen Gnaden- und einem realen Sündenbegriff ermöglichen.
3. Erlösung: Opfer oder Solidarität?
Bislang blieb die Frage ausgeklammert: Wieso wurde die Sünde zum leitenden Attraktor des christlichen Gnadenverständnisses? Die Antwort scheint mir verblüffend einfach und vielerorts schon erkannt zu sein: Sie liegt in der frühen, normativ formulierten Überzeugung: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift“ (1 Kor 15,3b). Im Rückgriff auf jüdische Zeugnisse und unter dem Interpretationsdruck der Opferreligionen hat dieser Bekenntnissatz den Christusglauben, den Erlösungsglauben und später das Verständnis der Eucharistie auf den Opfergedanken konzentriert.
Die Exegese ruft schon lange zu einer besonneneren Interpretation auf, die von der systematischen Theologie kaum rezipiert wurde. Das Hauptproblem liegt im Anschluss an 1 Kor 15,3 in der Isolierung des Todes Jesu zu einem Opfergeschehen und in der Verdinglichung der Metaphern, die den Sinn des Todes Jesu erhellen sollen. Dies vorausgesetzt, lässt sich etwa die behutsame Art und Weise verstehen, in der Hans Küng als Systematiker schon 1974 die exegetische Interpretationsgeschichte aufgreift und zusammenfasst:[16]
– Das Neue Testament hat zur Deutung von Jesu Tod keine einheitliche Theorie entwickelt, obwohl angesichts dieses schändlichen Todes ein hoher Deutungsbedarf bestand. Die Rede ist von „Beispiel, Erlösung, Befreiung, Sündenvergebung, Reinigung, Heiligung, Versöhnung und Rechtfertigung“. Unbestritten ist also die heilende Wirkung dieses Todes. Illustriert wird diese Wirkung durch verschiedene, in ihren Übergängen schwebenden Vorstellungen: „Loskauf, Stellvertretung, Opfer (Passa-, Bundes-, Sühnopfer)“. Auch in dieser Hinsicht gibt es keine einheitliche Theorie, die für die heutigen Interpretationen Differenzierungen erlaubt, wenn nicht gar verlangt. Wenn Küng zur Folgerung kommt, dass die Vorstellungen vom Loskauf (= Erlösung), Lösegeld und Sühnopfer (410) für unser Vorstellungsvermögen besonders schwer zu entschlüsseln sind, gibt er nur einen Konsens wieder, der sich schon vor 40 Jahren eingestellt hatte.
– Die spätere Theologie des Westens deutet die genannten neutestamentlichen Modelle vornehmlich als Rechtsverhältnis zwischen Gott und Mensch und kann sich dabei auf die Rechtfertigungsfrage von Paulus berufen. Sie entwickelt heute noch geläufige Leitbegriffe wie „Gesetz, Schuld, Strafe, Lohn, Buße, Sühne, Loskauf, Satisfaktion, Rekonziliation, Restitution“. Paradox ist, dass der Gesetzeskritiker Jesus als der neue Gesetzgeber verstanden (411) und das Evangelium zum „neuen Gesetz“ wird.[17] Der unendlich wertvolle Tod des Gottmenschen leistet Genugtuung. „Schuld und Sühne, Leistung und Gegenleistung, Schaden und Schadenersatz“ kommen zum Ausgleich.
Die kritische Leistung der historisch-kritischen Exegese ist ebenso eklatant wie deren Folgerungen für eine Interpretation des Todes Jesu. Was folgt für die Deutung von Jesu Tod als Sühnopfer für unsere Sünden? Diesem Modell kommt schon deshalb eine begrenzte Legitimität zu, weil es – vom Hebräerbrief abgesehen – in den biblischen Todesdeutungen keine zentrale Rolle spielt.[18] Zudem wird diese Vorstellungswelt schon im Neuen Testament selbst korrigiert. Mit dem Opfer wird kein zorniger Dämon versöhnt, vielmehr ist der Mensch[!] zu versöhnen und ist es Gott[!], der uns versöhnt und den Versöhnungsdienst aufträgt (2. Kor 5,18). Ferner denkt das Neue Testament mit keiner Zeile an eine Opfergabe; auch das vollzogene Zeichen[!] des vergossenen Blutes wird nicht so gesehen (Mt 26,28). Gemeint ist eine personale Selbsthingabe, die ja gerade das Ende aller kultischen Opfer einschließt. Christus hat kein Opfer dargebracht, sondern ist einen Opferweg gegangen (415).
