Sensibilität für die Wahrheit?

Zur virtuellen Rede des Papstes an der Sapienza in Rom

I. Außerhalb des Christentums kein Heil?

Für die „Universität Rom I“, genannt „Sapienza“, sollte der 17.1.2008 zu einem glanzvollen Ereignis werden. Benedikt XVI. war dazu eingeladen, an dieser größten Universität Europas das akademische Jahr mit einer feierlichen Rede zu eröffnen. Aber linksgerichtete Studentengruppen protestierten laut und 67 Professoren unterstützten den Protest in einem Brief an den einladenden Rektor. Im Vergleich zu den ca. 4500 Dozenten der Universität ist das eine verschwindende Minderheit. Aber in der Öffentlichkeit erhielt der Protestbrief bald symbolischen und polarisierenden Charakter. Insider wollten nicht ausschließen, dass bis zu 50 % der Lehrenden mit dem Brief sympathisierten. Doch in der Öffentlichkeit schlug die Stimmung um. Nach vielfältigen und heftigen Sympathiebekundungen für den Papst sowie nach standing ovations auf dem Petersplatz solidarisierten sich wiederum 1463 angesehene Professoren aus dem ganzen Land mit der inzwischen überholten Protestaktion. Ihr Brief endete mit den höhnenden Worten: „Ich verkünde Euch eine große Freude: Wir [also: die Wissenschaften] haben KEINEN Papst.“ Man konnte diese Emotionen erwarten, denn in Italien herrscht seit 1870 eine unversöhnliche laizistische Kultur, die zumal in intellektuellen Kreisen zu Hause ist. Aber könnten sich nach gut 130 Jahren die Wogen nicht endlich glätten? Der Papst, der schon vor 40 Jahren lästigen Demonstrationen aus dem Wege ging, sagte seinen Besuch leider ab und übermittelte seine Rede dem Universitätsrektor schriftlich. Inzwischen ist sie im Internet zugänglich. Sie hat nicht viel Beachtung gefunden, aber ein virtuelles Gespräch kann beginnen.

Um es vorweg zu sagen: Der Text bestätigt die traditionellen laizistischen Befürchtungen nicht und dem päpstlichen Plädoyer für eine unerschütterliche ‚Wahrheits-Sensibilität’ können alle nur zustimmen, denen am Wohl unserer Gesellschaft gelegen ist. In einer demokratischen Gesellschaft, so der Papst im Anschluss an den Gesellschaftsphilosophen Jürgen Habermas und den Moralphilosophen John Rawls, sind alle Partner des öffentlichen Gesprächs zur rationalen Argumentation gezwungen. Sie sind also aus Respekt voreinander und um des gemeinsamen Wohles willen auf Wahrheit verpflichtet. Da sie in einem demokratischen System aber alle um Gehör und Einfluss kämpfen müssen, wird ihre ‚Wahrheits-Sensibilität’ unweigerlich von einer ‚Interessen-Sensibilität’ überlagert. Das ist nicht ungefährlich. Deshalb müssen neben den Parteien und Interessengruppen auch Instanzen zu Gehör kommen, die ausschließlich der Wahrheit verpflichtet sind.

Zu diesen Instanzen gehört die Universität. Wie aber kann sie eine solche Aufgabe verwirklichen? An diesem Punkt reagiert der Papst mit Vorsicht: ‚So kann auch ich an dieser Stelle nicht eigentlich eine Antwort anbieten.’ Er lädt die Universität dazu ein, ‚mit dieser Frage unterwegs zu bleiben’ und eine bleibende Unruhe zu behalten. Diese Zurückhaltung überzeugt umso mehr, als der Papst auch die hochkomplexe und gefährdete Situation zeitgenössischer Forschungsinstitutionen vor dem Hintergrund ihrer langen Geschichte anspricht. Der Menschheit hat sich ‚ein ungeheures Maß von Wissen und Können erschlossen; auch Erkenntnis und Anerkenntnis von Menschenrechten und Menschenwürde sind gewachsen, und dafür können wir nur dankbar sein.’ Dadurch aber ist ‚der Absturz in die Unmenschlichkeit nicht einfach gebannt.’ Interessendruck und Nützlichkeitsfragen können alle Wissenschaften einschließlich der Philosophie überrollen. Benedikt XVI. ist sich der Krise der Gegenwart schon lange bewusst. Schon in den 1960er Jahren hat er sie thematisiert.

Es verwundert deshalb nicht, dass der Papst an diesem Punkt die für ihn unverzichtbare Aufgabe des christlichen Glaubens einbringt: Eine Philosophie, so der virtuelle Redner, die sich von ihren eigenen Quellen abschneidet (und das ist nach ihm die Weisheit des christlichen Glaubens), verdorre ‚wie ein Baum, dessen Wurzeln nicht mehr zu den Wassern hinunterreichen, die ihm Leben geben.’ Eine Kultur aber, die ‚sich aus Furcht um ihre Säkularität von den Wurzeln abschneidet, von denen sie lebt,’ wird ‚nicht vernünftiger und reiner, sondern zerfällt’. Diese kulturpessimistische Sicht, in die Benedikt hier die Universitäten mit einbezieht, hat Ratzinger schon vor Jahren in seinem bekannten Aufsatz zu Europa entwickelt. Nicht dass er dem christlichen Glauben eine ‚reinigende’ Funktion zuschreibt, ist diskussionswürdig, sondern dass er der westlichen Kultur Furcht um ihre Säkularität unterstellt. Er vergisst, welche Mühe es dem rationalen Denken der Neuzeit kostete, sich der Bevormundung durch Kirchen und durch religiös legitimierte Staaten zu entziehen. Er vergisst, dass die Rationalitätskritik, der sich Ratzinger schon lange verschrieben hat, ein Kind säkularen, nicht religiösen Denkens ist. Säkularität ist keine Folge der Flucht von Religion, sondern einer komplexen Interaktion, aus der christliche Glaubenspraxis ebenfalls ihren Nutzen gezogen hat.

