Religionen als Hoffnungsstifter
Einleitung
Nichtchristliche Religionen in Deutschland: eine Schreckens- oder eine Hoffnungsvision? Religionen in einer säkularen Gesellschaft: haben sie noch eine Funktion? Globale Zusammenarbeit der Religionen zum Wohl der Menschheit: ist das Utopie oder eine überlebensnotwendige Unternehmung? Gegenwärtig häufen und überkreuzen sich Schlagworte und politische Losungen: Deutschland schaffe sich ab[1] und unsere Großstädte würden islamisiert, mit dem Bau von Moscheen müsse es aufhören und „Multi-Kulti“ sei an sein Ende gekommen.[2] Umgekehrt plädiert der ZEIT-Journalist Jan Ross für ein Europa der Religionen und ruft aus: „Willkommen ihr Götter!“; die Kraft Europas beruhe nicht in ihrer Säkularisierung, sondern darin, dass sie aus Religionen neue Ressourcen schöpfe.[3] Und Bundespräsident Christan Wulff stellt am 3. Oktober 2010 ohne weiteres fest, auch der Islam gehöre zu Deutschland. „Ja. Natürlich bin ich Ihr Präsident.“ Zu Recht waren diese Worte allgemein gehalten, denn sie vermittelten einen Grundakkord der Offenheit und der Akzeptanz. Bürger zweiter Klasse kennt eine Demokratie nicht, zumal dann nicht, wenn sie sich auf christliche Wurzeln beruft.
Umso prekärer ist das Feuerwerk der kritischen Folgekommentare. Insgesamt zeigen oder instrumentalisieren sie die Verunsicherung über das Unerwartete, das seit einigen Jahrzehnten geschieht. Man sieht die christliche Tradition in Gefahr. Viele möchten sie als „Leitkultur“ absichern, unversehens aber leben 3,5 Millionen Muslime in Deutschland, das sind ganze 4,26% der Gesamtbevölkerung. Schon im Sommer 2009 machten sich über die Ausbreitung des Islam in Deutschland 36% der Deutschen große, 39% ein wenig, nur 22% keine Sorgen. Bei den mehr als 24 Millionen Katholiken, ebensoviel Protestanten und 28 Millionen Konfessionslosen ist das erstaunlich. Man kann nur vermuten, was die psychologische Wurzel für diese abwehrenden Reaktionen ist: Es ist die Angst eines Kulturchristentums, das seine Schwächung auf vermeintliche Konkurrenten projiziert. Im Augenblick sagt man gerne Islam, wo man Säkularisierung meint, und versperrt sich damit einem kritisch-selbstkritischen Diskurs. Natürlich sind Migrations- und Integrationsprobleme zu bewältigen. Streng genommen haben sie aber mit Kultur-, Bildungs-, Sozial- und nur selten mit Religionsdifferenzen, mit Versäumnissen des Entgegenkommens und sozialpolitischer Eingliederung, nicht mit den Mängeln anderer Glaubensidentitäten zu tun. Das gilt auch für die unter uns lebenden Menschen hinduistischer oder buddhistischer, konfuzianischer oder taoistischer, indiogener oder zentralafrikanischer Herkunft.
Zudem ist auch die religiöse Welt unübersichtlich geworden; denn sie hält sich nicht mehr an die Grenzen der überlieferten Systeme. Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung etwa hält 70% der Deutschen durchaus für „religiös“, davon 28% gar hochreligiös, und nur 28% zeigen in ihrer Identität keinerlei religiöse Dimension. Diese Zahlen sind nicht nach unterschiedlichen Glaubenszugehörigkeiten spezifiziert. Es wäre also genauer zu fragen, wie viele der „Religiösen“ ihre Religiosität an welche Inhalte binden. Immerhin glauben 12% der Nichtreligiösen an die Existenz Gottes, an ein göttliches Prinzip oder an ein Leben nach dem Tod; dagegen haben gut 30% der Christen mit der Auferstehungsbotschaft ihre Probleme. Das schafft massive Verunsicherungen. Es ist deshalb an der Zeit, die Religionen nicht einfach von bestimmten Inhalten her zu bestimmen, um daraus intellektuelle Hoffnungssignale abzuleiten. Es geht viel grundsätzlicher um die Frage, was Religionen und Religiosität im Kern bewegen. Vielleicht sind sie einander viel näher, als der Anschein von Riten und Symbolisierungen es nahe legt.[4]
1. Religionen und Politik lassen sich nicht trennen
Religionen schaffen Hoffnung, aber diese Hoffnung hat ihren Preis.
Lassen Sie mich deshalb eine erste, hinführende These formulieren, die uns vor falschen Illusionen bewahren soll. Entgegen aller aufklärerischen und religionskritischen Tendenzen gilt: Religion und Politik lassen sich nicht trennen. Das ist nie wirklich gelungen, und entgegenstehende Behauptungen unterliegen zu recht dem Verdacht, sie retteten sich in eine übergeordnete und zudem ignorante Instanz, die ihre eigene Politik ohne Beteilung der Betroffenen definieren möchte. Die gescheiterte Vietnampolitik der USA in den 60er und 70er Jahren ist dafür ebenso ein Beispiel wie die machtorientierte Kolonialpolitik des Westens im Nahen Orient.[5] Dieses unrealistische Machtmotiv wurde im Westen durch den Rückzug des Christentums auf eine gefühlsbetonte Innerlichkeit oder auf eine jenseitige „Übernatur“ bestärkt. Die klassische Religionskritik war zudem der trügerischen Überzeugung, dass Religion Privatsache sei.
Vor diesen Hintergründen kennt unsere Gegenwart kein schockierenderes Datum als den 11. September 2001, denn seit diesem Tag werden nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum, alle Religionen überhaupt, als politisch hochrelevante Brennkammern wahrgenommen. Ihr Energiepotential kann als unerschöpflich gelten und auf deren Existenz hat seit Ende der 80er Jahre schon das Projekt Weltethos aufmerksam gemacht. Zwar vermittelt sich diese politische Relevanz nur selten in politisch definierten Zielen[6], aber die allgegenwärtige Mobilisierung von Symbolwelten und Utopien, die Internalisierung von Grundhaltungen und Werten, die Ritualisierung von universalen Zielen, dies alles enthält ein Gestaltungspotential, das wie selbstverständlich die Gesellschaften vom einzelnen Individuum bis hin zu politischen Strukturen durchdringt.
