Zum schwierigen Dialog zwischen Juden, Christen und Muslimen
Abrahams Kinder – Juden, Christen und Muslime also – haben es schwer miteinander, schwerer denn je. Judenhass ist in unserer Öffentlichkeit zwar tabuisiert, schwelt aber untergründig weiter; Erinnerungen an die Kreuzzüge oder an die Judenpogrome des Mittelalters rufen immer noch Emotionen hervor und nicht alle haben die moralische Katastrophe der Schoah begriffen. Islam- und Türkenschelte sind schon eher akzeptiert und spätestens seit 2001 treibt die Islamophobie neue Blüten.
„Für jeden von euch haben wir Richtung und Weg geschaffen. Wenn Gott gewollt hätte, hätte er euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht. Doch er will euch in dem, was er euch gegeben hat, prüfen. So wetteifert um die guten Dinge! Zu Gott kehrt ihr allesamt zurück. Da tut er euch kund, worin ihr stets uneins gewesen seid.“ (Sure 5,48)
I. Komplexe Herausforderungen
1. Ein durchaus weltlicher Hintergrund
Minarette gelten neuerdings als Kampfansage an die westliche Kultur. Die eidgenössische Abstimmung erfuhr in Deutschland ein erstaunlich positives Echo. Dabei gehen Aggressionen und Ängste Hand in Hand; die Angreifer stilisieren sich gerne als Opfer. Im Internet wird das absurde Wort eines Wiener Rechtsanwalts zitiert: „Zweimal wurden wir von den Türken belagert. Die dritte Belagerung haben wir anscheinend schon verloren.“
Auch diese Szenerie hat frühere Wurzeln. Bevor nämlich der Rosenkranz als inbrünstiges Kampfgebet gegen den Kommunismus diente, bekämpfte man mit ihm die bei Lepanto besiegten Osmanen. Noch immer beherbergt eine Kapelle bei Ahrweiler eine schwertbewehrte Rosenkranzmadonna mit einem Jesuskind auf dem Arm; dieses Kind, Retter und Heiland der Welt, hält einen abgeschlagenen Türkenkopf an den Haaren. So friedlich war (und ist) das Christentum also nicht, das sich heute gerne als Religion der Nächstenliebe präsentiert.
Man kann sich mit R. Safranski füglich über die Frage streiten, wer denn eine „heiße“, d.h. aggressive und humorlose, und wer eine „kalte“, also bescheidene und kompromissbereite Religion zu nennen ist[1]. Für Safranski sprechen politische und soziale Oberflächenfakten, auf die er zusammenhanglos starrt. Warum mahlen die Mühlen eines mörderischen Hasses ausgerechnet in islamischen Kreisen weiter, nachdem die Christen ihre Lektion gelernt haben? Gewiss, es sind heute die Muslime, die unsere Flugzeuge, öffentlichen Verkehrsmittel und Städte mit tödlichem Terror bedrohen. Woher kommen denn diese neuen destruktiven Emotionen, die sich konsequent auf Texte des Koran und auf eine muslimische Identität berufen? Woher kommen in Afghanistan die Bedrohungen der Taliban? Sie kommen weniger von einer politisch heißen Religion als aus der Haltung einer Notwehr, die ihre Emotionen aus einer langen Geschichte der Verachtung, Ausbeutung und Unterdrückung schöpft. Man lese etwa die Bücher des Schweizer Menschenrechtlers Jean Ziegler, der die aktuellen transnationalen Konzerne höchst anschaulich als ein „Imperium der Schande“ (2005) anprangert und erklärt, warum es unter den armen Völkern (darunter den muslimischen) einen tief verwurzelten „Hass auf den Westen“ (2008) gibt. Den Egoismus, die Arroganz und rücksichtslose Ausbeutung, denen diese Völker unterliegen und gegen denen auch die Gremien der UNO nur bedingt widerstehen können, analysiert er als einen wirtschaftlichen Weltkrieg[2].
Wer aber sind die Schändlichen und diejenigen, die die Al Qaida und die Dschihadisten aus Pakistan, Somalia oder dem Jemen so hassen? Man möchte antworten: Das sind Wirtschaftsbosse, machtgierige Politiker und im Hintergrund die Militärs, was haben sie mit Christentum zu tun? So gesehen haben wir es mit keinen interreligiösen, sondern mit politischen und sozialen Problemen zu tun. Aber solange wir, die Betroffenen, umgekehrt undifferenziert von einer jüdischen Finanzlobby und einem terroristischen Islamismus reden, müssen wir es uns gefallen lassen, dass man uns (unser Wirtschafts- und Finanzgebaren eingeschlossen) als christlichen Westen identifiziert, und trotz Säkularisierung und getrennter Wertsphären ist diese Benennung nicht falsch. Zwar mögen die Fachleute und religiös Engagierten unter uns dieses Ausbeutungsverhalten höchst unchristlich finden, dies alles geschieht dennoch in einem Kulturraum, den das Christentum zutiefst geprägt hat. Und so sehr die religiös drapierten Weltkonflikte auch ethnische, kulturelle oder soziale Hintergründe haben, so gilt der christliche Glaube mit seinen vielfältigen religiösen, konfessionellen und institutionellen Ausfaltungen noch immer als ein umfassender Integrationsfaktor etwa des transatlantischen Raums.
Säkularisierung und Polarisierung hin oder her, aus drei Gründen sind die Religionen, die christliche eingeschlossen, am gegenwärtigen Weltzustand nicht unschuldig.
* Zum einen lassen sich die Religionen immer wieder zur Legitimation ungerechter Weltzustände missbrauchen. Eine jede schielt auf ihren Vorteil und unsere Presse ist voll von Hinweisen auf die Vorzüge des eigenen Weltkonzepts. Womit allem man in den vergangenen Jahrzehnten die Überlegenheit der christlichen gegenüber des muslimischen Kultur legitimierte, geht auf keine Kuhhaut[3].
* Zum andern haben gerade die monotheistischen oder prophetischen Religionen einen klaren Willen zur Weltgestaltung. So gesehen bleiben Judentum, Islam und Christentum politisch „heiß“, solange sie ihre Kernidentität nicht aufgeben. Keine von ihnen ist wirklich kalt geworden, wie Safranski behauptet. Ich komme später darauf zurück.
* Schließlich wäre es (ganz im Sinne von Safranski) endlich an der Zeit, dass wir aus den Erkenntnissen eines gemeinsamen und friedensfähigen Weltethos die Konsequenzen ziehen und Weltverantwortung übernehmen. Wenn denn zu den ethischen Grundimpulsen aller Religionen schon Humanität, Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit gehören (wie das „Projekt Weltethos“ aufzeigt), dann hat der „christliche“ Westen, bitte schön, damit ernst zu machen. Sollte es dem Christentum immer noch nicht gelungen sein, seine fundamentalen Werte zu prägenden kulturellen Codes umzuschmieden, hätte es in der Gegenwart keine Daseinsberechtigung mehr.
2. Wie miteinander reden?
Diesen ernsten, ganz und gar weltlichen Hintergrund sollten wir nicht vergessen, wenn wir als wohlwollende Theologen und Religionswissenschaftler über- und miteinander reden. Theoretiker, die wir sind, können wir wohl nicht unmittelbar in die konkreten, politischen und sozialen Beziehungen der Religionen eingreifen. Das ist Sache der Ökonomen und der Politiker, die wir nach Möglichkeit auf ihre jüdische, christliche oder muslimische Verantwortung ansprechen. Das von Kofi Annan initiierte Memorandum „Brücken in die Zukunft“ (2001) oder das von der Stiftung Weltethos ausgearbeitete Manifest „Globales Wirtschaftsethos“ (2009) sind dafür gute Beispiele. Bücher über friedenstiftende Möglichkeiten schaffen Hoffnung[4]. Ebenso wenig können wir die geduldige Arbeit der Pädagogen und Seelsorger, der Juristen und Humanwissenschaftler ersetzen, die vor Ort in oft kleinen und mühsamen Schritten für elementare Kenntnisse, Begegnungen und gegenseitiges Verständnis sorgen. Die interreligiöse Frage kann ja niemand mehr ausklammern, der sich irgendwie um das Wohl unserer Staatswesen, Kommunen oder kleinen Gemeinschaften kümmert, also haben alle mitzureden.
