Es ist nicht unproblematisch, über Globalisierung zu reden, denn möglicherweise haben wir von ihr, die ein vieldimensionales Geschehen benennt, höchst verschiedene Vorstellungen. Dasselbe gilt für den Begriff des Weltethos. Er hat ebenfalls mit der Globalisierung zu tun. Aber unbeschadet der klaren Programmatik des „Projekt Weltethos“ (PW) ist durchaus noch offen, welche Schichten von Welt und Menschheit im Laufe der Jahre in ein globales Ethos eingehen werden und wie sich dieses Ethos auf seiner operativen Ebene einmal auswirken wird. Es mag vielleicht erstaunen, dass ich als Theologe und Religionswissenschaftler eine vergleichbare methodische Skepsis gegenüber dem Begriff der Religion einbringe. In seiner gegenwärtigen Bedeutung ist es ja ein auffallend junger Begriff, dessen phänomenologische und theologisch normative Bedeutungsbreiten weit auseinanderklaffen[1].
Das alles ist verständlich, denn in der Regel haben wir zu den drei Begriffen ein eher emotionales Verhältnis. Wir glauben sie zu kennen, reden aber oft aneinander vorbei. Ich will eine Annäherung versuchen, indem ich diese Begriffe von einem phänomenologischen Standpunkt aus aufeinander beziehe und die Frage stelle, wie Weltethos, Religion und Globalisierung miteinander zusammenhängen. Im ersten Teil werden Globalisierung und Religion miteinander in Beziehung gebracht; im zweiten kommen Begriff und Programmatik des Weltethos hinzu; im dritten werden Religion und Weltethos auf ihre Universalitätstauglichkeit hin überprüft.
I. Globalisierung und Weltreligionen
Angesichts der aktuellen Diskussionsgänge in Europa läge es nahe, die Funktion der Weltreligionen politisch zu diskutieren. Monatelang steht der Islam im Mittelpunkt erregter Debatten. Aber in unsere Debatten schleicht sich leicht ein einseitiger Zungenschlag ein. Immer leiten uns die Denkmuster einer überlegenen christlichen Kultur, die sich als Hüterin der wahrhaft menschlichen Werte begreift und endlich ein Durchgreifen fordert, so, als wären wir die Bedrohten, die Leidenschaftslosen und Toleranten. Ich ziehe einen neutraleren Einstieg vor und stelle die Ausgangsfrage: Wie können Religionen überhaupt auf die Prozesse reagieren, die wir Globalisierung nennen und die die gesamte Welt beunruhigen?
1. Globalisierung: Erfahrung und Frage
Die Analysen des Phänomens „Globalisierung“ sind inzwischen ebenso unübersehbar wie das Phänomen vielschichtig ist und sich in jeder Kultur anders darstellt. Eine gemeinsame Sprachregelung ist schwierig, obwohl es sich um einen Gesamtprozess handelt, der in alle Kulturen eingreift. Die harten strukturellen Faktoren der Globalisierung werden ohnehin innerhalb empirischer Spezialisierungen untersucht und für Diskussionen aufbereitet. Es geht dann – in der Regel voneinander isoliert – um internationalen Warenverkehr, supranationale politische Organe oder internationale Nichtregierungsorganisationen, um umfassende Umweltprobleme oder das Nord-Süd-Gefälle, um kulturelle Fragen vielleicht, die staatliche Grenzen weit überschreiten. Was uns hier interessiert, sind die weichen, hermeneutisch zu eruierenden Faktoren, die sich aus veränderter Wahrnehmung und Interpretation, aus einem anderen Zugehörigkeitsgefühl oder wechselndem Engagement ergeben. Sie wirken auf der Ebene des Identitätsbewusstseins, des Weltverstehens, der eigenen kulturellen Verankerung sowie der intuitiven Gewissheit, dass es sich auf der Erde gut oder nur schlecht leben lässt. Für mich erschließen sich sechs wichtige Aspekte, die den Hintergrund vieler Debatten bestimmen[2].
(1) Neuheit – Zukunft:
„Globalisierung“ ist die relativ junge Umschreibung für ein hochkomplexes und vieldeutiges Phänomen, über das man schon im 19. Jahrhundert nachdachte[3]. Es geht um die Etablierung bzw. Intensivierung globaler menschheitlicher Beziehungen und Wechselwirkungen, also um eine zunehmende internationale, wenn nicht gar weltweite Verflechtung in tendenziell allen Bereichen menschlichen Lebens. Dazu gehören die Sektoren der Ökonomie und des Finanzwesens, der Politik, der Kommunikation und (quer durch diese Sektoren hin) der Kultur. Es geht also um hochkomplexe Prozesse, die zudem die Tendenz in sich tragen, sich zu verselbständigen. Jedes abschließende Wort zu Gründen und Entwicklung, zur zukünftigen Gestalt und Beurteilung des Phänomens wäre verfrüht. Klar aber ist, dass man diesen Prozess vom Moment seiner Benennung in den 1980er Jahren an[4] als neu, noch nie da gewesen, entweder als ungeahnten Aufbruch oder als Beginn einer Katastrophe von ungeahntem Ausmaß sieht. Globalisierung gilt als unumkehrbar, auch wenn sie nicht in die absolute Katastrophe führen muss. Der Eindruck des unbedingt Neuen ist auf allen Kontinenten, bei Nutznießern und Betroffenen, bei Wissenschaftlern und Politikern zu spüren. Genau aus diesem Grund und nicht, weil er den politischen, ökonomischen oder finanziellen Entwicklungen etwas hinzufügt, ist der Begriff unverzichtbar geworden. Das gilt auch dann, wenn man den Neologismus „Globalisierung“ durch den noch neueren Begriff der „Glokalisierung“ zu erweitern oder zu brechen versucht[5]. In der Alltagssprache hat der Begriff „Globalisierung“ eine stark performative Funktion. Wie man ihn auch immer definieren mag, er transportiert Hoffnungen und Ängste, mobilisiert Ideologien und gesellschaftspolitische Positionen bis hin zu apokalyptischen Vorstellungen einer irdischen Hölle oder zu begeisternden Phantasien vom irdischen Paradies. Das Neue ist eine zutiefst menschliche Kategorie des Abenteuers und der Grenzüberschreitung. Was es bringt, kann durchaus noch offen sein; in jedem Fall gilt es, Neues zu erfahren und Neues zu wagen.
(2) Erschütterung – Zielbestimmung:
Globalisierung benennt also einen Komplex von Prozessen, die – tendenziell weltweit und ausnahmslos – in das Leben aller Individuen und primären Gemeinschaften eingreifen. Was eindeutig kodiert und überschaubar war, gerät aus den Fugen. Natürlich kann dies positive Effekte zeitigen. Es führt zur Erschütterung von Lebensräumen, zu Reaktionen der Besorgtheit und Angst um Arbeitsplätze oder die Lebensqualität kommender Generationen, um Verschmutzung und Ausbeutung der Erde, um den Untergang ganzer Kulturen. Ein Zerstörungspotential wird aufgebaut, das die ganze Welt vernichten kann.
Wer nicht naiven Hoffnungen oder lähmenden Angstreflexen verfallen will, muss deshalb die Frage stellen: Nach welchen Regeln sind die neuen Entwicklungen zu gestalten, auf welchen Wegen erworbene Lebensqualitäten zu schützen? Auf globaler wie auf lokaler Ebene sind also angemessene Zielvorgaben erforderlich. Man will so konkret wie möglich wissen, wohin die Reise geht.
(3) Dringlichkeit – wirksame Standards:
Mit dem 11. September 2001 und dem zweiten Irakkrieg (seit 2003), mit den verschiedenen Anschlägen und Attentatsversuchen, die in Europa folgten, hat der Begriff der „Globalisierung“ einen abgründigen Index und damit eine bedrohliche Dringlichkeit erfahren[6]. Es hat sich gezeigt, welche Potentiale der Destruktion dieser Prozess freisetzen kann. Oberflächlich gesehen steht die Auseinandersetzung mit dem Phänomen eines kulturell unterlegten, oft religiös drapierten Terrorismus an. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein vielfältiges und weltweites Gewebe strukturell initiierter und unmerklich ausgeübter Gewalt auf ökonomischem, politischem, kulturellem und ökologischem Gebiet[7]. Gewaltspiralen werden vorbereitet und heizen sich auf. Sie führen zu wachsender Bedrohung, zum Gefühl des Bedrohtseins. Wenn diese Entwicklungen nicht jetzt gestoppt werden, so das Gefühl, laufen sie endgültig aus dem Ruder. „Die Zeit drängt“ wurde schon vor zwanzig Jahren zu einem der Standardworte[8]. Gewiss wurden die Menschen nicht schlechter, aber die Wirkungen ihrer Bedrängnis werden unabsehbar. Deshalb duldet die Suche nach neuen gemeinsamen Standards keinen Aufschub, auf die wir in intensivem Gespräch unser Verhalten verpflichten können.
(4) Komplexität – Kooperation:
Schon der Übergang von vor-modernen zu modernen Gesellschaften wird oft mit dem Begriff der Differenzierung charakterisiert[9]. Diese Differenzierung hat sich in der Globalisierung zu höchst komplexen Prozessen gesteigert. Nennen wir auch hier die Sektoren der Wirtschaft und Finanzen, der Politik und staatlich monopolisierter Gewalt sowie einer global agierenden Kommunikation, die kein Land dieser Welt ausnimmt. Die neue Qualität, die der Globalisierung zugesprochen wird, ist auf diese hohe Komplexität zurückzuführen. Schon früher wurde die Gesellschaft als unübersichtlich erfahren, doch was sich damals auf das eigene Land beschränkte, hat sich auf die gesamte Welt ausgeweitet. Dies schafft einen neuen Erfahrungswert und eine eigene Appellstruktur. Sie verlangt eine angemessene Kooperation, die weit über die Kooperation in übersichtlichen Gemeinschaften hinausgeht und bei der prinzipiell die gesamte Menschheit beteiligt ist[10]. Kooperation erweitert sich dadurch vom abstrakt ethischen zu einem emotional aufgeladenen Wert.
(5) Komplementarität – Strukturen der Integration:
Wie wir sahen, lässt der Globalisierungsbegriff keine neutrale Reaktionen mehr zu und appelliert zur umfassenden steuernden Kooperation. Dieses kooperierende Verantwortungsbewusstsein führt zugleich zu einem intellektuellen Problembewusstsein. Das persönliche Engagement äußert sich als Wille, in die Strukturen der Prozesse Einsicht zu gewinnen, sich also Theoriebildungen anzueignen, die sich diesen hochkomplexen Zuständen annähern. Gesucht werden hilfreiche Strukturen der Komplementarität und Integration. Die Menschen sind ethisch nicht dümmer geworden, aber die ethischen Anforderungen sind enorm gestiegen. Diese Überforderung lässt sich nur auffangen, indem wir integrierende Strukturen entdecken und aufbauen, innerhalb derer sich die differenzierte Dynamik künftiger Globalisierungsprozesse steuern lässt. Es ist vor allem Aufgabe der Wissenschaft und einer bewussten politischen Weltgestaltung, angemessene Fortschritte zu erzielen. Machtstrukturen sind nicht abzuschaffen, sondern entsprechend zu ändern.
