Visionen und Möglichkeiten
Seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) befindet sich die katholische Kirche in Identitätsdiskussionen und in einer Dauerpolarisierung, deren Gründe man nie richtig analysiert, geschweige denn aufgearbeitet hat. Nach dem Tauziehen unter Paul VI. (1965-1980) versuchte Johannes Paul II. (1980-2005) autoritär durchzugreifen. Seit 2005 verschärft der neue Papst die Krise, die er endlich niederringen will. Die Kirche ist zutiefst gespalten, der vertikale Dialog zusammengebrochen. Gemäß einer Sinusstudie (2006) ging der Anschluss an die meisten sozialen Milieus verloren. 2010 hat die Stimmung unter den Gläubigen einen Tiefpunkt erreicht, den bislang niemand für möglich hielt. Der offizielle Umgang mit den Missbrauchsskandalen wirkt wie ein letzter Beweis für die Handlungsunfähigkeit einer Kirchenleitung, die den katastrophalen Zusammenbruch der gesamten Seelsorge in Kauf nimmt. 2009 sind über 123.000 Katholiken aus der Kirche ausgetreten, 2010 waren es etwa 180.000.
Wie sollen wir darauf reagieren? Memoranden wurden geschrieben und Erklärungen unterzeichnet, alle blieben erfolglos. Inzwischen hat sich der Ruf nach einem prozessualen Lösungsansatz durchgesetzt: Die Probleme sind nur durch einen intensiven Dialog, vielleicht ein Netz von Dialogen zu lösen. Ich nenne vorrangig das in unseren Reihen erarbeitete Papier „Initiative zu einem Zukunftsgespräch der Katholiken in Deutschland“, weil es das wohl reflektierteste und realitätsbezogenste der bekannten Papiere ist. Anders als etwa das vorsichtige Memorandum vom Februar 2011 bezieht es Fragen nach der Ökumene und nach der Präsenz der Kirche in der Welt mit ein.
Klar muss allerdings sein: Miteinander reden müssen die polarisierten Gruppen und die kirchlichen Klassen, insbesondere die „Hierarchie“ mit den „Laien“. Doch schon die verkrüppelte Terminologie verweist auf die Schwierigkeiten, die sich diesem Vorhaben entgegenstellen. Wir haben es mit einer Ständestruktur zu tun, die im Prinzip keinen Dialog erlaubt. Konsequent erklärte vor kurzem der Bischof von Limburg, in der Kirche bestehe ein Dialog vor allem im Schweigen und im Hören. Deshalb initiieren Diözesanbischöfe schon jetzt sog. Dialogprozesse zu ihren Bedingungen. Teilnehmer und Themen werden einseitig festgelegt, missliebige Dialogpartner und Themen ausgeschlossen. Solche Scheindialoge verschlimmern nur die Situation, weil sie das wahre Elend verschleiern. Was aber soll geschehen?
1. Standardargumente
Die zentralen Standardargumente der Reformdiskussion verdanken sich dem letzten Konzil. Sie haben sich tief ins Bewusstsein reformwilliger Katholiken eingeprägt. Sie formulieren die Vision einer erneuerten Kirche, die noch heute überzeugt. Ich nenne drei:
(1) Die Kirche Jesu Christi ist „Volk Gottes“. Gemeint ist eine Gemeinschaft von Gläubigen, die prinzipiell im gleichen Auftrag und im Entscheidenden gleichberechtigt handeln. Den gleichen Rechten entsprechen gleiche Pflichten und diese Gleichheit geht allen funktionalen Differenzierungen voraus. Die Anhänger/innen dieses Modells schüchtert kein Anarchievorwurf ein und hält kein Relativismusverdacht zurück. Es gibt aber Kritik an einer Hierarchie, die diesen Gemeinschaftscharakter bezweifelt.
(2) Das grundlegende Sakrament, das Kirche und Kirchengliedschaft konstituiert, ist die Taufe, die alle Christen in gleicher Weise in das Kraftfeld von Geist und Gottesreich aufnimmt. Aus diesem Grund qualifiziert schon Paulus alle gemeinnützigen Fähigkeiten von Einzelnen als Gaben Gottes, d.h. als Charismen. Hans Küng spricht schon 1967 von der charismatischen Struktur der Kirche. Alle Getauften, nicht etwa Heroen, Päpste o.ä., gelten als „Heilige“ (Röm 1,7 u.ö.). Die Kirche ist also nicht nur ein mystisch-symbolischer, sondern in seiner Ganzheit wirklicher „Leib Christi“ (1 Kor, 12,13). Daraus ergeben sich Pflicht und Recht aller Getauften zur Teilnahme im Handeln, Mitdenken und Mitfeiern. So gesehen ist unsere ständige Bevormundung durch die Hierarchie als Sünde wider den Heiligen Geist zu sehen.