Vor dem beschriebenen Hintergrund betrachtet der Papst es als seine Aufgabe, die ‚Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten und Jesus Christus wahrzunehmen als Licht, das die Geschichte erhellt und den Weg in die Zukunft zu finden hilft.’ Wer wollte ihm in einem Augenblick widersprechen, da allenthalben von der Renaissance des Religiösen die Rede ist? Nur hätte er auch hier seinen Appell ergänzen sollen. Im Interesse der Zukunft müssen die christliche Botschaft, religiöse Offenheit und wahrheitsliebende Rationalität einander akzeptieren und kooperieren. Jede einseitige Priorität birgt die Gefahr einer neuen Katastrophe. Für Benedikt XVI. gilt: Außerhalb des Christentums kein Heil. Zu sagen wäre: Außerhalb eines angstfreien und weltweiten politischen, religiösen und rational gesteuerten Dialogs keine Zukunft.

II. Vorgeschichten als Hypothek und als Warnung

Die Vision des Papstes ist relativ eindeutig; ihm selbst kommt darin eine Schlüsselfunktion zu. Er wirbt dafür nach besten Kräften und effektiv, bis hin zu seiner Rede vom 19. April 2008 vor der UNO. In seiner virtuellen Universitätsrede sind dazu keine neuen Ansätze zu finden. Interessanter scheint mir am vorliegenden Dokument nicht diese Botschaft an sich, sondern die Frage: Wie teilt der Papst diese Botschaft seinen Zuhörern mit, welche Mittel setzt er ein und warum gibt er den Zeitgenossen so viele Rätsel auf (Häring 2007) [1]? Hinzu kommt die Frage: Warum hat der geplante Papstbesuch an der Sapienza für so viele Irritationen gesorgt, bevor auch nur ein Wort der geplanten Rede bekannt war? Warum reagierte Roms akademische Community, die mit Roms päpstlichen Universitäten doch viele Beziehungen unterhält, so abweisend?

Zunächst konnte auch ich die Aversionen nicht verstehen, aber inzwischen habe ich dazugelernt. Auch in Rom ist dieser freundliche Papst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Nicht vergessen ist der offizielle Antrittsbesuch des Papstes beim italienischen Staatsoberhaupt (24.6.2005), genau zehn Tage nach der gescheiterten Volksabstimmung zu Fragen der Stammzellenforschung und künstlichen Befruchtung. Mit Erfolg hatte die katholische Kirche damals zum Abstimmungsboykott aufgerufen und indirekt verteidigte der Papst jetzt dieses Vorgehen auf den Stufen zum Quirinal[2]. Als Christ mochte er dafür ja seine Gründe haben, sagte sich die italienische Elite, aber als vatikanisches Staatsoberhaupt hatte er damit seine Befugnisse überschritten. Man kann nicht als moralisches Gewissen auftreten und zugleich die Privilegien eines Staatsoberhaupts genießen wollen, – eine Kombination, in der schon sein Vorgänger ein Meister war. Hinzu kamen die Irritationen zu Gewalttätigkeit des Islam, die der Regensburger Auftritt (12.9.2007) auch in Italien hinterließ. Schließlich erklärte er in seiner Ansprache von Apparecida (Brasilien), die Eingeborenen hätten sich im Stillen nach dem Erlöser gesehnt[3].

Doch dies waren nicht die entscheidenden Motive, denn nördlich der Alpen verwies die Presse kaum auf den Grund, den die 67 Kritiker in ihrem Brief nannten. Sie erinnerten an eine Äußerung von Kardinal Ratzinger in Parma. Ähnlich wie in Regensburg führte er auch damals die Äußerungen Dritter ein, nämlich von E. Bloch, C. F. von Weizsäcker und P. Feyerabend, der die Verurteilung Galileis vom Jahre 1632 rechtfertigte (Feyerabend 1976, 206)[4]. In welchem Sinn sich Ratzinger damals mit dem Zitat identifizierte, blieb – Regensburg vergleichbar – umstritten. Was stand zur Diskussion? Wie bekannt, behauptete Galilei als Astronom, die Erde drehe sich um die Sonne. Was sollte heute daran falsch sein? Offensichtlich dachte Ratzinger sofort an die Symbolik dieser Aussage, die seitdem durch die Köpfe der humanistisch Gebildeten geistert: Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt des Kosmos. Seitdem, so Ratzingers Antwort, ist aber auch die Sonne samt Kosmos in Bewegung geraten. Streng genommen ist also auch Galileis Vorstellung von einem stabil stehenden Fixstern überholt. Können wir nicht zur alten Symbolik zurückkehren, die Ratzinger ‚human’ und ‚christlich’ nennt und die besagt: Der Mensch steht im Mittelpunkt von Gottes Heilsplan. Vor diesem Hintergrund können wir Blochs Aussage durchschauen, die sich Ratzinger zu eigen machte. Ratzinger zitiert: ‚Nachdem die Relativität der Bewegung außer Zweifel steht, hat ein humanes und ein älteres christliches Bezugssystem zwar nicht das Recht, sich in die astronomischen Rechnungen und ihre heliozentrische Vereinfachung einzumischen, wohl aber hat es das eigene methodische Recht, für [sic!] die Zusammenhänge der humanen Wirklichkeit dieser Erde festzuhalten und die Welt um das auf der Erde Geschehene herumzuordnen.’[5] Solcher Anthropozentrik mag man ja zustimmen, aber mit Galileis Verurteilung hat das nichts mehr zu tun und die Inquisitionsbehörde kann sich damit nicht rechtfertigen.

Auch hier schien Ratzinger nur die halbe Wahrheit zu sagen und die entscheidende Hälfte zu verschweigen. Zur eigenen Verteidigung hob er das Sekundäre hervor, das Primäre verschwieg er[6]. So ist der entschiedene Widerspruch der Wissenschaftler begreiflich. Man will an einer Universität keinen Papst, der Galilei noch immer verurteilt. Dem ‚und sie bewegt sich doch!’ ist kein ‚und er behält doch recht’ gegenüberzustellen. Es wäre dem Papst ein Leichtes gewesen, die Sache durch einen klaren Verweis auf Galileis Rehabilitation vom 2.11.1992 zurechtzurücken und bleibende eventuelle Missverständnisse auszuräumen. Aber auf seine missverständliche Deutung wollte er wohl nicht verzichten. So gesehen hat seine Absage des Besuchs seinen Kritikern recht gegeben.