(6) Universalität – Endgültigkeit:
Wir kommen zu einem letzten Schritt, der die besprochenen Gründe für die emotionale Dichte des Leitbegriffs zusammenfasst. Wir sahen die neue und vitale Zukunftsdynamik, die Orientierung und wirksame Standards erfordert. Wir nannten den Appell zur Kooperation sowie Modelle der Integration. Die Gesamterfahrung, von denen diese Elemente getragen werden, lässt sich als dramatische Horizonterweiterung, als Blick auf eine Universalität begreifen, die hier und jetzt schon beginnen muss. Für unser Alltagsbewusstsein geht es um die Suche nach einer effizienten und globalen Friedensordnung, um den Weltfrieden schlechthin. Das operative Vokabular für solche Erfahrungen ist vielfältig. Es reicht von einer Weltregierung über globale wirtschaftliche und militärische Absprachen, über Organisation und Garantien einer weltweiten Gerechtigkeit bis hin zu anthropologisch entschlüsselten Zielangaben, nennen wir sie „aufrechten Gang“, „versöhnte Menschheit“ oder „Reich der Freiheit“. Diese Sprachmöglichkeiten entheben uns nicht der Aufgabe, höchst differenzierte und zugleich realistische Regelungen zu treffen, die konkrete Sachkompetenz erfordern[11]. Die Gesamtfrage lautet: Sind wir wirklich fähig, diesen universalen und endgültigen Frieden herbeizuführen? Wird er von uns, von anderen verhindert? Welche universalen und endgültigen Bedingungen sind für die Erreichung dieses ersehnten Zustands herzustellen?
2. Eine neue Religionspraxis?
Aus aktuellem und unabweisbarem Anlass ist die Menschheit mit der Frage nach ihrer Fähigkeit zu einem universalen und endgültigen Frieden konfrontiert. Angesichts ihres enormen Einflusses auf Kulturen und persönliches Verhalten steht damit auch die Frage nach der Friedensfähigkeit der Religionen zur Diskussion. H. Küng schätzt deren Einfluss so hoch ein, dass er die Maxime formuliert hat: „Kein Friede unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen“. Was lässt sich daraus folgern? Bleiben wir zunächst im Vorfeld der Frage: Lassen sich die Möglichkeiten von Religion von der Herausforderung der Globalisierung her beleuchten und aktualisieren? In der Tat zeigen die aufgezeigten Konnotationen des Globalisierungsbegriffs auffällige Parallelen mit der Denk- und Vorstellungswelt der Weltreligionen. Es lohnt sich deshalb, die Motivstränge der Religionen vom Szenario der Globalisierung her zu arrangieren.
(1) Zukunftspotentiale durch Neubeginn:
Die uns bekannten Religionen stehen nicht gerade im Ruf, in Geschichte und Gegenwart vorrangig Dienerinnen des Weltfriedens gewesen zu sein und noch immer so zu wirken. Religionen zeichnen sich durch die Leidenschaft des Aufbruchs und der Grenzüberschreitung aus. Das ist ein zwiespältiger Ausgangspunkt. Zwar liefern sie zahllose Beispiele individueller, gesellschaftlicher, gar politischer Friedfertigkeit und Friedenskraft. Sie tragen Kräfte der Versöhnung in sich. Aber ihrer Geschichte ist auch Anderes eingeschrieben: Gewaltgeschichten und die Tendenz zu immer neuem Unfrieden sowie die unausrottbare Neigung, sich für Gewalt missbrauchen zu lassen[12]. Dies gilt gerade für jene Epochen, in denen eine Religion mit politischer Macht ausgestattet ist oder sich ein hohes Definitionsvermögen angeeignet hat. Dies gilt, obwohl sich alle großen Religionen – mit unterschiedlicher Intensität und Nuancierung, aber immer aufrecht – als Friedensreligionen verstehen. Wie ist dieses Paradox zu erklären? Ich gebe drei Antworten:
(a) Angesichts der vielen Möglichkeiten, Religion zu definieren, ist das Paradox hausgemacht, denn „Religion“ im modernen Wortsinn ist ein oft willkürliches Begriffskonstrukt. Es gilt als Kitt einer Gesellschaft[13] oder als Kontingenzbewältigungspraxis[14], sei es als die Summe selbstreferentieller Handlungen und Gesten, die in ihrer Intensität Realität suggerieren[15], als symbolischer Kosmos[16], der Göttliches oder Transzendenz vergegenwärtigt. Alle gängigen Definitionen gehen am Kern der Religionen vorbei, weil sie sich alle auf gewordene Institutionen konzentrieren. Religion ist – wiewohl in vielfältige Kontexte eingebettet – elementar und per definitionem Ereignis. Zwar kommt sie ohne Institutionen, Traditionen, Lehren, Rituale oder Moralen nie aus, aber nur als Ereignis zu sich. Dieses Ereignis lässt sich am ehesten als Grenzüberschreitung, als Konfrontation mit dem Unverfügbaren[17], als Begegnung mit vorbehaltloser Transzendenz umschreiben. Damit versuche ich, Religion aus ihrer metaphysischen und sozialphilosophischen Umklammerung zu befreien.
(b) Allerdings inkarniert sich Religion immer in kulturellen Codes und tritt mit ihnen in unauflösliche Beziehungen ein, so dass Religion nicht nur unser Raum-Zeit-Gefüge, sondern dass dieses Gefüge auch das Ereignis „Religion“ beeinflusst. Nun geschieht dieses Ereignis sozusagen am Rande unserer Wirklichkeitserfahrung; es überschreitet und korrigiert sie. Aus diesem Grund ist Religion für Verformungen besonders anfällig, denn von den Außenräumen dringen entfremdende Elemente ein, die verführerisch sind. Sie versprechen dem Ereignis Religion eine stabile Struktur, Einfluss und anschaulichen Sinn[18]. Solche Elemente können sein: eine handlungseffiziente Organisation, ein logisch geordnetes Lehr- und Symbolsystem, eine stabile Tradition, nationale oder kulturelle Identität, Macht, eine starke Ästhetik, Überlegenheit über das Böse und ein zeitlos scheinendes Definitionsvermögen.
(c) Doch eröffnet die Globalisierung den Blick auf eine interessante Parallele. Man braucht nur im Neuen Testament nachzulesen, um zu sehen, welch hohen Stellenwert dort das Neue hat, gleich, ob es um die Neue Schöpfung, den Neuen Menschen, den Neuen Adam, das Neue Jerusalem oder den Neuen Bund geht Auch führt diese Neuheitserfahrung zu höchst paradoxen Reaktionen. Je nach eigenem Standpunkt provoziert sie Begeisterung und Aversion gerade deshalb, weil ihre Wirkungen zunächst als anfängliche und offene Prozesse wahrgenommen werden. Es ist, wie wir sagten, die Erfahrung des Neuen, einer noch offenen Zukunft[19]. Niemand findet die Prozesse beschleunigter Verarmung oder Gewalt gut. Sind sie aber das Ende einer früheren oder der Beginn einer neuen Situation? Diese Ambivalenz ist der Erfahrung des Neuen angeboren. Damit ist nun ein sensibler Punkt von Religion angesprochen. Es sind die Potentiale einer Zukunftsorientierung, die Bestehendes zu sprengen wissen. Leicht ließe sich zeigen, dass religiöse Erfahrungen immer aus solchen Erfahrungen des Neubeginns sowie aus der elementaren Leidenschaft leben, die dadurch ausgelöst wird. Messianismus und Apokalyptik mögen zunächst ineinander fließen, beglückende Ekstase oder destruktiver Satanismus nahe beieinander liegen[20]. Voraussetzung für einen intensiven Umgang mit Globalisierungsprozessen ist genau diese neue Vitalisierung der Zukunftspotentiale. Es verwundert also nicht, wenn die großen Religionen, jedenfalls ihre wacheren Vertreter, davon angesprochen sind. Diese Konfrontation kann eine neue Elementarisierung religiöser Grunderfahrung in Gang setzen. Denn dass es „hinter“ oder „nach“ dieser Wirklichkeit noch eine andere, unverfügbare, in ihrer Qualität noch völlig offene Wirklichkeit gibt, das gehört zu den Grunderfahrungen des Religiösen.
(2) Orientierung durch neu erfahrene Werte:
Auf Grund ihrer Neuheitserfahrung leben Religionen von neuen Interpretationsmustern und Weltbildern. Damit operieren sie nicht unvernünftig, aber immer auch an der Grenze der uns verfügbaren Vernunft. Das westliche Religionsverständnis schwankt zwischen der Versuchung, Religionen dem Bereich des Irrationalen zuzuweisen oder bruchlos mit unserer Vernunft zu versöhnen. Beide Versuche argumentieren mit untauglichen Begriffen. Vernunft und Unvernunft sind ja komparative, relationale und kulturbedingte, keine statischen Begriffe. Wir können sie auf verschiedene Kriterien beziehen, etwa auf die formale Logik der klassischen Mathematik, auf die (behauptete) Korrespondenz mit der Wirklichkeit, auf die Authentizität des Sprechers oder auf die An- oder Abwesenheit von Emotionen[21]. Auch wissen wir, dass wir unser europäisches Christentum auf vernünftige Lehrsysteme eingeengt, oft zu langweiligen Interpretationsmaschinen banalisiert haben. Zwar wollen Religionen Vernunft erzeugen, also verstanden und kulturell rezipiert werden, aber sie leben von Erfahrungsbrüchen und von Grenzen, an denen auch die Vernunft zerschellt. Erschütterung (Begeisterung, Verzweiflung und Enthusiasmus), die Erfahrung des Scheiterns und der Gang in unbekanntes Gelände, die Konfrontation mit dem Geheimnis sind Lebenselixiere des Religiösen. Vergessen wir nicht, dass die gegenwärtigen Weltreligionen allesamt schon Reformreligionen sind[22]. Wollen diese Religionen nicht in Selbstwidersprüche verfallen, dann müssen sie ihre Reformimpulse aus Erfahrungen schöpfen, die ihre aktuell bestehenden Erfahrungsräume übersteigen.
Der jüdische Prophetismus kann etwa zeigen: Durch Prozesse der Kritik und Selbstkritik entsteht regelmäßig eine emotionale und intellektuelle Erschütterung, die durch kulturelle Veränderungen ausgelöst wird. Sie ruft nach Selbstvergewisserung und neuer Gewissheit. Natürlich können sich Reformreligionen mit ihren heißen Erneuerungskernen nicht auf Dauer halten und sich nicht in neue Kontexte einschreiben, wenn sie keine neuen Interpretationen, Regeln und Wirklichkeitsbegegnungen vorbereiten. In ihnen werden Werte neu erfahren und justiert. Es entstehen neue Appellstrukturen, die Menschen zur Ver-Antwortung rufen. Anders gesagt: Religionen leben dort auf, wo Menschen in neu erhellender Weise zu sagen wissen, was ihnen wertvoll erscheint. Ich folgere daraus nicht, dass die allgegenwärtige Globalisierungserfahrung einfach zu einer neuen Religion führt, aber sie stellt die bestehenden Religionen auf den Prüfstand und führt sie zu ihren ureigenen Aufgaben der Wertfindung, Werterfahrung und Wertformulierung zurück. Die Globalisierung wird zum Test ihrer Existenzberechtigung.
(3) Handlungsfähigkeit durch moralisches Bewusstsein:
Die Dringlichkeit der gegenwärtigen Fragen dringt zu den Grundfesten der Religionen vor und führt unmittelbar zur Gewaltfrage. Auch hier lohnt es sich, das Neue der Herausforderung genau zu umreißen. Die Herausforderung besteht nicht in ihrem Gewaltpotential an sich, sondern darin, dass es voll ausgeschöpft wird. Zur Debatte steht die Zukunft der gesamten Menschheit, der gesamten Erde, das Schicksal umfassender Kulturen oder Kontinente. Diese potenzierte Erfahrung der Dringlichkeit ist in denjenigen Religionen schon angelegt, die nach dem einen Ursprung und dem einen Ziel von Mensch und Wirklichkeit fragen. Es ist vor allem R. Girard[23], der vor diesem universalen Hintergrund gezeigt hat: Die Gesamtproblematik, mit der sich diese Religionen auseinandersetzen, bündelt sich im Gewaltpotential, das unvermeidlich in allen Gesellschaften anwesend ist und deren Selbstzerstörung betreibt. Grenzerfahrungen, Erfahrungen des Mangels und des Unrechts, der Überforderung, die permanent gegenwärtigen Situationen der Rivalität treiben uns in Spiralen, zu deren Bändigung es immer wieder zu spät ist.