(3) Die relativ späte Ausdifferenzierung der Leitungsämter in Presbyter, Bischof und Diakon folgte kulturellen Gegebenheiten und funktionalen Gesetzen, kann sich nicht unmittelbar auf die Botschaft Jesu oder das Neue Testaments berufen. Für das Verbot der Frauenordination oder die Aufrechterhaltung des allgemeinen Pflichtzölibats gibt es keine theologischen Gründe. Im Gegenteil, in einer Epoche tiefgreifenden kulturellen Umbruchs müssen wir über die Neugestaltung dieser Ämter nachdenken. Wir wollen uns neu vom Geiste Jesu her mit diesen Ämtern, ihrer Aufgabenstellung, ihrem Anspruch und ihrer Ausgestaltung identifizieren.
Recht verstanden lebt unsere Glaubensgemeinschaft also aus der Vision einer von Gleichheit, gegenseitigem Respekt und allgemeiner Partizipation durchdrungenen Gemeinschaft. Dies ist für die innere Ordnung ebenso unabdingbar wie für die Glaubwürdigkeit nach außen. Wer diese Vision wider besseres Wissen durch sachfremde Strukturen behindert, versündigt sich am Heilsauftrag Jesu Christi. Deshalb sind über eine Neugestaltung umfassende Gespräche zu führen. Daran sind schon deshalb zu beteiligen, weil den Mitgliedern der Hierarchie zur Analyse und Lösung zahlloser Einzelfragen schlicht die Kompetenz und oft auch das Charisma fehlen. In der gegenwärtigen Situation gibt es für einen umfassenden Dialog keine Alternative.
2. Warum die hartnäckigen Reformblockaden?
Warum aber wird dieser Dialog von der Hierarchie (also den römischen Leitungsinstanzen und den deutschen Bischöfen als Gemeinschaft) so konsequent hintertrieben? Der tiefere Grund für diese Blockadepolitik liegt nicht einfach in psychischen oder machtbedingten Verformungen der Amtsträger, auch nicht in ihrem isolierenden Corpsgeist. Er liegt in oft übersehenen theologischen Überzeugungen, die einen Dialog blockieren müssen. Die Bischöfe verstehen sich nach wie vor als Hirten, Lehrer, Richter und Priester. Ihre Aufgabe ist es also zu lenken, zu belehren, zu verhören und zu begnaden. Gerade die Ängstlichen und Bescheidenen unter ihnen handeln so autoritär, weil sie sich theologisch dazu verpflichtet wissen. Allerdings, die große Mehrheit der Gläubigen – auch vieler Reformgesinnter – akzeptiert dieses Spiel, denn wie selbstverständlich haben sie ein autoritär sakrales Amts- und Priesterbild verinnerlicht. In ihrer Kritik relativieren sie es zum soziologischen oder psychologischen Problem, führen also Argumente an, die den Hierarchen in keiner Weise beeindrucken.
Ein fruchtbares Zukunftsgespräch muss deshalb mit der elementaren, bislang vergessenen Schlüsselfrage beginnen: Welche Autorität steht den Bischöfen in Sachen Kirchenstruktur und Kirchenerneuerung überhaupt zu? Welche Teile ihres Vollmachtsanspruchs sind ihnen erst im Mittelalter, mit der Gregorianischen Reform (11./12. Jh.), dem 1. Vaticanum (1870) oder dem Antimodernismus (19./20. Jh.) zugewachsen? Wie verstümmelt ist in Sachen Amtsautorität unsere Tradition? Zu unserer Kirchenvision müssen seit dem 2. Vaticanum ja auch die Traditionselemente gehören, die im frühen Christentum und in den ersten Jahrhunderten wie selbstverständlich dazu gehörten.
(1) Wo ist die altkirchliche Regel geblieben, dass ein Bischof von der Gemeinde zu wählen, zumindest offiziell zu akzeptieren ist, und mit welchem Recht wird diese wohlbekannte Grundregel missachtet? Katholischen Christen muss endlich klar werden, auf welch tönernen Füßen der hierarchische Autoritätsanspruch steht. Erstes Schlüsselthema eines Reformdialogs ist die Frage nach Wahl und Akzeptanz von Bischöfen und Gemeindeleitern.