Küngs Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesem exegetischen Befund, den er mit dem Verständnishorizont unserer Gegenwart abgleicht. Er muss dies tun, denn die Opferreligionen sind aus unseren Kulturen verschwunden. Opfervorstellungen üben also keine vertiefende Kontrast-, sondern nur noch eine verflachende Ist-Wirkung aus. Als Ersatzgebriffe, die den weiterführenden Gehalt für die Gegenwart zum Ausdruck bringen können, schlägt Küng Worte vor wie: Versöhnung, Stellvertretung, Erlösung, Befreiung, Hingabe und Selbsthingabe. Das „für uns“ überträgt er als „zugunsten, zugute, zum besten von uns“. Schließlich ist es die Auferstehungsbotschaft, die für Küng die gegenwärtige Bedeutung dieses Todes zum Tragen bringt: „Als der zum Leben bei Gott Erweckte ist und bleibt er für uns (ein für allemal) der Gekreuzigte. So ist er für die Glaubenden lebendig präsent. Der Kreuzestod ist von daher ein historisches Faktum mit universaler Bedeutung: alle Menschen sind davon betroffen und zum Glauben berufen.“ (416)
Führt eine so geartete Analyse zu neuen Ergebnissen? Viele mag sie verunsichern, denn sie zeigt, wie sperrig sich die exegetische Forschung zu dogmatischen Lehrkonzepten verhält.[19] Offensichtlich wird das ganze „Wissen“ um Sünde und Gnade nicht etwa ausgetauscht oder an bestimmten Punkten neu justiert, sondern in einen anderen Bezugsrahmen eingerückt, den Küng als eine Christologie „von unten“ entwirft. Ihr zufolge reicht es nicht, theologisch den Tod an sich zu deuten. Er ist zu deuten „im Zusammenhang mit Verkündigung und Wirken des geschichtlichen Jesus, mit der lebendigen Präsenz des Auferweckten und selbstverständlich mit dem Erfahrungshorizont des heutigen Menschen“.
4. Gnade und Sünde in einem biblischen und zugleich zeitgemäßen Horizont
Dies ist der entscheidende Punkt. Es geht nicht um das Kreuz, sondern um den Gekreuzigten[20], nicht um die mögliche Heilsinterpretation eines Mordes, sondern um die Folgen eines solidarisch engagierten Lebens. Im Tod Jesu prallen nicht menschliche Sünde und deren offizielle Sühne, sondern die Praxis einer göttlich vorbehaltlosen Güte und die Bosheit eines menschlichen Destruktionswillens aufeinander. Je mehr man aber die Sünde verinnerlichte, Gottes Gnade in deren Sühne konzentrierte und dieses Heilgeschehen als ein übernatürlich einmaliges Ereignis derealisierte, umso mehr ließ sich die Befreiung des Menschen von seiner Sünde nur noch als ein derealisiert jenseitiges Ereignis denken. Der Tod Jesu wurde nicht mehr als der „konsequente“ Endpunkt einer konkreten, sinn- und gnadenvollen Lebenspraxis gesehen, sondern zu einem Sühneprozess verdinglicht.
Deshalb sind zwei Schritte unverzichtbar: (1) Der Weg vom Kreuz zum Gekreuzigten, wie ihn schon Hans Küng einfordert und Leo Karrer im Blick auf den Tode Jesu neuerdings nachdrücklich nachzeichnet. (2) Ferner die narrative Einholung des jesuanischen Lebensweges, der faktisch – aus menschlich nachvollziehbaren Gründen – zum Tod geführt hat. Wer als Christ wissen will, was Gottes Gnade meint und was in Jesu Tod zur Debatte steht, muss Schritt für Schritt die jesuanischen Erinnerungswege nachvollziehen. Deshalb ist es konsequent, dass bei exegetisch sorgfältigen Systematikern wie Küng und Schillebeeckx sich die gesamte Interpretation jesuanischer Identität nicht in der Frage nach dessen ontologischer, zugleich derealisierter Wesensbestimmung bündelt, sondern in der Frage nach den Gründen, die zu seinem Tod geführt haben.