Hinzu kommen natürlich die besonderen Erinnerungen der Stadt Rom, mit der das Papsttum lange Zeit kein freundschaftliches und ein sehr schmerzhaftes Verhältnis verband. Auf dem Campo di Fiori steht seit 1889 das Denkmal des 1600 auf dem Scheiterhaufen verbrannten, bis heute noch nicht voll rehabilitierten Giordano Bruno. Gewiss, über seine pantheistischen Ideen lässt sich heute noch streiten. Warum aber bleibt er mit dem Makel des Ketzers behaftet, obwohl der Vatikan im Jahr 2000 das Unrecht der Verbrennung einräumte? Jedenfalls ist immer noch sein Wort lebendig: ‚Mit mehr Angst verkündet Ihr das Urteil, als ich es entgegennehme.’ Erinnern wir uns zudem an die prekäre Konfliktgeschichte eines Landes, das bis 1870 einen Kirchenstaat kannte. In vielen Städten Mittelitaliens prangen noch heute die Gedenktafeln, die jubelnd das Ende der potere mitrate, also der klerikalen Staatsmacht von 1870 verkünden; die Bewohner erzählen noch immer Beispiele einer zuletzt unmenschlich harten Machtausübung.

In dieser schwierigen Situation, über die der Vatikan leider zu wenig redet, liegt nun eine virtuelle Rede vor, die schon vor ihrem Erscheinen umstritten ist und ungute Erinnerungen wach ruft. Weiterhelfen kann nur eine sorgfältige Textanalyse, die die genannten Hintergründe einbezieht und die Frage stellt: Wie wirkt diese Rede auf ihre Adressaten? Ratzinger selbst bittet bei seiner Kritik einmal ‚um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt’ (Ratzinger 2007, 22). Allerdings haben auch Kritik und Unverständnis der Adressaten Recht auf Sympathie. Mit dieser doppelten Zuneigung und Vermittlung versuche ich den Text zu verstehen und einigen Nuancen auf die Spur zu kommen, die man meistens übersieht. Wie also geht der Papst mit der Hypothek dieser schwierigen Vergangenheit um? Was hat er in dieser nicht gehaltenen Rede wirklich übermittelt und was hat er in den Augen der Zuhörer verschwiegen? Hätte diese Rede zu einem kommunikativen Ereignis werden können?

III. Ohne Erinnerung keine Begegnung

Wie also kann ich zwischen dem Redner und seinen Zuhörern vermitteln? Was sind die verschiedenen, die verborgenen und die offenen Stimmen oder Impulse, die sich im Text bisweilen widersprüchlich versammeln? Wie werden sie von den Hörerinnen und Hörern auf Grund ihrer je eigenen Erinnerungen und Erfahrungen wahrgenommen? Ich versetze mich in die Lage der virtuellen Hörer und überlasse es den Lesern, das Gewicht ihrer Reaktionen selbst zu ermessen. Nennen wir sie Maya, Luca und Florian.

Dozentin Maya, die dem Papst aufmerksam zuhört, ist Kommunikationswissenschaftlerin und an Fragen der Rhetorik interessiert. Sie staunt enorm über den professoralen Schreib- und Redestil des Papstes, – echt deutsch, aber an Kommunikation interessiert? Schlag um Schlag eröffnet er einen breiten, abstrakten Horizont nach dem andern; sie kann dieser Fülle kaum folgen. Benedetto, dieser gelehrte Mann, zitiert den amerikanischen Moralphilosophen John Rawls ebenso wie seinen früheren deutschen Gesprächspartner Jürgen Habermas. Er nennt einen Papst aus dem 13. Jahrhundert, Bonifatius VIII., als Gründer ihrer Universität, außerdem Sokrates, den fernen Urphilosophen unserer Kultur sowie einen Eutyphron. Er spricht recht global vom Mittelalter und noch globaler von der so vielfältigen Neuzeit, geradezu mythisch von der Rationalität und der ‚moralischen Vernunft’, ganz allgemein von der Wissenschaft und der Philosophie, von Theologie und Religion, vom Wesen und von den Aufgaben des Papsttums und der Universität an sich, dies alles in 25 Minuten.

Was mag er sich unter diesen Begriffen vorstellen, die sie für sich erst füllen muss? Zugleich weist Benedetto darauf hin, dass er, der gelehrte Amtsträger, hier viele angeschnittene Fragen gar nicht beantworten kann oder will. Zum Papsttum muss ein ‚kurzer Hinweis’ genügen; zur ‚gewaltigen Frage’ nach dem Wesen der Universität sei, versucht er ‚im Telegrammstil’ nur einige Bemerkungen; den mittelalterlichen Disput zu Theorie und Praxis braucht er ‚nicht aufzurollen’ (warum eigentlich nicht?); zur Aufgabe von Philosophie und Theologie will er keine Antworten anbieten, dabei hätte sie genau das interessiert. Von all dem versteht Maya nicht viel. Und wie sie später hörte, ging es ihrem Kollegen Flirian, dem Philosophen aus Österreich, nicht viel besser, obwohl er doch alles verstehen müsste. Für die beiden verbreitet der Text den Eindruck, dass ihm nur wirklich Wissende folgen können. Muss man 20 Jahre studiert haben, um einen Papst zu verstehen, oder umgekehrt: Müssten sich so gescheite Leute nicht besser mitteilen können?

Natürlich weiß Maya um die Stärke solcher Kurznennungen. Im Disput führen sie zu einer unwiderlegbaren Position, denn notfalls kann der Redner immer wieder einen Gedanken nachschieben: ‚Das habe ich so oder so gemeint.’ Jede Interpretation könnte er Lügen strafen, weil er das Angedeutete vielleicht anders versteht oder anders deuten kann. Doch könnten oder möchten Maya und Florian, wie sie bald bemerken, überhaupt in eine Debatte eintreten? Dieser Stil der flüchtigen Hinweise erstickt für sie jedes Gespräch im Keim. Mehr noch, im Grund fühlen sie sich überhaupt nicht angesprochen, weil alles nur angedeutet, nur halb gesagt und in eine verschlüsselte Sprache verpackt wird. Wichtiges wird häufig in Nebensätzen versteckt. Selbst ältere Kollegen sprechen an ihrer Universität diese Sprache nicht mehr. Ein solcher Stil schafft Abstand zu den Adressaten, die sich nicht ernstgenommen fühlen; das bringt Maya jedenfalls ihren Studenten bei. Er wird, zu oft angewendet, zur nichtssagenden Attitüde.