Wie sind diese Spiralen aufzulösen? Muss im Interesse des Friedens das Böse in unserer aktuellen, höchst bedrohlichen Weltepoche nicht ausgerottet werden? Girard verweist auf den unvermeidlichen Selbstwiderspruch einer jeden Gewalt, die Gewalt vernichten will. Ob das Christentum, wie Girard meint, diesen Selbstwiderspruch als einzige Religion aufzulösen weiß, sei dahingestellt. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass das Christentum bislang zur Quelle brutaler Gewalt geworden ist. Wir wissen zugleich, dass es – genau wie andere Religionen – zur Keimstätte einer Weltverantwortung und des Bewusstseins geworden ist, dass Menschen nie zu Opfern religiös motivierten Handelns werden dürfen. Ich spreche von der Goldenen Regel als dem Grundprinzip der Humanität und allen moralischen Bewusstseins. Wie groß in allen Religionen auch der Abgrund zwischen Ideal und Wirklichkeit sein mag, sie alle sind in ihren Kulturkreisen zu wirksamen Agentinnen eines Weltbewusstseins geworden, das Wertungen konkretisiert und zu kommunikablen Handlungsregeln ausgebildet hat. Es geht um die Formulierung von Grunderfahrungen, die die Appellstruktur der Wirklichkeit konkretisieren und menschliches Handeln steuern. Das PW hat vier fundamentale Standards eines solchen Handelns herausgestellt: Leben, Gerechtigkeit, Wahrheit und ein mitmenschlicher Respekt, der sich (über die generellen Regeln hinaus) in Treue, Fairness und dem Schutz der Schwächeren äußert. Entscheidend ist allerdings, dass als Produkt dieses Prozesses nicht einfach ein rational durchkonstruiertes Regelwerk übrigbleibt, sondern eine gelebte, in ständigem Kontakt mit der Welt vollzogene, täglich neu erworbene Wertestruktur, die mit dem Begriff des „Ethos“ umschrieben wird. Diese reale, jetzt schon ausgebildete Wertestruktur ist das Angebot der Religionen in einer Epoche, die auf die wissenschaftliche Konstruktion einer globalisierungsgerechten Ethik nicht warten kann.
(4) Kooperation durch umfassende Solidarität:
Den uns bekannten Religionen wird oft vorgeworfen, dass sie die komplexe und unübersichtlich gewordene Wirklichkeit des menschlichen Lebens unangemessen vereinfachen. Verhaltensregeln werden auf wenige Elemente reduziert; der Materie wird ihr ontisches Eigenrecht genommen; der Leib wird als Vergängliches diskriminiert; Sinnlichkeit und Triebe werden verteufelt; Leiden wird zur Täuschung und zum „Maya“ erklärt. Der Buddhismus beurteilt sogar die Reflexion, also jeden Rückbezug auf sich selbst, zum Grund alles Bösen[24]. Das alles ist nicht zu leugnen, doch genau handelt es sich um Verkürzungen, um die geronnenen Kurzregeln einer kontrastierenden Erfahrung. Sie lautet: Blick für den ganzen Menschen und die umfassende Menschheit, Bejahung der Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit, das Suchen der Transzendenz in der Totalität dieser Welt. Genau daraus kann ein fruchtbarer Umgang mit der Globalisierung Nutzen ziehen. Auch der Begriff der Globalisierung suggeriert einen einheitlichen Prozess, obwohl er die komplexe Vielfalt verschiedenster Prozesse zusammenfasst. Religiöse Totalitätserfahrungen können helfen, hinter der verbalen Vereinfachung unseres Redens ein Bewusstsein für die chaotische Komplexität wachzurufen, mit der wir konfrontiert sind. Die vergessene Kehrseite religiös vereinfachender Rede ist nämlich eine Grundhaltung der Solidarität, die eine Vielfalt von Prozessen und Erfahrungen immer voraussetzt und es mit ihr aufnimmt. Jede individuell erfahrene Teilverantwortung für Andere und Anderes wird zum Bewusstsein einer Verantwortlichkeit ausgeweitet, die gemeinsam wahrzunehmen ist. Die Bereitschaft, sich der Komplexität dieses Problems zu stellen, äußert sich als Praxis. Alle Angehörigen einer Religionsgemeinschaft unterliegen derselben Herausforderung, die in den monotheistischen Religionen durch den Gedanken des einen Willens Gottes, in anderen Religionen vielleicht durch den Gedanken des einen Geschicks oder des einen Weges realisiert wird.
(5) Integration durch soziale Utopien:
Seit der Reformationszeit zeichnete sich im westlichen Religionsverständnis eine wichtige Akzentverschiebung ab. Die großen sozialen Symbole des Paradieses, der Stadt (Jerusalem gegen Babylon) oder des Reiches, des Gelobten Landes oder eines Landes, in dem Milch und Honig fließen, wurden zunehmend verinnerlicht, wenn nicht gar privatisiert[25]. Je mehr politische Macht sich die westliche Welt im Weltgeschehen erobert hat, um so unpolitischer hat sich ihre Religion gegeben. Aber der Gedanke, dass Religion primär Privatsache sei, ist ein Irrtum. Alles Religiöse teilt die gegenseitige Verwiesenheit von Individuum und Gemeinschaft; die Kraft des Religiösen lebt nicht aus individueller Innerlichkeit, sondern aus ihren sozialen, politisch höchst wirksamen Modellen. Sie überprüft Strukturen der Gemeinschaft und Gesellschaft auf ihre (lebensfreundlichen, gerechten, wahrhaften, loyalen) Strukturen. Gegebenenfalls fördert sie lebenswerte Strukturen oder bildet sie aus. Immer wird sich das individuelle Geschehen im Kontext des sozialen, wird sich das soziale Geschehen im lokalen spiegeln, genau so wie sich die aktuellen Prozesse der Globalisierung auch als Stärkung und Modifikation lokaler Prozesse erweisen.
Diese individuelle und zugleich soziale Grundstruktur des Religiösen ergibt sich aus ihrer elementaren Praxisbezogenheit, in der das gelebte Ethos immer der reflektierten Ethik vorangeht. Jeder Wille zur Kooperation führt also zur Reflexion über deren soziale Gestalt. Religionen bieten Modelle der Integration. Damit wird die Appellstruktur der Wirklichkeit nicht nur auf das Umfassende hin ausgeweitet, vielmehr wird die Gesamtheit als solche in die Form des Appells gegossen. Sie wird als Paradigma von Lebensbejahung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Fairness präsentiert. Alle Weltreligionen tragen in ihrem Gedächtnis solche Modelle der Gesamtintegration, die sie – als Modelle der Zukunft – in heilsame Distanz zu sich selbst bringt, weil ihr Gott immer noch im Kommen ist. Mehr denn je muss so der uns bedrängende Globalisierungsprozess zum religionsproduktiven Ort werden. Biblische (prophetische, messianische, apokalyptische) Imaginationen, Imaginationen der Rettung und Heilung liegen zur Aktivierung bereit.
Angesichts der aktuellen Globalisierungsprozesse kommt Religion als Integration des Gesamten in eine Einheit erneut zu sich: faszinierend, aber gefährlich zugleich. Wenn sich Religionen auf die Herausforderung dieser Zeit einlassen, erfahren sie die neue Situation nicht als Umkodierung, sondern als Durchbruch zu ihrer eigenen Ursprungserfahrung. Gefährlich ist dies angesichts der (schon besprochenen) Verletzlichkeit und Missbrauchbarkeit von Religion, denn trotz allem haben wir keine Garantie dafür, dass die Macht der Zukunftsbilder zu einem lebensförderlichen Verhalten führt, dass in Verkennung der Zeitdifferenz Gott nicht funktionalisiert und objektiviert wird. Gerade die christliche Tradition hat Warntafeln vor allzu viel Optimismus aufgestellt – und oft genug Anlass zu Pessimismus gegeben.
(6) Umfassende Friedensvision:
Zu den „weichen“ Elementen der Globalisierung gehören Neuheitserfahrung, Erschütterung, Dringlichkeit, Komplexität und Komplementarität. Wir haben in den Religionen auffallende Parallelen aufgespürt: die Leidenschaft des Neubeginns, Orientierung durch neu erfahrene Werte, moralisches Bewusstsein, umfassende Solidarität und Integration durch soziale Utopien. Auch das letzte Element der Globalisierung, die universale Endgültigkeit, hat in den Religionen ihre Entsprechung. Es sind umfassende Visionen des Friedens. Genau genommen übersteigen diese Friedensvisionen die sozialen Utopien wie das Ziel seine Vorbedingungen und den Ort seiner Verwirklichung. Zu jeder Utopie gehört noch ein Rest des Scheiterns, denn sie muss von Menschen frei akzeptiert und belebt, kann also niemandem aufgezwungen werden. Als Zwang kann sie zum unmenschlichsten Terror führen, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt. Genau deshalb fürchten viele denselben Terror, wenn die Globalisierung einen politisch nicht gezähmten Weg geht. Was also Zielpunkt unserer Globalisierungsgefühle ist, gilt als umfassende Zielvorgabe der Religionen.
Allerdings ist damit noch nicht garantiert, dass die Weltreligionen den universalen Weltfrieden wirklich fördern oder gar erreichen. In ihrer eigenen Logik betrachten sie den Frieden deshalb nicht als eigene Leistung, sondern als Geschenk einer letzten Instanz, die alles Menschliche transzendiert. Deshalb gehört zur Kategorie der Vollendung in Frieden auch immer die Versöhnung. Auf sie kommt es wesentlich an. Leider wird die Berufung auf Gott oder das Göttliche oft als Ermächtigungsformel dekodiert und verstanden: Im Namen der Religion können wir Frieden schaffen. Nichts wäre verkehrter als diese Interpretation, die Versöhnung im Grunde ausschließt. Die Berufung auf Gott ist als Formel des Vorbehalts zu verstehen. Gerade die Weltreligionen sagen uns: Zwar können wir den Frieden anstreben, fördern, alle Bedingungen für ihn erfüllen, aber ihn selbst können wir weder schaffen noch garantieren, deshalb bedürfen wir der Versöhnung. Die Zielvorgaben der Religionen beginnen nicht an einem neutralen Nullpunkt, sondern in einer Welt des Unfriedens. Wenn die Weltreligionen diese Herausforderung annehmen und vital agieren, dann spielen sie mit dem Feuer; denn sie setzen sich der Infektion durch das Böse aus. Die Qualität religiösen Verhaltens erweist sich also nicht in der heroischen Ablehnung einer gewalttätigen Welt, sondern in der Fähigkeit, im Kampf gegen das Böse der Spirale des Bösen nicht erneut zu erliegen oder diese Spirale wenigstens nach unten umzukehren.
So hängt alles davon ab, dass sich Weltreligionen konsequent von ihren eigenen Friedensvisionen lenken lassen. Im Weltgespräch müssen sie endlich den weltweiten Verdacht widerlegen, dass sie zu den Hauptursachen gegenwärtiger Konfliktherde gehören. Es geht nicht nur um die Einsicht in konkrete Friedenswege, sondern um eine umfassende und widerstandsfähige Motivation, also darum, dass wir eine schlüssige Friedenspraxis durchhalten können.
3. Folgerung
Mit einem Blick hinter die harten Fakten von Globalisierung und dem Verhalten von Religionen habe ich versucht, mit einigen „weichen“ Faktoren auf der Ebene von Bewusstsein, Erfahrung und Imagination zu ermitteln, was ich unter Globalisierung und Religionen verstehe. Es ging mir also weniger um die objektivierbaren Gehalte der Prozesse, sondern um deren Wirkungen auf die interagierenden Subjekte, weniger um die Information der Begriffe, sondern um deren Performanz. Dabei haben sich auffällige Parallelen ergeben. Unter folgenden Kategorien lassen sie sich zusammenfassen:
(1) Zeitbewusstsein:
Globalisierung wird als etwas ganz Neues erfahren, das es bislang noch nie gegeben hat. Dies trifft sich mit der Neuheitserfahrung, aus der alle Religionen leben und aus der sie ihre Leidenschaft und Kraft zur steten Erneuerung schöpfen.