Seit 2001 also nimmt der Westen die Weltreligionen wieder als politikfähige weltpolitische Faktoren wahr. In der deutschen Öffentlichkeit hat die Rede von Jürgen Habermas vom Oktober 2001 diese Wende signalisiert.[7] Für Habermas wurde bei diesem Attentat kein erbitterter Streit zwischen der arabischen und der westlichen Welt, zwischen Christentum und Islam ausgetragen; insofern unterstützt er nicht die These von S. P. Huntington vom Clash der Kulturn. Für ihn ist etwas ganz anderes, nämlich die „Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion explodiert“. Für ihn steht eine unabgeschlossene und wohl unabschließbare Dialektik zur Diskussion. Seine Rede vermittelt gerade nicht die Hoffnung, der Säkularisierungsprozess werde sich irgendwann vollenden, also problemlos und widerspruchsfrei abschließen. Im Gegenteil, dieses Attentat großen Stils gerät ihm zum warnenden Symbol für eine gefährliche religiös-säkulare Schieflage, die es zu bewältigen gilt. Säkularisierte Gesellschaften neigen dazu, die gesellschaftsgestaltende, politische Kraft von Religionen zu ignorieren.
Man muss dieser These nicht zustimmen. Aber sie bringt Diskussionen und Auseinandersetzungen in Gang, die seit Jahrzehnten vernachlässigt wurden. Es zeigt sich: Religionen bestimmen zutiefst die Kulturen und moralischen Codes, die Identität und die Hoffnungen von Menschen. Das gilt nicht nur für die monotheistischen, politisch vielleicht bewussteren und entschiedeneren Religionen, sondern auch für die Religionen des Ostens, denen man mehr Weltdistanz und Introvertiertheit nachsagt. Die Tatsache, dass sich Christentum und Islam plötzlich so feindlich gegenüberstehen, hat natürlich mit einer politischen Konstellation zu tun, die in erster Linie der Westen heraufführte. Die Härte und die aktuelle Unfähigkeit zum Dialog rührt wohl daher, dass der säkularisierte Westen nicht mit Religionen und die nahöstlich muslimische Welt nicht mit säkularisierten Gesellschaften umgehen kann. Das Christentum, abstrakt als Religion gedacht, wird in dieser Konstellation geradezu ortlos, wie der Islam, als Verleiblichung des Koran begriffen, von der Politik überdeterminiert wird. Im Westen beklagt man selbstkritisch eine „Diktatur des Relativismus“ (Benedikt XVI.); weiß ihr aber nichts entgegenzusetzen, auch wenn diese Kritik von muslimischer Seite bestätigt wird. In arabischen Ländern hingegen verurteilt man fremdkritisch eine Diktatur moralfreier Gottlosigkeit, erschöpft sich selbst aber in Signalen religionsloser Gewalt. Es ist also ein asymmetrisches Verhältnis zu bewältigen. Denn einerseits sitzt die Säkularität des Westens auf der Anklagebank, andererseits zeigen die Gewaltreaktionen der Al-Qaida und ihrer Verbündeten keine überzeugende Alternative.
Wir überwinden diese destruktive Situation des Selbsthasses nur dann, wenn Islam und Christentum gemeinsam ihre politischen Potenzen in Anschlag bringen. Dabei dürfen sie sich nicht – wie bislang auf beiden Seiten geschehen – in individueller Machtpolitik erschöpfen, sondern müssen endlich ihre universal ethischen Ressourcen in Anschlag bringen, ihr Handeln also religiös verantworten. Qualitativ gesehen meint Religion immer mehr als Politik. Genau deshalb kann sie der Politik und ihrem Gestaltungswillen immer ein tiefer fundiertes, menschliches Maß mitgeben. Kulturhistorisch gesehen entstanden universal verbindende und versöhnende Werte immer wieder aus Religionen. Wo das der Fall ist, brauchen wir Politik auch nicht mehr mit dem allgemeinen Verdacht skrupelloser Machtspiele auszusetzen. Dann können wir uns mit der Tatsache versöhnen, dass Politik eben der eigentliche Ort ist, an dem die Lebenswirklichkeit der Menschen gestaltet wird. Wie könnte es auch anders sein, denn die Orte gemeinsamer Lebensgestaltung vollziehen sich eben immer im politischen Rahmen.
2. Religionen bringen Konflikte zum Austrag
Wundern wir uns allerdings nicht, wenn diese selbstbewusste These sofort Widerspruch hervorruft. Denn sie erinnert sofort an eine merkwürdige Diskrepanz.
Blicken wir auf die eine Seite der Medaille:
Ohne jede Heuchelei und ohne jeden Zynismus präsentieren sich alle großen Religionen als geistige Bewegungen, die von hohen humanen Zielen beseelt sind: Das Judentum lebt vom Vertrauen auf Gottes Treue und von der Hoffnung auf Gottes Reich, auf ein Reich der Versöhnung und des Friedens. Das Christentum zeigt sich als die Religion der Nächsten- und der Gottesliebe. Der Islam erscheint als eine sozial orientierte Religion der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit. Der Buddhismus, der von den vier edlen Wahrheiten ausgeht und das Leiden, die Gier und den Hass überwinden will, erstrebt eine Haltung des Mitgefühls und der alles versöhnenden Weisheit. Als zentrale Tugend des Konfuzianismus gilt Jen, oft als Güte, Milde, Zuneigung oder Liebe übersetzt. Ich erinnere schließlich an die zentrale hinduistische (und zugleich buddhistische) Tugend der Ahimsa, der Gewaltlosigkeit, die eine unbedingte Achtsamkeit gegenüber allen Lebewesen einschließt. Die Anhängerinnen und Anhänger der Religion der Bahai schließlich widmen sich der großen religiösen Versöhnung der Menschheit, die sie als Einheit betrachten und deren Frieden sie zu ihrem Ziel erwählt haben. Das alles sind Verhaltensideale, Tugenden und ernste Selbstverpflichtungen, die ohne Heuchelei vorgetragen werden, um deren Verletzlichkeit man in aller Demut weiß und um die sich die Anhänger dieser Religionen redlich mühen.