Aber Schritt um Schritt können wir – von den Grundlagen und vom Selbstverständnis der Religionen her – eine grundlegende Basis für Gespräche und für einen gemeinsamen Diskurs schaffen. Wir können allen feindlichen Emotionen und kurzschlüssigen Reaktionen ein Netzwerk sachgemäßer Informationen entgegensetzen und so Ansätze zur gegenseitigen Bejahung schaffen. „Kein Frieden unter den Religionen ohne Dialog zwischen den Religionen“, deshalb auch: „Kein Dialog zwischen den Religionen ohne Grundlagenforschung in den Religionen“ gibt Hans Küng dieser Arbeit als Motto mit. Er meint damit nicht nur den konkreten und freundlichen Umgang miteinander in der gemeinsamen Lebenswelt, sondern auch das nachhaltige und wissenschaftlich gestützte Gespräch über verschiedene Lebenswelten hin. Vor den oben genannten Hintergründen hat dieses vielschichtige Grundsatzgespräch drei Grundbedingungen zu erfüllen:
* In erster Linie ist das Grundsatzgespräch über die normativen Quellen der Juden, der Christen und der Muslime zu führen. Es beginnt als Auseinandersetzung mit der Bibel der Juden, mit dem „Neuen Testament“ der Christen und dem muslimischen Koran sowie mit deren Vergleich. Mit einem Vergleich von Sachinformationen ist es dabei nicht getan. Verlangt sind Einfühlungsvermögen, ein Gespür für Tendenzen, Spuren und Signale, für offene und verdeckte Unterschiede, Zielsetzungen und Problemstellungen[5]. Alle drei Dokumente haben ja einen starken narrativen Ansatz. Es geht um Personen, um deren Lebenswege und Vergegenwärtigung für vergleichbare Fragen des Glaubens. Dogmatische Thesen, für eine Katechismus verwertbare Aussagen stehen nicht im Vordergrund.
* Dieses Grundsatzgespräch ist vor internationalem und interkulturellem Horizont, wenn nicht gar international und interkulturell zu führen, denn die drei großen monotheistischen Weltreligionen sind auf allen Kontinenten zu Hause; die Interpretationen lassen sich also auf keine bestimmten Kulturkreise reduzieren. Man vergleiche im Islam etwa die (notfalls gewaltbereiten) Salafiten mit der friedliebenden Bewegung der Sufis, im Judentum orientalisch Orthodoxe mit einem amerikanischen Reformjudentum, im Christentum die Amish-people mit einem westlich aufgeklärten Christentum. Die Breite der Lebensformen in den einzelnen Religionen ist enorm. Reduzieren lassen sie sich weder auf die türkischen Mitbürger in Deutschland, noch auf den Kampf der Al Qaida gegen die USA, weder auf das Reformjudentum der Gegenwart noch auf chassidische Rabbiner, weder auf den römischen Triumphalismus noch auf die Lebenspraxis einer Mutter Theresa. Der königliche Weg ist es, diese verschiedensten Glaubensformen jeweils auf die gemeinsamen normativen Quellen zu beziehen.
* Wirklich gesprächsfähig werden wir erst, wenn wir dabei die historischen Entwicklungsgänge der einzelnen Religionen mit im Auge behalten. Man mag von verschiedenen Phasen, Epochen oder Paradigmen reden. Immer haben sie – innerhalb der Religionen selbst – zu Konkurrenzen und zum Streit um die wahre Auslegung geführt. Man vergleiche im Christentum nur die (antike) Orthodoxie mit dem (mittelalterlichen) Katholizismus und einem liberalen Protestantismus. Ein geschichtsbewusster Blick kann uns auch zeigen, wie schnell und wie ähnlich (wenn auch zeitversetzt) bisweilen eine Entwicklung verläuft. Zu Recht beklagen deutsche Christen heute für den Islam die mangelnde Gleichberechtigung in der Ehe, doch allzu leicht vergessen sie, dass in der deutschen Ehegesetzgebung das Partnerschaftsprinzip erst seit 1977 gilt; zuvor galt es mit biblischer Begründung als unzulässig. Oder wer die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen in muslimischen Ehen anprangert, sollte denselben Missstand in traditionell deutschen Ehen nicht verschweigen[6]. Offensichtlich haben wir es auch hier mit einer Zeitverzögerung zu tun. Wer den Koran kritisiert, weil er Schläge für die Frau akzeptiert, die i.ü. „gehorsam sein soll“ (Sure 4, 34), setze sich auch mit Paulus auseinander, demzufolge die Frau der Abglanz des Mannes ist[7].
Dieser Überblick zeigt also: Mit dem Vergleich reiner Fakten und Phänomene kommen wir nicht weit. Weder lernen wir so, die anderen zu verstehen, noch kann beobachtende Distanz einen Dialog zustandebringen. Wir müssen versuchen, mit den Praktiken und Traditionen der Andern genauso engagiert, nach Möglichkeit empathisch umzugehen wie mit den eigenen. Wo Kritik geübt wird, ist die entsprechende Selbstkritik nicht zu vergessen. Wo Zweifel an Wahrheitsansprüchen der Andern auftauchen, ist auch mit derselben Intensität auf die Grenzen der eigenen Wahrheit zu achten. So gesehen kann ein interreligiöser Dialog überhaupt nie zu Ende, jedenfalls nie zu Ergebnissen kommen, die man getrost nach Hause tragen kann.
3. Erschwernisse und Wege der Interaktion
Es wurde gesagt: Wir sollen klar unterscheiden zwischen den politisch aktuellen, im Alltag aufbrechenden Problemen und den Grundsatzfragen, deren Beantwortung ein nüchternes Studium erfordert. Zugleich haben wir gesehen, dass diese klare Unterscheidung täuscht. Denn an der Wurzel der aktuellen Schreckensszenarios von Palästina und Israel bis hin zum 11. September 2001 ist immer auch ein religiöses Problem verborgen. Es ist der latente, den monotheistischen Religionen angeborene Drang zu einer unbedingten Konkurrenz[8]. Dafür gibt es ein psychologisches Argument: Offensichtlich stehen sie sich zu nahe und verdanken sie sich zu viel, um einander gleichgültig zu sein. Ein theologisches Argument kommt hinzu: Eine jede dieser drei Religionen glaubt an den Einen personalen Gott als Schöpfer und Lenker der ganzen Menschheit und Welt. Eine jede von ihnen glaubt, über den Messias und das Heil endgültig, d.h. besser als die Anderen Bescheid zu wissen. Eine jede zieht ihre Ursprungslinien zwar zurück bis zu Abraham, der von Paulus „unser aller Vater vor Gott“ genannt wird (Röm 4,17), aber eine jede Religion sieht natürlich ihren eigenen Abraham. Am 25. Februar 1994 hat ein fanatischer Jude am Grab Abrahams in Hebron 29 Muslime ermordet. Was zum Symbol der Versöhnung zwischen den abrahamitischen Religionen hätte aufblühen können, schlug um zum Symbol für den blutigen Streit, aus dem der Trialog endlich herausführen muss. Es sind drei Religionen mit vertrackten gegenseitigen Beziehungen; sie kommen nicht voneinander los[9]. Zwar bauen sie für den ersten, chronologisch arglosen Blick aufeinander auf. Zu diesem Aufbau gehört aber auch ihre gegenseitige, heiße, bisweilen überhitzte Interaktion. Sie haben einander weder abgelöst noch integriert. Geltungsansprüche bleiben bis heute uneingelöst.