(2) Wertebewusstsein:
Die Prozesse der Globalisierung mit ihren ökonomischen und finanziellen, politischen und sozialen, kulturellen und militärischen Konsequenzen führen weltweit zur Erschütterung und der schlichen Frage, worauf es uns eigentlich ankommt, was die Ziele unseres Lebens und Verhaltens sind. Dies ist der Ansatz zu einem neuen Wertebewusstsein, das in den Religionen ständig verhandelt, bestätigt, revidiert oder neu justiert wird.
(3) Verantwortungsbewusstsein:
Die rasant ablaufenden Globalisierungsprozesse schaffen ein Bewusstsein hoher Dringlichkeit. Hier muss angemessen gestaltet, steuernd eingegriffen werden, sind Standards und Regeln für ein moralisches Handeln zu finden. Die Verwandtschaft mit den Weltreligionen liegt auf der Hand, die in ihren kulturellen Kontexten jeweils ihr Ethos ausgebildet und mit starken Motivationen bewehrt haben. Die Appellstruktur einer sich verändernden Wirklichkeit wird zum Bewusstsein und in eine operative Ebene gebracht.
(4) Solidaritätsbewusstsein:
Es ist die Komplexität der Globalisierungsprozesse, die im moralischen Bewusstsein zur Kooperation aufruft und in den Religionen tief verankerten Gedanken einer Solidarität aktiviert, mit der die eine Menschheit verbunden sein sollte. Der Gedanke der Solidarität zeigt, dass es sich bei allen Fragen der Werte und der Moral um keine spezifisch religiösen, sondern um menschliche Motive handelt, auch wenn sie in den Religionen seit Jahrtausenden entwickelt und behütet worden sind.
(5) Wille zur Integration:
Die komplementären Innenverhältnisse, zu denen die Globalisierungsprozesse führen, aktivieren die uns vertraute Erkenntnis, dass die Probleme nicht allein durch eine solidarische Moral zu lösen sind. Erforderlich sind sozial integrative Modelle und Visionen, in denen das Zusammenleben der Menschheit als solches in den Blick kommt. Diese Perspektive führt zumal die monotheistischen Religionen zu ihren elementaren Quellen zurück.
(6) Vollendungsbewusstsein:
Globalisierung wird weithin wahrgenommen als ein Prozess von Entwicklungen, die zu einem unüberholbaren, nach menschlichem Ermessen universalen Endstadium führen. Weiter als weltweit können Vernetzungen nicht greifen; mehr als zwei Drittel der Menschheit kann ein Drittel der Menschheit nicht in seine Abhängigkeit bringen; mehr Klima als das Weltklima kann unsere Technik nicht beeinflussen; mehr Destruktion als die Zerstörung der Erde ist nicht vorstellbar. Den Weltreligionen ist ein solch universales Denken in die Wiege gelegt. Sie haben schon immer von der versöhnten Menschheit und vom endgültigen Frieden geträumt. Unbestreitbar führt diese universale Perspektive die Religionen zur Frage der Transzendenz. Aber ebenso klar ist, dass die Frage nach einer jenseitigen Instanz (recht verstanden) von den Weltproblemen nicht ablenkt. Sie führt zu deren Aneignung und zur Kooperation mit allen Kräften, die die Vision einer in Frieden lebenden Menschheit teilen.
Kurz: Weltreligionen als Formen leidenschaftlicher „Kontingenzbewältigung“ leben aus einem Krisenbewusstsein, das sich in Zeiten der Globalisierung wie von selbst aktiviert.
II. Weltethos als dynamische Kategorie
Das Krisenbewusstsein, das den Religionen angeboren ist, lässt sich angesichts der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse aktivieren. Vereinfacht gesagt: In der gegenwärtigen Weltsituation kommen die Weltreligionen wie gerufen. Sie konkretisieren Perspektiven, bieten angemessene Motivationen und vielleicht auch Rahmenlösungen an, die neu auszufüllen sind. Allerdings gießen zwei Beobachtungen Wasser in den Wein dieser religionsfreundlichen Lösung. Erstaunlich oft lassen sich Religionen zur Erreichung anderer Ziele missbrauchen und erstaunlich oft führen sie zu rückwärtsgerichteten, zu machtbewussten und destruktiven Reaktionen, wie uns viele fundamentalistische Bewegungen zeigen. Zukunftsoffenheit und Restauration, Leidenschaft für die Freiheit und Autoritarismus, Gewaltüberwindung und Gewaltintensivierung liegen in den Religionen nahe beieinander. Die Frage ist, warum das PW dennoch so nachdrücklich auf die Weltreligionen setzt und sie als unverzichtbare Faktoren in der Erreichung eines Weltfriedens sieht. Ich gebe hier eine doppelte, hoffentlich überzeugende Antwort: (1) Das Projekt ruft die Weltreligionen nicht in naiver Weise zu Hilfe, sondern setzt sie in einen neuen Bezugsrahmen. (2) Das Projekt arbeitet innerhalb der Religionen einen wohldefinierten gemeinsamen Kanon bestimmter Werte heraus, die in diesen Religionen von hoher Bedeutung sind.
1. Gewandelte Situation
Es verwundert nicht, dass der Beginn des PW in das Jahr 1990 zurückreicht, mit dem für die Globalisierung das Schlüsseljahrzehnt beginnt. Es verwundert auch nicht, dass dieses Projekt nach wie vor auf ein großes öffentliches und fachbezogenes Echo stößt[26]. Das Projekt ist von einem krisenbewussten, zugleich innovatorischen und moralisch hochmotivierten Ansatz getragen. Es beansprucht, auf eine neue, bislang unbekannte Weltsituation zu reagieren. Dabei stützt es sich stark auf die Gestaltungskraft der Religionen, schließt aber – wesentlich für die Programmatik – die Ressourcen und Kooperation nicht-religiöser Gruppierungen mit ein. Als letztes Kriterium dient ihm der religionsunabhängige Gedanke der Humanität, der in den religiösen Traditionen als Goldene Regel, also auch in den Religionen religionsunabhängig als zwischenmenschliche Beziehung formuliert ist[27].
Ist der Ansatz wirklich so neu? Das Geschäft von Epochenabgrenzungen ist äußerst riskant. Aber das Bewusstsein eines Epochenumbruchs reicht weit ins 20. Jahrhundert hinein. Zudem ist unbestritten: Die neue weltpolitische Situation, die mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems begann, hat die Prozesse weltweiter Vernetzungen dramatisch beschleunigt, die wir unter dem Begriff Globalisierung zusammenfassen.
Damit hat sich die Situation der Religionen dramatisch verändert. Auch für sie beginnt ein intensivierter Prozess von weltweiten Einflüssen, Vernetzungen und Bezügen. Zwar bleiben sie in ihren angestammten Kulturen dominant und dies wird so bleiben. Sie werden weiterhin stabile kulturelle Innenräume behalten. Aber interreligiöse Begegnungen werden selbstverständlich, religiöse Angebote verflechten sich im Angebot von Konferenzen und Büchern[28]. Man lernt voneinander, man relativiert und vergleicht. Ängstliche Religionsführer beschwören Relativismus und Anarchie. Sie bezeugen damit nur ihre eigene Verunsicherung. Es ist zu erwarten, dass ein veränderter Gesamthorizont auf Dauer auch die Innenhorizonte verschiebt. Religionen sind ja keine autonomen Entitäten, sondern – verkürzt formuliert – davon abhängig, was ihre Anhänger aus ihnen machen, die immer Kinder ihrer Zeit sind. Deshalb werden Religionen auch das Bewusstsein elitärer Einzigkeit modifizieren. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte kann ein neues Bewusstsein entstehen, das sich mit folgenden Stichworten charakterisieren lässt:
Erweitertes Weltbewusstsein – das religiöse Innenbewusstsein verändert sich:
Angesichts der aktuellen Weltsituation modifizieren die Weltreligionen den Blick auf ihre Weltverantwortung. Unter dem Druck einer säkularen weltweiten Eigendynamik werden sie sich in die Kunst der Kooperation und der von Respekt getragenen Ergänzung einüben. Ohne den säkularen Sachverstand von Sachkennern werden eine globale Weltpolitik (und deren lokale Abstimmungen), die globale Wirtschaftspolitik (und deren lokale Koordinationen), ein global gültiger Verhaltenscode (und dessen kulturelle Differenzierung) sowie ein globales Friedenskonzept (das mit Religionen und Kulturen vernetzt ist) nicht möglich sein. Die gängige, schon immer absurde Alternative „hie Religion, hie Welt“ wird also zerbrechen.
Das PW greift diese grundlegende und nachhaltige Entwicklung auf und bringt sie zum Bewusstsein. Im Detail sind deren Folgen nicht abzusehen, ihre Tendenz aber ist vorherzusehen. Werden also die angesprochenen Weltreligionen ihrer Herausforderung gerecht werden? Bleiben wir realistisch: Mit wachsendem Organisationsgrad sind partikulare Egoismen auch den Weltreligionen nicht fremd, aber ihre Gesamtsituation ändert sich, bricht ideologische Provinzialismen auf. Zur Debatte steht immer weniger die Frage, ob sich eine Weltreligion durchsetzt, sondern ob ihre Stimme verstummt. Nach dem gegenwärtigen Stand treten die Weltreligionen miteinander ins Gespräch. Es hat den Anschein, dass sie eine gemeinsame Gesprächsbasis finden.
Aktualisiertes Krisenbewusstsein – der Identitätsraum wird vergrößert:
In der bisherigen Geschichte der Religionen haben Angehörige einer Religion Religionsgenossen oder Angehörige einer anderen Religion bedroht. Diese Konstellation ist nicht einfach überholt, wie die Bedrohungsverhältnisse zwischen dem arabischen und dem westlichen Kulturraum zeigen. Zugleich wächst aber das Bewusstsein einer gemeinsamen Bedrohung durch die Welt der Wirtschaft, der Finanzen, der Industrie oder der Waffentechnik. Wie die Erklärung des 2. Parlaments der Weltreligionen (Chicago 1993) und wie Dokumente des Weltrats der Kirchen zeigen, führt dies zu einer gemeinsamen Beschäftigung mit der Weltzukunft[29]. Jetzt, da die Religionen mit einer unberechenbaren und unbekannten Zukunft konfrontiert sind, erweitert sich ihr Erfahrungsraum; ihre Identität kann wieder atmen, historisch und beweglich werden. Genau besehen braucht dieser neue Zukunftsraum kein Fremdkörper zu sein; denn den Religionen ist es immer um Neuland und Zukunft, um die „Zeichen der Zeit“ gegangen. Die jüngsten weltpolitischen Ereignisse können zum Elixier von starker religionsproduktiver Wirkung werden.
Politische Präsenz – die Verantwortung wird offengelegt:
Die Gegenwart macht offenkundig, wie sehr die Weltreligionen für ihre Kulturräume Verantwortung tragen. Lange haben sie sich auf ein höheres Wissen und auf höhere Weisungen berufen. In dem Augenblick, da die Menschheit in den einen Sog der Globalisierung gerät und da die ganze Menschheit zur Gestaltung und Steuerung dieser Prozesse aufgerufen wird, müssen sich auch die Religionen als politische Agenturen verstehen[30]. Sie können sich nicht mehr auf partikulare Verantwortungen (etwa für Religiosität oder individuelle Moral) zurückziehen, sondern müssen in einer jeden Gesellschaft ihre Verantwortung mit anderen Religionen, Philosophien und Weltanschauungen teilen. Diese Gesamtverantwortung wurde auf dem Weltparlament der Religionen in Chicago (1993) zum ersten Mal deutlich. Deshalb hat die dort verabschiedete Erklärung über ihren Inhalt hinaus eine symbolische Bedeutung.