(2) Warum wird wider besseres Wissen die alte, also urkatholische Regel unterdrückt, gemäß der die Ordination nicht zu allgemeiner Sakramentenspendung, sondern zur Leitung einer konkreten Gemeinde oder Diözese bevollmächtigt? Die einseitige Sakralisierung der Ämter hat zu einem unverantwortlichen christlichen Autoritarismus geführt. Wir erwarten Gemeindeleiter/innen, die ihr Handeln, auch die ihnen übertragenen Aufsichts- und Kontrollfunktionen – vor der Gemeinde offen legen, verantworten und von ihr bestätigen lassen.
(3) Wie verstehen wir den apostolischen Bekenntnissatz, dass die Gabe der Einheit, der Heiligkeit und der apostolischen Nachfolge der Kirche insgesamt, d.h. den Gemeinden in ihrer Gesamtheit anvertraut ist? Gut katholisch geht alle kirchliche Autorität von der Gemeinschaft der Getauften aus, die an Jesus Christus glauben. Deshalb ist es für das Überleben einer Kirche notwendig, dass wir in überschaubaren[!] Gemeinden zusammenleben, als Gemeinde regelmäßig zu Gebet und Brotbrechen zusammenkommen (Apg 2,46) und den Menschen als Gemeinde unser Zeugnis der Liebe und des Dienstes vor-leben. Dieser Grundsatz kann nicht genug betont werden, weil er im 2. Jahrtausend konsequent unterdrückt wurde und heute als protestantisch diskriminiert wird: Die Gemeinden, nicht die Amtsinhaber sind primäre Trägerinnen aller Autorität, Verkünderinnen der Botschaft und Hüterinnen des Heils. Die Versammlungsorte der Gemeinden, nicht nur die Bischofskathedralen sind Gottes Haus. Das dritte Schlüsselthema des Zukunftsdialogs lautet deshalb: Wiederherstellung der fundamentalen Integrität und Autorität der Gemeinden, in deren Dienst die Kirchenleitungen stehen.
(4) Ich weiß, dass viele schon solche Thesen als zutiefst unkatholisch, vielleicht als Beginn einer neuen Kirchenspaltung begreifen. Aber diese Angst beruht auf mangelnder Geschichts- und Schriftkenntnis. Deshalb ist die prinzipielle Auseinandersetzung mit dieser Frage ebenso unverzichtbar wie ein neues Selbstbewusstsein, das uns ein angstfreies und unbefangenes Auftreten ermöglicht. Die Bischöfe hingegen müssen lernen, wie unchristlich ihre aktuellen dialogfernen Leitungs- und Lehransprüche gegenüber den „Laien“ und wie unchristlich ihre unkritische Gehorsamshaltung gegenüber Rom ist. Nur wenn sie an diesem Punkte umkehren, sich also bekehren, können sie zu einer dialogfähigen Haltung, zu intensiver Hörbereitschaft und zur notwendigen Empathie finden.
Zusammenfassend sei gesagt: Die in der Taufe Geheiligten müssen sich die innere Freiheit erarbeiten, mit gutem Gewissen für ihre Anliegen einzutreten und gegebenenfalls den Kirchenleitungen offen zu widerstehen. Ohne die Option für einen offenen (wenn auch wohlkalkulierten) Bruch mit der noch herrschenden Autoritätskultur ist kein nachhaltiger Fortschritt zu erwarten.
3. Reich Gottes – die vergessene Dimension
Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein definierten die Großkirchen die ideologischen Grundlagen der westlichen Kultur; die katholische Kirche verstand sich als „Mutter und Lehrerin der Völker“ (so Johannes XXIII. noch 1961). Seitdem driften Kirchen und „Welt“ auseinander; wir sprechen von Säkularisierung. Für unsere Fragestellung ist der Streit um Lobpreis oder Verurteilung dieser Entwicklung sinnlos. In jedem Fall verlangt das konziliare, immer noch gültige Programmwort des Aggiornamento einen Wechsel der Perspektive, den wir bis heute noch nicht hinreichend vollzogen haben. Nicht mehr die Kirche soll selbstverliebt im Zentrum unseres Interesses stehen, sondern das Heute, die Welt, die Fragen der Gegenwart. Das verlangt eine Neuorientierung des kirchlichen Lebens ebenso wie die überfällige Neuformulierung der christlichen Botschaft unter säkularen Bedingungen, wie es uns die Befreiungstheologie vorgemacht hat (vgl. den Katakombenpakt von 1965). Es geht um die neutestamentliche Unterscheidung zwischen Kirche und Reich Gottes.