So gesehen ist der Tod in sich kein isolierbares Ereignis, sondern der Abschluss und die Verdichtung einer Katastrophe, zu der die Konfrontation reiner Güte, d.h. reiner Gnadenpraxis mit dem Unrecht und der vorteilsgesteuerten Bosheit der Welt führte. Deshalb ist der christliche Lobpreis von Gottes Gnade endlich abzukoppeln vom personalisierten Sünden-, Sühne-, Unwürdigkeits- und Unterwürfigkeitsdiskurs, der die christliche Theologie und Frömmigkeitspraxis immer massiv durchzieht. Wie in der prophetischen und der jesuanischen Tradition sollte sich die Frage nach Gottes Gnade wieder mit der urbiblischen Leidenschaft schlechthin verbinden. Es ist der Kampf um Recht und Gerechtigkeit. In ihm stilisiert sich der Glaubende nicht als verdienstloser Sünder, sondern verzehrt sich im Einsatz für eine gerechte und barmherzige Menschheit, wie sie sich in den Seligpreisungen darstellt. Wie konkret und gewinnend ließe sich wieder über Gottes Gnade reden, wenn wir sie dort suchten, wo Blinde sehen, Lahme gehen und Armen eine freudige Botschaft zuteil wird. Die Fragen nach menschlicher Sünde und göttlicher Vergebung wären dadurch nicht gelöst, aber in einen umfassenderen Zusammenhang gerückt.
Neuestens erfährt diese Interpretation eine überraschende Bestätigung und Weiterführung durch W. Kirchschläger, der die großen Formeln von der Hingabe Jesu einer akribischen Analyse unterzieht und zum Ergebnis kommt[21]: Die großen (fälschlich so genannten) „Hingabeformeln“ des Neuen Testaments sind nicht von einem opfertheologischen Gedanken, sondern von einem Subtext des solidarischen, bis zum Tod bereiten Einsatzes für die Gescheiterten getragen: Gott gibt seinen Sohn nicht „hin“, sondern er „gibt“ ihn der Welt, damit er sie rette (Joh 3,16f.). „Eine größere Liebe hat niemand als wer sein Leben hinstellt [einsetzt] für seine Freunde.“ (Joh 15,13). „Der gute Hirt stellt sein Leben hin für seine Schafe.“ (Joh 10,11). Jesus gibt sich nicht hin, wie konstant übersetzt wird, sondern setzt sein Leben ein, springt in die Presche. Zu retten sind die Armen (Lk 4,18-19). Auch der paulinische Hinweis auf das Lamm (1 Kor 5,7) verweist auf kein Opfer, sondern auf das Zeichen der Errettung aus der Sklaverei: das Lamm wurde „geschlachtet“ und nicht „geopfert“.
Damit ist die Opferterminologie auch in den biblischen Ausgangspunkten (der jüdischen Bibel und des Neuen Testaments) noch weiter aus dem Zentrum gerückt, als es bisher den Anschein hatte. Die Gnade erweist sich in ihrer Konkretion also – einem jeden Menschen mit einiger Empathie leicht verständlich – als eine vorbehaltlose, für Gerechtigkeit eifernde Solidarität. Sie versucht, Menschen aus ihrer Fremd- und Selbstverstrickung zu lösen, ihnen im Namen Gottes neu das Glück des universalen Heils zu bringen.