2. Uneingelöstes Versprechen
Allerdings mögen kritische Leser hier Fragen stellen. Wird hier nicht eine Nebelwand der Illusionen hochgezogen, ist hier nicht der Wunsch der Vater des Gedankens? Die Frage ist berechtigt, denn bislang hat sich im Verhalten der Weltreligionen noch keine nachhaltige, empirisch messbare Änderung eingestellt. Auch das PW will sich nicht von Illusionen leiten lassen. Es setzt aber auf die Tatsache, dass die Religionen zu dieser Kursänderung fähig sind, genauer gesagt, dass sie ihre innersten humanen, auf das Wohl der Menschheit gerichteten Motivationen neu entdecken. Weltreligionen im qualitativen Wortsinn sind ja jene religiösen Symbolsysteme, die sich von universalen Kernfragen des Menschseins (Geburt und Tod, Leiden und Glück, Freiheit und Unfreiheit, Verantwortung und Versagen) leiten lassen und diese Fragen in einen Horizont des Transzendenten stellen. Gemeint ist damit eine letzte Instanz (in den monotheistischen Religionen „Gott“ genannt), die sich dem Forum der menschlichen Vernunft, den Regeln eindeutiger Definitionen sowie den Kategorien des Nutzens und der Instrumentalisierung entzieht. Nach gängiger Theorie sind die Weltreligionen mit diesem universalen Welthorizont in der „Achsenzeit“ (800-200 v. Chr.) entstanden[31]. In ihrem Rahmen entstehen neue Eliten (Philosophen und Priester) und ein neues Ethos, ein Bewusstsein von Gut und Böse nämlich, das nach dem Maß der Humanität urteilt. Die Humanitätsregel gilt als so fundamental, dass früher oder später Gott selbst diesem Maßstab unterstellt wird. Ein moralisches Gefüge, das von der Bejahung des Lebens, von Gerechtigkeit, Wahrheit und gegenseitigem Respekt getragen ist, konnte nicht ausbleiben.
Darauf ist hier nicht weiter einzugehen. Klar ist aber: Weder religiös noch intellektuell dürfen wir hinter die Errungenschaften der sogenannten Achsenzeit zurückfallen. Selbst die klassische Religionskritik schöpft noch aus den Impulsen jener Epoche, wenn sie den von den Religionen praktizierten Gott um des Lebens, der Gerechtigkeit, der Wahrheit, um eines „besseren“ Gottes willen angreift. Doch zeigt diese Religionskritik zugleich, dass die Achsenzeit ein wichtiges Problem ungelöst ließ. Sie hinterließ uns eine Vielfalt von Religionen, die alle auf die Grundsituation des Menschen, auf eine universale Wahrheit und universale Güte ausgerichtet sind. Diese Vielfalt führte aber in dem Augenblick zur unversöhnten Konkurrenz, als diese Religionen einander begegneten oder neue Religionen aus sich entließen. Man mag diese Unverträglichkeit aus der Vielfalt politischer Systeme und sozialer Strukturen, kultureller Kodierungen und religiöser Nährböden, unterschiedlicher Logiken und Weltinterpretation erklären. Wie könnte es anders sein, als dass sich auch religiöse Impulse inkulturieren und in verschiedensten Kontexten Fuß fassen? Aber so einfach können wir uns die Antwort nicht machen. Es sind doch die Religionen selbst, die behaupten, dass sie sich der universalen Wahrheit unterordnen, dass der transzendente Gott[32] überall und in allen Menschen gegenwärtig ist, dass in Gott das Böse überwunden sei. Aufs Ganze gesehen konnten diese bahnbrechenden Entdeckungen die Provinzialismen und Wahrheitsansprüche der Weltreligionen nicht brechen.
Seit der Achsenzeit sind die Weltreligionen zum ersten Mal mit einer Situation konfrontiert, in der ihre Intentionen endlich auf die Probe gestellt werden, sie ihre Versprechen in einem universalen Projekt zu erfüllen haben. Zum ersten Mal werden sie an ihrer Fähigkeit gemessen, Menschlichkeit als Gestaltungsprinzip des Weltfriedens zu fördern. Zum ersten Mal haben sie einen Standpunkt zu formulieren, der für alle gleichermaßen gilt. Es gibt keine Außen- und Innenseite mehr zu formulieren. Bei allem gegenseitigen Respekt, der selbstverständlich ist, unterziehen sie sich jetzt gemeinsam formulierten und akzeptierten Kriterien. So werden sie einander zur Verantwortung ziehen und voneinander lernen müssen. Es muss sich das Bewusstsein durchsetzen, dass das höchste Gut einer Weltreligion nicht der Wille des „eigenen“ Gottes, nicht die Durchsetzung des eigenen Glaubens, sondern Frieden und Versöhnung der gesamten Menschheit sind. Die Frage nach dem besten Weg – der in verschiedenen Situationen verschieden verlaufen mag – wird weiterhin zur Debatte stehen, aber sie entscheidet sich jetzt am gemeinsam besprechbaren Ziel und an der Koordination der Berührungspunkte.
Warnend wird oft bemerkt, faktisch und entgegen allem theologischen Herkommen versuche das PW, eine interreligiöse Plattform zu schaffen, die faktisch außerhalb der Religionen steht. Dieser Bruch mit dem traditionellen Vorgehen ist nicht zu unterschätzen, denn Religionen sind in stärksten Identitätsgefühlen ihrer Anhänger verankert. Allerdings ist dieser Bruch in der weltpolitischen Entwicklung schon lange vorgegeben. In Fragen des Weltfriedens kennen die Religionen nur noch Innenräume, verschiedene Zimmer vielleicht im selben Haus; in jedem Fall werden sie ihrer um- und abschließenden Mauern beraubt. Die verbleibenden Grenzen markieren eher Fließgleichgewichte. Zwar organisieren sie innerlich stabile Zusammenhänge, aber ihre Lebenskraft beziehen sie aus Energiefeldern, die sie umgeben und mit denen sie osmotisch verbunden sind. Einer humanitär geprüften Leidenschaft wird es wohl besser als jedem innerreligiösen Bekennertum möglich sein, zwischen engstirnigem Fanatismus und weltoffener Menschenliebe zu unterscheiden. Benedikt XVI. hat durchaus recht, wenn er Glaube und Liebe, Religion und Vernunft miteinander versöhnen will. Deshalb hat sich die christliche Religionspraxis der Kritik zu öffnen; Liebe und Vernunft haben sie ihr schon seit Jahrhunderten (und ohne dafür Dank zu ernten) unterworfen.
3. Neu verstandenes Ethos
Was also geschieht, wenn die Epoche geschlossener Kulturräume zu Ende geht, die Kommunikation grenzenlos wird, die Beweglichkeit der Menschen alle Grenzen überwindet, wenn ökonomische Beziehungen und Zerstörungspotentiale globale Ausmaße erreichen? Auch für die Kulturen gilt, dass sie sich um eine gegenseitige Verständigung nicht nur von außen, sondern auch von innen her zu bemühen haben, dass sich dabei die Religionen involvieren, die immer noch die Hauptagentinnen von Verhaltensregeln und Handlungsmotivationen, die wirksamsten Anwältinnen für Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind. Der programmatische Neuheitsanspruch des PW wird oft falsch eingeschätzt. Es formuliert nicht mehr als einen Grundkonsens bezüglich verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen, der zwischen den Religionen schon besteht, bislang aber überlagert, oft verdrängt, in manchen Fällen nie eingefordert war. Dieser Konsens wird jetzt ins Bewusstsein gehoben und verbindlich formuliert.
Auf Grund des Gesagten lässt sich der gewiss eingängige Begriff „Weltethos“ leicht präzisieren. Man kann ihm eine quantitative Bedeutung im Sinne eines Ethos unterlegen, das faktisch auf der ganzen Welt verbreitet ist. Dass der beschriebene Grundkonsens als Geltungskanon auf der ganzen Welt verbreitet sei, lässt sich mit guten Gründen verteidigen[33], steht aber nicht direkt zur Debatte. Ebenso wenig wurde der Grundkonsens durch ein mechanisches Additions- oder Subtraktionsverfahren ermittelt, das zu einem kleinsten gemeinsamen Nenner geführt hätte. Es ist eher als eine erstaunliche Schnittmenge, als ein jeweils tragendes Gerüst des Ethos zu verstehen, das sich in den Weltreligionen wiederfindet[34]. Völlig unstreitig ist, dass sich die im PW genannten formulierten Weisungen in unterschiedlichsten kulturellen Kodierungen, Sozial- und Rechtsgestalten verwirklichen lassen, sofern sie sich auf der Ebene der direkten globalen Kooperation (Grundrechte, internationales Recht und internationale Kommunikation, Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltfrieden) auf einheitliche Standards verständigen, in denen sich alle wiederfinden. Solche Universalität schließt lokale Pluralität nicht aus, setzt sie vielmehr voraus.
Deshalb können wir aus dem Begriff des Weltethos auch einen qualitativen Sinn abstrahieren. Dann meinen wir nicht ein weltweit verbreitetes Ethos, sondern ein Ethos, das sich auf ein globales Handlungsbedürfnis verständigt und deshalb zu weltweit gemeinsamen Folgerungen (Regeln, Handlungsanweisungen, Grundhaltungen) kommen muss. Weltethos bezieht sich also auf die Grundfragen einer versöhnten Menschheit, auf die Gestaltung von Weltfrieden und deren Schutz, auf die Sorge für ein globales Wirtschaftsgefüge, das gerecht ist. Bei einem so beleuchteten Weltethos ist unstreitig, dass es lokale Formen eines Ethos voraussetzt, dass es auf ihnen aufbaut, sich als deren Übersetzung und Anpassung verstehen kann. Das betrifft nicht nur die Zielsetzungen, sondern auch die Haltungen und die Emotionen sowie deren religiöse Begründung.
Der weltpolitischen Problemlage einer bedrohten Menschheit gemäss werden diese weltethischen Maßstäbe zunächst mit einer negativen Zielsetzung eingebracht, wie wir sie etwa im Dekalog finden. Als objektivierbare Notmaßnahme wird das Minimalmaß eines Tuns und Lassens bezeichnet, das in keinem Fall unterschritten werden darf. Die Anzeige einer solchen Untergrenze hat eine performative Funktion. Sie wirkt als Symbol, als pars pro toto, als kategorische Warntafel vor umfassenderen, mentalen oder strukturellen Grenzverletzungen. Schon dieses begrenzende Ethos setzt eine sehr verschiedenartige und kulturgemäße Durchgestaltung des Ethos in den verschiedenen Religionen voraus; anders wäre die transzendierende Signalwirkung zur Universalität unmöglich. Die Erklärung von Chicago zeigt dann, wie sich dieses limitative Ethos im Feld seiner quantitativen und qualitativen Dimensionen bewegt. Entgegen allem Pessimismus steht der quantitative Aspekt dieses Ethos für seine weltweite Präsenz, entgegen aller Resignation steht der qualitative Aspekt für seine Tauglichkeit, entgegen allem Idealismus steht der Krisenaspekt für seine konkrete Eindeutigkeit.
So hängt alles davon ab, dass das PW nicht erneut als eine Konkurrenz gegenüber den religiösen Ethosmodellen gesehen oder interpretiert wird. Es versteht sich nicht als Neuerung, sondern als Katalysator. Dies ließe sich aus der Analyse der Erklärung von Chicago erhärten. Allerdings lenkt es das Interesse der Religionen von ihrer Sorge um die eigene Kontinuität auf die Sorge um das Wohl der gesamten Menschheit hin. Indem es Problem- und Zielbeschreibung dieses Ethos verändert‚ erhält die Frage nach den gültigen Weisungen (also nach Gottes Wille) einen neuen, säkular gesprächsfähigen Horizont. Es tritt – um eine Terminologie von H. Küng zu übernehmen – in ein neues Paradigma ein. Den Religionen wird im Sinne von P. Ricoeur eine neue, geschichtlich dynamische „Selbst-Identität“ verliehen[35].