In den Evangelien sind „Kirche“ und „Reich Gottes“ ja nicht deckungsgleich; sondern verhalten sich wie das Mittel zum Ziel. Hier ist vorzubereiten, was sich dort erfüllt. Wer die Gemeinschaft der Glaubenden zum Selbstzweck macht, pervertiert diese zu einem selbstgefälligen, aber nichtssagenden Unternehmen. Ohne diese Zielführung versinken die besten Dialoge in eine fruchtlose Selbstbespiegelung. Lassen Sie mich drei Gesichtspunkte nennen:
(1) „Kehrt um“, nicht weil die Kirche, sondern weil „das Reich der Himmel“ nahe ist (Mt 3,2). Kirchenreformen dienen nicht der Selbstverschönerung, sondern dazu, dass unsere Gemeinden der Welt wirklich weiterhelfen, ihr Orientierung geben, ein Stück gelungener Gemeinschaft vorwegnehmen können. Deshalb steht es einer Kirche nicht zu, sich in Sachen Partizipation oder Autorität, Sexualmoral oder Geschlechterwürde, Sakramentalität oder Heilsuniversalität Sonderkonditionen herauszunehmen. Die Frage nach der Relevanz einer Kirche und das Maß ihrer Reform lautet also: Gestalten wir das kirchliche Leben ohne Vorbehalt als Vorabbildung einer zukunftsfähigen, in sich versöhnten Menschheit? Diese Frage zielt nicht in erster Linie auf den Auftrag und das moralische Verdienst, sondern auf den Sinn und das Existenzrecht einer Kirche überhaupt.
(2) Natürlich gibt es zwischen Kirche und Reich Gottes auch kontrastierende Dimensionen; G. Lohfink spricht 1982 von einer „Kontrastgesellschaft“. Zur Sprache kommt diese vorrangig in der Bergpredigt (Mt 5,1-7,29), in einigen Gleichnissen und in der Geheimen Offenbarung. Greifen wir als Beispiel die Seligpreisungen heraus. Ich nenne hier vier hervorragende Merkmale einer auf Gottes Reich bezogenen Glaubensgemeinschaft:
– Den fundamentalen Vorrang der Beziehungsregeln Gerechtigkeit, Frieden, Gewaltlosigkeit und Barmherzigkeit, und zwar so konsequent, dass alle widerstrebenden Gewohnheiten, Theorien und Regelungen gebrochen werden.
– Die vorbehaltlose Gegenwart der Opfer (Armut, Trauer, Verfolgung) sowie die Solidarität mit ihnen: sie haben alle anderen Motivationen und Horizonte zu justieren und zu übertreffen. Wie sehr eine Wohlstandskirche davon herausgefordert wird, ist hier nicht weiter auszuführen.
– Die Zuversicht auf eine Wende der Zeiten (Trost, Sättigung, Erbarmen, Eingang ins Himmelreich), die nicht aus bloßen Erwägungen des Nutzens, der Vertröstung und rationaler Reflexionen, sondern nur aus der Leidenschaft für das Heil der Menschheit wachsen kann.
– Das reine Herz, das Gott anschaut: „Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ (Mt 18,3) Matthäus formuliert dies ausdrücklich als Reaktion auf innerkirchliche Geltungssucht, zeitgenössisch ausgedrückt: als massive Kritik an aller hierarchischen, finanz- und mediengestützten Prunk- und Geltungs-, Titel- und Karrieresucht. Es gilt nur, was den Kleinen geoffenbart wird (Mt 11,25).
Meist werden bei unseren Reformdebatten diese umfassenden (gesellschaftlichen, politischen und weltethischen) Dimensionen vergessen. Sie zielen auf unsere Leidenschaft, nicht auf festlegbare Konventionen, und eine vermeintlich unpolitische Glaubensverkündigung pflegt sie, mit denen unser Alleinstellungsmerkmal beginnt, zu verdrängen.