Die andere Seite der Medaille bietet ein düsteres Bild:
Nicht nur die monotheistischen, auch die fernöstlichen, die afrikanischen und indiogenen Religionen sehen sich dem Vorwurf eines unausrottbaren Egoismus, massiver Gewalttätigkeit und oft destruktiver Zerstörungswut ausgesetzt. Je mehr Heil eine Religion aktiv in die Welt tragen wollte, umso skrupelloser ließ sie oft zu, dass der Zweck die Mittel heiligte. Es wäre auch unehrlich, diese Diskrepanz in der Geschichte des Christentums jedenfalls in einigen Phasen verdrängen zu wollen. In der aktuellen Diskussion werden etwa die demokratischen Prinzipien der Partizipation, der Gleichberechtigung, der Religions- und Redefreiheit als Früchte einer christlichen Geschichte gerühmt. Ich stimme dem zu. Aber gerne übersieht man dabei die Widerstände, die Kirchen aller Couleur dieser Entwicklung lange entgegengesetzt haben; man lese nur Lessings „Nathan der Weise“ und betrachte die darin verarbeiteten Konflikte. Ebenso sind die Gewaltpotentiale des Islam unverkennbar, aus deren Geschichte Feuer und Schwert ebenso wenig wegzudenken sind. Ich versage mir hier Beispiele aus anderen Religionen. Ich füge nur hinzu, dass Religionen sich oft für andere Konflikte missbrauchen lassen[8] und stelle aber die Frage: Woher kommen denn diese regelmäßigen Ausbrüche von Gewalt und Fanatismus? Warum haben alle großen Religionen solche gewalttätige Phasen durchlaufen?[9]
Ich nenne dafür zwei oft übersehene Gründe.
Den ersten umschreibe ich als die unbändige und ungeduldige Leidenschaft der Religionen zum Guten. Alle Religionen leben von einem Zeitindex, den die Philosophien als bloß reflektierende Institutionen gerne ausschalten. Er lautet: Die Zeit ist reif, wir können nicht mehr warten, das Reich Gottes bricht an, Allahs Offenbarung hat sich hier und jetzt, durch den letzten Propheten ereignet. Zumindest in ihren heißen, den ungemindert drängenden Phasen leben Religionen von der Leidenschaft zur Wahrheit. Sie wollen zu einer neuen Welt durchstoßen, sich dem Reich des allumfassenden Heils vorbehaltlos nähern. Christen reden von einem eschatologischen Bewusstsein. Hier und jetzt muss geschehen, was schon immer Gottes Wille war. Hic Rhodos, hic salta! Für umständliche Prozeduren, für die Geduld mit den Zögerlichen und Unwilligen ist jetzt keine Zeit mehr. Dabei werden die Übergänge von der Leidenschaft zum Fanatismus fließend. Je vorbehaltloser sich eine Gemeinschaft seinen religiösen Zielen verschreibt, umso mehr droht die Gefahr der Unbarmherzigkeit und Gewalt. Die Guillotine eines Robespierre lauert, leiblich oder geistig verstanden, in allen Religionen, die ihre Utopien verwirklichen wollen.
Der zweite Grund reicht tiefer. Ich umschreibe ihn als Fixierung auf das Böse, das man nachhaltig überwinden, ausrotten, auch in seinen inneren Motivationen bezwingen will. Nicht nur die monotheistischen, auch andere Religionen haben im Kern dualistische Konzepte ausgebildet. Man spricht von Licht und Finsternis, Leben und Tod, Leiden und Erlösung, von Existenz und der Auflösung seiner selbst, von Wahrheit und Lüge, Solidarität und Egoismus, von Gewaltlosigkeit und Vernichtung. Warum aber folgen die Religionen nicht einfach ihren Zielen und lassen das Negative nicht einfach hinter sich? Wie kann es sein, dass gläubige Christen in Europa der Demokratie oft mit Vorbehalten begegnen, dass Kirchgänger in den USA die Folter bei Terrorverdächtigen mehrheitlich akzeptieren, während Kirchenabstinenzler sie mehrheitlich ablehnen? Warum berufen sich ausgerechnet Anhänger der Al-Qaida oder Selbstmordattentäter auf Allah? Warum erleben wir ausgerechnet zwischen Sikhs und Hindus die bekannten Grausamkeiten, Anschläge von Sunniten ausgerechnet auf schiitische Pilger?
Für überzeugt religiöse Menschen sind solche Erkenntnisse nur schwer zu ertragen, gleich welcher Religion sie selbst anhängen. Doch vergessen wir nicht: Religionen erschöpfen sich weder in Theorien noch in rituellen Praktiken, weder in der Anbetung des Heiligen noch in Regeln des guten Handelns. Denn eine jede Religion wirkt als umfassende Lebenspraxis, oder es gibt sie nicht. Sie stellt sich den vorgegebenen Konflikten des Lebens konkret, im Lebensvollzug, oder sie verflüchtigt sich zur kraftlosen Ideologie. Sie lässt sich vorbehaltlos ein auf Werte wie Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Solidarität, sie verteidigt diese, oder sie verfehlt ihren Sinn.