Dadurch wird dieses Ethos dynamisiert, mit den Prinzipien einer autonomen, vernunftgeleiteten Ethik koordiniert. In Fragen der Motivation und sinngebender Begründung bringt es das Selbstverständnis der Weltreligionen zum Tragen, in der Konfrontation mit dem Unverfügbaren und dem, das sich auch rational nicht erzwingen lässt, weist es der Philosophie und der Theologie einen sachgemäßen Reflexionsraum zu. Mit dieser Öffnung der Diskurse kann es in unserer eigenen Kultur gelingen, die gewachsenen Barrieren niederzureißen: zwischen Kirche und Gesellschaft, zwischen Glaube und Wissenschaft, zwischen Moral und sachbezogener Reflexion. Ermöglicht wird diese Erweiterung durch die Schlüsselstellung der Goldenen Regel, also dem Prinzip der Humanität. Man kann sie als ein parareligiöses Prinzip umschreiben, die für das Weltgespräch wie eine umfassende Klammer wirkt. Ihr Geist ist es, der dem PW insgesamt auf der Ebene der Reflexion einen parareligiösen, einen paratheologischen Charakter verleiht.
III. Globale Werte im Pluralismusdiskurs
1. Pluralität als Ausgang und Ziel
Globalisierungsproblematik und globaler Ethosdiskurs befinden sich in einer paradoxen Situation. Postmodernistische Philosophien haben uns ebenso wie Kulturwissenschaften und die sprunghaft gestiegenen Begegnungen mit anderen Kulturen gelehrt, dass wir die Vielfalt der Kulturen, der sprachlichen Kodierungen, aber auch die Vielfalt zwischenmenschlicher Verhaltensregeln und individuelle Optionen innerhalb derselben Kultur nie auf eine Wahrheit, auf eine Sprache oder auf dieselben Grundregeln des Verhaltens reduzieren können. Jeder Versuch der vorbehaltlosen Übersetzung stößt an unüberwindliche Grenzen. In einer demokratischen Kultur haben wir auch gelernt, dass die Garantie eines weltanschaulichen Pluralismus zu den unverzichtbaren Grundfesten eines jeden freiheitlichen Staates gehört. Jeder Versuch, Menschen auf eine Sprache oder Weltanschauung, auf eine Wahrheit, Religion oder Ideologie festzulegen, muss in sublimem oder brutalem Terror enden. Unseren gemeinsam akzeptierten und zu akzeptierenden Werten hingegen wohnt der Keim der Vielfalt, der Individualisierung und freien Entscheidung inne: Religions-, Gewissens-, Presse- und Meinungsfreiheit, Toleranz, Trennung von Kirche/Ideologie und Staat.
Unter den Stichworten „Pluralismus“ und „Relativismus“ ist diese Selbstbeschränkung jedoch in Verdacht geraten[36]. Dieses anything goes habe uns in die Sackgasse und in die Orientierungslosigkeit geführt, kann man oft hören. Doch Ereignisse wie der 11. September 2001 zwingen uns wieder zur ernsten Besinnung. Letztlich geht es um eine verbindliche Wahrheit, um allgemeine Werte und um ein universales Handlungskonzept, von denen her das individuelle, das gesellschaftliche Leben ebenso zu gestalten sind wie die internationale Politik. Ist das Ende des Pluralismus also gekommen?
Diese Alternative bringt das PW, das sich dem öffentlichen Diskurs stellen will, in eine doppelte Frontstellung: Die religiöse Rechte bringt es in den Verdacht eines rein säkularen, im Grunde unverbindlichen und wirkungslosen Humanismus. Die religiöse wie die politische Linke dagegen diagnostizieren in ihm einen abstrakten Monismus. Dieser sei „von oben“ geplant und erliege der Illusion, man könne das Weltgeschehen auf fünf abstrakte Verhaltensregeln reduzieren. Der faktische Wertepluralismus werde verdrängt und die Dialektik verkannt, die in dem Kofferbegriff „Glokalisierung“ zum Ausdruck kommt. Bestehen diese Kriterien zurecht?
Zur Vorklärung gelten einige allgemeine Bemerkungen[37]. Oft wird beim Pluralismusdiskurs die Unterscheidung zwischen beschreibender und normierender Absicht, zwischen Funktionsweise und Maßstäben der Beurteilung übersehen. Dass wir Kulturen in ihrer höchst komplexen und selbst regulierenden Vielfalt faktisch ebenso wenig ineinander übersetzen können wie die verschiedenen Religionen, lässt sich ebenso wenig bestreiten wie die Tatsache, dass – auf philosophischer, religiöser, kultureller oder politischer Ebene – gegenseitiges Einverständnis nur auf der Basis dieser unhintergehbaren Vielfalt möglich ist. Ernsthafte und realistische Diskussionen werden im Interesse der Wahrheit, der Freiheit und des gegenseitigen Einverständnisses, also mit dem Ziel geführt, mit diesem – oft schwierigen und hindernisreichen – Phänomen verantwortlich umzugehen. Wahrheit verträgt eben keine Gewalt. Wer dem pluralistischen Prozess unserer Diskurse zustimmt, hat damit seine Kriterien zu deren Inhalten noch nicht aufgegeben.
In diesem Sinn bejaht und fordert das PW eine religiöse Pluralität. So fordert die Erklärung von Chicago die Religionen dazu auf, dass sie ihr eigenes, ganz spezifisches Ethos nicht nur im allgemeinen entwickeln, sondern auch nach Berufsklassen und für die Situation von Einzelnen spezifizieren. Gefordert werden etwa zeitgemäße Ethikcodes für „Ärzte, Wissenschaftler, Geschäftsleute, Journalisten, Politiker“. Die Erklärung von Chicago weiß zudem, dass in vielen Einzelfragen („von der Bio- und Sexualethik über die Medien- und Wissenschaftsethik bis zur Wirtschafts- und Staatsethik“) ein Konsens schwierig ist. Deshalb werden (im Plural) „sachgerechte Lösungen“ gefordert. Schließlich appelliert das PW an die Mentalität und das „Herz“ der Einzelnen, in denen „ein Grundvertrauen, ein Sinnhorizont, letzte Maßstäbe und eine geistige Heimat“ wachsen sollen. Feindbilder sollen also abgebaut werden, den „Traditionen, Heiligtümern, Festen und Riten der jeweils Andersgläubigen“ ist Respekt entgegenzubringen. 1999 wird in Kapstadt eine „Gemeinschaft in Vielfalt“ ausdrücklich thematisiert, wird auf die Vielfalt der Religionen sowie die Vielfalt ethnischer Gruppen und Kulturen wiederholt hingewiesen[38]. Wenn dann noch an das Bewusstsein des Einzelnen(!), und für „ein Erwecken unserer spirituellen Kräfte durch Reflexion, Meditation, Gebet und positives Denken“ innerhalb und außerhalb der einzelnen Religionen plädiert wird, dann kann der linke Vorwurf kaum mehr treffen, hier werde der Pluralität von Religionen, Kulturen und individueller Lebenspraxis kein Raum gewährt. Im Gegenteil, das PW geht davon aus, dass seine Initiative ohne eine plurale Basis kaum funktionieren kann.
Dies zeigt sich auch darin, dass das PW konsequent von einer Synergie von Rechten und Pflichten ausgeht. Um es hier mit der Dialektik zwischen Tätern und Opfern zu illustrieren: Eindeutig wird die Notwendigkeit eines Weltethos aus der Perspektive der Opfer, die wir alle sein können, begründet. Diese Perspektive wird aber konsequent durch den Blick auf die Täter erweitert. So macht die Erklärung von Chicago unmissverständlich klar, welche Rechte den bedrohten Menschen und Gesellschaften zustehen: Recht auf Leben, Besitz, Wahrheit und Respekt. 1997 wird dann ein parallel strukturierter Katalog von Menschenpflichten erarbeitet[39]. Der Aufruf von Kapstadt nimmt dann führende Institutionen in die Pflicht[40]. Wesen und Art dieser Pflichten sowie deren Konkretisierung werden der jeweiligen, kulturbedingten, situationsgegebenen und individuellen Kreativität von Einzelnen, bestimmten Gruppen, Gesellschaften oder Religionen anheim gestellt. Inzwischen hat die Konkretisierung dieser Synergie eine Vielfalt erreicht, die einer eigenen systematischen Darstellung bedürfte.
2. Von Normen zu Werten
Wie weit aber trägt die vorgetragene Argumentation? Kommt sie über die reine Suggestion von Vielfalt hinaus? Denn trotz aller Vielfalt spitzt das PW das vielfältige Weltgeschehen mit seinen zukunftsträchtigen und katastrophalen, kulturell, religiös und individuell höchst verschiedenen Tendenzen doch auf 1+4 „Weisungen“ zu, die auf der ganzen Welt als Verpflichtung gelten sollen. Es geht, global gesprochen, um (1)Lebensschutz, (2)Gerechtigkeit, (3)Wahrhaftigkeit, (4)gegenseitigen Respekt und die Klammer der (0)Goldenen Regel. Doch werden diese „Weisungen“ (Regeln oder Standards) nicht ohne Differenzierung und Tiefenstruktur vorgetragen. Jede der Reihen beginnt, wie gesagt, mit der negativen, uns wohlvertrauten Formulierung eines Verbotes ((0)was du nicht willst … (1)nicht töten, (2)nicht stehlen, (3)nicht lügen, (4)nicht Unzucht treiben ), wird dann aber in ein positives Gebot gewendet ((0)was du willst … (1)hab Ehrfurcht vor dem Leben, (2)handle gerecht und fair, (3)rede und handle wahrhaftig, (4)achtet und liebet einander), auf die Weltsituation bezogen ((0)Egoismus, Klassendenken, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, (1)Allgegenwart von Konflikten, (2)äußerste Armut, (3)Massenmedien, Kunst und Wissenschaft, Politik, Religionen, (4)sexuelle Ausbeutung und Geschlechterdiskriminierung) und auf einen breiten Sinnhorizont ausgeweitet ((1)Kultur der Gewaltlosigkeit, (2)gerechte Wirtschaftsordnung, (3)Wahrhaftigkeit als ethische Grundorientierung, (4)Liebe, Partnerschaft, Verlässlichkeit).
Verbot |
Gebot | Weltsituation als Problem | Lösungsmöglichkeit als Ziel | |
(0) | Was du nicht willst … | Was du willst | Egoismen: Klassen, Rassen, Sex | Unantastbare Würde |
(1) | Nicht töten | Ehrfurcht vor dem Leben | Konflikte | Kultur der Gewaltlosigkeit |
(2) | Nicht stehlen | Handle gerecht und fair | Armut | Gerechte Wirtschaftsordnung |
(3) | Nicht lügen | Rede und handle wahrhaftig | Manipul., Bestechung, Vorurteile | Wahrhaftigkeit als ethische Grundorientierung |
(4) | Nicht Unzucht treiben | Achtet und liebet einander | Sex. Ausbeutung, Diskriminierung | Liebe, Partnerschaft, Verlässlichkeit |
Allgemein gesehen zeigen die Texte eine Tendenz, die Einzelgebote in deren Bedeutung für die gegenwärtigen Gesellschaftsordnungen aufzuweisen. Sie fungieren als wertende Wegweiser, als orientierende Symbole für die vielfältigen Netzwerke von Codes, Haltungen und Standards, die unsere Gesellschaften durchziehen, die sich zum Sog der Globalisierung verhalten müssen und die im PW vielfältig angesprochen werden. Neben dieser Tendenz zur strukturierenden Ausweitung und Universalität zeigen die Texte aber zugleich eine Tendenz zur Verinnerlichung und Individualisierung, ausgehend von der äußeren Regel, über die schützende und objektivierbare Norm, bis hin zum Wert, der von einer Gesellschaft, einer Gemeinschaft oder von Einzelnen bejaht, akzeptiert und befolgt wird.
Wieder sollen hier die Transpositionen in andere Schichten des Diskurses nicht entfaltet werden, in die diese Dynamik eingebettet ist. Zur Vermeidung einer vorschnellen Simplifizierung seien sie nur genannt:
– Der Text von Chicago geht einen geradezu bruchlosen Weg vom bestehenden, hier konstatierten Ethos der Religionen zu deren wohl reflektierter Erneuerung; das PW meint ja gerade nicht, im ethischen Weltverständnis der Religionen sei alles in Ordnung.
