Was wir von den Weltreligionen lernen können
Vor wenigen Wochen wurde ich auf ihn aufmerksam, als das Fernsehen einen Film über ihn zeigte. Der Titel lautete: Das Ende ist mein Anfang; es ist zugleich der Titel seines letzten Buches, in dem er seinem Sohn Folco seine spannende Lebensgeschichte erzählt.
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.
Das arglose Wort ist töricht.
Eine glatte Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin.
Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen.
Bertolt Brecht: »An die Nachgeborenen«
Einleitung: Kennen Sie Tiziano Terzani?
Terzani, 1938 im Florenz geboren und zeitlebens mit einer Deutschen verheiratet, war ein Leben lang unterwegs. In einer ärmlichen Umgebung groß geworden, kämpfte er sich durch Schule und Ausbildung, studierte in den USA, arbeitete als Journalist zuerst in europäischen Ländern, wurde dann Korrespondent für den Spiegel in Japan und Süd-Ost-Asien und verfolgte aus nächster Nähe die großen politischen Umbrüche in China, Kambodscha, Indien, Vietnam und Afghanistan. Als 1997 mit 59 Jahren eine Krebserkrankung diagnostiziert wurde, zog er sich einige Monate in ein buddhistisches Kloster im Himalaya zurück, um sich mit seiner Krankheit und sich selbst auseinanderzusetzen. Danach zog es ihn wieder in seinen Beruf. Vom Zeitzeugen der großen politischen und kulturellen Veränderungen in asiatischen Ländern wandelte er sich zum Zeugen des Friedens; 2002 erschienen seine Briefe gegen den Krieg. 2003 zog er sich in seine Wahlheimat, ein kleines Dorf im Apennin, nahe von Pistoia, zurück, wo er mit zwei Büchern sein Leben aufarbeitete. 2004, sieben Jahre nach Ausbruch seiner Krankheit, starb er. Mit seinem Lebensschicksal hatte er sich versöhnt. Den Tod, der ohnehin unausweichlich sei, nahm er an. Die „Loslösung von seinem Körper“, wie er das nannte, betrachtete er als seinen Anfang; er hieß ihn als letztes Abenteuer willkommen.
Ich bewundere Terzani nicht, weil er besonders religiös war. Dafür gibt es keine Hinweise. Auch für den Tod wünschte es sich keinen religiösen Ritus. Gemäß seinem letzten Wunsch wurde er verbrannt. Sein Sohn zerstreute die Asche auf dem Gipfel des Hausbergs von Orsigna bei Pistoia in die Winde. Ich bewundere ihn, weil er nach der Wahrheit in Kulturen und in der Politik suchte. In zahllosen Situationen überwand er oft Todesangst oder ging massive Todesrisiken ein, denn er suchte immer aus der Nähe nach dem, was dahinter steckt. Irgendwann habe er begriffen, „dass Lügen zwar schrecklich sind und nichts bringen, aber dass die Exaktheit der Fakten genauso unnütz ist, denn die Wahrheit, nach der ich suchte, liegt nicht in den Fakten, sondern dahinter, oder sogar noch hinter dem Dahinter.“ (132) So kam er zu selbständigen, bisweilen harten, aber auch differenzierten Urteilen über Singapur oder Mao Zedong, den Vietnamkrieg und den Vietkong, über Gandhi und zur Entwicklung Indiens, das er so liebte, über Mutter Terese, deren Aufruf zur Stille ihm viel bedeutete. Und ich bewundere ihn, weil er zweifeln und bezweifeln, seine Meinungen korrigieren und neu bilden konnte.
