Pluralisierte Weltkirche und ein souveräner Papst

Diagnosen und Visionen am Beginn eines neuen Pontifikats

Herr Professor Häring, Sie sagen, das kirchliche Wahrheitsverständnis ist der eigentliche Knackpunkt, wenn man mit der Kirchenreform weiterkommen will, und es hilft nicht, für die Frauenordination und für dieses und jenes einzutreten.

Wenn ich die Kirchenleitung dazu bringen will, etwas zu ändern, muss ich ganz fundamental ansetzen. Denn das Beharren in den bekannten Einzelstreitpunkten der Kirchenreform ist nicht auf Sturheit zurückzuführen, sondern es basiert auf einem massiv verankerten, in vielen Argumentationsgebäuden begründeten Wahrheitsverständnis, das zu ändern Knochenarbeit bedeutet und fordert, dass wir die ganze Tradition einer Revision unterziehen.

Heißt das auch, man muss Dogmen annullieren, widerrufen?

Das weiß ich nicht. Bei einigen habe ich das Gefühl ja, vor allem bei späten. Aber ich glaube, dass hinter den allerersten Dogmen tiefe Weisheiten stecken–- ich muss sie nur in andere Zusammenhänge bringen. Das Dogma von 325, eines der frühesten – Jesus Christus als wahrer Mensch und wahrer Gott; zwei Naturen, eine Person – , kann ich ohne viel Mühe in ein anderes philosophisches Gebäude übersetzen und die Kernaussage, dass mir in der Gestalt, im Handeln und auch im Leiden Jesu göttlicher Wille und göttliche Wahrheit begegnet, kann ich relativ leicht ausdrücken. Schwierig wird es bei den späteren Dogmen, etwa der Definition der Unbefleckten Empfängnis Marias, wo ohnehin kein normaler Mensch weiß, was das bedeutet, oder dem Dogma von der Himmelfahrt Marias, wo ich denke, dass ich angesichts der ästhetischen Güte dieser Metapher überhaupt kein Dogma mehr brauche, um das festzulegen.

Und was soll man mit dem Dogma der Unfehlbarkeit tun? Kann man das anders interpretieren oder muss man es wegräumen und sagen: Das war ein Irrtum?

Im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils wäre eine Möglichkeit gewesen, das Dogma zu vergessen und zu sagen, wir lassen es jetzt einmal aus dem Spiel und erklären einige Zeit später, wenn das die Gemüter nicht mehr so erhitzt, dass es vielleicht doch ein Irrtum war. Man könnte das noch gut erklären als Folge eines ganz bestimmten rationalistischen Wahrheitsverständnisses. Leider hat es die Kirche selbst, vor allem auch durch die Reaktion auf Hans Küng, zu einem Zentralpunkt des Wahrheitsverständnisses gemacht, dass ich heute ratlos bin und denke, es bleibt nichts übrig, als das Dogma in aller Form für einen Irrtum zu erklären. Das ist ungeheuer schwierig für Leute, die sozusagen in diesem Dogma zu Hause sind; aber die müssen sich mal erklären, wie viele Menschen – das sind ungleich mehr – sie vom Zugang zur christlichen Wahrheit überhaupt ausschließen, indem sie daran festhalten.

Aber da müsste die Kirche doch etwas tun, was sie in 2000 Jahren nie getan hat.

So einfach kann man das nicht sagen. Denn diese sehr selbstgerechte Insistenz auf „Wahrheit“ hat ja in dieser harten Form erst mit dem Konzil von Trient an-gefangen, ist also ein antireformatorischer Reflex, der dann in den Antimodernismus überging und zur Unfehlbarkeit führte. Die Kirche hat sich da etwas aufgeladen, was überhaupt nicht nötig gewesen wäre. Aber das Problem ist, dass es hinterher zu einer Verdrängungsgeschichte gekommen ist. Es fällt ja auf, dass seit einigen Jahrzehnten von der Unfehlbarkeit in der theologischen Literatur kaum mehr die Rede ist. Das ist beinah wie ein Familiengeheimnis – so verschwiegene Dinge in Familien, die aber den Zwang, dran festzuhalten umso mehr verstärken, weil es nicht mehr besprechbar ist.