Bis heute scheint mir aus übergeordneter Warte etwa die Frage unlösbar, ob wir Jesus als den besten Juden seiner Epoche oder als Überwinder eines überholten Religionssystems betrachten sollen. Scheiterte er an den innerjüdischen Widersprüchen seiner Zeit oder nahm er das Amt des Messias wirklich vorweg? Berechtigt sein Auftreten also zum Beginn einer neuen religiösen Zeitrechnung oder ist ein Nachkomme Abrahams gehalten, an den biblischen Vorgaben festzuhalten, demzufolge der Messias erst am Ende der Zeiten kommt[10]? War er also wirklich der vorweggenommene Messias? Zum Auflodern der Frage hat Benedikt XVI. mit der neuen Karfreitagsfürbitte erst vor nahezu drei Jahren neuen, unausgegoren explosiven Brennstoff geliefert[11].
Es müssen z.B. die Christen nicht erst monologisch ihre eigene Identität finden, um dann dem Judentum gegenüberzutreten. Selbst Paulus, der die Tora (die Beschneidung eingeschlossen) zum größten Teil aus der christlichen Lebenspraxis verbannte, der (das Judentum enteignend) in Christus den neuen Adam, in der christlichen Jenseitshoffnung das neue Jerusalem und in Jesu Tod den neuen Bundesschluss entdeckte, selbst er wurde mit diesem jüdischen Erbe nie fertig und wies die Christen darauf hin: „Nicht ihr erhaltet die Wurzeln, sondern die Wurzel trägt euch.“ (Röm 11,18). Erleichtert wurde den Christen ihre eigene Identitätsbildung allerdings dadurch, dass sie in den kommenden Jahrhunderten die religiösen und die philosophischen Impulse des Hellenismus aufnahmen. Gewiss, dies geschah aus ehrenwerten Motiven, wirkte gegenüber dem Judentum aber wie ein Ausweichmanöver. Fälschlicherweis ging die Kirche des Altertums davon aus, die jüdische Verheißung sei durch die christliche „restituiert“.
Vergleichbares wiederholte sich unter anderen Vorzeichen im 7. Jahrhundert, als Muhammad – religiös und politisch zugleich eine geniale Tat – ein neues, religiös hochvalentes System schuf, das der entstehenden Stadt- und Handelskultur arabischer Stämme eine nachhaltige Grundlage schenkte. Nicht unbekannt sind die heißen Debatten, die inzwischen über die Entstehungsgeschichte des Islam geführt werden und bis zur Hypothese führen, es habe den Religionsgründer als individuelle Persönlichkeit überhaupt nicht gegeben; schließlich meine „Muhammad“ einen Ehrentitel (der „Gepriesene“ oder „Benedikt“), der auf viele, auch auf Christus anwendbar sei[12]. Ferner wird – den Quelltheorien bei den Evangelien vergleichbar – nach den christlichen Wurzeln des Koran gesucht[13]. Als Amateur mische ich mich in diese Diskussion nicht ein. Aber die Diskussion lenkt den Blick auf das Vor- und Protostadium einer Genese, in der ein religiöser Beginn noch ganz im Wirken, noch nicht in Bewusstsein und Reflexion liegt; man vergleiche die schmerzlichen Diskussionen in der christlichen Theologie. Das Neue legitimiert sich erst dann, wenn, und nur dadurch, dass es wirklich da ist. In einem monotheistischen Bezugsrahmen ist diese neue Existenz aber nur möglich entweder durch das unbedingte Versagen der vorhergehenden Religion oder durch eine häretische, wenn nicht gar blasphemische Tat ihrer Nachfolgerin. Wenn jedoch beides nicht zutrifft, dann bleibt nur noch die faktische Interaktion zwischen der alten und der neuen Religion. Es ist eine Ebene zu suchen, auf der sie sich ohne intellektuelle, moralische oder politische Katastrophen begegnen. Man muss aber sehen, dass diese unerlässliche Interaktion nur auf der Basis gegenseitiger, wenn auch ungeschuldeter Anerkennung möglich ist.
Deshalb begann die moralische Katastrophe der Schoah nicht mit dem europäischen Antisemitismus, sondern mit dem historischen Unrecht, demzufolge das Judentum seit der Entjudung Jerusalems durch Hadrian (70 n. Chr.) bis in das 20. Jahrhundert hinein immer und überall eine meist entrechtete politische und kulturelle Minderheit blieb. Erst 1948, nach den Schrecken der Schoah, gelang wieder die Gründung eines eigenen Staatswesens; es machte sich von massiven politischen und kulturellen Abhängigkeiten frei. Dagegen war dem Christentum nach seiner Integration in das römische Reichssystem bis ins 20. Jahrhundert hinein ein vielfältiger und beispielloser politischer und kultureller Erfolg beschieden, ohne dass es seinen tiefen, oft tödlichen Groll gegen die beiden Konkurrentinnen überwand. Im Mittelalter ging dann der Islam lange als politischer und religiöser Sieger aus dem weltgeschichtlichen Drama hervor; es gab Zeiten umfassender Toleranz gegenüber Christen und Juden. Aber der Gegensatz zu beiden Konkurrentinnen war ihm bis hin zu Texten im Koran eingebrannt. Seinen Erfolgen folgte dann ab dem 17. Jahrhundert die Epoche eines tief traumatisierenden, bis heute noch nicht verarbeiteten Niedergangs; die Mächte des „christlichen“ Westens nutzten ihn für ihre eigene Macht-, Kolonial- und Industriepolitik aus. Wieder identifizieren die Gewinner ihren Glauben unkritisch mit ihrer Kultur und drapieren ihre Geschichte vor einem religiösen Hintergrund.
Dieser Rückblick veranlasst eine weitere Bemerkung zu Safranskis heißen und kalten Religionen. Recht undifferenziert ist der Islam nach Safranski heiß, weil er an ein Jenseits glaubt und die Welt im Sinne der Taliban als einen „Transitraum“ begreift. Das erkaltete Christentum hingegen hat diesen Jenseitsglauben aufgegeben, kann deshalb tolerant werden und Sinn für Humor gewinnen. Es kommt also, was seine Treue zum eigenen Ursprung betrifft, nicht gut weg. Doch ist da einiges durcheinandergeraten. Safranski verwechselt einige gewalttätige Außenseiter, vielleicht Fundamentalisten, mit dem Islam und er übersieht den authentischen Strom aktuellen Christentums mit einigen Liberalen, denen ihr Christentum zu entgleiten droht[14]. Dies zeigt gerade die Interaktion, in der sich die drei Töchter Abrahams miteinander arrangierten. Für das Judentum ist die Messiasfrage klarer denn je eine Frage der Zukunft und wo dieses Konzept in den christlichen Raum hinüberreicht (etwa bei der Theologie der Hoffnung), hat sich der Gestaltungswille dieser Welt verschärft. Für das Christentum gilt das Bekenntnis zum auferweckten Christus als unaufgebbar, aber von Anfang an galt – wie im Islam – der instrumentalisierte Selbstmord als verpönt. Der Islam hingegen bewahrt sich die Ankunft des Messias wieder bis zum Ende der Zeiten auf. Bei allen gegenseitigen Relativierungen (von der Bibel zum „Alten Testament“, vom Gottessohn zum vorletzten Propheten) und Ablösungsversuchen (vom Gesetz zum Evangelium, von den Leuten des Buches zum Koran als dem präexistenten Gotteswort) bleibt dieses jenseitshaltige Siegel des Monotheismus einvernehmlich und für alle so bewahrt, dass es die Welt nicht zum Trümmerhaufen einer himmlischen Wirklichkeit macht. Wie schon Lévi-Strauß und in seinem Gefolge J. Assmann erklären, meint die „kalte“ Phase einer Tradition gerade keinen Verlust, sondern eher eine Phase der Reifung, von der glühend konkreten Anschauung zu einer wohlüberlegten Weisheit[15]. So könnte ein umfassender abrahamitischer Religionsdialog allenfalls zum Ziel haben, gemeinsam (und mit den Mitteln gegenseitiger Belehrung) diese Reifephase zu erreichen, die als Weisheit auch gegenseitigen Respekt und den Blick für die verschiedenen Erkenntniswege einschließt. Könnten wir nicht
– die wunderbaren Führungsgeschichten, die machtvollen Prophetenworte und den Gebetsschatz der Bibel,
– die Erinnerungen an Jesu unübertreffliche Menschenfreundlichkeit in Worten, Verhalten und Geschick sowie
– die im Koran zu Wort gekommene Hingabe an Gottes gerechten und barmherzigen Willen
als gemeinsamen Schatz der abrahamitischen Religionen gegenseitig kennen lernen, uns mit ihnen auseinandersetzen und sie schließlich als kostbare Güter achten?