I. Glauben und zweifeln
Terzani war ein Gejagter. Ihn ließen die großen Veränderungen des Weltgeschehens in seiner Lebenszeit nicht los. Schon früh wurde ihm das „Ausbrechen und Weglaufen die Antriebsfeder seines Lebens“ (159), dennoch ließ er sich von ihr nicht einfach jagen, vielmehr ging er auf sie zu. Er lernte die Sprachen bekannter Länder, wohnte in ihnen, mischte sich unter die Einheimischen, besuchte ihre Restaurants und Märkte, die Orte des Kampfes und kritisierte nichts mehr als den Einfluss fremder Mächte, die diese Kulturen nicht verstanden oder verstehen wollten. Er fühlte sich nie als Intellektueller. Seine Neugier war oft „ganz körperlich“. Indochina habe er, wie er schreibt, „mit jeder Faser [s]eines Körpers genossen – die Hitze, die Stille, die Sonnenuntergänge … womöglich in einem dieser antiken Tempel in Laos mit leise klingelnden Glöckchen … das war Ekstase. Ekstase! … Selbst der Krieg, gegen den ich später einen regelrechten Kreuzzug unternommen habe … Mit seiner ständigen Alternative von Leben und Tod übt er auch eine gewisse Faszination aus, das ist gar nicht zu leugnen. Denn in der Tiefe des menschlichen Wesens gibt es auch ein Bedürfnis nach Gewalt. Mein Herz hat das dann mit alles Entschiedenheit zurückgewiesen, aber trotzdem, da was etwas …“ (159f) Mit diesem wachen Sensorium auch für seine eigenen Widersprüche wurde er in seiner Zeit zu einem der besten westlichen Kenner asiatischer Kulturen. Gerade deshalb verurteilte er zugleich viele wirtschaftliche Entwicklungen und Systeme, die dafür sorgten, dass alte Lebensformen untergingen, die Menschen ihre Lebensmitten, den Reichtum ihrer Kulturen, die Luft zum Atmen und die Orte ihres Glücks verloren.
1.1 Sich anvertrauen
Damit bin schon mitten im Thema, das ich heute Abend mit Ihnen besprechen möchte. Was können wir von den Weltreligionen lernen? In allen von Terzani besuchten Ländern war er auf der Suche nach den Menschen, nach ihrer Kultur und nach dem, was sie dabei bewegte. Dabei stieß er in allen Ländern auf Religionen, die gerade nichts Weltfernes an sich hatten, wie das in Westeuropa der Fall sein mag, sondern ein organischer Teil dieses Lebens waren und so als etwas Selbstverständlicher erfahren wurden. Man kann diese Besonderheit der christlichen Religion ja schon an ihrer Selbstdefinition erkennen. In der Regel reden Christen vom christlichen Glauben. Dieser Glaube wurde lange als ein System von „Wahrheiten“ begriffen, an die sich Christen zu halten haben. Kein Wunder, dass Glaube als ein „Für wahr halten“ in die Köpfe der Menschen einging und gegen den enormen Fortschritt des human-, naturwissenschaftlichen und technischen Wissens höchst anfällig wurde. Wie kommt es aber, dass zumal asiatische Länder Wissenschaft und Technik nicht als Bedrohung ihrer Religionen wahrnehmen? Eine analytisch durchgearbeitete Antwort ist wahrscheinlich kompliziert, denn eine jede Religion kennt ihre Spezialitäten und keine Kultur kann sich ohne weiteres mit der anderen vergleichen. Aber es gibt doch eine Perspektive, auf die sich alle Religionen beziehen lassen. Das sind die existentiellen Grundfragen, die alle Menschen bewegen. Was ist der Sinn ihres Daseins? Wie sollen wir miteinander umgehen? Wo kommen wir (und die anderen) her und wo gehen wir (und die anderen) hin? Wie sind wir Individuen in unsere Gemeinschaften eingebettet? Gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Lebensstrom und eine gemeinsame Energie, die uns alle im Dasein hält?