Frlorian, der bedachte Philosoph, widerspricht ihr. Denn darauf angesprochen könnte der Papst sich leicht verteidigen: ‚Bleibt mir in der gebotenen Kürze überhaupt eine andere Möglichkeit als die Zusammenhänge nur kurz anzudeuten?’ Aber Maya kommen Zweifel an diesem Argument, denn wie ihr Freund, der Soziologe Luca erzählt, haben selbst Kritiker schon an der Regensburger Rede bewundert, wie souverän der Papst auch auf engstem Raum die Regie der Gedanken führt und wie zielsicher er zu seinen Zielen kommt (Graf 2006). Führt er also die Zuhörer oder verführt er sie mit seiner berauschenden Sprache? Andere aber – auch das hörte er – teilen dieses Lob nicht, denn diese Kunst hoher Gedankenführung hat eine gefährliche Kehrseite. Modernen Trassenführungen vergleichbar, so berichtet Luca, führe Benedetto seine Viadukte in luftarme Höhen und treibe zugleich dunkle Tunnelstiche voran, deren Richtungsänderung sich kaum verfolgen lässt. In der Tat, viele seiner Behauptungen bleiben in dieser Rede vage oder unbegründet; manche Argumente scheinen aus den 1950er Jahren zu stammen.

Leider bleibt zur Diskussion der offenen Fragen kaum eine Gelegenheit. Wie schön wäre es gewesen, wenn der ehemalige Professor sich eine Stunde für eine Seminarsitzung oder ein klärendes Gespräch reserviert hätte. Schon in Regensburg habe dieser Schnelltrip durch die Weltgeschichte ja zu fatalen Folgen geführt, so Luca, und jetzt ist es wieder so: Die kirchlichen Insider und die politisch Versierten unter seinen Kollegen nehmen Schlüsselaussagen ganz anders wahr als eine Studentin vom ersten Studienjahr, unbefangene Ersthörerin, die dem strahlenden Glanz der Worte erliegt, ganz anders wiederum als der arabische Kollege für Friedensforschung, der eine hübsche literarische Anspielung als pure Provokationen empfand. Das ist nur möglich, weil Benedetto immer in erhabenen Worten spricht, pontifikal eben. Auch nachhaltige Analysen, so las Luca in einer deutschen Zeitung, führten nach Regensburg gerade zu keinem Einverständnis, sondern zu unlösbaren Unklarheiten. Die Folge war eine spätere autorisierte deutsche Ausgabe mit 30 Veränderungen und 13 neuen Anmerkungen. Maya hat das Gefühl, dass auch diese virtuelle Rede mit Fußangeln gespickt ist. So steht die päpstlich-professorale Sprachkunst den klaren Gedanken vielleicht im Wege. Vielleicht will Benedetto aber so allgemein bleiben, damit man ihn nicht festlegen kann. Vor allem den Linken hat er, wie man weiß, nie richtig getraut, gleich, ob sie sich in der Kirchen- oder in der Gesellschaftspolitik, in Lateinamerika oder an Universitäten engagierten.

Dafür finden die drei gleich mehrere Beispiele. Schon in der captatio benevolentiae zu Beginn seiner Rede sagt der Papst: ‚Schon seit Jahrhunderten prägt diese Universität den Weg und das Leben der Stadt Rom, indem sie in allen Wissensgebieten die besten intellektuellen Kräfte Früchte tragen lässt’; bis in die Gegenwart habe sie ‚ein hohes wissenschaftliches und kulturelles Niveau bewahrt’. Das kann Luca nicht richtig verstehen. Er hat sich mit der römischen Universitätsgeschichte etwas beschäftigt und der tiefe Bruch vom Jahr 1871 ist ihm nicht verborgen geblieben. Hält der Papst nun die ersten Jahrhunderte päpstlicher Obhut oder die vergangenen 130 Jahre säkularen Denkens für gut? Beides kann nicht der Fall sein. Überdies stellt der Papst fest, die Kirche von Rom habe dieses Universitätszentrum ‚von jeher … mit Sympathie und Bewunderung betrachtet’. Von jeher?, fragt sich Ideologiekritiker Florian: Was bezweckt Benedetto mit dieser Aussage? Will er – wohl gegen die überwiegende Meinung der aktuellen Universitätsgemeinschaft – die Ehre der damaligen päpstlichen Universität nun doch retten, koste es, was es wolle? Legt er indirekt also gegen das säkularisierte Wissenschaftsverständnis der neu gegründeten Universität Widerspruch ein? Manche im Vatikan möchten das wohl so interpretieren. Will Benedetto vielleicht die gegenwärtigen Grundüberzeugungen einer autonomen Institution akzeptieren, ohne die vorhergehenden Konzepte einfach zu diskreditieren? Wahrscheinlich will er beides zugleich, lässt aber die Problemlinien im Dunkeln. Dabei hätte er zur Klärung bestimmt das eine oder andere Beispiel nennen können. Damals gab es schon kritische Wissenschaftler und jetzt kirchlich gesonnene Kollegen, warum eigentlich nicht? Er hätte auch sagen können, dass die Kirche sich noch gewaltig ändern muss, wenn sie im 21. Jahrhundert mithalten will. Vorerst aber bleiben die drei ratlos.