Auf diesem Wege ließen sich auch die bekannten Asymmetrien der drei Großtraditionen nicht vernachlässigen, aber gegeneinander relativieren und neu in Beziehung setzen. Christen könnten die Epoche überwinden, in der sie geradezu zur Frontlinie zwischen Juden und Muslimen wurden und ihre dogmatischen Gebäude von dieser Sandwich-Situation bestimmen ließen. So bräuchten – bei allen Abrahamstöchtern – eine umfassende Lebensregel (jüdische Tora), eine messianische Gestalt (Jesus Christus) und ein göttliches Buch (Koran) einander nicht mehr bedingungslos auszuschließen. Warum sollten ein Ethos, eine Person und ein Buch als Zielpunkte religiöser Lebensgestaltung inkompatibel sein? Lebenspraktische Gebote, die gläubige Erinnerung an Personen und eine im Buch niedergelegte Offenbarung gehören schließlich zu einer jeden abrahamitischen Religion, auch wenn sie divergierende Perspektiven und Akzentuierungen hervorbringen. Es ist immer derselbe, wenn auch geheimnisvoll vielfältige Gott (Jhwh, Vater Jesu, Allah), der Abraham berufen hat. So gesehen muss Andersheit nicht nur irritieren; sie kann auch bereichern und uralte Aversionen auflösen[16]. Immerhin kennen alle Adam, Noach, den gemeinsamen „Stammvater“ Abraham sowie auch Mose, der Jahwes Zusage im brennenden Dornbusch erhielt[17].
4. Auserwählt – wir allein?
Wenn ich mich nicht täusche, gehen vom Monotheismus noch immer emanzipatorische und mythenkritische, selbst religionskritische Impulse aus, auf die wir nicht mehr verzichten können. Zwar hat sich die europäische Aufklärung gegen seinen erbitterten Widerstand durchgesetzt (und er hält immer noch an), aber sie lässt sich ohne ihn nicht denken. Die Entdeckung des abrahamitischen Einen Gottes enthält gegenläufige Einflüsse in sich. Der eine – nennen wir ihn den positiven – Einfluss strebt den Frieden und die Versöhnung der Menschheit an. Dieser Eine Gott verheißt vorbehaltlos die Fülle des Lebens; Er ist gut und barmherzig. Er lässt die Sonne aufgehen über die Guten wie die Bösen und Er verhindert, dass wir Menschen, die Dinge oder Werte dieser Welt absolut setzen und faktisch vergöttlichen. Davon hat der moderne Gedanke der Demokratie stark gezehrt und er zehrt davon noch heute.
Jedoch schließt ein komplementärer – nennen wir ihn den negativen – Einfluss die Pluralität von Erwählungen und verschiedenen Heilswegen aus. Er verstellt – vorläufig noch – den abrahamitischen Religionen einen gemeinsamen Friedensschluss. Folgen wir zur Klärung der subtilen Unterscheidungen einmal folgendem Gedankenexperiment: Motivgeschichtlich liegt das Problem monotheistischer Intoleranz nicht bei Abrahams unbedingtem Gottvertrauen (darauf komme ich später zurück), sondern bei Moses’ verengendem Selbstbewusstsein. Denn Moses scheint am entscheidenden Punkt nicht mehr dem revolutionär denkenden, später scheiternden Echnaton (Pharao ca. 1348-1324) zu folgen. Das mosaische Volk lehnt dessen kosmische Weite ab. Sein Einziger Gott Aton ist jeden Tag überall gegenwärtig; das Sonnenlicht beinhaltet seine Gegenwart. Moses hingegen erklärt, dieser Eine und universale Weltengott habe sich Israel (und kein anderes Volk) auserwählt. Unbeschadet aller universalen Weite, die der jüdischen Tradition nicht abzusprechen ist, verdient jetzt die jüdische Grundoption den religiösen Vorrang vor allen anderen. Alle Völker sind zur Wallfahrt gerufen, aber Jerusalem ist ihr Ziel. Kann es neben diesem Einen Gott noch eine andere Wahrheit geben?
So wird Unduldsamkeit zum lästigen Erbe, zum Krankheitssymptom aller prophetischen Religionen. Immer wieder überrollt sie den Willen zur Universalität und einer vital religiösen Toleranz. Nicht (nur) Versöhnungsimpulse und Menschenfreundlichkeit, sondern auch Leidenschaften, Ausschluss und gegenseitige Ablehnung werden ins Grenzenlose und Fanatische potenziert. Ob Versöhnung oder eine selbstbezogene Leidenschaft den Zuschlag erhält, das hängt dann von zufälligen sekundären Faktoren der Kultur, der Macht, menschlicher Größe oder der Leidensgeschichte ab. So ist die Schneide zwischen Toleranz und Streit oft messerscharf. Stärker noch: Je mehr sich mit diesem konkreten Ein-Gott-Glauben politische und soziale Aspekte von Macht, Einfluss und Durchsetzungskraft verbinden, umso mehr führt das Erwählungsbewusstsein zu Rechthaberei und Herrschaftslust. Die spätere Kirche wird dann erklären: „Außerhalb der Kirche kein Heil.“ Zumal Christentum und Islam verhalten sich dann wie unreife Kleinkinder. Die Zuwendung der Mutter zu ihnen bedeutet für sie: Die Mutter gehört mir allein. Dass diese Zuwendung Gottes zu ihnen deren Liebe zu weiteren Kindern nicht ausschließt, das haben sie noch kaum gelernt. Bislang hat Lessing seine Parabel von den drei Ringen vergebens geschrieben[18].
Meistens hat die Unterdrückung über die Toleranz gerade dort gesiegt, wo Angehörige dieser Religionen zusammenleben mussten oder wo den einen die Herrschaft über „primitivere“ Kulturen in die Hände fiel. Die wenigen kostbaren Erinnerungen an ein wirklich tolerantes Zusammenleben sind muslimischer Herrschaft zuzuschreiben. Man denke an das Kalifat von Córdoba, das wenigstens im 10. und 11. Jahrhundert ein fruchtbares und freies Zusammenleben ermöglichte. Dann aber brach diese Goldene Zeit so unerwartet und schnell wieder zusammen wie sie gekommen war[19]. Erst vor wenigen Monaten hat der katholische Bischof von Córdoba die Bitte der Muslime abgelehnt, ihre eigene und weltbekannte Moschee wieder zu einem Ort des Gebets zu machen; solche Unduldsamkeit ist skandalös, aber von katholisch-theologischer Intoleranz aus legitimiert. An Grausamkeit und Barbarei stand das damalige Christentum nicht den Vorwürfen nach, die man heute gegen eine ganze Reihe muslimischer Staaten richtet[20]. Das sage ich, ohne auch nur einen terroristischen Anschlag zu legitimieren, der unter Missbrauch von Allahs Namen geschieht. Aber bei deren berechtigter Verurteilung schwingt mir zu oft christlicher Hochmut mit[21].