Dies sind die beiden Hauptgründe, weshalb sich Religionen diesen Konfliktsituationen immer stellen, sie – um ihres Widerstands gegen das Böse willen – geradezu suchen und sie mit Leidenschaft austragen. Die Phasen solcher Austragung sind in allen Heiligen Schriften, in allen utopischen und mythischen Welten dokumentiert. Deshalb entscheidet über den Wert einer Religion nicht die Frage, ob es hier oder dort Worte des Kampfes, der Phantasien, der Vernichtung oder Tiefpunkte der Verzweiflung gibt. Entscheidend ist die Frage, zu welchen Antworten eine Religion am Ende solcher Phasen gefunden hat. Der Religionsphilosoph R. Girard hat deutlich gemacht: Religionen verinnerlichen solche Konflikte, versuchen sie durch Opferrituale zu bewältigen oder verarbeiten sie durch Aneignung.[10] Man denke an ein homöopathisches Mittel oder an eine Impfung, die eine Krankheit induziert, damit der Organismus sich gegen sie immunisiert. Auf gesellschaftliche Verhältnisse angewendet: Verhältnisse lassen sich nie gewaltsam ändern, sondern nur durch Prozesse entspannenden Mitagierens und nachhaltiger Deeskalation.
Wie Individuen, Gemeinschaften und andere Institutionen brauchen auch Religionen ihre Zeit, um mit der Wirklichkeit und mit sich ins Reine zu kommen. Sie können Konflikte nur zum Austrag bringen, indem sie diese durchspielen, allmählich die inneren Widersprüche zwischen guten Zielen und unerträglichen Mitteln durchschauen. Die reife – und uns in der Theorie selbstverständliche – Erkenntnis, Gewalt lasse sich nicht durch Gewalt überwinden, steht nie am Beginn einer Religion. Ich bin der Überzeugung: Diese Weisheit ist dem Christentum und dem Islam zwar in die Wiege gelegt, in ihren Heiligen Schriften besiegelt, aber noch immer nicht hinreichend oder nur durch Teile begriffen. Die Aggressionsanteile von Gruppierungen, die sich muslimisch nennen, und die vergleichbaren Anteile von entsprechenden christlich sich nennenden Gruppierungen halten sich die Waage. Ich traue aber beiden Religionen zu, dass ihnen die Verarbeitung dieser Problematik nicht nur gelingt, sondern dass sie bei diesem Prozess ihre Kulturen beteiligen können. Ich behaupte zugleich, und das ist mir wichtig: Faktisch gibt es keine andersartige Institution, der diese Aufgabe von unten her, also von der je individuellen Wertebildung her gelingen kann. Wer sich mit einer Religion einlässt, geht immer auch ein Risiko ein. Nur gibt es keinen Weg, der an diesem Dilemma vorbei führt. Leider sind Religionen nur so gut wie ihre Anhänger.
3. Die Reife einer Religion zeigt sich in ihrer Fähigkeit zum globalen Frieden
Wir haben unsere Überlegungen an einen gefährlichen Punkt geführt. Wenn nämlich eine Religion nicht besser ist als ihre Anhänger, dann bleibt uns am Ende nur Verzweiflung. Gerade die religiöse Leidenschaft würde zu einem Zwang und einem Terror führen, wie ihn die Menschheitsgeschichte immer wieder erlebt hat. Deshalb gehe ich einen Schritt weiter, den Hans Joas in seinem Buch „Die Entstehung der Werte“ gut herausgearbeitet hat.[11] Religionen entfesseln nicht nur Leidenschaften, sondern schaffen im gleichen Augenblick auch eine merkwürdige Freiheitserfahrung. Joas kommt immer wieder auf ein ekstatisches Element zurück. Er spricht nicht nur plakativ von religiösen Erfahrungen und kollektiver Ekstase, sondern auch von einer Dialektik zwischen Immanenz und Transzendenz, vom eine neuen Wertgefühl oder von der Erschütterung der Intersubjektivität. Wie man es auch immer bezeichnen mag: Immer kommt eine Erfahrung ins Spiel, die Menschen zugleich über sich hinaushebt und auf andere hinwendet. Erst in der Hinwendung auf andere kommen wir zu uns selbst. In dieser Bewegung von mir zu dir eröffnet sich ein Raum der uns sagt: Offensichtlich gibt es ein Mehr, das meine Eigeninteressen relativiert, gleich, ob man dies (mehr monotheistisch) als eine Transzendenz oder (mehr fernöstlich) als eine tiefe Immanenz beschreibt. Diese Überschusserfahrung lässt uns einen Raum gewahr werden, der uns umgibt, der unerwartete Freiheit schafft. Er ermöglicht es uns, uns selbst loszulassen, uns selbst in die Transzendenz zu übersteigen und so zu Sache und zum Anderen zu kommen.
Ich behaupte nicht, außerhalb der Religionen sei diese Überschusserfahrung unmöglich. Ganz gewiss gibt es sie aber innerhalb ihrer. Sie setzt unberechenbare und loslösende, er-lösende Kräfte frei. Man mag diese Erfahrung weiterhin mit anthropologischen oder mystischen Begriffen umschreiben. In jedem Fall liegt in dieser Erfahrung der Grund, der uns nicht verzweifeln lässt. In dieser Erfahrung sind die Möglichkeiten von unerwarteten Wundern und bedingungsloser Hinwendung, von Vergebung und Neuanfang beschlossen. Deshalb wird es die objektive Religion der reinen Liebe, der Gerechtigkeit oder Achtsamkeit nie geben, aber in Einzelfällen werden die transzendierenden Utopien von Gerechtigkeit und Versöhnung Wirklichkeit. Alle Religionen sind fähig, ihr eigenes Reden und Verhalten selbstkritisch zu überprüfen und zu korrigieren. Solche Prozesse kommen in der Regel in Krisensituationen in Gang. Dies lässt sich in allen Religionen beobachten.
Ich weiß, ich spreche im Augenblick die Sprache der Utopie, auch wenn sie sich mit vielen Beispielen unterbauen lässt. Langfristig gesehen können wir das Friedenspotential der Religionen kaum überschätzen, denn sie sind immer wieder an neuen Herausforderungen gewachsen und ich bin davon überzeugt, dass sie Huntingtons These im kommenden Jahrhundert widerlegen werden, wenn Politik und Wirtschaft nur auf sie hören. Deshalb wird es Zeit, dass die Religionen zusammenrücken. Die politische Wirklichkeit der kommenden Jahrzehnte hängt nicht nur von objektiven Zusammenhängen, sondern auch von unserer Wirklichkeitsinterpretation ab. Deshalb werden wir nicht zulassen, dass der aggressive Fundamentalismus des Westens als christlich, die Gewaltbereitschaft „islamistischer“ Kräfte als muslimisch oder die Machtpolitik östlicher Staaten als buddhistisch, hinduistisch oder als konfuzianisch identifiziert wird. Es ist Zeit, dass sich die Religionen aus ihren staatlichen und kulturellen Umklammerungen befreien. Deshalb gilt die entscheidende Frage an die Religionen, die wir gegenseitig beim Wort nehmen müssen: Privilegieren sie die Stimmen der Resignierten und ihrer Ressentiments oder die Stimmen derer, die in neuere Freiheit auf Überschreitendes hoffen?