Mit seinen historischen Interessen bleibt Luca – zusammen mit dem Philosophen Florian – bei der Behauptung hängen, die einst päpstliche Universität sei heute ‚eine säkulare Universität mit der Autonomie, welche von ihrer Gründungsidee her immer zum Wesen der Universität gehörte, die allein der Autorität der Wahrheit verpflichtet sein soll.’ Auch diese Bemerkung verwirrt. Wahrscheinlich will Benedetto das Wissenschaftsstatut der gegenwärtigen Universität bejahen, zugleich tut er so, als sei schon die Vorgängerin zu Zeiten des Kirchenstaates autonom gewesen. Aber um glaubwürdig zu sein, findet Luca, müsste der Papst in Kritik und Selbstkritik zumindest daran erinnern, mit welcher Härte seine Kirche zu Zeiten der päpstlichen Sapienza den Gedanken der Autonomie verabscheute und welche Schwierigkeiten sie bis heute noch damit hat. Unter Katholiken war der Begriff der Autonomie noch vor fünfzig Jahren verpönt und Rom hat die europäische Charta des Menschenrechte bis heute nicht unterzeichnet. Maya denkt an die Berichte ihres Opas aus den Niederlanden. Nach ihm wird dort seit 2005 die Autonomie der niederländischen katholischen Fakultäten systematisch zerstört. Der Papst muss davon wissen. Kann sein Plädoyer für die Autonomie glaubwürdig sein? Eine faire und selbstkritische Gedankenführung hätte also doch einiger Kurven und Talfahrten bedurft. Deshalb befürchtet Luca, dass der Papst einer jeden konkreten, auch jeder virtuellen Begegnung mit Fragen und Gegenfragen ausweicht.

Ähnliches empfindet Florian bei Benedettos Worten zu Thomas von Aquin. Der Papst präsentiert dessen Werk als eine geglückte mittelalterliche Synthese zwischen Erkennen und Vernunft. Darauf war die katholische Theologie schon immer stolz und Maya erzählt, ihr Opa habe bei den Jesuiten die Philosophie genauso gut studieren können wie seine Freunde an staatlichen Universitäten. Aber was will Benedetto im Jahr 2008 damit sagen? Warum spricht er mit Florians Kollegen nicht darüber, wie tiefgreifend sich in der Neuzeit, gar in der Spätmoderne die Ausgangspunkte verändert haben? Wie kann er Thomas loben, dem doch auch die Inquisition auf den Leib gerückt ist? Dann fragen Luca und Florian noch, was denn eine ‚säkularistisch verhärtete[n] Vernunft’ sein soll. Sie staunen nicht schlecht, als Benedetto die sokratische Mythenkritik einen vorbildlichen Vorgang nennt. Schließlich blieb ihnen – vielfach illustriert – im Gedächtnis, dass die Kirche Kritik im Namen der Vernunft überhaupt nicht liebt. Auch darüber hätte der Papst doch einiges sagen können.

Florian engagiert sich intensiv in seiner Pfarrei. Deshalb erregt er sich darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit Benedetto das Amt des Papstes zwar vom römischen Bischofsamt herleitet (das findet er sympathisch), es aber im selben Atemzug auf eine Sprecherfunktion nach außen verkürzt (gäbe es innerhalb nicht genug zu regeln?) und zugleich behauptet, er präsentiere gegenüber der Menschheit die ‚Stimme der moralischen Vernunft’. Das nennt er ein ‚stolzes’, vielleicht sogar ein überzogenes Wort. Gewiss, viele seiner Mitchristen möchten diesem Gedanken zustimmen, denn Verteidiger der Vernunft sind bitter nötig; auch der Dalai Lama übt sich in dieser Funktion. Aber auch kirchlich engagierte Kolleginnen und Kollegen nehmen dem Papst diesen Anspruch nicht ab, solange er selbst seine absolutistische Amtsführung nicht aufgibt. Und was doch alle schon empirisch sehen können: Faktisch und unbeschadet seines universalen Amtes spricht der Papst weder für die christliche Glaubensgemeinschaft an sich noch für die Mitglieder der katholischen Kirche. Selbst von Rechts wegen kann er nicht einfach als Sprecher derer auftreten, deren Stimmen in Europa und auf anderen Kontinenten Rom notorisch unterdrückt. Auch nach Luca sind es – vom katholischen Kirchenbild aus gesehen – zunächst die sogenannten Laien, die tagtäglich die Stimme dieser Vernunft nach außen vertreten, gegen Widerstände verteidigen und denen dies die Bischöfe in der Regel nicht danken. Wie oft hat Florian selbst schon den christlichen Glauben nach außen verteidigt, während ihn die römischen Prälaten als Kritiker abqualifizieren. Das friedfertige Bild, das der Papst von seinem Glauben als dem Retter des Abendlands zeichnet, findet in der Wirklichkeit keine Bestätigung.

So kamen die drei zum gemeinsamen Ergebnis: Es ist diese Überzahl an offenen, an kontroversen und schwer belastenden Fragen und es sind die vielen unverstandenen und ungereimten Bemerkungen, die diesem Text seine Überzeugungskraft nehmen. Mag man das eine oder andere auch gut finden, unter ihren Kolleginnen und Kollegen schrumpfen die Impulse, die von dieser Rede ausgehen, auf eine Nullsumme zusammen.

IV. Ohne Neugier kein Dialog

Doch wollen sich die drei vor einem vorschnellen Urteil hüten. Für Luca verbleiben die genannten Beispiele im Vorhof der Botschaft selbst; zur Sache selbst hat die Rede nur wenig gesagt. Florian erinnert daran, dass der Papst als Mahner im Namen der Vernunft, dieses Mal der moralischen Vernunft auftritt. Ein solches Verhalten würde auch ihre eigenen Dozenten ehren, aber er entdeckt eine ideologische Engführung, so als sei das Abendland vom Ruf dieses Papstes abhängig. Für alle drei, vor allem für Maya, bewegt sich der Papst eben wieder in gewohnten Bahnen; bekannte Konstellationen und Techniken kehren wieder. Dieses Mal zitiert Benedetto keinen byzantinischen Kaiser mit dessen Islamkritik und keinen Bloch, Feyerabend und von Weizsäcker mit deren Galileikritik, sondern Sokrates mit seiner Mythenkritik. Und wieder unterbleibt – hier an diesem Ort der römischen Universität – jeder Hauch von Selbstkritik. Luca bemerkt, dass man sich wieder über Interpretationen streiten kann: Will Benedetto nur auf die Gefährdung unserer Kultur hinweisen oder meint er wirklich, dass sich die Philosophen mit dem christlichen Dogma beschäftigen sollten? Warum betont er die Ehe zwischen Christentum und Vernunft ausgerechnet in den ersten Jahrhunderten; haben Christen in späteren Jahrhunderten nicht ebenso redlich und vernünftig gedacht? Florian findet, auch jetzt sei unklar geblieben, wie man sich die vom Papst bevorzugte Vernunft eigentlich denken soll. Sie lesen gemeinsam: Die ersten Christen haben ihren Glauben ‚nicht positivistisch aufgenommen, … sondern als den Durchbruch aus dem Nebel der mythologischen Religion zu dem Gott verstanden, der schöpferische Vernunft und zugleich Vernunft als Liebe ist’. Dieses schöne Wort würden sie gerne unterschreiben, allerdings unter der Voraussetzung, dass auch heute noch solche Nebel zu vertreiben sind.