1.2 Sich mit Grund- und Sinnfragen konfrontieren
Meine Vermutung lautet: Religionen sind umso näher am Leben und für konkurrierende Einflüsse umso weniger anfällig, je klarer sie diese existentiellen Grund- und Sinnfragen zur Darstellung bringen und mit ihnen umgehen. Wer sich mit den Religionen der Welt auseinandersetzt und einen eigenen –notfalls kritischen – Standpunkt gewinnen will, sollte sich die entscheidenden Grundfragen klarmachen und davon ausgehen, dass keine Religion einfach verfügbares Rezeptwissen zur Verfügung stellt. Die Weltreligionen geben Anleitungen dazu, diese Fragen nicht zu verdrängen und mit ihnen umzugehen.
Deshalb sind „Glauben und zweifeln“ ein Begriffspaar, das wir nicht einfach auflösen können. Die Weltreligionen kennen keine rezeptfähigen Antworten, auch nicht ein problemloses Glaubenssystem. Genau dies Es ist das Problem des christlichen Glaubens. Er hat mit ausgefeilten Glaubensbekenntnissen, die logisch überpräzisen Dogmen und mit durchgerechneten Katechismen den Eindruck erweckt, auf alle Fragen der Welt und der Überwelt könne er wohldosierte Antworten liefern, ein frommer Mensch habe alle Zweifel ausgeräumt. Punkt für Punkt könne man nachprüfen was nun stimmt und was nicht stimmt. So funktionieren die Weltreligionen nicht. Allenfalls die Fundamentalisten, die Fundamentalisten, die es in allen Religionen gibt, sind so geeicht.
1.3 Die Zeichen der Weltsymbole
Das zeigt schon ein erster Blick auf die zentralen Symbole der Weltreligionen, die uns allen bekannt sind. Sie kennen …
– (1) das Zeichen des Tao im Daoismus Chinas.
Er ist auf der Suche nach dem großen Gleichgewicht von Ying und Yang, von kalt und warm, hart und weich, männlich und weiblich. Der Daoismus ist ursprünglich eine naturverbundene Religion. Er leitet uns Menschen dazu an, uns ins große Gleichgewicht von Erde und Kosmos einzuordnen, einen Ausgleich zwischen den großen Gegensätzen zu suchen, zwischen hell und dunkel, warm und kalt, hart und weich. Es geht darum Übertreibungen und Extreme zu vermeiden. Deshalb bietet diese Religion eine Wahrheit an, die wir in strenger Selbstdisziplin, im inneren Ausgleich und in der Einordnung in den Gang der Natur finden, also in einem hohen Maß an Askese zu leben. Das ist aber nicht so einfach. Einerseits heißt es:
„Die fünf Farben machen die Augen des Menschen blind.
Die fünf Noten machen seine Ohren taub.
Die fünf Geschmäcke stumpfen seinen Gaumen ab.
Reiten und Jagen machen seinen Geist wild.«
(Tao-te ching, XII, 1-5)
Andererseits dient diese Selbstdisziplin der Steigerung der inneren Sinne, bis hin zu einem absoluten Glücksempfinden:
„Laß Deine Ohren und Deine Augen mit Deinem Inneren in Verbindung treten…,
dann werden sogar Götter und Geister kommen, um zu verweilen…«, (Huang-tzu)
– (2) das OM (AUM) im Hinduismus,
der Beginn und das Ende der meisten hinduistischen Gebete, steht für das Absolute; bleibt aber konkret. Es erinnert an die Materie aus Klang, aus dem das Universum der Götter entstand. Er erzeugt kosmische Schwingungen, die die Atome des Himmels und der Erde zusammenhalten sollen. Die Menschen will es zu höchster innerer Konzentration führen, in der sie alles um sich herum vergessen. Dennoch verflüchtigt sich diese Konzentration nicht ins Nichts, sondern ergeht sich im Anblick des Feuers, das ebenfalls auf den Ursprung allen Seins hindeutet. Wer einmal in Benares/Varanasi bei der abendlichen Feuerzeremonie war, wird diesen Ritus nicht vergessen. Auch hier heißt Religion einen Weg gehen, Anleitung zu sich selbst.