4. Religionen sind zentrale Moralagenturen der Welt und als solche unverzichtbar
Immerhin sollten wir nicht übersehen: Gegenwärtig werden alle Religionen der Welt von einer krisenhaften Situation überrollt und keine von ihnen ist darauf vorbereitet. Wie die fernöstlichen Religionen langfristig auf die (westlich geprägte) Industrialisierung reagieren, ist noch nicht abzusehen. Sie werden wohl weniger Hektik an den Tag legen als die monotheistischen Religionen. Diese hingegen reagieren verunsichert. Sie sind in Aufruhr, werden teils von gewalttätigen Reaktionen überrollt. Denn ihre Imaginationen von einer gerechten Gesellschaft und ihre politischen Optionen sind neu zu justieren. Sie müssen mit ihren Herrschaftsphantasien ebenso ins Gericht gehen wie mit ihrer Sakralisierung der Macht.
Deshalb betrachte ich es für alle Religionen, die hier im westlichen Kulturraum leben, geradezu als einen Segen, dass unsere Gesellschaftsordnung Religionen zwar respektiert, ihnen aber zahllose Vorrechte nimmt. Das minimiert unsere Versuchungen zur Macht. Es zwingt uns, unsere Zukunft in der gegenseitigen Begegnung, im Gespräch und in der gemeinsamen Sorge für eine Menschheitszukunft zu suchen. Besseres kann einer Religion nicht passieren. Deshalb bin ich auch davon überzeugt, dass die gegenwärtigen Probleme der Integration und der Verständigung für die Religionen Übergangsprobleme sind. Schon jetzt wächst z. B. ein Christentum heran, das bereit ist, mit anderen Religionen auf gleicher Augenhöhe zu sprechen. Und schon jetzt wächst z. B. ein Islam heran, der die Werte der Demokratie und der Gleichberechtigung verinnerlicht und als muslimisch akzeptieren kann. Er geht in diesen Fragen einen Weg, den die christlichen Kirchen genauso gehen mussten und zunächst nur gegen ihren Willen akzeptierten.
Bleiben wir dennoch nüchtern: Im Stress der aktuellen Auseinandersetzungen ist keine unserer Religionen wirklich bei sich. Andererseits sagt uns die Empirie: Nachweislich sind alle Weltreligionen von einem hohen moralischen, zu Gemeinschaft und Solidarität bereiten und fähigen Bewusstsein geprägt. In ihrem Alltag vermitteln sie ihren Anhängern dieses Bewusstsein jeweils auf unterschiedlichen Wegen. Sie alle üben sich täglich dazu ein, die Kontingenzen der Welt zu verstehen, mit unseren Grenzerfahrungen (Tod, Versagen, Unglück, Unrecht) zurechtzukommen und uns aus individuellen Isolierungen herauszuholen und in die Lebensräume eines von Gott geschaffenen Kosmos einzufügen. Auch unsere säkulare Gesellschaft ist alles andere als bei sich, sie stellt aber auch – wenigstens theoretisch – die universalen menschlichen Werte in sich dar. Säkulare Gesellschaften sind zukunftsfähig und zukunftsnotwendig, sofern sie im demokratischen Gespräch mit den Religionen bleiben. Umso deutlicher können die Religionen Motivationen und transzendierende Begründungen, die bleibenden Grenzräume und die Einübung der Herzen in Angriff nehmen. Die Weltreligionen sind und bleiben die entscheidenden Moralagenturen der Welt, in denen sich ein gemeinschafts- und friedensfähiges Ethos entwickeln kann.[12]
5. Die weltethischen Potentiale der Religionen
Allerdings haben wird schon gesehen: Religionen sind keine fertigen, überzeitlichen Konstrukte. Sie leben in Strömungen des Erzählens und Verschweigens, neuer Identitätsfindung und immer neuer Entfremdung. Christen können im Rückblick auf ihre eigene Geschichte ein Lied von diesen Schwankungen singen; oft sind es Lieder der Trauer und Scham. Deshalb brauchen die Religionen immer wieder Erneuerer, die ihre Schwestern und Brüder an ihre guten Traditionen erinnern. In einer Epoche wachsender globaler Säkularisierung steht es uns an, dass wir, die Anhängerinnen und Anhänger verschiedenster Religionen, uns gegenseitig, auch über die Grenzen der Religionen hinweg beim Wort nehmen, uns auf unsere besten, friedens- und versöhnungsfähigen Traditionen ansprechen.