Ich brauche hier nicht darzulegen, dass und warum wir heute in den interreligiösen Beziehungen eine Wende epochalen Ausmaßes erleben. Wir erleben in der Wissenschaft, aber auch in öffentlichen Dokumenten aller Religionen den Beginn eines vernetzten Denkens[22]. Die Prozesse der Globalisierung zwingen uns nicht nur zu gegenseitiger Annäherung und vielerorts zu konkreten Modellen des Zusammenlebens, sondern laden uns allen auch eine bisher ungeahnte Verantwortung für eine in Frieden versöhnte Welt auf. Die Zeit des religiösen Provinzialismus ist definitiv abgelaufen und nicht mehr zu rechtfertigen. Bei dessen Überwindung können die abrahamitischen Religionen angesichts ihrer Sinnhorizonte und ethischen Potentiale eine Vorreiterrolle übernehmen. Es ist wie bei der innerchristlichen Ökumene. Das Ziel einer Welt-Einheits-Religion wäre weltfremd. Wir müssen uns aber einüben in einen für die Welt vorbildlichen, gegenseitigen und bedingungslosen Respekt, der sich durch Kenntnisse, gegenseitige Anerkennung und gemeinsame Erfahrungen vernetzt. Diese religiöse, zugleich soziale und weltbürgerliche Aufgabe verlangt natürlich harte inner- und entschiedene interreligiöse Arbeit. Wie das Projekt Weltethos zeigt, können sich dabei alle betroffenen Religionen – nach innen wie nach außen – einem Modell der gemeinsam lebbaren Humanität unterwerfen[23].
Aber auch hier gilt: Dieses Ziel ist nicht nur zu proklamieren, sondern auch methodisch zu planen. Natürlich arbeiten wir alle am Ziel einer versöhnten Menschheit mit. Wie aber gehen wir mit den religiösen Konflikten zwischen Juden, Christen und Muslimen um? Auch hier gilt nicht nur gemeinsame Außenaktion, sondern konsequente Interaktion. Zu leisten ist ein bewegungsfähiges Gespräch zwischen den Religionen selbst.
II. Missverständnisse und Verwandtschaft
Politische Interessen können zu Übervorteilungen, zu Täuschungen oder Verdrängungen führen; man kann über sie reden. Aber Verwandtschaftsverhältnisse werden oft zum Stachel, zum Pfahl im Fleisch eines erzwungenen Zusammenlebens, aus dem wir nicht ausscheren können. Aber auch Familienverhältnisse können reifen. Wir können miteinander reden, über Missverständnisse aufklären und selbst eingefleischte Positionen ändern. Zur Entdeckung, dass unsere Religionen nahe verwandt, vom Osten aus gar zum Verwechseln ähnlich sind, kommt die Arbeit an den Stolpersteinen, die auf unseren Wegen liegen. Beispielhaft seien drei genannt. Sie haben mit unserer Vergesslichkeit, unserer Engstirnigkeit und unserer Oberflächlichkeit zu tun. Die Fälle selbst sind hinreichend bekannt. Zu zeigen ist, dass sie nicht als Schicksal hinzunehmen sind, sondern uns auffordern können zur Erinnerung, zu einem weiteren Horizont und einer neuen Frage nach Gott.
1. Ismael und Isaak: Das Erbe von vielen
Keine Religion trägt die Wahrheit ausschließlich in sich, dieses von Monotheisten lange gepflegte Missverständnis verhindert eine jede Versöhnung. Paulus warnt: „Erhebe dich nicht über die anderen Zweige!“ (Röm 11,18); dies haben wir lange vergessen. Dagegen geht die jüdische Bibel mit dieser Frage offen um, denn da wird in den biblischen Texten ein merkwürdiges „Wurzelgeflecht“ (Kuschel) gezeichnet, das die drei Religionen miteinander verflicht. Wir könnten dies an den Berichten zu Noach und Abraham aufzeigen. Ihnen kommt in Bibel und Koran eine Schlüsselrolle zu: sie verbinden uns und ordnen uns, wie bekannt, in die Heilsgeschichte der gesamten Menschheit ein[24].
Unbestritten gilt uns Noach als Stammvater aller Völker (Gen 9,19; Sure 11 u.ö.), dessen Gebote (u.a. Respekt vor dem Einen Gott, Verbot von Mord, Raub, sexuellem Missbrauch und Tierquälerei) für alle Menschen gelten. Der Horizont des universalen Segens hält sich bis zu Abraham durch und geht mit ihm auf alle Erben dieses Segens über. Wer aber sind seine Erben? Sind es Abraham, Isaak und Jakob, im Anschluss daran dessen Söhne und deren Nachkommen, bis hin zu „Jesus…, der der Messias genannt wird“ (Mt.1,16)? Oder gehört auch Ismael zu dieser Reihe der Verheißung (Sure 2, 136; 3,84)? Erinnern wir uns an die komplizierte Geschichte des Genesisbuchs, gemäß dem die Ägypterin Hagar auf Gottes Geheiß dem Abraham den Sohn Ismael gebiert und der beschnitten wird (Gen 17,25). Später wird Sarah schwanger, gebiert Isaak und der Streit um die wahre Nachkommenschaft beginnt. Hagar und Ismael werden zweimal in die Wüste gejagt und zweimal gerettet. Genauso wie Isaak will Gott auch Ismael zu einem „großen Volk“ machen (Gen 21, 14-21). Auch bei Abrahams Beerdigung ist Ismael wieder anwesend (Gen 25, 9). Diese Spur der Erinnerung ist uns bis heute geblieben, und sie wird im Islam aufgegriffen. Denn dieser Ismael gilt jetzt als Stammvater der Araber, an die dann im Koran Gottes Wort ergehen wird. Der Koran aber schließt seinerseits niemanden aus: „Wir glauben an Allah und an das, was zu uns … herabgesandt wurde, und an das, was herabgesandt wurde zu Abraham, Ismael, Isaak, Jakob und den Stämmen, und an das, was Mose und Jesus zugekommen ist …Wir machen bei keinem von ihnen einen Unterschied“ (Sure 2, 136; vgl. 3,84).
Es gibt schließlich nicht nur (im Judentum) eine Nachfolge des Moses, nicht nur (im Christentum) eine Nachfolge Jesu (vgl. Mt 1,1), sondern gemäß dem Koran auch eine Nachfolge Ismaels, die sich auf die Bibel berufen kann. Zudem erhält das Schicksal von Ismael prophetische, an Jesus erinnernde Züge, denn der Verstoßene, auf Leben und Tod Bedrohte kehrt im Namen Gottes als großes Volk zurück. Gewiss, theologische Beweise lassen sich in dieser Sache nicht führen, aber die biblische Erinnerungsspur ist unwiderlegbar und es ist Zeit, die späteren Verdrängungen zu lösen. Gottes Bund mit den Menschen war offensichtlich offen gedacht, sonst wäre uns die Ismaelgeschichte nicht überliefert worden[25]. Also müssen die Kinder Abrahams sie wieder für alle öffnen, die in die Wüste gejagt und dem Tode preisgegeben sind. Die Ismaelgeschichte demonstriert, dass keine Religion eine Insel ist. Die offizielle katholische Doktrin, die Angehörigen anderen Glaubens befänden sich „objektiv in einer schwer defizitären Situation“ (Dominus Iesus, Nr. 22), ist nicht nur unbiblisch, sondern unverträglich mit Gottes universalem Heilswillen und der gegenwärtigen Weltsituation. Es ist Sache der Religionsführer, die Unheilsgeschichte des Vergessens aufzubrechen und die Universalität des Gottesglaubens in einer Epoche des universalen Zukunftsgeschicks endlich zur Geltung zu bringen. Mit seiner größeren Heilsuniversalität steht der Islam augenblicklich dem Heilswillen Gottes näher als das offizielle Christentum. Mit dem Islam zusammen wird heute zu überlegen sein, wie wir die noch bleibenden Schranken gemeinsam überwinden und dem Heilsgedanken nahe kommen, der von Noach repräsentiert wird.