Ebenso wichtig ist das Mantra: eine immer wieder zitierte heilige Silbe, die zur Basis der Meditation wird und vom Buddhismus übernommen wurde. Sie kennen auch die verbildlichten Mantras, die es in zahllosen Formen gibt, die in der Regel als konzentrische und geometrisch rhythmisierte Kreise angelegt sind.
– (3) das Rad des Werdens im Buddhismus,
das vom Lebenskreislauf der Menschen spricht, dem wiederkehrenden Werden und Vergehen und dem Ausstieg aus diesem Kreislauf der Wiedergeburten. Der Buddhismus ist eine Reformreligion des Hinduismus, um 500 vor Christus gegründet von Siddhartha Gautama, einem Sohn aus fürstlichem Haus, der Buddha genannt wird, der das Leiden, die Armut und den Tod der Menschen kennenlernte. Er suchte einen Ausweg aus diesen erniedrigenden Umständen, konstruierte aber keine Fluchtwege, wie wir sie zu Tausenden kennen, sondern einen Weg durch diese Stadien der Erniedrigung hindurch. Es gilt, alle Anhänglichkeit aufzugeben, sich auf sein inneres Wesen zu konzentrieren und einen mühsamen Weg einzuschlagen, der mehrere Leben dauern kann, aber uns schließlich ins Nirwana, jenen Zustand des eigenschaftslosen Glücks eingehen lässt.
Wir Kinder eines westlichen Bildungsstandes fragen uns sofort, was dieses „Nirwana“ denn bedeutet. Darauf wird kein Buddhist antworten können oder antworten wollen. Er wird sagen: Das musst Du erfahren. Du kannst die Wahrheit nicht lernen, indem Du irgendwelche Dinge memorierst, sondern indem Du Deinen Weg gehst, bis Du – im Glücksfall ein „Erleuchteter“, vielleicht gar ein Bodhisattwa wirst.
Ist das möglich? Ja, es ist möglich, werden auch Menschen aus dem Westen sagen. Carl Friedrich von Weizsäcker berichtete einmal von einer solchen Erfahrung. Eine solche Erfahrung hatten auch Terzani und sein Sohn. Bezeichnend ist aber ein Gespräch, das er darüber mit seinem Sohn führte. Nachdrücklich fragt der Sohn: Was ist es denn, diese Erleuchtung? Kannst Du sie beschreiben? Was passiert da? Der Vater aber, in einem buddhistischen Ashram im Himalaya in dieser Frage geschult, antwortet nur mit einem Satz: „Die Erleuchtung ist eine Illusion.“ (363)
Wir Kinder des Westens fragen erschreckt zurück, also doch nichts? Der Erleuchtete aber denkt: Das ist das reine Nirwana, und um es unverfälscht zu bekommen, müsste ich selbst das Glück dieser Erfahrung von mir abfallen lassen. Anders gesagt: selbst dann, in der höchsten Glückserfahrung darfst Du Dich nicht in dieses Glücksgefühl verlieren. Lerne, dass alles Leben nur Schein ist.
Die „prophetischen“ Religionen sind von Grund auf anders gestrickt. Sie suchen die Wahrheit nicht in der Selbsterfahrung des Individuums, sondern in der Erfahrung der Gemeinschaft. Es geht um ein Zusammenleben in Versöhnung und Gerechtigkeit. Deshalb bekommt auch die Wahrheit eine griffigere Gestalt. Es geht um Jahwe, den Sohn Gottes oder um Allah, zugleich aber besteht eine große Scheu, ihn zu nennen, gar darzustellen. Deshalb greifen sie zu einer verschlüsselten Rede. Sie nennen …
– (4) der Davidsstern und der Siebenarmige Leuchter des Judentums setzen ein Zeichen, das noch indirekter ist. Es geht um einen Gott, der im Verborgenen, als brennender Dornbusch da, der nahe ist, der sich in seinem Handeln zeigt. Von der Verworrenheit dieses Handelns weiß jeder zu berichten, der sich einmal mit den jüdischen heiligen Schriften auseinandersetzt hat. Was ist die Wahrheit Jahwes? Die Rettung Israels aus Ägypten? Gewiss, aber auch die babylonische Gefangenschaft, das Elend eines Hiob? Aber im Staat Israel steht im Augenblick das davidische Großreich im Vordergrund. „JHWH“, dessen Name nie ausgesprochen werden darf, bleibt immer im Verborgenen.