Schließen wir den virtuellen Gedankenaustausch ab. Er sollte zeigen, wie wenig Benedikt XVI. auf die konkrete Fragenwelt seiner Zuhörer eingeht. Mit dem Papst gehe ich gerne davon aus, dass das ‚Fragen der Vernunft nach dem größeren Gott’ keine ‚bedenkliche Form von Unfrömmigkeit’ ist, sondern ‚zum Wesen ihrer Frömmigkeit’ gehört. Aber anders als der Papst sind viele der Meinung, dass solche Vernunftfragen in der Reformation, in der Aufklärung und in späteren Philosophien immer wieder aufgebrochen sind und sich vervielfältigt haben, – nicht zum Schaden, sondern zur heilsamen Herausforderung des christlichen Glaubens.

Warum bleiben die päpstlichen Reden gerade für intellektuell engagierte Zuhörer so weltfremd? Ich fürchte, dass der Papst nicht nur höchst abstrakt, sondern auch ungeschichtlich denkt; das schuldet er seinem griechisch metaphysischen Ansatz. Gemäß seiner Rede bleiben Philosophie und Theologie ‚unvermischt und ungeschieden’ miteinander verschwistert. Diese Metapher sagt wenig, weil sie weder speziell für das Mittelalter noch speziell für die Gegenwart gilt. So programmiert sie Missverständnisse vor und wird für die unterschiedlichen Adressaten einer gegenwärtigen Großuniversität zur Projektionsfläche unterschiedlichster Hoffnungen und Ängste. Die Kritiker und die Befürworter des Besuchs werden bei ihrer Meinung bleiben. Vielleicht fühlt sich der wohlmeinend säkulare Philosoph geschmeichelt, weil er meint, die Theologie nehme ihn als Schwesterdisziplin ernst. Ausdrücklich christliche Philosophen hingegen fühlen den Weg ihres eigenen Denkens bestätigt, weil sie meinen, sie selbst dienten den säkularen Philosophen als Leitstern. Im Grunde, so der Eindruck, hat der Papst an den tiefgreifenden Neuerungen sowie an den katastrophalen Brüchen einer postmodernen Kultur kein Interesse.

Oder kann ich mich zusammen mit meinen Gesprächspartnern täuschen? Im letzten Abschnitt seiner Rede greift der Papst die Anfangsfrage noch einmal auf: Was ist seine Aufgabe gegenüber einer Universität? Zu Beginn dieses Artikels habe ich die sympathische Antwort schon besprochen. Der Papst hat ‚die Sensibilität für die Wahrheit wach zu halten; die Vernunft immer neu einzuladen, sich auf die Suche nach dem Wahren, nach dem Guten, nach Gott zu machen und auf diesem Weg die hilfreichen Lichter wahrzunehmen, die in der Geschichte des christlichen Glaubens aufgegangen sind und dabei dann Jesus Christus wahrzunehmen als Licht, das die Geschichte erhellt und den Weg in die Zukunft zu finden hilft.’ An dieser Antwort ist gewiss nichts auszusetzen. Dennoch, es schwingt ein Element paternalistischer overprotection mit, die alles verderben könnte wie bei überbesorgten Eltern, die ihren Kindern nur wenig zutrauen. Der Papst will die Zuhörer belehren, sich ihnen aber nicht stellen. Die einzige verborgene Botschaft dieses Textes, die wie selbstverständlich in sich ruht, lautet: Hört auf mich!

Für das zentrale Interesse einer Universität, die Suche nach dem Wahren, dem Guten und einer letzten Instanz, braucht es den Papst eigentlich nicht. Gerade Italien bietet zahlreiche Beispiele für säkulare Wissenschaftler, die dem christlichen Glauben intensiv verpflichtet sind. Sicher sind viele an den ‚Lichtern des Glaubens’ interessiert, wenn sie ihnen auf ihrem Wege helfen. Deshalb hätten die virtuellen Hörer wohl erwartet, dass der Papst diesen letzten Hinweis konkretisiert. Was genau versteht er unter dem ‚Licht Jesu Christi’? Darüber äußert sich Benedikt nicht. Im Gegenteil, am Ende der Rede entsteht der Eindruck, dass nach einem generellen Exposé die Rede jetzt erst beginne. Vielleicht beginnt noch – als Antwort auf dieses Exposé – ein engagiertes Gespräch.