– Geradezu kontinuierlich überführt er die Überlegungen vom gottgegebenen Gebot her zur säkular und rational begründbaren Pflicht; die gegebenen Weisungen enthüllen sich als menschliche Grundhaltungen.
– So wechselt er geradezu unmerklich (wenn auch bewusst) von einer theonom-religiösen zu einer autonom-säkularen Sprache; es sind die Weltsituation und die Verantwortung einer jeden Person, die den Sinn der 1+4 Weisungen einsichtig macht. Dadurch wird die Frage, ob er innerhalb oder außerhalb der Religionen spricht, relativiert.
Entscheidend für unsere Fragestellung ist die grundlegende Diskursregie, die sich uns in diesen Transpositionen zeigt. Wir können die Diskussion vielfältiger Lokalisierung und umfassender Globalisierung eines zukunftsweisenden Ethos zugleich ja nur dann sinnvoll besprechen, wenn der Raum reiner, sozusagen positivistisch verstandener Normen (also: Gebote und Verbote) ausgeweitet und vertieft wird. Eine genaue Analyse und Verhältnisbestimmung der systematisch durchgeführten Schritte würde auch hier zu weit führen. Deshalb sollen nicht die Unterschiede zwischen Geboten, Regeln und Standards, Normen, Haltungen und Wertungen präzisiert werden. Klar aber ist, dass es das PW nicht bei äußeren Regelungen oder einem pathetischen Appell belässt. Vielmehr werden unter der Trias von Würde, Rechte, Verantwortung eine spirituelle Erneuerung, ein Wandel des Bewusstseins in allen Religionen, eine Umkehr der Herzen auf der ganzen Welt erwartet. Die dort auftauchenden Neuformulierungen sind nicht einfache Anwendung der Gebote auf die Gegenwart, vielmehr führen sie zu Schlüsselworten wie Würde, Ehrfurcht vor allem(!) Leben, Solidarität, Toleranz, Partnerschaft von Mann und Frau.
Das Arrangement der 1+4 Linien führt also zu einem Sinnhorizont, der einerseits universal sein soll, weil er für die ganze Welt gilt, der andererseits individuell verwirklicht wird, weil er von allen Kulturen, Gemeinschaften, Religionen, gar Individuen einzeln zu leisten ist. Im Horizont der unantastbaren Würde des Menschen werden Ehrfurcht, Solidarität, unbestechliche Wahrhaftigkeit sowie die Partnerschaft von Mann und Frau unaufgebbar, verständlich und selbstverständlich.
Achten wir hier auf den Begriff des Selbstverständlichen. Wie mir scheint, können wir Regeln, Normen oder Pflichten im strengen Sinn und aus sich heraus nicht selbstverständlich nennen. Sie sind den handelnden Subjekten immer voraus. Das Selbstverständliche dagegen ist ohne Vorbehalt akzeptiert, in die entsprechende Gesinnung eingebettet. Es bedarf keiner Norm oder Verpflichtung mehr. Die Regel dient dann nur noch dazu, dem Gewollten eine angemessene und effektive Form zu verleihen. Das Selbstverständliche ist das selbst Gewählte, das als wertvoll erachtet wird. Gemeint sind die Werte, in denen alle Pflicht und Norm beim Einzelnen und existentiell angekommen sind. So bieten die Werte die Brücke zwischen Normen und Akzeptanz. Es gehört zur Leistung der Religionen, dass sie Normen (Verbote, Gebote, Regeln) zu einem Gesamt von Werten umformen, das im PW „Ethos“ genannt wird.
3. Werte zwischen Pluralismus und Universalität
Die religiöse Integration sorgt also dafür, dass ein Ethos sich je individuell und existentiell verwurzelt. Das heißt aber: Diese universal ausgerichteten Werte haben ungeschmälert an der individuellen Vielfalt ihrer Träger teil. Führt das nicht zum Widerspruch? Können solche individuell vervielfältigte Werte wirklich noch universal sein? Gewiss lassen sich theoretische Vermittlungen formulieren. Man kann etwa sagen: Diese individualisierten Werte tragen eine universale Dimension in sich. Man kann darauf hinweisen, dass sie quer durch viele Kulturen und Religionen anerkannt sind. Man kann auch aus der ständigen notwendigen Vermittlung zwischen Individualität und Universalität Feuer schlagen. Die Spannung zwischen Universalität und Individualität sorgt für Dynamik und erneuernde Kraft. So wird die Wertefrage in ein prozessuales Konzept eingebracht, das die festgefügten Schablonen von Religionen, Kulturen, Gemeinschaften oder Einzelnen immer wieder überschreitet. Schließlich können wir uns darüber glücklich schätzen, dass die Werte, die hier zur Diskussion stehen, in sich schon dem globalen Druck zur Vereinheitlichung, den weltweiten Einheitskarrieren von Produkten, Konsum, Lebensstilen, und Ideologien, widerstehen, die sich in McDonald, in Hollywood und Bollywood symbolisieren. Das aber setzt voraus, dass selbst ein weltweites Friedensethos kein Einheitsethos meint, weil jedes aus Werteerfahrungen gelebte Ethos eine Vielfalt aus sich entlässt, die unhintergehbar ist. Ist also der Pluralismusdiskurs nicht berechtigt und verständlich?
Er ist es, aber auch er liefert uns keine globale Erklärung, wie ich zum Schluss noch zeigen möchte. Es stimmt: Werte sind von Religionen, Kulturen, von sozialen Klassen und individuellen Situationen bedingte Vorzugserfahrungen. Sie sind, um die Antwort ins Extrem zu treiben, so vielfältig wie es Menschen, Lebensbezüge und Lebenslagen gibt. Aber sie greifen auch so eng ineinander, überkreuzen und überlagern sich so dicht, sind so unlösbar miteinander vernetzt wie Lebensvollzüge und Beziehungen eben ineinander vernetzt sind, einander überkreuzen und überlagern. Werte entstehen ja unmerklich in elementaren Handlungen und Berührungen mit der Wirklichkeit. Sie liegen der Reflexion voraus. Sie entlocken der Wirklichkeit eine Appellstruktur, die erst bei weiterer Reflexion besprechbar und benennbar ist. Wie ein unterirdisches und unübersichtliches, in seiner Struktur dezentrales Wurzelwerk werden sie gerade in ihrer chaotischen Vernetztheit resistent[41].
Das besagt aber auch, dass wir Werte nicht als dinghafte Entitäten begreifen sollten, so als gäbe es unabhängig von menschlichem Handeln einen bestimmten Kanon wertvoller Dinge, die hier und dort auftauchen und die wir nach Belieben ergreifen oder ablehnen, einfordern oder diskriminieren könnten. Werte entstehen ja exakt auf dem Schnittpunkt von Wirklichkeit und Handeln, von „Sache“ und ihrem Verstehen. Deshalb sind Werte in ihrer formulierten und reflektierten Gestalt hermeneutische Größen. Was wir beschreiben und besprechen, sind immer schon ausgewählte, abstrahierte, für die Kommunikation zubereitete Ausschnitte oder Perspektiven unserer Wirklichkeitserfahrung selbst, die wir als solche nie erreichen können. An diesen Vorbehalt hat sich die Theologie auch in ihren vernunftfreudigsten Zeiten immer eine Erinnerung bewahrt, indem sie Gott, Mensch und dem Sein den Ehrentitel eines Geheimnisses zuerkannte.
Kommen wir noch einmal auf die Frage der Praxis zurück. Werte gehen durch die Filter unserer Erfahrung hindurch. Sie werden also in vorreflexiver Weise erfahren, vollzogen und gelebt, erst in einem zweiten Schritt von unseren Denkprozessen eingeholt. Wir nehmen sie gerade dann ernst, wenn Bedrohung und Erfüllung, unsere Identität und Ängste im Spiel sind: Wir verankern sie in der Wirklichkeit unseres Lebens, indem wir sie vielfältigen Bewährungsproben an der Wirklichkeit selbst unterziehen, so dass sich Werte – dem Gesetz menschlicher Erfahrung entsprechend – immer schon aus Werteerfahrungen mit Werterfahrungen ergeben. Wir rufen sie durch Reflexion und Kommunikation ins Bewusstsein und in den Kanon allgemeiner Geltung. Möglich werden dadurch Verkürzungen und ideologische Verzerrungen, aber im Spiel von Erfahrung und Gegenerfahrung auch ständige Korrekturen und Justierungen. So entstehen in der Regel feste, für unser Leben allgemeine Größen.
In diesem Prozess der Strukturierung und Verallgemeinerung sind auch die im PW behandelten Werte verortet. Man kann sie als fundamentale Bedingungen oder Grundstrukturen zahlloser Werteerfahrungen verstehen, die anderen Werten zugrunde liegen, sozusagen die Tiefenströme eines vielfältig bewegten und wogenden Meeres. Auch sie nehmen immer eine individuelle, kulturell, sozial, vielleicht religiös kodierte Gestalten an, denen unwiderruflich eine grundlegende Differenz innewohnt.
Bislang haben wir die Sachbezogenheit der Werte auf ihre subjektive Vielfalt hin betrachtet. Zum Schluss drehen wir die Perspektive noch einmal um. Betrachten wir ihre subjektive Vielfalt also auf ihre Sachbezogenheit hin. Ein gewisses Maß an Reflexion und Verantwortung vorausgesetzt, lässt sich ja auch dies nicht übersehen: Für unsere Wahrnehmung liegt der Grund unserer Wertungen (der umfassenden weltethischen zumal) in den Verhältnissen unseres Lebens und unserer Wirklichkeit selbst. Werte haben also zugleich ein sachliches Fundament, zumal wir im Austausch unserer Erfahrungen lernen, dauerhafte Sachverhalte von beliebigen Eindrücken zu unterscheiden. Dann wissen wir etwa: Nicht jedes Teilen muss gerecht, nicht jedes Lob muss wahrhaftig, nicht jedes freundliche Minenspiel muss Liebe sein, von den Selbsttäuschungen und Täuschungen umfassender gesellschaftlicher Zusammenhänge ganz zu schweigen. Mit einiger, von Verantwortlichkeit getragener Welt- und Menschenkenntnis kommen wir dann zum Schluss: Die Werte, zu deren Annahme wir uns einmal entschlossen haben (bestimmte Dinge, Handlungen oder Zielangaben) sind unabhängig von uns wertvoll[42]. So gesehen ist ein Wert nicht nur das Ergebnis und der Ausdruck unseres Lebensengagements, sondern zugleich die Entdeckung, dass dieses Engagement legitim, begründet, vielleicht geboten ist, dass wir den Appellstrukturen der Wirklichkeit zu Recht folgen. Warum ist das der Fall?
Für die Vereinbarkeit von Pluralität und Universalität, also von individueller Hochschätzung und objektiver Richtigkeit hat H. Joas eine erhellende Formel zur Verfügung gestellt: „Werte und Wertbindungen entstehen in den Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz.“ [43] Sie setzen voraus, dass ein Mensch zum Selbst geworden ist, so dass er – hinausgewachsen über naturhafte Symbiose und naive Willkür – auch zur Selbstdistanz fähig wird, zwischen sich und dem Anderen zu unterscheiden weiß. Seine Analysen religionswissenschaftlicher Texte bringt ihn zudem zur Überzeugung, dass die Religionen etwas einüben, was im Prinzip allen Menschen möglich ist: Menschen können die Selbstbeschränktheit ihrer Perspektiven überschreiten, sich also in einen Raum des Gemeinsamen erheben.