2. Jesus/Îsâ: Diener Gottes
Die chronologischen Unterschiede von Judentum, Christentum und Islam haben zu gefährlichen Folgerungen geführt. Denn die jeweils nachfolgende Religion versteht sich als die bessere, die jeweils frühere als diejenige, deren beste Intentionen man verraten hat. In der Tat wurde das Judentum vom Christentum bitter verraten, zugleich fühlt es den Verrat des Islam, weil er nicht bereit sei, sich angemessen mit der Gottessohnschaft Jesu auseinander zu setzen. Dabei weisen uns nüchterne Beobachter darauf hin, dass der Islam in dieselbe Endgültigkeitsfalle getreten ist wie das Christentum vor ihm. Würde er es ertragen, wenn es nach ihm zu einer weiteren Ausfaltung des Monotheismus käme? Bisweilen frage ich mich allerdings, ob die Religionsgründer nicht toleranter waren als ihre Nachfolger. Jesus wollte Jude sein und bleiben. Der Koran anerkennt die biblischen Propheten und schließt Jesus ausdrücklich ein. Am offensten verhalten sich die Schriften der jüdischen Bibel, denn nicht nur der Bund mit Noach gilt der gesamten Menschheit und allem Leben (Gen 9), sondern auch in Abraham sind nach jüdischer Überzeugung alle Völker der Erde gesegnet: „Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,3c).
Allerdings hat sich der christlich-muslimische Streit schon früh auf die Gottessohnschaft Jesu konzentriert. Für viele gilt er als unüberwindlich, zumal er sich ins muslimische Kernbekenntnis eingenistet hat: Allah hat keinen Sohn (Sure 4,171 u.ö.). Wie bekannt, kommt aber im kritischen Gespräch zwischen Christen und Islam etwas Erstaunliches zutage. Vermutlich richtet sich der Koran gerade nicht gegen das ursprüngliche Christusbekenntnis, wie wir es noch aus Formeln der Apostelgeschichte kennen: „Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht [Diener] Jesus verherrlicht.“ (Apg 3,26; vgl. 4,27, Apg 7,55). Genau dieses wird bestätigt: „Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Knecht [Gesandte] Gottes.“ (Sure 4,171)[26]. Der Koran reagiert auf ein Christusbild, das sich in den kommenden Jahrhunderten westlich des Jordan entwickelte und – ohne Beteiligung der Christen östlich des Jordan – in den großen Definitionen der Reichskonzilien (325, 431 und 451) mit den Kategorien griechischer Metaphysik niedergelegt wurde: „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“. Möglicherweise stammt die koranische Polemik selbst von den jüdisch-christlichen Gemeinden, die sich gegen diesen Hellenisierungsprozess sperrten[27]. Der Koran verhandelt also ein innerchristliches Problem. So kann sich durch die Neuentdeckung des frühchristlichen Christusbekenntnisses eine Ehrenrettung von Muhammad und Koran ergeben. Der christlich-muslimische Streit entpuppt sich als eine innerchristliche Debatte. Gewiss würde sich die Konkurrenz zwischen dem als Messias bekannten Jesus und dem „letzten Propheten“ nicht einfach auflösen, aber die gegenseitige Annäherung wäre erheblich und die Aufforderung schließt sich an: Wir sollten unsere verengten Horizonte endlich aufbrechen, die Fragen der Schwesterreligionen als begründete Fragen ernstnehmen und gegebenenfalls – bis hin zur Korrekturbereitschaft – versuchen, auch unsere geheiligten Formeln neu zu verstehen. Eine solche Hörbereitschaft würde unsere Bereitschaft erhöhen, die Fragen auch derer ernster zu nehmen, die noch grundsätzlichere Bedenken zu unseren Weltinterpretationen äußern.
3. Abraham: Gottsucher damals und heute
Es ist mehr als ein Zufall, dass Abraham in und zwischen den monotheistischen Religionen eine so wichtige Rolle spielt. Gemäß ihrem eigenen Schriftgedächtnis nahmen die monotheistischen Religionen in Abraham ihren Anfang. Sie berufen sich auf ihn und seine Verheißung. Was aber hat er mit den drei Religionen wirklich zu tun?
Beginnen wir mit der Antwort des Islam. Offensichtlich hat man zu Muhammads Zeiten über seine Bedeutung diskutiert. Juden und Christen wollten ihn für sich vereinnahmen. Wer aber war Abraham wirklich? Die Antworten der drei Religionen sind höchst vielfältig. Mit gutem Grund arbeitet Kuschel nachdrücklich heraus, dass Abraham in allen drei Religionen für einen Aufbruch steht[28]. Nach langer Suche findet er als erster zum Glauben: „Abraham glaubte dem Gott, und Gott rechnete es ihm als Gerechtigkeit an“. Paulus greift auf diesen Bericht zurück: „Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt.“ (Röm 4,18) In Sure 37 und 51 wird erneut der vorbehaltlose Glaube Abrahams herausgearbeitet.
Aber für den Koran wird eine andere Situation wichtig, auf die hier abgehoben sei. Offensichtlich möchten Juden und Christen diesen Abraham für sich in Beschlag nehmen. Der Koran reagiert abweisend: „Ihr Leute der Schrift! Warum streitet ihr über Abraham, wo doch die Tora und das Evangelium erst nach ihm herabgesandt worden sind?“ In der Tat, Tora und Evangelium gab es noch nicht, und Abraham (im Sinne der späteren Religion) einen Juden zu nennen, ist ebenso fragwürdig wie der Versuch, Jesus zum Christen zu machen. Also: „Abraham war weder Jude noch Christ.“ Was war er dann? Gewiss auch kein Moslem, der den Koran gekannt und befolgt hätte. Für den Koran war er „ein (Gott) ergebener Hanïf, und kein Heide“ (Sure 3, 65-67). Für unsere Überlegung kommt es auf den Schlüsselbegriff „Hanïf“ an. H. Zirker übersetzt mit „aus innerstem Wesen glaubender“. Bisweilen ist vom „reinen Glauben“ oder (allzu technisch) davon die Rede, dass er ein „Monotheist“ war. Offensichtlich gibt dieses Wort die Situation Abrahams wieder, der auf der Brücke zwischen dem Suchen und dem Finden des Einen Gottes steht. Der Suchende und Wandernde, der Mann der Wüste, glaubt in einem noch zögernden und fragenden Sinn, aber absolut offenen Sinne. Er hat noch nicht die Stütze einer bestimmten Glaubensform. Genau dies bedingt die existentielle Offenheit und eine Bereitschaft der Entscheidung und des Vertrauens, die alles auf eine Karte setzt. Er verließ sich auf Gott.
Man muss wissen: Muhammad (ca. 570-632) lebte in einer Händler- und Wüstenkultur, die damals im Umbruch war. Jüdische und christliche Traditionen waren (wie man am Koran ablesen kann) zwar vielfältig, aber nur bruchstückhaft anwesend, sozusagen in Auflösung begriffen. Viele Erinnerungen wurden vage, wirkten nur noch von ferne. Ein „Hanïf“, das war in dieser Situation ein suchender Mensch, der eine Art natürlichen Gottesglauben besaß. Man stelle sich einen Beduinen oder Händler vor, der einiges von Jesus oder von Moses, einiges von der Tora, dem Dekalog oder von den Evangelien hörte. Vermutlich weiß er aus beiden Traditionen, dass Gott Einer ist und nur Einer sein kann. Denn wem dieser Gedanke einmal begegnet ist, den lässt er nicht mehr los. Im übrigen musste sich ein solcher Beduine sagen: Ich lege mich da nicht weiter fest. Wahrscheinlich gab es für eine solche Festlegung auch keinen Anlass, weil man ihm nichts Genaueres überlieferte. Aber doch ist er – wie auch immer – ein Mensch von „Gottes Huld“ oder „guten Willens“, ein Mensch also, der seinem Gewissen folgen will, der rechtschaffen sein möchte, der aus einer tiefen religiösen Intuition und aus der Überzeugung lebt, dass ihm Gottes Frieden zugesagt ist. Offensichtlich können in solch offenen und unentschiedenen Situationen des kulturellen Umbruchs neue Religionen entstehen.