Es fällt auf, dass keiner der letzten Päpste mehr daran dachte, irgendetwas unfehlbar zu definieren. Aber indirekt – also in der Frage des Verbotes der künstlichen Geburtenkontrolle, in der Frage der Homosexualität, des Ehescheidungsverbots und des Verbots der Frauenordination – spielt die alte These, dass hier etwas unter schwerer Gewissensverpflichtung eindeutig festgelegt wurde, eine Rolle. Faktisch gilt das als unfehlbar. Aber auch da fällt auf: Das Wort „unfehlbar“ hat, glaube ich, Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation nur einmal in den Mund genommen im Zusammenhang mit der Frauenordination. Ansonsten läuft das einfach, und deshalb müssen vielleicht wieder ein paar Leute kommen, die das noch einmal zu Debatte stellen. Denen wird es nicht gut gehen, gegen die wird man alle Aggression ablassen, weil man sagt: Du rührst alte Sachen auf. Aber für die Gesundung des kirchlichen Selbstverständnisses ist das, glaube ich, unabdingbar.

Haben Sie eine reale Hoffnung, dass die Kirche aus diesem Dilemma wieder herauskommt?

Meine reale Hoffnung jetzt ist in concreto keine gute. Ich fürchte, dass die Polarisierung in der Kirche heute – jedenfalls im westlichen Kulturkreis, in Westeuropa, Kanada und den USA – derart gewachsen ist, dass es irgendwann zum offenen Konflikt kommen muss.
Das Erstaunliche ist, dass die alte römische Methode, nämlich Dinge verbieten, Leute absetzen oder zum Schweigen bringen, zum ersten Mal nicht mehr funktioniert. Übrigens: Ein Erfolg des Zweiten Vatikanums – das gewachsene Selbstbewusstsein.
Der zweite Punkt ist, dass im Moment – Stichwort Priesterberufe – die klassische Seelsorge schlicht und einfach zusammenbricht. Wie soll denn in 20 Jahren eine Gemeinde noch leben, wenn sie nicht sagt: Wir verstehen uns selbst als Gemeinde, und wir dürfen das uns Nötige und uns Gebotene im Namen Christi tun, auch wenn es keinen Priester gibt, der zu uns abgesandt ist.
Da werden – gar nicht langfristig, sondern mittelfristig – Selbstkorrekturen in Kraft treten, die sehr schmerzhaft sind, aber sie werden stattfinden. Schon jetzt gibt es viele Gemeinden, die Bestimmtes tun und sich da nicht mehr aufhalten lassen.

Die Reform käme viel schneller voran, wenn wir nicht nur Laieninitiativen und eine Pfarrerinitiative hätten, sondern auch eine Bischofsinitiative. Warum ist das so undenkbar?

Das eine ist, dass jeder, der in die höhere Hierarchieebene kommt, Teil der Selbstinszenierung dessen wird, was sich Kirche nennt – des Kirchenapparates; das bindet in vielfacher Hinsicht.
Das nächste ist –und da gibt es auch Untersuchungen: Ein Grundgefühl von Bischöfen ist das von ungeheurer Dankbarkeit. Die haben wirklich das Gefühl: Ich bin auserwählt, ich darf in dieser heiligen Institution das tun. Solche Dankbarkeit macht unfähig zur Kritik.
Und das geht noch weiter: Die Bischöfe sind ja immerhin nach offiziellem Protokoll vom Papst als „Liebe Brüder“ anzusprechen. Die Kardinäle spricht er offiziell mit „Meine Söhne“ an. Das ist etwas anderes. Sie sind offiziell Kreationen des Papstes. Sie haben nämlich alle Würde nur aus dem Papst, und nicht, wie man sich bei einem Bischof wenigstens vorstellt, aus ihrer Diözese.
Diese Abhängigkeits- und Verfremdungsverhältnisse in der stets wachsenden Institutionalisierung nehmen diesen Leuten ihre Authentizität. Das ist eine Tragik, aber es ist so. Und es ist umso schlimmer, als die Ernennung von Bischöfen in den letzten Jahrzehnten immer mehr zum Monopol Roms geworden ist. Es gibt keine Generation in der katholischen Kirche, in der so viele Bischöfe sagen müssen: Ich bin rein aus römischer Gnade Bischof geworden. Das macht Erneuerung nahezu unmöglich.

Da stimmen also Ernennungsmodus und Selbstbewusstsein perfekt überein.

Ja genau! Und das muss ja auch mitgespielt haben bei der Wahl von Joseph Ratzinger zum Papst. Stellen Sie sich vor, da ist ein Gremium, von dem die allermeisten vom Vorgängerpapst ernannt wurden, das heißt über den Schreibtisch dessen gegangen sind, den sie gewählt haben. Da kann man sich überlegen, was da passiert.