Ich meine, dass sich diese Selbstbildung und Selbsttranszendenz an Hand der Goldenen Regel, der Grundregel aller Humanität, eindrücklich illustrieren lässt. Wie wir sahen, hat sie eine einfache und unverzichtbare Aufgabe. Im PW wacht sie darüber, dass die vier Handlungsanweisungen nicht zu sinnlosen Regeln ausgehöhlt, in wechselnden Kontexten nicht missverstanden, vom Sprachengewirr der Kulturen nicht zermalmt, sondern immer neu als frei gewählte und zugleich bindende Werte erschlossen werden. Wenn wir das Gesagte nämlich ernst nehmen, bringt sie nicht nur den wichtigsten aller Werte zu Ausdruck, sondern erschließt sie die elementare Definition eines Wertes überhaupt. Zum Maßstab wird in allem die Frage, was meine Handlung und deren Wirkung, was eine von mir bejahte Struktur bedeuten würde, wenn ich an Stelle der Betroffenen, insbesondere an Stelle der Bedrohten (der Ermordeten, Verarmten und Verhungernden, der Belogenen oder Missbrauchten) stünde. Sind Struktur und Wirkung meines Handelns, einer Gesellschafts- oder der Weltordnung so beschaffen, dass ich sie auch dann noch subjektiv und sachbezogen bejahen könnte? Hier werden Ich und Du, das Selbst und das Andere als ein gemeinsamer Raum des Handelns konstituiert, der beide ihrer ausgrenzenden Differenzen beraubt. Die Verschiedenheit als solche wird zum Horizont eines verträglichen Handelns.
Daraus folgt Wichtiges für deren universale Bedeutung. Ich formuliere zunächst vorsichtig und differenziert: Für das Zusammenleben der Menschheit und für die Weltgestaltung haben die vier Weisungen eine umfassende und universale Potenz, wenn und sofern sie diese Austauschbarkeit berücksichtigen. Diese Potenz ist umfassend, weil die vier Weisungen die Grunddimensionen menschlichen Lebens und Zusammenlebens notwendig und hinreichend benennen: (1)Biologisches Fundament, (2)Ressourcen der Erde, (3)Wahrheit und Kommunikation, (4)Mitmenschlichkeit und Liebe. Diese vierfache Potenz ist universal, weil diese vier Grunddimensionen menschlichen Daseins von keinem Kontext und von keiner Kultur aufgehoben werden können. Eine Potenz (verstanden als Möglichkeit und als machtvolle Tendenz) ist aber von der Wirklichkeit des Ziels selbst zu unterscheiden. Wie ich schon sagte, sind Missverständnisse, Missbräuche und Fehlübersetzungen dieser abstrakten Aussagen immer möglich. An dieser Schwachstelle tritt aber die Humanitätsregel als maßgebliche „Meta-anweisung“ in Funktion. Sie stellt dann sicher, dass die vier Weisungen in jedem Fall dem Maß radikaler Menschlichkeit dienen, von ihr her konkretisiert und beurteilt werden. Denn das ist bei allen Differenzierungen die eine und universale Frage, die alle Kulturen übergreift: Wir selbst können Betroffene und Opfer, sie selbst können Täter sein; oft genug sind wir beides.
Deshalb garantiert allein die Humanitätsregel, dass die vier Weisungen auch wirklich von universaler Geltung sind und – unter dem Wächteramt der Goldenen Regel – universal in Geltung bleiben. Soweit diese Humanität die übergeordnete und intern wirkende Richtschnur bleibt, wird nämlich der einzig unbedingt universale Wert einer humanen Weltgestaltung nicht verblassen. Ich füge hinzu: Für seine bleibende Geltung braucht auch niemand zu fürchten, weil er der innersten Erfahrung gerade der Betroffenen, der Opfer und derjenigen entspricht, die selbst einmal auf Solidarität angewiesen waren: „Was du nicht willst, das man mir tut, das füg auch keinem anderen zu!“ An diesem Punkt hat das moralische Bewusstsein die Stufe der Selbstwerdung erreicht. Die Konkretheit und Flexibilität dieser Regel wird auch von Kants Kategorischem Imperativ nicht eingeholt[44]. In dem Maß aber, in dem die Regel positiv gewendet wird („Was du willst, das man dir tut, das tue auch den anderen!“), kommt die Selbsttranszendenz des Menschen zum Tragen. Angesichts der gegenwärtigen weltpolitischen Situation wird sie notwendiger denn je, denn heute gilt es, die Schicksale der gesamten Welt in den Blick zu nehmen, also die Zukunft einer in Frieden versöhnten Menschheit als umfassenden, zugleich differenzierungsfähigen Wert zu begreifen.
Anmerkungen
[1] P. L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt 1973; H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz 1986; F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986.
[2] St. Schirm (Hg.), Globalisierung. Forschungsstand und Perspektiven , Baden-Baden 2006.
[3] Fr. Engels schreibt 1847 in seinem Buch Phänomene: „Die große Industrie hat schon dadurch, daß sie den Weltmarkt geschaffen hat, alle Völker der Erde, und namentlich die zivilisierten, in eine solche Verbindung miteinander gebracht, daß jedes einzelne Volk davon abhängig ist, was bei einem andern geschieht.“ (MEW 4, 361-380, Frage 19).
[4] Th. Levitt, The globalization of markets, in: Harvard Business Review, 1983 (20), Nr. 5, 92.
[5] U. Beck, Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus, Frankfurt 1997.
[6] Ein erster Widerhall ist in der Rede von J. Habermas anlässlich der Verleihung der Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 14.10.2001 zu erkennen. S. J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt 2001, 9-31.
[7] J. Sobrino, F. Wilfred (Hg.), Die Globalisierung und ihre Opfer, Concilium 37 (2001), Nr. 5, 533-644.
[8] Verwiesen sei auf den Titel einer viel beachteten Initiative von C. Fr. v. Weizsäcker, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, München-Wien 1986. Über die Inflation dieser Metapher in unserer Öffentlichkeit gibt der Zugriff auf eine beliebige elektronische Suchmaschine schon hinreichend Auskunft.
[9] U. Schimank, Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Wiesbaden 32006.
[10] H. Küng, D. Senghaas (Hg.), Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen, München 2003; darin bes. V. Rittberger, Weltregieren. Was kann es leisten? Was muss es leisten?, 177-208.
[11] (Kofi Annan), Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen, Frankfurt 2001.
[12] V. Rittberger, A. Hasenclever, Religionen in Konflikten, in: H. Küng, K.-J. Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 2001, 161-200; M. Hildebrandt, M. Brocker (Hg.), Unfriedliche Religionen? Das politische Gewalt- und Konfliktpotenzial von Religionen, Wiesbaden 2005.
[13] E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt 1981.
[14] H. Lübbe, a.a.O., vgl. N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000.
[15] C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 2002.
[16] M. Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/Leipzig 1998.
[17] F. Kambartel, Über die Gelassenheit. Zum vernünftigen Umgang mit dem Unverfügbaren, in: F. Kambartel, Philosophie der humanen Welt. Abhandlungen, Frankfurt 1989, 90–99.
[18] In der Oper „Moses und Aron“ von A. Schönberg wird diese Funktion in der Rolle des Aaron dargestellt.
[19] In Kategorien der Zeit zeigen sich Unverfügbares und Transzendenz als das Neue, das in Ekstase erfahren wird. Vgl. H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1997, 253.
[20] I. Christiansen, Satanismus. Faszination des Bösen, Gütersloh 2000.
[21] L. B. Puntel, Grundlagen einer Theorie der Wahrheit, Berlin 1990.
[22] Die Abfolge ständiger Reformprozesse ist in den Monographien von H. Küng zu Judentum, Christentum und Islam eindrücklich dargestellt.
[23] R. Girard, Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987. In Innsbruck darf nicht vergessen werden: R. Schwager, Brauchen wird einen Sündenbock? Gewalt und Erlösung in den biblischen Schriften, Wien 1994.
[24] J. Laube, Das Böse in der buddhistischen Tradition, in: ders. Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt 2003, 259-255.
[25] Dieser Prozess hat eine lange und höchst differenzierte Geschichte, die bei Augustinus begann, in der Reformation wieder aufgenommen wurde, im 19. Jahrhundert aus dem Gleichgewicht geriet und in der Losung „Religion ist Privatsache“ alsbald religionskritisch propagiert wurde.
[26] Umfassende Information zu Geschichte und Literatur ist zugänglich über www.weltethos.org.
[27] Dies wird stark betont von K. E. Nipkow, Weltethos – Weltreligionen – Weltfrieden. Offene Flanken des Weltethos-Programms in religionsphilosophischer, pädagogisch-evolutionstheoretischer und anthropologischer Sicht, in: H. Reinalter (Hg.) Projekt Weltethos. Herausforderung und Chancen für eine neue Weltpolitik und Weltordnung, Innsbruck 2006, 23-43.
[28] K.-J. Kuschel, D. Mieth (Hg.), Auf der Suche nach universalen Werten, Concilium 37 (2001), Nr. 4, 393-527.
[29] Die genannte Erklärung ist u.a. dokumentiert in: H. Küng, K.-J. Kuschel (Hg.), Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlaments der Weltreligionen, München 1993; s. auch www.weltethos.org.
[30] Dabei wäre die Frage zu klären, ob und wie eine Religion handeln kann; objektivierbare Handlungsfähigkeit hängt vom Organisationsgrad einer Religion ab. Viel schwieriger zu beurteilen ist das Vermögen einer Religion, Verhalten, Motivationen und Zielsetzungen zu prägen.
[31] K. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949; S. N. Eisenstadt, Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, Frankfurt 1987. Neuerdings: K. Armstrong, Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen, München 2006.
[32] Gemäß allgemeiner Überzeugung entsteht in der Achsenzeit ein Bewusstsein der Transzendenz, mit dem sich auch der Gedanke eines Geistes, einer Seele, einer auf das Jenseits bezogenen Existenz herausbilden.
[33] Natürlich ist die Geltung einer Norm von ihrer Realisierung zu unterscheiden. Würde sie wie selbstverständlich ausgeführt, wäre keine Norm mehr notwendig.
[34] Chr. Hasselmann, Das niedersächsische Unterrichtsfach ‚Werte und Normen’ – zwischen Ideal und Wirklichkeit, in: www.fachverband_werte_und_normen.de/html/referat/html.
[35] P. Ricoeur unterscheidet zwischen einer ungeschichtlich starren „Idem-Identität“ und der geschichtsfähigen „Ipse-Identität“ einer Person, die zur Wandlung fähig ist und dennoch sie selbst bleibt. S. u.a. in: Zeit und Erzählung (3 Bde.), München 1989-91.
[36] A. Abel, H. J. Sandkühler (Hg.), Pluralismus – Erkenntnistheorie, Ethik und Politik, Hamburg 1996; M. Baumann, S. M. Behloul (Hg.), Religiöser Pluralismus, empirische Studien und analytische Perspektiven, Bielefeld 2005; J. Dupré, The Disorder of Things, Harvard 1993.
[37] Zur Diskussion s. W. Lütterfelds, Viele religiöse Wahrheiten und ein Weltethos? Zur begrifflichen Struktur eines Konfliktes und seiner Auflösung, in: Wissenschaft und Weltethos, a.a.O, 415-437.
[38] Die Erklärung trägt den Titel: Aufruf an unsere führenden Institutionen, dokumentiert in: H. Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, 156-195.
[39] Inter Action Council, Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten [1997], dokumentiert in a.a.O. 100-105.
[40] Angesprochen werden in eigenen Texten Religion und Spiritualität, Regierungen, Landwirtschaft, Arbeit, Industrie und Handel, Erziehung, Künste und Kommunikationsmedien, Naturwissenschaft und Medizin, internationale zwischenstaatliche Organisationen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft.
[41] G. Deleuze, F. Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt 1997.
[42] A. Gierer, Forderungen globaler Ethik und die Natur des Menschen, in: Wissenschaft und Weltethos, a.a.O. 192-307.
[43] H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1999, 25, 255.
[44] Diese Relativierung schließt die unbedingte Geltung des Kantschen Imperativs nicht aus. Wichtig sind die Präzisierungen von D. Mieth, insbesondere der Hinweis, dass die menschliche Würde zugleich in der Leiblichkeit des Menschen verankert ist. D. Mieth, Interkulturelle Ethik auf der Suche nach einer ethischen Ökumene, in: Wissenschaft und Weltethos, a.a.O. 359-381, bes. 378-381.
(erschienen in: H. Reinalter (Hg.), Ethik in Zeiten der Globalisierung, Wien 2007, 41-71)