Das Thema der Vernunft ist inzwischen zu einem päpstlichen Thema geworden, mit dem er sich viele Sympathien erworben hat. Aber nach wie vor bleibt sein Bild von einer akzeptablen Vernunft umstritten. Die Vernunftkritik, die Ratzinger in der Regensburger Rede programmatisch zur Sprache brachte und in dieser Rede kurz andeutet, hat meine Generation schon bei der Frankfurter Schule gelernt. Wir hatten ferner gelernt, diese Vernunftkritik selbstkritisch auf die (vor- und nachkonziliare) Theologie anzuwenden. Bei Ratzinger entsteht der Eindruck, diese Vernunftkritik sei eine christliche Erfindung. So gießt er alten Wein in neue Schläuche. In seiner Argumentation versucht er, den ‚Logos’ des Denkens ungeschichtlich in seiner altkirchlichen Form wiederherzustellen. Mehr noch, er denkt die Vernunft substantiell, denn letztlich sind für ihn Vernunft und der menschgewordene ‚Logos’ identisch. Wenn er also in schöner Metapher sagt, unsere Vernunft solle sich vom Licht Christi erleuchten lassen, dann meint er konkret: Die moderne Vernunft muss zu ihren altkirchlichen Quellen zurückkehren. Warum sagt er dies nicht in aller Offenheit? Langfristig bringt er eine Debatte in Gang, die seinem Bild von Theologie und Kirche nicht lieb sein kann. Denn faktisch fordert er uns dazu auf, auch die faktische Unvernunft kirchlicher Praktiken und Reglungen zutage zu fördern. Früher oder später muss sich auch Rom zum Weg konkreter und vernunftgeleiteter Auseinandersetzungen bequemen, so wie sie viele Theologinnen und Theologen schon lange praktizieren.

Schluss: Neues gesagt?

Fragen wir zum Schluss noch einmal, warum seine Rede so dialog- und begegnungsfrei bleibt, so ungeschichtlich und abstrakt ist. Dafür lassen sich viele Gründe nennen. Auf einen bin ich in einer Analyse des Pastoraltheologen Ottmar Fuchs gestoßen, der Ratzingers Ausführungen zum Gleichnis vom barmherzigen Samariter untersucht (Fuchs 2008). Er zeigt, dass Ratzinger sich in dieser Geschichte vom barmherzigen Samariter nicht für den elend geschlagenen Menschen interessiert, sondern diese Geschichte zum Gleichnis für Jesus Christus macht. Die ganze Welt wird ihm zum Gleichnis eines überirdischen Kosmos, zu dem die Menschheit zurückfinden soll. Ruth Fehling ergänzt dieses Ergebnis an Hand der Frage, wie Ratzinger das Verhältnis Jesu zu den Sündern sieht (Fehling 2008). Für Ratzinger tritt Jesus zwar für die Sünder ein. Er wird aber nicht – wie es in der Schrift steht – selbst zum Sünder, also keiner von ihnen. Die vorliegende Rede erinnert mich daran. Gerne tritt der Papst für alle ein. Er ist bereit zu helfen. Aber ich werde den Verdacht nicht los, dass er es immer ein wenig besser weiß und versteht als die Anderen. Dieser Vorbehalt ist im Redegestus Ratzingers zu spüren. Er wird nie einer von uns werden, weil er für uns eintreten will. Daraus entsteht ein ständiger Vorbehalt in seinen Worten, den die Betroffenen als ein Verstecken, einen Entzug und als mentalen Vorbehalt erfahren. Letztlich ist es die Frage an eine patriarchal geprägte Spiritualität, die in unserer Gegenwart noch nicht angekommen ist. Wir haben aber keinen Sprecher nötig, der uns besser versteht als wir uns selbst, sondern einen Weggenossen, der die Weltfragen real aufnimmt und das Weltgespräch aus christlicher Perspektive inspiriert.

 

Literatur

Benedikt XVI. (2008), Vorlesung für die römische Universität ‚La Sapienza’ (17. Januar 2008), zugänglich über die offizielle Website des Vatikans. Dort ist der Text in deutscher Sprache abgedruckt.

Benedikt XVI. (2006), Glaube und Vernunft. Die Regensburger Vorlesung. Kommentiert von Gesine Schwan, Adel Theodor Khoury und Karl Kardinal Lehmann, Freiburg.

  1. Fehling (2008), Jesus und die Sünder nach der Darstellung Joseph Ratzingers. Praktische Konsequenzen für eine Kirche von heute, in: H. Häring (Hg.) ‚Jesus von Nazareth’ in der wissenschaftlichen Diskussion, Münster, 253-270.
  2. Feyerabend (1976), Wider den Methodenzwang, Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt.
  3. Fuchs (2008), Hat Adorno Ratzinger gelesen? Lazarus im „Jargon der Eigentlichkeit“, in: H. Häring (Hg.) „Jesus von Nazareth“ in der wissenschaftlichen Diskussion, Münster, 233-251.
  4. W. Graf (2006), Eine Wissenschaft, die sich für das Ganze zuständig weiß, in: Süddeutsche Zeitung vom 6.12.2006, 16.
  5. Häring (2005), Haus Gottes – Hüterin des Abendlandes? Joseph Ratzingers Katholizismus als europäisches Kulturprojekt, in: R. Faber (Hg.), Katholizismus in Geschichte und Gegenwart, Würzburg, 159-187.
  6. Häring (2007), Wer Jesus Christus begegnet, begegnet dem Judentum. Das Verhältnis Benedikts XVI. zu Israel, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte [ZRGG] 59/1 (2007), 36-60.
  7. Ratzinger (1991), Wege des Glaubens im Umbruch der Gegenwart, in: ders. Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln/Freiburg, 59-81
  8. Ratzinger / Benedikt XVI. (2007), Jesus von Nazareth, I. Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg.

[1] Zu nennen sind die Rede von Regensburg, verglichen mit dem Besuch in der Türkei (28.11.-1.12.2006); die Besuche von Synagogen in Köln und Rom sowie das Treffen mit jüdischen Repräsentanten in New York (17.4.2008), verglichen mit der neu formulierten Karfreitagsbitte zur Bekehrung der Juden; das wiederholt bekundete Interesse an ökumenischen Fortschritten, verglichen mit der wiederholten Erklärung der Glaubenskongregation, den evangelischen Gemeinschaften stehe der Ehrentitel einer Kirche nicht zu. Hinzu kommt die demonstrative Taufe eines konvertierten Moslem durch den Papst in der Osternacht 2008.

[2] In diplomatischer Verschlüsselung lautete dies so: ‚Eine gesunde Laizität des Staates ist also legitim; durch diese halten die weltlichen Wirklichkeiten gemäß ihren eigenen Regeln stand, ohne jedoch die ethischen Bezüge auszuschließen, die ihren letzen Grund in der Religion haben. Die Autonomie der weltlichen Sphäre schließt eine innere Harmonie mit den höheren und komplexen Ansprüchen nicht aus, die aus einer ganzheitlichen Sicht des Menschen und seiner ewigen Bestimmung erwachsen.’ (Text s. Website des Vatikan).