– (5) das Kreuz, das für das ganze Lebensprojekt Jesu steht. Vielleicht sind im christlichen Verständnis von Wahrheit die meist einschneidenden Korrekturen anzubringen, denn im Laufe der Jahrhunderte wurde die christliche Wahrheit am meisten rationalisiert, auf dogmatische Sätze getrimmt und mit harten Sanktionen vor vermeintlichen Abweichungen geschützt. Deshalb tut Anhängern des Christentums ein Vergleich mit anderen Weltreligionen besonders gut. Denn auch die christliche Wahrheit liegt nicht auf der Ebene von Aussage, sondern ist – wie die Evangelien zeigen – Nachfolge. Die Wahrheit der Nachfolge kann aber nur erfahren, wer sich auf diese Nachfolge einlässt. „Ich bin der Weg“ lautet das berühmte Johanneswort. Sie Wahrheit ist also keine abstrakte Welterklärung, sondern ein Prozess, in den sich seine Anhängerinnen und Anhänger verwickeln lassen.
– (6) den Halbmond mit Stern im Islam. Er stammt aus vorislamischer Zeit, bedeutete dort die Mondgöttin Hilal und symbolisiert im Islam den Mondkalender, also den von Gott vorgezeichneten Lauf der irdischen Zeit, und wird so zum Zeichen, das Allah und/oder Mohammed ersetzt, weil sie nicht darstellbar sind. Die innerste Wahrheit der Welt heißt Ordnung, wohlgemerkt eine barmherzige Ordnung. Doch sie ist weder darstellbar noch greifbar. Intensiver als in allen anderen Religionen ist der Koran das Zeichen der Lehre selbst. Greifbar ist die Wahrheit Allahs nicht. Er ist zwar der Gott der Barmherzigkeit. Darüber hinaus aber hat er 99 weitere Namen; der Hundertste ist den Menschen nicht bekannt. Aber es gibt doch den Koran, in dem Gottes ganze Offenbarung enthalten ist? Ja, aber auch dies hat seine Tücke: Der Koran will gehört oder gelesen sein; präsent ist er also nur im Fragment der Augenblicke, die einander nachfolgen, so wie die Ornamente der muslimischen Kunst endlos ineinandergreifen. Das braucht Geduld und Zeit.
1.4 Glaube und Zweifel gehören zusammen
Diese Beispiele zeigen, dass Religionen mit der Philosophie etwas gemeinsam haben: Wahrheit ist für sie nicht das Richtige, sondern das, was hinter den Dingen steckt. Sie liegt, wie Terzani sagte, „nicht in den Fakten, sondern dahinter, oder sogar noch hinter dem Dahinter“. Sie gehen aber über das philosophische Geschäft an einem Punkt hinaus. Sie suchen gelebte Weisheit. Sie präsentieren kein Ergebnis, sondern schicken uns auf den Weg. Die östlichen Religionen auf den Weg der geduldigen Selbst- und Welterkenntnis, die westlichen Religionen auf den Weg der Zuwendung und der eingeübten Nächstenliebe. Wahrheit wird zum Ort des Einverständnisses, an dem ich zur Ruhe komme, weil ich mich mit mir und mit der Welt versöhnen kann. In der westlichen Sprachgebung sprechen wir vom Glauben, der zum Vertrauen wird und in der Haltung des Vertrauens nie zum Stillstand kommt.