4. Wege und Visionen konkret
Fünfzig Jahre nach dem Konzil überlagern und potenzieren sich verschiedene Problemfelder. Dies macht alle Reformvorhaben zu einer komplexen, nahezu unlösbaren Aufgabe. Die uns bekannte „Initiative zu einem Zukunftsgespräch“ des KMF-ND schlägt ein Reformgespräch auf vier Ebenen vor. Es geht ihr um
[1] die Stabilisierung, gegebenenfalls Neuordnung der Gemeinden angesichts des Zusammenbruchs der klassischen Seelsorge,
[2] die institutionelle Stärkung und nachhaltige Belebung der geschwisterlichen Zusammenarbeit innerhalb kirchlicher Gemeinden und Diözesen, was eine Neubesinnung auf das Priestertum mit einschließt,
[3] die Neubelebung der ökumenischen Beziehungen im Geiste der Offenheit und des gegenseitigen Respekts und
[4] eine neue Sensibilität für die Welterfahrung, die Sprache und die großen Fragen der gegenwärtigen Gesellschaft.
Die Bischöfe sollten sich auf dieses Gesprächsmodell einlassen, denn es bietet zur Problemanalyse und zur Erarbeitung von Reformvorschlägen einen guten und praktikablen Ansatz. Keiner der vier genannten Aspekte sollte verdrängt werden. Ohne den Blick auf die Gemeinde geben wir uns selber auf, ohne geschwisterliche Zusammenarbeit verlieren wir alle Dynamik und Glaubwürdigkeit, ohne Ökumene schrumpfen wir zur Sekte und ohne Welterfahrung wird die Kirche sinnlos. Wir müssen also strukturiert, aber komplex handeln. Im Folgenden seien nur zwei Aspekte herausgegriffen.
4.1 Status der Gemeinden
Von alters her ist die christliche Gemeinde (genauer gesagt: die umfassende Gemeinschaft der Gemeinden) die letzte und die entscheidende Instanz, in der sich die christliche Botschaft immer neu verleiblicht. Streng genommen werden Reformgespräche deshalb nicht zwischen Basis und Hierarchie geführt, sondern – selbstverständlich unter Beteiligung der Kirchenleitungen – innerhalb der Gemeinden bzw. innerhalb umfassender Glaubensgemeinschaften. Solange kein Konsens mit der Gemeindebasis entsteht, kommt deshalb auch keine nachhaltige Reform zustande, denn Gemeinde- und Kirchenleitungen sind in erster Linie Teil dieses Kirchenvolkes; sie haben den Gemeinden Rede und Antwort zu stehen. Zur Debatte stehen zunächst die unveräußerlichen Rechte und Pflichten der Gemeinden nach innen und nach außen, sowie die angemessene Zuordnung der Gemeinde- und Kirchenleitungen. Dieser biblische Standpunkt bricht nicht, wie oft behauptet wird, die katholische Tradition, sondern restituiert sie, wie es z.B. noch die urdemokratischen Grundordnungen des Benediktiner- und des Dominikanerordens zeigen. Basis einer jeden christlichen Kirchenreform sind die Selbstverantwortung und die Eigeninitiative in den Gemeinden und in deren Gruppierungen. Diese Selbstverantwortung ist zu stärken, durch Schulung und Anerkennung zu fördern. Unbeschadet ihres eigenen Gewissensspruchs handeln Gemeinde- und Kirchenleiter im spezifischen Auftrag ihrer Gemeinde und nach Maßgabe von deren Glaubensverständnis.
Natürlich lebt keine Gemeinde für sich, sondern immer in einer komplexen Beziehung zu anderen Territorial-, Projekt-, Personalgemeinden, geistlichen Gemeinschaften und überregionalen Organisationen. Daraus ergeben sich immer differenzierte Aufgabenteilungen und Formen der Zusammenarbeit. Aber unbeschadet aller Teildifferenzierungen in solche regionale und überregionale Funktionen können elementare Gemeindefunktionen weder ausgelagert noch geteilt werden. Das gilt für die Gemeindeleitung sowie für die Kernfunktionen von Zeugnis, Liturgie und Diakonie. Die Gemeinde der an Christus Glaubenden ist die elementare Ur- und Lebenszelle einer christlichen Kirche; ihre Integrität und Lebensfähigkeit hat oberste Priorität. Sie ist Ort der – in Gemeinschaft vollzogenen – Nachfolge, jesuanischer Erinnerung und messianischer Hoffnung, des Brotbrechens und der Verkündigung. Sie ist ferner der dynamische Knotenpunkt einer jeden umfassenden Glaubensgemeinschaft. Deshalb müssen auch in katholischen Gemeinden wieder synodale Gesprächs- und Entscheidungsverhältnisse aufleben. Sofern Bischöfe diese fundamentale Integrität von Gemeinden nachhaltig vernachlässigen oder zerstören, verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit und Entscheidungsautorität. In solchen Fällen sind konstruktiver Widerstand und Ungehorsam angezeigt.