[3] Auszug aus der päpstlichen Ansprache zur Eröffnung der Arbeiten der V. Generalkonferenz der Bischofskonferenzen von Lateinamerika und der Karibik im Konferenzsaal (Heiligtum von Aparecida am 13.5.2007): ‚Welche Bedeutung hatte aber die Annahme des christlichen Glaubens für die Länder Lateinamerikas und der Karibik? Es bedeutete für sie, Christus kennenzulernen und anzunehmen, Christus, den unbekannten Gott, den ihre Vorfahren, ohne es zu wissen, in ihren reichen religiösen Traditionen suchten. Christus war der Erlöser, nach dem sie sich im Stillen sehnten. Es bedeutete auch, mit dem Taufwasser das göttliche Leben empfangen zu haben, das sie zu Adoptivkindern Gottes gemacht hat; außerdem den Heiligen Geist empfangen zu haben, der gekommen ist, ihre Kulturen zu befruchten, indem er sie reinigte und die unzähligen Keime und Samen, die das fleischgewordene Wort in sie eingesenkt hatte, aufgehen ließ und sie so auf die Wege des Evangeliums ausrichtete. Tatsächlich hat die Verkündigung Jesu und seines Evangeliums zu keiner Zeit eine Entfremdung der präkolumbischen Kulturen mit sich gebracht und war auch nicht die Auferlegung einer fremden Kultur.’

[4] Zitat aus dem Brief der 67 Professoren: ‚Am 15. März 1990 hat Joseph Ratzinger, noch als Kardinal, in einer Rede in der Stadt Parma einen Satz von Paul Feyerabend aufgenommen: „Im Zeitalter Galileos war die Kirche der Vernunft treuer als Galileo selbst. Die Verhandlung gegen Galileo war vernünftig und gerecht.“ Dies sind Worte, die uns als Wissenschaftler, die der Vernunft treu sind, und als Professoren, die ihr Leben der Vergrößerung und Verbreitung von Wissen gewidmet haben, beleidigen und kränken. Im Namen der Laizität der Wissenschaft und Kultur und im Sinne unseres Instituts, das offen für Professoren und Studenten aller Religionen und Ideologien ist, hoffen wir, dass diese unpassende Veranstaltung noch abgesagt werden kann.’

[5] Die Rede wurde am 15.2.1990 in Parma gehalten. Sie ist dokumentiert in: J. Ratzinger, Wege des Glaubens im Umbruch der Gegenwart, in: ders. Wendezeit für Europa? Diagnosen und Prognosen zur Lage von Kirche und Welt, Einsiedeln/Freiburg 1991, 59-81; Zitate 70f.. Nach dem 17. Januar wurden Textauszüge von der KNA verbreitet.

– Das Zitat von Ernst Bloch, dessen Fundort J. Ratzinger nicht nennt (und das Ratzingers Intentionen nicht unterstützt), lautet „Indem folglich mit dem Wegfall eines leeren unendlichen Raums keine Bewegung gegen ihn vorkommt, sondern lediglich eine relative Bewegung von Körpern gegeneinander, und deren Feststellung von der Wahl des als ruhend angenommenen Körpers abhängt: so könnte, falls die Kompliziertheit der dabei auftretenden Rechnungen dies eben nicht als untunlich erscheinen ließe, nach wie vor die Erde als feststehend, die Sonne als bewegt angenommen werden.“ (E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (Frankfurt/Main 1959) 920; vgl. F. Hartl, Der Begriff des Schöpferischen. Deutungsversuche der Dialektik durch E. Bloch und F.v. Baader (Frankfurt/Main 1979) 110).

– Erstaunlicherweise haben die 67 Professoren nicht auf das Zitat von Carl Friedrich von Weizsäcker zurückgegriffen, das nicht mit letzter Sicherheit zu verifizieren ist. Von Weizsäcker sieht laut Ratzinger einen ‚schnurgeraden Weg’ von Galilei zur Atombombe. Möglicherweise bezieht sich Ratzinger auf folgende Passage, die Ratzingers Intention ebensowenig bestätigt: „Ich habe zu Karl Barth in dem einzigen, freilich langen Gespräch, das ich, Anfang der 50er Jahre, mit ihm gehabt habe, unter anderem gesagt, ich sehe den geraden Weg von Galilei zur Atombombe und sei umgetrieben von der Frage, ob ich in diesem Wissen die von mir so geliebte Physik weiter betreiben dürfe. Er antwortete: ‚Herr v. Weizsäcker, wenn Sie glauben, was alle Christen bekennen und fast keiner glaubt, daß nämlich Christus wiederkommt, dann dürfen, ja müssen Sie weiter Physik treiben; sonst dürfen Sie es nicht.’ So mußte er reden. Er sagte mir auch, als wir auf Gogarten zu sprechen kamen: ‚Er findet meine Sprechweise wohl zu mythologisch, ich seine zu philosophisch.’ Ich traute der Wahrheit in Barths Mythologie und habe die Physik nie aufgegeben. (K. Barth, Gedanken eines Nichttheologen zur theologischen Entwicklung Dietrich Bonhoeffers, in: Ders. Der Garten des Menschlichen München/Wien 1977, S. 454-478; Zit. 463.

[6] Diese Technik – ich nenne sie die Inversion komplexer Zusammenhänge – wird von Ratzinger/Benedikt XVI. gerne angewendet. Im Dienste eigener Interessen arbeitet er die Komplexität bestimmter Konstellationen heraus und hebt gegebenenfalls das Zweitrangige hervor, während das Erstrangige in eine Nebenbemerkung oder in einen Konzessivsatz abgeschoben wird.

(Eine gekürzte Version dieses Beitrags ist in niederländischer Sprache erschienen: Gevoeligheid voor de waarheid? Bij der virtuele pauselijke rede aan de Spianza in Rome, in: Streven, Dec. 2008, 963-774)