Natürlich verlangt auch diese Lösung, so einfach und so einsichtig sie auch wirken mag, nach weiteren Fragen. Es geht nicht darum, den paulinischen Sünden- und den Opfergedanken einfach aus der Tradition auszuscheiden. R. Siebenrock spricht vom archaischen Drang des Menschen, immer wieder auf die Opfermechanik zurückzufallen.[22] Doch bleibe die Besprechung dieser These den Spezialisten der Religionspsychologie überlassen. Vielleicht spielt in der abendländischen Erlösungsthematik noch eine weitere Problematik, das neutestamentliche Grundproblem schlechthin, eine Rolle, die auf eine tiefgreifende Differenz zwischen Jesus und Paulus zurückgeht. Paulus geht aus vom zürnenden Gott, der für die Sünden der Welt versöhnt werden muss.[23] Sein Gottesreich kann nicht, wie in Jesu Tod geschehen, ohne die vorausgehende tiefgreifende Versöhnung der Menschheit beginnen. „Gott, der seinen Zorn zeigen und seine Macht erweisen wollte, hat die Gefäße des Zorns, die zur Vernichtung bestimmt sind, mit großer Langmut ertragen“ (Röm 9,22). Jesus hingegen kennt einen Gott der vorbehaltlosen Güte. Sein Reich kann ohne jede Vorbedingung beginnen. Warum? Weil Jesus zutiefst von der jüdischen Leidenschaft nach Gerechtigkeit unter den Menschen durchdrungen war. Für sie eiferte er. Um ihre Herstellung hat er gekämpft und sich im Leiden konsequent allen Rückschlägen gestellt. Doch beginnend mit der Thorakritik des Paulus hat sich diese Leidenschaft für die Gerechtigkeit der Welt zu einer Rechtfertigung der Einzelnen in ihrem Gottesverhältnis verinnerlicht. Vielleicht ist es der kommenden Generation im jüdisch-christlichen Gespräch vorbehalten, diese urjüdische Grundhaltung in kritischer Auseinandersetzung mit Paulus neu zu entdecken. Der bislang auf die Sünde bezogene Gnadendiskurs ist dann wieder im Eifer für Gottes Gerechtigkeit zu verankern. Dann lässt sich Gnade wiederum vorbehaltlos als Freiheit[24] und als Befreiung[25] denken.
Empfohlene Literatur:
* Gisbert Greshake, Gnade – Geschenk der Freiheit, Kevelaer 2004.
Gibt eine gute Übersicht über die traditionelle Gnadenlehre sowie deren Weiterentwicklung bis in die Gegenwart.
* Themenheft Gnade, Katechetische Blätter 134 (2009).
Gibt einen guten Einblick in die aktuellen Kernprobleme sowie in einen zeitgemäßen Umgang mit der Problematik.
* Klaus-Peter Jörns, Lebensgaben Gottes feiern: Abschied vom Sühnopfermahl. Eine neue Liturgie, Gütersloh 2007.
Zeigt die Folgerungen eines Abschieds vom Opfergedanken für Gottesdienst und Frömmigkeit sowie entsprechende Gestaltungsvorschläge für die Liturgie.
* Hermann Häring (Hg.), Der Jesus des Papstes. Passion, Tod und Auferstehung im Disput, Berlin 2011; die Beiträge von W. Kirchschläger (57-82), L. Karrer (83-99), R. A. Siebenrock (113-131) und E. L. Behrendt (227-262).
Informieren über den aktuellen Diskussionsstand der Sündenfrage aus christologischer Perspektive.
(Erschienen in: Theologisch-Praktische Quartalschrift 1/2012, 21-30)
Anmerkungen
[1] Sabine Pemsel-Maier, Es geht ums Ganze: Gottes Gnade, in: Katechetische Blätter 134 (2009), 399-404.
[2] Karl H. Menke, Was ist das eigentlich: „Gnade“? Sechs Thesen zur Diskussion, in: Theologie und Philosophie 84 (2009) 3, 356-373.
[3] Zu diesem Begriffsfeld gehören: Zuwendung, Zuneigung, Barmherzigkeit, Hilfe, Gunst, Rettung. Es geht also um eine personale Beziehung.
[4] Gustavo Sánchez Rojas, La gracia en San Pablo, in: Revista teológica limense 43 (2009), 1, 39-58.
[5] Zur Theorie der Ur- oder Erbsünde: Hermann Häring, Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Darmstadt 1999, 93-127.
[6] Rolf Schäfer, Glaube und Werke nach Luther, in: Luther, Zeitschrift der Luthergesellschaft, 58 (1987), 2, 75-85.
[7] Hermann Häring, Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Zürich 1979.
[8] Hermann Häring, Art. Malum, in: C. Mayer (Hg.), Augustinus-Lexikon, Bd. III, Basel 2011, 1111-1121 (Lit.).