4.2 Entklerikalisierung kirchlicher Ämter
Zur massiven Klerikalisierung katholischer Ämter gehören eine verselbständigte und machtbezogene Autorität, ein unfehlbarer Lehranspruch, sakralisierte Funktionen und ein isoliertes Elitebewusstsein. Sie haben die Kirche in eine Sackgasse geführt, aus der im Augenblick alle Auswege abgeschnitten sind. Angesichts des Priestermangels werden die Gemeinden in Geiselhaft genommen und zu Sklaven eines schriftwidrigen Amtsmodells gemacht. Dies widerspricht dem selbstverständlichen Recht einer jeden Gemeinde auf
[1] eine gemeindenahe Gemeindeleitung und
[2] die wöchentliche Feier der Eucharistie.
Schon Justin zitiert einen Christen, der sagt: „Ohne Herrenmahl können wir nicht leben“, und nicht, wie K. Lehmann in einem Hirtenbrief suggeriert: „Ohne Sonntag können wir nicht leben“. Deshalb fällt beim gegenwärtigen, durch die Hierarchie verschuldeten Priestermangel das Recht auf die wöchentliche Eucharistiefeier an die betroffene Gemeinde zurück, denn nicht sie hat den langfristigen Priestermangel zu verantworten. Die Notlösung einer Kommunionfeier mit importierten Hostien ist auf Dauer nicht tragbar.
Seit dem 13. Jahrhundert wurde die Erfahrung des Heiligen massiv verdinglicht und seit der Reformation zum Privileg der katholischen Kirche hochstilisiert. Personen wurden in wachsendem Maße sakralisiert und Sakramente in die Nähe magischer Riten gerückt. Vor diesem Hintergrund ist die Gemeinschaft der Kirche zu einem Ständesystem von Klerikern und „Laien“ degeneriert. Dies widerspricht der Taufe aller, der Ausgießung des Geistes über alle und dem Bekenntnissatz von der Heiligen und Apostolischen Kirche. Nach wie vor treten die sakralisierten Amtsträger als Verteidiger dieses Missstands auf. In Wort und Tat ist dem zu widerstehen. Zu den minimalen Erfordernissen gehören die interkonfessionelle eucharistische Gastfreundschaft und die Möglichkeit für verheiratete Priester bzw. Priesterinnen (erneut) ein Amt der Gemeindeleitung zu übernehmen. Wiederverheiratete Geschiedene sind zu den Sakramenten zuzulassen und alle Verdikte gegen Homosexuelle sind aufzuheben.
Insbesondere ist über das „kirchliche Amt“ nachzudenken. Es meint primär die Funktion der Gemeindeleitung, in das eine Person (nach Wahl oder Akklamation) eingesetzt wird. Zur Debatte steht dabei nach altem Rechtsverständnis keine „Konsekration“ (= Weihe), sondern die „Ordination“ (= Anstellung). Nach altkirchlichem Verständnis ergibt sich das Recht zum Vorsitz bei der Eucharistiefeier aus der Gemeindeleitung, nicht umgekehrt. Zumal in der gegenwärtigen Notsituation hat jede Gemeinde das Recht und die Pflicht, geeignete Gemeindeleiter/innen zu suchen, nach strengen Maßstäben zu prüfen und dem Bischof zur Ordination vorzutragen. Umgekehrt steht es dem Bischof nicht zu, eine solche Ordination aus sachfremden Gründen zu verweigern. Die vorgetragene Position schließt den genuinen Leitungsauftrag einer (gewählten) Diözesanleitung nicht aus, sondern macht mit ihm ernst. Im Auftrag der Gemeinden hat die Diözesanleitung für deren (spirituelles) Wohl, für den gegenseitigen Austausch nach innen und die Eintracht nach außen zu sorgen. Die hier vorgetragene Kritik zielt nicht auf die innere Schwächung kirchenleitender Funktionen ab, sondern reagiert auf das unverständliche und weltweite Versagen der Bischöfe in ihrer Sorge für das geistliche Wohl der Gemeinden. Bei hartnäckiger Uneinsichtigkeit verlieren sie alles Recht auf ihre bischöfliche Autorität.