Umso erfreulicher ist: In den vergangenen Jahrzehnten haben sich in wachsendem Maße die gemeinsamen weltethischen Potentiale herausgestellt; in ihnen sind sich alle Religionen erstaunlich nahe. Zwar bleibt das schon Gesagte gültig: (1) Religionen werden immer neu von Rechthaberei, Fanatismus und Gewalt bedroht sein, denn Leidenschaft und Ungeduld können entfremdend wirken. (2) Gültig bleibt aber auch: Im Zuge ihrer Transzendenzerfahrung bleiben Religionen immer fähig zu Selbstkritik, zu Erneuerung und – um es biblisch auszudrücken – zu Umkehr. (3) Dem ist eine erstaunliche Entdeckung hinzuzufügen, die erst allmählich ins Bewusstsein dringt: Ungeachtet aller historischen, kulturellen und sozialen Unterschiede sind alle Religionen von einem humanen Ethos geprägt. In allen gilt die Goldene Regel. Für alle ist das Leben prinzipiell unantastbar und die Gemeinschaft zu einer solidarischen Gerechtigkeit verpflichtet. Alle verabscheuen die Lüge und die damit gekoppelte Verachtung von Menschen. Für alle gilt schließlich eine Grundverpflichtung zu gegenseitiger Treue zwischen Schwachen und Starken, zwischen Mann und Frau; für alle Religionen ist dies übrigens noch ein Lernprojekt.[13]
Im gegenseitigen Gespräch über dieses weltweite und weltdynamische, reich differenzierte und doch kommunikationsfähige Ethos liegt heute eine große Menschheitshoffnung. Wenn gegenwärtig eine Institution darüber weltweite Gespräche führen und mit den eigenen Friedenspotentialen anreichern kann, dann sind es die Religionen. Es wäre an der Zeit, den Religionen eine öffentlich respektierte, gemeinsame Gesprächsbasis zuzugestehen, die mit der UNO und anderen internationalen Institutionen sprechen, verhandeln und beschließen kann.[14] Alle Weltreligionen haben globale Weltvisionen entwickelt, die zum ersten Mal in der Weltgeschichte realisierbar sind, und alle sind dazu bereit, ihre ethischen Ziele in Zusammenarbeit mit den säkularen Wissenschaften umzusetzen, seien es Politologie oder Ökonomie, Ökologie und Pädagogik.[15]
6. Von der Theorie zur Praxis vor Ort
Religionen können also unter den neuen Bedingungen einer globalisierten Welt zu erneuten Hoffnungsstiftern werden. Dabei haben schon Milliarden von Religionsangehörigen gerade in den armen Ländern der Erde erfahren, welch enormes, geradezu unüberwindliches Hoffnungspotential in Religionen steckt. Sie schaffen Aus- und Überblicke, entwickeln Utopien und geben die Kraft zu stetem Neuanfang. In ihren Traditionen haben sie produktive Formen des Umgangs mit Niederlagen und Leiden entwickelt.
Allerdings sollten wir mit solchen Botschaften behutsam umgehen, denn sie schlagen leicht um in preiswerte Vertröstungen, in heuchlerische Besserwisserei und verantwortungslose Wirklichkeitsflucht. Dies ist ja einer der Gründe, weshalb Religionen auch versuchen müssen, einander beim Wort zu nehmen, einander auf ihre Ideale und deren Verwirklichung anzusprechen und – wie es bei Nathan dem Weisen heißt – in einen Wettstreit um das Gute einzutreten. Langfristige Hoffnung lebt immer von Teilerfolgen und erlebter Solidarität. Religionen sind keine Theoriegebäude, sondern sich selbst organisierende, aus der Praxis erwachsende Lebenssysteme. Ihr Motiv mögen Begeisterung und Ekstase sein, ihr Test ist die Praxis.
Es reicht deshalb nicht, auf Ideale hinzuweisen und diese zu verkünden. Wie alle politische Arbeit haben auch Religionen einen ganzheitlichen Aspekt, deshalb immer auch eine öffentliche und eine politische Dimension. Deshalb muss die Friedensarbeit vor Ort beginnen.
Punkt 1 solcher Arbeit lautet:
Nach außen wird eine Religion (eine Kirche, eine Glaubensgemeinschaft) nur dann zum Hoffnungszeichen, wenn ihre Botschaft nach außen mit ihrem inneren Verhalten übereinstimmt. Glanzvolle Events und Demonstrationen für Frieden und versöhnte Menschheit nützen nicht viel, wenn sie nicht von harter innerer Arbeit begleitet werden.
Punkt 2 solcher Arbeit lautet:
Die Hoffnungs- und Friedensbotschaften der Religionen müssen sich Brücken in die Gesellschaft bahnen, also Straßen bauen, die zur Wirklichkeit führen. Deshalb darf sich Friedensarbeit nicht in die religiösen Innenräume bloßer Absichtserklärung zurückziehen. Vielmehr muss Friedensarbeit vor Ort, also in Schulen und Gemeinschaften, in Kommunen und in den gesellschaftlichen Sektoren eines Staates beginnen. Deutschland hat dazu große Chancen, denn auf relativ kleinem Raum sind viele Religionen anwesend: alle christlichen Großkirchen, der Islam in verschiedensten Schattierungen, jüdische Gemeinden, hinduistische und buddhistische, konfuzianistische Gruppierungen, verschiedene Neue Religionen, um von den zahllosen Gruppierungen ganz zu schweigen, die sich ihre Wege zwischen den großen Religionsblöcken hindurch bahnen. Sie alle können in die Friedenerziehung des Alltags und in die pädagogische Friedensarbeit einbezogen werden.
Punkt 3 solcher Arbeit lautet:
Vertreter der Religionen und interreligiöser Friedensarbeit können ihre Impulse in verschiedenste Wissenschaften und Gremien hineintragen und Impulse von ihnen übernehmen. Genannt ist schon die Pädagogik. Zu nennen sind die Ethik, die Politik- und Sozialwissenschaften, die vergleichenden Kulturwissenschaften und die Ökonomie. Dem Projekt Weltethos ist es gelungen, zahllose Studien zu initiieren, die über den Fachhorizont von Einzeldisziplinen hinwegschauen und die Zukunft einer versöhnten Menschheit in den Blick nehmen.
Punkt 4 solcher Arbeit lautet:
In gesellschaftlichen Konflikten stoßen wir immer wieder auf Krisenmomente. In ihnen bedarf es überzeugter Vermittler, vielleicht einer Institution, die auf Grund ihrer eigenen Glaubwürdigkeit unerwartete Durchbrüche erzielen kann. Auffallend oft wirken solche Figuren aus einem persönlichen religiösen Hintergrund. Ich erinnere an die Friedensinitiativen, die aus religiöser Inspiration gestartet wurden und zu politisch erstaunlichen Erfolgen führten. Nur in Stichworten seien genannt: Martin Luther King, die katholische Kirche auf den Philippinen (1986), der Einfluss von Bischof Tutu in Südafrika, die Initiativen verschiedener Bischöfe und Priester in Lateinamerika, die Friedensinitiative der Gruppe Sant’Egidio in Mozambique (1990), die Aktivitäten des Lutherischen Weltbundes in Guatemala (1990), ganz zu schweigen von den zahllosen Friedenaktivitäten buddhistischer Mönche in Kambodscha, Tibet und in anderen asiatischen Ländern.