[9] Die katholische Dogmatik unterschied zwischen verschiedenen Gnadenarten: der geschaffenen und ungeschaffenen, äußeren und inneren, der gratis gegebenen und der wohlgefällig machenden, der habituellen und aktuellen, die ihrerseits unterteilt wird in Verstandes-, Willens-, Erleuchtungs- und Stärkungsgnade, die zuvorkommend, unterstützend und begleitend, hinreichend und wirksam sein kann. Der Katholische Katechismus berichtet noch von sakramentaler und Standesgnade.
[10] „Gnade ist der Inbegriff der göttlichen Zuwendung zum Menschen, die sich in Jesus Christus verleiblicht und im Hl. Geist als Gabe zuinnerst mitteilt, und der daraus erwachsenden Beziehung zwischen Gott und Mensch.“ (Eva-Maria Faber, Gnade. VI. Systematisch-theologisch, in: LThK IV, Freiburg 41995, 779-785; zit. 779.
[11] Kai G. Sander, Kann man Gnade eigentlich spüren? In: Katechetische Blätter 134 (2009), 405-409; Manuel Stinglhammer, „Gnade fühlt sich an wie Cabrio fahren“, in: Katechetische Blätter 134 (2009), 421-425.
[12] Dies ist das Anliegen von Ethel L. Behrendt in ihre Fundamentalkritik an den Jesusbüchern von J. Ratzinger/Benedikt XVI.: Ethel L. Behrendt, ‚Jesus von Nazareth’. Wie ihm der Papst die Gerechtigkeit entwendet hat, in: H. Häring (Hg.), Der Jesus des Papstes. Passion, Tod und Auferstehung Jesu im Disput, Berlin 2011, 227-262; dies., Gottes Ehre – Gerechtigkeit. Das veruntreute biblische Wort, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Buch von Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, München 2008.
[13] Ingolf U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008.
[14] An diesem Zusammenhang hält auch fest: J. Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Teil 2: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung, Freiburg 2011, 230-253.
[15] Eva-Maria Faber, Natur und Gnade, in: Lexikon für Theologie und Kirche VII, Freiburg 41998, 667-671; Ralph DelColle, Nature and grace: why this Catholic delineation of the “supernatural” is important for Pentecostals, in: Journal of Pentecostal theology 18 (2009) 1, 111-122.
[16] Zum Folgenden: Hans Küng, Christsein, München 1974, 409-417.
[17] Erst im 11. Jahrhundert wird dieser Denkstil zum rational durchdachten geschlossenen System.
[18] Möglicherweise ist dieses Modell auf jüdisch-prophetische Deutungen (bes. Jes 53) zurückzuführen, möglicherweise auf Jesus selbst (Mk 10,45: Der Menschensohn ist gekommen, „um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“). Ferner ist die Rede vom „Sühnemal der Erlösung“ (Röm 3,24-26), dem „geschlachteten Passalamm“ (1 Kor 5,7) und dem „Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt“ (Joh 1,29 u.a.) (414).
[19] Man sieht dies auch an der mühevollen Art, in der reformwillige Dogmatiker versuchen, Brückenschläge zu heute nicht mehr nachvollziehbaren Vorstellungen aufrechtzuerhalten. Vgl. den unten genannten Artikel von W. Kirchschläger (Anm. 21).
[20] Leo Karrer, Vom Kreuz zum Gekreuzigten, in: Der Jesus des Papstes, 83-99.
[21] Walter Kirchschläger, Tod, Auferstehung, Erlösung, in: Der Jesus des Papstes, 57-82.
[22] Roman A. Siebenrock, Ihn hat Gott hingestellt als “Hilasterion” (Röm 3,25), in: Der Jesus des Papstes, 113-131.
[23] Meinrad Limbeck, Zürnt Gott wirklich? Fragen an Paulus, Stuttgart 2001; Hubertus Halbfas, Glaubensverlust – Warum sich das Christentum neu erfinden muss, Düsseldorf 2011, sieht deutlich die Problematik der paulinischen Glaubensinterpretation, sofern sie von der ursprünglichen Botschaft Jesu abgekoppelt wird.
[24] Thomas Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 21988.
[25] Leonardo Boff, Erfahrung von Gnade. Entwurf einer Gnadenlehre, Düsseldorf 1978.