Ist dieses System nicht genau dadurch schon für die nächsten 50 Jahre zementiert?

Man weiß das nie, es gibt immer Unberechenbarkeiten, wir haben ja auch Johannes XXIII. gehabt. Es hat aber keinen Zweck, darauf zu hoffen, denn die Hoffnung trügt zu 70 oder 80 Prozent. Ich glaube, die Erneuerung kommt wirklich von unten. Es muss eine Generation oder eine Gruppe kommen, die mit theologischer, exegetischer und vor allem spiritueller Kompetenz sagt: Wir gehen unseren eigenen Weg, wir entlarven die falsche Autorität, die uns von oben immer wieder aufoktroyiert wird. Wir wollen keinen Konflikt um des Konfliktes willen, aber man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Eine Keule, die von Rom aus oft gegen Reformkonzepte geschwungen wird, lautet: Das überfordert die Weltkirche.

Das muss man ernst nehmen. Ich bin allerdings überzeugt, dass eine weitere Monopolisierung keine Lösung ist. Wir müssen zu einer Weltkirche kommen, in der die verschiedenen Kulturräume zu einer pluralisierten Kirche werden. Dadurch muss die Einheit nicht zerstört werden, aber man kann sich sehr wohl juristisch und organisatorisch eine gestufte Einheit ausdenken, bei der bestimmte Prioritäten in den einzelnen Kulturen geregelt werden.
Die Frage der Ordination der Frau muss nicht für alle Welt auf einmal geregelt werden. Da hätte eine Gesamtkirchenleitung gute Möglichkeiten, den anderen zu sagen: Wir machen hier einmal ein Experiment, und euch wird dadurch nichts genommen, wir werden sehen, was passiert. In 30 Jahren könnte man vielleicht anders reden.
Die Frage des Zölibats könnte man auch so regeln. Insofern glaube ich, die Pluralität der Kirche müsste kein Hindernis für Reform überhaupt sein, aber man muss es bewusstmachen und organisatorisch mit Bedacht angehen.
Und es gäbe gute Gremien, die wir ja heute schon haben – wir haben eine Weltsynode, die könnte endlich einmal auf demokratische Füße gestellt werden. Es gibt aber auch eine lateinamerikanische und eine gesamteuropäische und ich weiß nicht welche Bischofskonferenzen, denen könnte man ganz große Rechte für Teilreformen zugestehen.
Natürlich sollen die das alles in Absprache mit Rom tun, aber die Beschlüsse werden eigentlich vor Ort gefasst. Und das könnte man weiter bis nach untern differenzieren, und das Ganze würde endlich mal wieder zur fälligen Aufwertung der Diözesen führen, deren Bischöfe ja von Rom aus auch oft nur als Marionetten behandelt werden, was sie ja gar nicht sein sollten.

Aber das alles würde einen Papst verlangen, der sich selbst relativiert.

Ich glaube, es verlangt einen sehr souveränen Papst. Wir haben ja in letzter Zeit gesehen, was passiert, wenn die Kurie zum Selbstläufer wird und um sich schlägt. Andrerseits: Zu einem erfahrenen Theologen, mit dem ich befreundet bin, sagten wir einmal: „Du würdest vielleicht auch gerne Papst sein.“ Er antwortete: „Ich würde höchstens Kardinal-Staatssekretär werden wollen, und ich garantiere, ich hätte innerhalb von zwei Monaten das System der tollen Gremien, die die katholische Kirche hat, auf demokratische Füße gestellt. Dann wäre die Kirche zwei Jahre später eine andere.“

CORNELIUS HELL IM GESPRÄCH MIT HERMANN HÄRING

Hermann Häring, geb. 1937 in Pforzheim, studierte Philosophie in München und Theologie in Tübingen. 1980 erhielt er eine Professur für Systematische Theologie in Nimwegen, die 1999 nach Konflikten mit dem Vatikan in eine Professur für Wissenschaftstheorie und Theologie umgewandelt wurde. Häring baute das interdisziplinäre Institut für Theologie, Wissenschaft und Kultur auf; er wurde 2005 emeritiert und lebt seither wieder in Tübingen (das Gespräch wurde vor der Wahl von Jorge Mario Bergoglio zum Papst geführt.)

(veröffentlicht in: Quart – Zeitschrift des Forums Kunst-Wissenschaft-Medien Nr. 1/2013, 5-7)