4.3 Noch einmal: Gottes Reich
Wie schon ausgeführt, degeneriert jede Reformdebatte ohne Aggiornamento zum Glasperlenspiel. In einer säkularisierten Gesellschaft hat die Kirche nur dann Zukunft, wenn sie deren Fragen und Erwartungen im Sinne der Botschaft Jesu ernst nimmt. Deshalb hat jede Gemeinschaft von Glaubenden ihr Handeln an der biblischen Vision der Gerechtigkeit auszurichten. Sie schließt Humanität, Barmherzigkeit, den Willen zu Solidarität und Versöhnung ein (die Befreiungstheologie spricht von der „Option für die Armen“). Christliche Gemeinden überzeugen nur als zur Welt und deren Nöten hin offene Gemeinschaften, die andere Kirchen, Religionen und Weltanschauungen geschwisterlich anerkennen.
In diesem Sinn muss sich auch die katholische Kirche – Voraussetzung für jede weitere Reform – dem allgemeinen Rechtsbewusstsein einordnen, wie es in den bekannten Menschenrechtskonventionen und im wachsenden ethischen Bewusstsein der Weltreligionen zum Ausdruck kommt. Sie kann dieses Rechtsbewusstsein im leidenschaftlichen Einsatz für eine Welt in Frieden und Versöhnung konkretisieren. Sie fügt ihm die Überzeugung hinzu, dass der Kampf um Frieden und Gerechtigkeit in Gottes Güte Sinn und Erfüllung findet. Gelingt es uns also wirklich und wirksam, die Botschaft Jesu in die Sprache der Gegenwart zu übersetzen?
5. Zum Ort und zur Realisierung des Dialogs
Ein innerkirchlicher Dialog, der auf ein bürokratisches Planspiel reduziert wird, würde die Polarisierung nur noch verschärfen. Aus pragmatischen und theologischen Gründen ist der Zukunftsdialog öffentlich zu führen. Er muss besonnen vorbereitet und an exemplarischen Orten erprobt werden. Wenn ein solcher Dialog gelingt, verändert er unser Bewusstsein und führt uns in kürzester Zeit (unter Ausschluss aller verbalen oder physischen Gewalt) in eine prä-revolutionäre Situation. Gelingt er nicht, bringt er die katholische Kirche des Westens dem Charakter einer Großsekte ein Stück näher. Wie also können wir einen solchen Dialog kreativ anpacken und sinnvoll begleiten? Ich greife auf eine Erklärung aus dem Jahr 1972 zurück, die fünf Schritte vorschlägt:
1. Nicht schweigen:
Mit Freimut und unbefangen sorgen wir in Bund und Gemeinden für die intensive öffentliche Diskussion der anstehenden Fragen. Dabei schließen wir die Entscheidungsträger und –gremien vor Ort, in Regionen und Bistum nicht aus. Aber in erster Linie vertrauen wir auf die Botschaft Jesu und den Geist der Gemeinde.
2. Selber handeln:
Wir nehmen in Bund und Gemeinden die anstehenden Fragen selbst in die Hand, so wie es sich aus der jeweiligen Situation ergibt. Nur aus dem ständigen Experiment kann Erneuerung wachsen.
3. Gemeinsam vorgehen:
Im Streit um die Zukunft führen wir in Bund und Gemeinden offene Debatten, lassen uns aber nicht auseinanderdividieren. Vielmehr planen wir gemeinsam; insbesondere fördern wir die Initiativen und Ideen der Jüngeren unter uns.
4. Zwischenlösungen anstreben:
Wir vermeiden ideologische Grabenkämpfe. Stattdessen planen wir eine Fülle von kreativen und klugen Einzelschritten, ohne das Endziel zu vergessen. Vorbehaltloser Widerstand und Ungehorsam können bei der Zerstörung von Gemeinden geboten sein.
5. Nicht aufgeben:
Zu verzweifeln gibt es keinen Grund; Erneuerungen gibt es weltweit, denn der Geist Christi ist allenthalben am Werk, wo die Gemeinschaft der Glaubenden an die ihr eigene, von Christus verliehene apostolische Vollmacht glaubt: „Siehe, ich mache alles neu!“ (Apk 21,5).
(Erschienen in Hirschberg 64/Jun 2011, 375-382)