Punkt 5 solcher Arbeit lautet:
Eine solche Arbeit von Seiten der Religionen wird nur dann fruchtbar, wenn diese ihre Eigeninteressen vor den umfassenden Friedensaufgaben zurückstellen. Der Hang zu Selbstpräsentation und eigensüchtigen Heilsansprüchen ist hochorganisierten Religionen eigen. Umso wichtiger ist, dass sie bewusst auf die Probleme derer achten, für die sonst niemand eintritt.
7. Weltreligionen und säkulare Gesellschaften
Dies führt zu einem letzten Punkt. Natürlich können Religionen in religiös integrierten Gesellschaften als Hoffnungszeichen auftreten und wirken. Natürlich galt der christliche Glaube deshalb in Europa bis ins vergangene Jahrhundert hinein als Hoffnungszeichen. Ein Hoffnungszeichen war der Islam in arabischen Ländern seit gut 1300 Jahren, ganz zu schweigen von der hohen Bedeutung anderer Weltreligionen in ihren Kulturräumen. Was aber ist von Ländern zu sagen, die heute als säkularisiert gelten und in denen die Säkularisierung ihres finanziellen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, vielleicht auch politischen Sektors große Fortschritte macht? Für die Weltreligionen erwächst daraus eine ganz neue Herausforderung, die auch in den westeuropäisch „christlichen“ Ländern noch nicht gelöst ist. Oft erfahren Religionen diese Entwicklung als lebensgefährliche Bedrohung. Säkularisierung ist in der Tat mit Verlusten an Glauben, an Hoffnung und an Orientierungspotentialen verbunden.
Aber diese Verlustgeschichte hat auch eine Kehrseite. Eine säkularisierte Denkwelt muss noch lange keine gottlose oder entmenschlichte Welt sein. Im Gegenteil, die Säkularisierung zwingt uns zu ungewohnter Übersetzungsarbeit. Wir müssen Fragen und Nöte, Versöhnungs- und Friedensdefizite, Verzweiflungen und Herausforderungen säkular zum Ausdruck bringen und konkret formulieren. Religionen sind gezwungen, ihre Angebote und Hoffnungen so zu formulieren, dass deren humane Qualitäten offenkundig werden.
Wer aus dieser Perspektive die Botschaften der Religionen untersucht, stellt aber Erstaunliches fest: Alle Religionen tragen einen zutiefst humanen Kern in ihren Motivationen und ihrem Normengefüge, ihren Codes zur Alltagsbewältigung und in ihren kosmischen, gesellschaftskritischen Visionen. Wenn sie es wollen, können sie sich verständigen und gemeinsam agieren. Alle sind der Überzeugung, dass wir anderen Menschen nur das antun dürfen, was wir selbst von Anderen erwarten. Die weltreligiösen Unterschiede betreffen nur verschiedene Akzentsetzungen. So dehnt der Hinduismus etwa den Lebensschutz ausdrücklich auf alle Lebewesen aus. Der Buddhismus thematisiert die Gerechtigkeitsfragen mehr aus der Sicht des Leidens. Der Islam kämpft nachdrücklich für eine soziale Lebensordnung und Konfuzius begreift das Verbot der Lüge mehr pragmatisch als Vorbedingung eines gedeihlichen Zusammenlebens. Und um der Sache willen hat keine Religion einen Grund, beim Projekt eines versöhnenden Weltfriedens nichtreligiöse Weltanschauungen auszuschließen.
Nein, wir sollten nicht alle Religionen über einen Kamm scheren. Sie sind zu verschieden und zu verschiedene Nuancen unserer Welterfahrung sprechen sie an. Aber an entscheidenden Kernpunkten fügen sie sich in ihren Grundsätzen zusammen. Sie können sich gemeinsam einer solidarischen Menschlichkeit verschreiben, erfahren diesen Wert als universal verpflichtend und wissen, dass keine Zeit mehr zu verlieren ist. Je mehr sie diese Arbeit aus wirklich religiöser Überzeugung verrichten, umso mehr bewahren sie sich selbst und die säkularen Gesellschaft vor dem Gift des Selbstgenügsamkeit, die meint, alles Notwendige sei schon getan. Es geht nur weiter, indem wir unsere aktuellen Konflikte wirklich austragen. Wir brauchen die Religionen also, weil sie die entscheidenden Fragen von Mensch und Gesellschaft gerade nicht verdrängen. Sie zeigen uns aber, wie wir sie gewaltfrei austragen können. Es gibt keine billige Hoffnung, aber es gibt die Gewissheit, dass versöhnte Gesellschaften und eine versöhnte Menschheit am Ende dieser schwierigen Wege stehen.
Der Journalist Jan Ross schreibt in seinem genannten Artikel:
„Es stimmt: Religion ist gefährlich; in ihrem Namen wurde massenhaft Blut vergossen, von den Kreuzzügen bis zu Ajatollah Chomeini. Insofern haben die Europäer recht, die nach Schutzmauern gegen ein modernes Eiferertum verlangen. Aber diese Schreckensgeschichte ist nicht die ganze Wahrheit über die Religion, nicht einmal über die Rolle der Religion in der Politik. Religion kann auch eine Kraft des Widerstands und der Emanzipation sein, eine Gegen-Macht zu den Herrschaftsansprüchen und dem Konformitätsdruck von Staat oder Gesellschaft.“
Zusammenfassung:
1. Religionen und Politik lassen sich nicht trennen
Seit dem 11. September 2001 nimmt der Westen die Weltreligionen endgültig wieder als weltpolitische Faktoren wahr. Gespräche und Diskussionen kamen in Gang, die seit Jahrzehnten vernachlässigt waren. Es zeigte sich: Religionen bestimmen zutiefst die Kulturen und moralischen Codes, die Identität und die Hoffnungen von Menschen. Deshalb wäre es falsch, sie in den Bereich des Privaten abzudrängen.