In der Umgebung von Jerusalem treffen wir zur Zeit Jesu eine vergleichbare Situation an. Angesichts der andrängenden hellenistischen Kultur war der jüdische Glaube in schwere Wasser geraten. Unter welchen Bedingungen können und dürfen sich die Gäste des Westens (aus Griechenland etwa) dem jüdischen Glauben nähern, der wegen seines klaren Monotheismus so attraktiv, wegen der vielen Lebensregeln aber so kompliziert ist? Die Pfingstpredigt des Petrus (Apg 2, 14-36) trifft auf die Stimmung solcher Leute: „In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer [Hanife?] aus allen Völkern unter dem Himmel.“ Sie alle „geraten außer sich und sind ratlos. Was hat das zu bedeuten?“ (Apg 2, 5-12).
Völkervielfalt besagt damals schon: Ortlosigkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, Parallelkulturen in kleinem Maßstab, Immigranten und Asylanten, Ausländer, die es an den Rand des Römischen Imperiums verschlagen hat. In diesen unruhigen Tagen (so Apg. 6,1) nimmt die Zahl der Jünger zu. Genauer gesagt: Offensichtlich sind sie auf der Suche nach einem Glauben an Einen Gott.
Im Grunde war von der Gegenwart schon die Rede: von einer Kultur im Umbruch, von einem merkwürdigen Ineinander von Sinnsuche und Glaubensverlust. Ungezählte haben sich trotz, vielleicht wegen ihres guten Willen dem Christentum entfremdet. Schon das 2. Vatikanische Konzil spricht anerkennend vom Protestatheismus[29]. In dieser Situation geraten viele ganz neu in die ursprüngliche Situation des Abraham. Ich schlage vor, sich folgende die Frage zu überlegen, ob Abrahams ganz ursprüngliche und elementare Glaubenssituation nicht höchst aktuell ist. Es ist eine Situation, die – streng genommen – den drei monotheistischen Religionen vorausgeht[30]. Im Weltmaßstab gesehen können wir sie nur gemeinsam lösen. Es gibt also Grund genug, dass die monotheistischen Religionen zusammenrücken, ihre Differenzen relativieren und ihre Bewegungen als Auswirkungen des abrahamitischen Beginns begreifen, zu deren Beschreibung nur wenige Worte genügen: „Er vertraute auf Gott und Gott schenkte ihm seine Gerechtigkeit.“ Nach Epochen der Streites ist den drei monotheistischen Religionen an diesem Jahrtausendbeginn zuzumuten, dass sie sich auf den elementaren Glaubensentscheid des Abraham gemeinsam besinnen und neu aus ihm leben.
Fassen wir zusammen: Für einen erfolgreichen interreligiösen Dialog genügt es nicht nur, dass wir einander mit Wohlwollen verstehen, denn die abrahamitischen Religionen haben schon immer aufeinander reagiert und oft versucht, einander ins Unrecht zu setzen. Deshalb ist es unerlässlich, dass diese Interaktionen in der vor uns liegenden Epoche umgekehrte Wege gehen. Nach Wegen des gegenseitigen Ausschlusses und der Kritik sind Wege der Selbstkritik und der gegenseitigen Akzeptanz angesagt. Wie bei Ismael sollten wir uns alter Öffnungen wieder erinnern statt sie zu verdrängen. Wie beim Christusbekenntnis sollten wir unseren Horizont neu erweitern, statt uns auf bestimmte Formeln zu fixieren. Statt immer neue Regeln zu produzieren, sollte uns der Geist der Ursprungsfrage inspirieren, der allein uns die gemeinsamen Ursprünge erschließt.
Kommen wir zum Schluss:
Gemeinsamer Geist und gemeinsame Aufgaben für eine gemeinsam gewordene Welt. R. Safranski scheint in seinem Essay Ähnlichem auf der Spur zu sein. Er spricht von einer weltweiten zivilen Religion, die einem menschenwürdigen und friedensfähigen Zusammenleben die Basis bietet. Aber vom Glutkern einer Religion, die diesen Namen verdient, scheint er wenig zu verstehen. Er suggeriert, für eine humane Befriedung der Welt könne die Inszenierung eines Gottes genügen, die Wege der Selbsttranszendenz eröffnet[31]. In Anlehnung an den Film Blow up und seinen fiktiven Tennisspielern, die – wenn auch ohne Ball – ein perfektes Spiel liefern, schreibt er: „Der Gott der Zivilreligion ist der Ball im Spiel ohne Ball.“ Es steht zu fürchten, dass diese Illusion keinem Gemeinwohl nützen wird. Glaubende Menschen gewinnen ihren Friedenswillen, den Respekt und eine besonnene, zudem tolerante Solidarität gerade dadurch, dass Gott für sie wirklich ist. Dass Er für uns alle ein Geheimnis bleibt, das sei Safranski unbenommen. Ich selbst denke bei diesem neuen globalen Religionsverbund weniger an einen illusionär getriebenen Ball, als vielmehr an eine die Bronzeplastik von Giacometti. Sie trägt den Titel: Hands holding the Void. Wie einen Ball, aber mit konzentrierter und nach innengekehrter Fürsorge hält eine Frau das Geheimnis der Leere so in ihren Händen, dass deren Unauslotbarkeit und Überfülle offenkundig wird. Abraham hat damals wohl für uns alle diese übervolle Leere entdeckt. Der Dialog zwischen Abrahams Kindern ist schwierig, aber aktueller denn je.
Dieser Artikel geht auf einen Vortrag zurück, der im Gemeindehaus der Kirche am Markt (Hamburg/Blankenese) anlässlich einer interreligiösen Woche gehalten wurde.
Abgedruckt in: Religions for Peace. Informationen Nr. 82, 2010, 4-20
Anmerkungen
[1] Vgl. dazu das Essay von R. Safranski, Heiße und kalte Religionen. Der Islam verkündet Erlösung, die Christen haben den Glauben an das Jenseits verloren, in: DER SPIEGEL 3/2010, S. 119-121. Diese These des Autors ist nicht neu: R. Safranski, in .CICERO, Mai/2004.
[2] J. Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München 32008; ders., Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, München 22009.
[3] Einen Eindruck von den politischen, ökonomischen und sozialen Gründe für die spezifische Entwicklung der muslimischen Stammländer vermitteln die Publikationen des Politologen Pawelka: P. Pawelka, Von der Metropole zur Peripherie. Der sozioökonomische Abstieg des Vorderen Orient, in: P. Pawelka u.a. (Hg.), Die Golfregion in der Weltpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln 1991, 38-63; ders., Religion, Kultur und Politik im Vorderen Orient. Die islamische Welt im Zeichen der Globalisierung, Wiesbaden 2004.
[4] H. Küng, K.-J. Kuschel (Hg.), Weltfrieden durch Religionsfrieden. Antworten aus den Weltreligionen, München 1993; H. Küng. Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997; ders., D. Senghaas (Hg.), Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München 2003.
[5] Eine hervorragende Einführung in diese Arbeit (und zugleich in mögliche Ergebnisse) ist die Monographie von K.-J. Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007. Sie zeigt, wie vielschichtig dieselbe Thematik oder Figur behandelt werden kann.
[6] Nach einer allgemein akzeptierten Schätzung beliefen sich 2004 Fälle der Gewaltanwendung in muslimischen Ehen auf 49 %, in traditionell deutschen Ehen immerhin auf 25 %. Ich gebe die absoluten Prozentzahlen mit Vorbehalt wieder, finde das Verhältnis von grob 1:2 allerdings bemerkenswert.