2. Religionen bringen Konflikte zum Austrag
Nahezu alle Weltreligionen sind dem Vorwurf der Gewalttätigkeit ausgesetzt und zeigen gewalttätige Phasen. Dafür sind zwei Gründe zu nennen: (a) die Leidenschaft zum Guten, (b) der Wille, das Böse konsequent zum Austrag zu bringen. Wie Individuen, Gemeinschafen und andere Institutionen brauchen Religionen oft Zeit, um mit der Wirklichkeit (und mit sich) ins Reine zu kommen.
3. Die Reife einer Religion zeigt sich in ihrer Fähigkeit zum globalen Frieden
Die Religion der reinen Liebe, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit oder Achtsamkeit gibt es nicht, denn im konkreten Verhalten ist keine Religion besser als ihre Anhänger. Aber alle Religionen sind fähig, ihr eigenes Reden und Verhalten selbstkritisch zu überprüfen und zu korrigieren. Solche Prozesse kommen in der Regel in Krisensituationen in Gang. Dies lässt sich nicht nur im Christentum, sondern auch im Islam beobachten.
4. Religionen sind zentrale Moralagenturen der Welt und als solche unverzichtbar
Nachweislich sind alle Religionen von einem hohen moralischen, zu Gemeinschaft und Solidarität fähigen Bewusstsein geprägt. Sie vermitteln ihren Anhängern dieses Bewusstsein auf unterschiedlichen Wegen. Hinzu kommen ihre Hilfen, die Welt zu verstehen und mit der Kontingenz des Lebens (Tod, Versagen, Unglück, Unrecht) umzugehen. Recht verstanden widersprechen dieser These die Möglichkeit und Zukunftsfähigkeit einer säkularisierten Gesellschaft nicht.
5. Die weltethischen Potentiale der Religionen
Das Projekt Weltethos und vergleichbare Projekte haben drei wichtige Potentiale herausgearbeitet, die den Weltreligionen gemeinsam sind:
(a) weltethisch universale, gemeinsame und erweiterbare Grundüberzeugungen (Humanitätsprinzip, Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, gegenseitige Treue),
(b) eine globale Weltsicht, die den Weltfrieden zum Ziel hat,
(c) die Bereitschaft, in Zusammenarbeit mit Wissenschaften (Politik, Ökonomie, Ökologie, Pädagogik) und politischen Instanzen die ethischen Ziele in konkrete Strategien umzusetzen.
6. Von der Theorie zur Praxis vor Ort
Wie die politische Arbeit haben auch Religionen in allem einen ganzheitlichen Aspekt. Deshalb muss ihre Friedensarbeit vor Ort, also in Schulen, Kommunen und Staaten beginnen. Deutschland hat durch die Präsenz vieler Religionen (insbesondere des Islam) die Chance, sich in die Herausforderungen eines interreligiösen Zusammenlebens und gemeinsamen Handelns einzuüben. Dies gelingt umso besser, als wir die globalen Aspekte der Weltgerechtigkeit und des Weltfriedens nicht aus dem Auge verlieren.
7. Weltreligionen und säkulare Gesellschaften
Die bisherigen interreligiösen Gespräche und weltethischen Kontakte haben zu einem erstaunlichen Ergebnis geführt: Im Kern sind die ethischen Grundüberzeugungen der Weltreligionen an der Menschlichkeit von Mensch und Gesellschaft orientiert. Einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit sind also keine Grenzen gesetzt.
(Vortrag am 27. Oktober 2010 in Würzburg, ersch. in Religions for Peace. Informationen 83, 2010 14-15)
Anmerkungen
[1] Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, Berlin 2010.
[2] Arnd-Michael Nohl, Konzepte interkultureller Pädagogik. Eine systematische Einführung, Bad Heilbrunn 22010.
[3] Jan Ross, Willkommen ihr Götter!, DIE ZEIT vom 05.08.2010.
[4] Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin 2009.
[5] Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997.
[6] Ein Beispiel dafür ist die religiös begründete Politik des Staates Israel seit dem Aufkommen des Zionismus: Amnon Rubinstein, Geschichte des Zionismus. Von Theodor Herzl bis heute, München 2001.
[7] Jürgen Habermas, Jan Philipp Reemtsma, Glauben und Wissen, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt (ND) 2002.
[8] Man denke an die Bürgerkriege in Bosnien und Serbien, in Nigeria und im Sudan, an die Gewaltausbrüche in Ruanda und der Elfenbeinküste, ganz zu schweigen von den jahrzehntelangen innerchristlichen Auseinandersetzungen in Irland.
[9] Heinz-Günther Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg. Eine Einführung, Stuttgart 2010; Mark Juergensmeyer, Die Globalisierung religiöser Gewalt. Von christlichen Milizen bis Al-Qaida, Bonn 2009.
[10] René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988.
[11] Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997.
[12] Aus dieser Erkenntnis lebt die Erklärung zum Weltethos, die 1993 vom Parlament der Weltreligionen in Chicago verabschiedet wurde (Hans Küng, Karl-Josef Kuschel [Hg.], Erklärung zum Weltethos, München 1993).
[13] Beeindruckend ist die Liste der Religionen, die bei der Unterzeichnung der Erklärung von Chicago vertreten sind. Offiziell aufgeführt sind: Bahai, Brahma Kumaris, Buddhismus (Mahayana, Theravada, Vajrayana, Zen), Christentum (Anglikanisch, Orthodox, Protestantisch, Römisch-katholisch), Eingeborenen-Religionen (aus Afrika und Amerika), Hinduismus, Jainismus, Judentum, Islam (Schiitisch, Sunnitisch und andere), Neu-Heiden, Sikhs, Taoisten, Theosophen, Zoroastrier, Interreligiöse Organisationen.
[14] Kofi Annan, Brücken in die Zukunft, Frankfurt 2001.
[15] Hans Küng, Karl-Josef Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 2001.