[7] Zu bedauern ist, dass man auch bei den Auseinandersetzungen um Schador und Kopftuch vergleichbare Faktoren eines vorherrschenden kulturellen Paradigmas verdrängt.
[8] J. Assmanns These, dass mit dem Monotheismus die Konkurrenz der Religionen in die Welt gekommen sei (Moses der Ägypter. Entzifferung eines Gedächtnisspur, München 1998) hat massive Kritik erfahren. Ich halte sie jedoch nicht für widerlegt.
[9] Die Literatur zu Judentum, Christentum und Islam sowie zu ihrem gegenseitigen Verhältnis ist inzwischen nahezu uferlos geworden. Am weitesten gediehen sind für Christen die Kenntnis und die theologische Hochschätzung des Judentums sowie die Verarbeitung der unseligen jüdisch-christlichen Konflikte. Die theologische Aufarbeitung des christlich-muslimischen Verhältnisses ist dabei, aufzuholen. Der vorliegende Text ist – neben schon genannten Publikationen – stark geprägt von den Arbeiten von H. Küng (Das Judentum, Das Christentum, Der Islam, München 1991, 1995, 2004).
[10] Ein für den deutschen Antisemitismus des 19. Jh.s wichtiges Datum ist der September 1843, als im westfälischen Minden ein jüdischer Bäckergehilfe einer christlichen Frau eine Oblate mit den Worten anbietet: „Wollen Sie auch einen Messias nehmen?“ Die ungewollte Provokation wird als Hostienschändung interpretiert. Der Jude, so die antisemitische Interpretation, treibe mit dem Abendmahl seinen Spott: „Hier habt ihr einen Messias. Fresst euren Heiland auf.“ (A. Herzig, Brandstifter im Biedermeier. Wie man in Minden und andernorts den Hass auf die Juden schürte – und die Epoche zur Ursprungszeit des modernen Antisemitismus in Deutschland wurde, in: DIE ZEIT 4/2010, S. 78.
[11] Die Fürbitten wurden im Februar 2007 von Benedikt XVI. für die lateinische Liturgieform neu formuliert. Der Papst lässt darum bitten, dass „Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Retter aller Menschen erkennen“.
[12] K. H. Ohlig, Vom muhammad Jesus zum Propheten der Araber. Die Historisierung eines christologischen Prädikats, in: ders. (Hg.) Der frühe Islam. Eine historisch-kritische Rekonstruktion anhand zeitgenössischer Quellen, Berlin 2007, 327-377.
[13] Ch. Luxenberg, Die syro-aramäische Lesart des Koran. Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin 32007; Ch. Burgmer. (Hg.), Streit um den Koran. Die Luxenberg-Debatte: Standpunkte und Hintergründe Berlin 32007.
[14] Vgl. Kuschel, Juden, 88-106.
[15] J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997, 66-78. Angesichts der langen und hochdifferenzierten Diskussion der Kategorien von „heiß“ oder „kalt“ ist Safranskis Vorschlag stark unterdeterminiert.
[16] Interessant und für das schwierige Verhältnis bezeichnend ist die Tatsache, dass der Islam vom Christentum aus in verschiedenen Epochen ganz verschieden wahrgenommen wurde. Zunächst galt der Islam als eine Häresie, die christliche Inhalte übernahm, aber verzerrte. Erst seit dem Hochmittelalter wird er als „Heidentum“, d.h. als eigenständige Religion wahrgenommen. Vom 16. Jahrhundert an, da der Islam für den Westen zur politischen und militärischen Bedrohung wurde, hat man ihn als Teufelswerk dämonisiert. Offensichtlich wurde solche Polemik sogar dem Polemiker Luther zuviel, so dass er die Christen aufforderte, den ganzen Koran zu studieren. Das verhinderte zwar nicht, dass er dieses „Buch der Vernunft“ zutiefst ablehnte, aber er förderte eine bessere Kenntnis des Islam. Die Reformatoren und das Konzil von Florenz (1442) machten zudem hinreichend deutlich, dass die Muslime dereinst in der Hölle schmoren würden. Man sollte also nicht allzu überrascht sein, wenn strenggläubige Muslime von den „ungläubigen“ Christen dasselbe behaupten (vgl. Kuschel, Vom Streit, 53-73).
[17] Ex 3,2-5; Mk 12,25; Apg 7,35; Sure 20, 9f.
[18] Bei aller christlich theologischen Detailkritik ist der Generallinie des Buches von J. W. Fowler immer noch zuzustimmen: Stufen des Glaubens. Die Psychologie der menschlichen Entwicklung und die Suche nach Sinn, Gütersloh 1991.
[19] St. Schreiner, Auf der Suche nach einem „Goldenen Zeitalter“. Juden, Christen und Muslime im mittelalterlichen Spanien, in: J. N. Soskice und E Borgman (Hg.), Von anderen Religionen lernen, Concilium 39 (2003), Nr. 4, 419-432. Eine knappe Zusammenfassung bietet Küng, Islam, 449-464.
[20] Wertvoll für einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen machtbesetzten Tradition: K. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, bislang 7 Bde. (Hamburg 1986ff.). Zielsetzung und Inhalt der Reihe mag man einseitig nennen, sie sind es auch. Die vorgelegten Analysen und Ergebnisse werden dadurch nicht falsch. Nach meinem Urteil sind sie sorgfältig recherchiert. Deschner präsentiert die dunkle Seite, die wir gerne verdrängen.
[21] Der Begriff „Islamismus“ ist zum diskriminierenden Dauerbegriff geworden. Als vor einigen Tagen Muslime gegen den Terrorismus protestierten, war in meiner Lokalzeitung nicht mehr von Muslimen, sondern von „vielen Türken“ die Rede – warum wohl?
[22] Eindrückliche Beispiele s. Kuschel, Juden, 68-77.
[23] Implizit wird eine gemeinsam lebbare Humanität als gemeinsamer und universaler Wert aller Religionen vorausgesetzt. Um eine vorschnelle Objektivierung und Fixierung von Humanität auf die Konkretisierungen einer bestimmten Kultur zu vermeiden, ziehe ich den Wertbegriff dem Normbegriff vor. Zugleich lässt sich m.E. auch zeigen, dass Humanität als universaler kriterienrelevanter Wert dem Gedanken einer göttlichen Offenbarung nicht widerspricht, dies umso mehr, als alle Religionen mit universalem Anspruch in je verschiedener Weise die Goldene Regel als zentralen Wert kennen und formulieren (s. Erklärung zum Weltethos).
[24] Schon früh hat K.-J. Kuschel in seinem Trialogprojekt darauf hingewiesen (Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt – und was sie eint, München 1994, 168-176).
[25] Vom „offenen Bund“ (open covenant), der allen Menschen angeboten ist, spricht ausdrücklich Irvin Greenberg,The Jewish Way. Living the Holidays, Philadelphia 1988; ders.. For the sake of Heaven and Earth. The New Encounter between Judaism and Christianity, Philadelphia 2004; vgl. dazu Kuschel, Juden, 590-596.
[26] Jesus wird im Koran auch Messias, Gottes Wort und Gottes Geist genannt.
[27] Sure 19, 88-91, macht die Empörung deutlich, die Muhammad bewegt haben muss: „Der Allerbarmende hat sich ein Kind genommen. Ihr habt eine ungeheuerliche Sache begangen. Fast zerbrechen davon die Himmel, spaltet sich die Erde und fallen die Berge in Trümmer, dass sie dem Allerbarmenden ein Kind zusprechen.“
[28] Kuschel, Juden, 548-580.
[29] Gaudium et Spes, Nr. 20f.
[30] Die Paradoxie der Situation wird nachdrücklich beschrieben von A. Comte-Sponville, Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2008.
[31] Zum Begriff der Selbsttranszendenz, die den Zugang Transzendenz eröffnet, s. H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997.