Ich nannte Glauben und Zweifeln ein Begriffspaar, denn das religiöse Vertrauen in die Wirklichkeit, in ein letztes Geheimnis oder in das Göttliche muss immer wieder mit Enttäuschungen kämpfen. Die Wirklichkeit ist nicht einfach gut und unsere Erfahrungen sind nicht einfach wahr. Wir alle machen Erfahrungen des Bösen. Das sind nicht nur Oberflächen-, sondern massive Tiefenerfahrungen, Lebensenttäuschungen mit uns selbst, mit Mitmenschen, mit Politik und Gesellschaft. Das Buch von Terzani ist voll von solchen Enttäuschungen. Welche massive Enttäuschungen hat er nicht erlebt: in den USA, in Kambodscha, in Vietnam und China, in Indien. Jedes Mal hoffte er, jetzt habe er den wahren Menschen, das wahre Gesellschaftssystem, und er hat diese Enttäuschungen nie verdrängt, sondern immer offen ausgesprochen und seine Schlüsse daraus gezogen.
Dieser Kampf des Glaubens mit der Enttäuschung ist in die Symbol- und Mythenwelt der Religionen eingegangen. Shiva, der Hauptgott des indischen Shivaismus ist zugleich Schöpfer, Bewahrer und Zerstörer. Wer sich ihm anvertraut, kann sich der Schöpfung und Bewahrung erfreuen, muss aber zugleich die Zerstörung akzeptieren.
Jahwe ist der Gott, der einpflanzt und ausreißt. Er ist – ähnlich wie im Christentum – der Schöpfergott, der zugleich das apokalyptische Ende der Erde herbeiführt; der Satan gilt als machtvolle Gegenfigur.
Vom Buddhismus wird im Allgemeinen gesagt, er kenne keinen Dualismus von Gut und Böse, also auch kein Böses, das den Menschen oder seine Welt von außen her bedroht. Aber er sieht die Menschen immer und von Grund auf bedroht, auch wenn sie dafür ihre eigene Verantwortung tragen. „Ich-Wahn, Gier und Hass“ heißt die Trias, an der wir Menschen scheitern können. Der Ich-Wahn ist der angeborene Egoismus, die Ichbezogenheit, an der wir ein Leben lang arbeiten müssen, bis wir uns selbst losgelassen haben. Gier ist das Streben nach Dingen diese Welt, an die sich unser Herz hängt. Hass ist die Negation eines anderen Menschen. Natürlich sagt der Buddhismus, es liege an uns selbst, uns von diesen Zirkeln der Negativität zu befreien. Doch er weißt mit hinreichendem Nachdruck darauf hin, wie schwer es ist, diese Ziele der inneren Befreiung zu erreichen. Wir werden dazu ein Leben, vielleicht mehrere Leben benötigen. Das heißt: ob und wann wir die große Erleuchtung erreichen, können wir nicht wissen. Wir haben in uns selbst bleibenden Anlass zu Zweifeln, zu Selbstzweifeln und einer Überwindungsarbeit, vielleicht einer Sisyphusarbeit, die uns das Ziel nie vollkommen erreichen, nie genügenden Raum für das ersehnte Gute lässt.
Auch der Islam kennt den ständigen Kampf gegen das Böse als innere Aufgabe. Der heilige Dschihad ist ein innerer Krieg gegen die inneren Bedrohungen des Guten, die die Gläubigen in sich ausfechten müssen. Symbolisiert ist dieser Kampf während der Pilgerfahrt nach Mekka, wo die Dämonen in einem eigenständigen Ritus mit Steinen beworfen werden. Der heute von gewalttätigen (bis terroristischen) Richtungen propagierte bewaffnete Kampf gegen die Ungläubigen kann als unsachgemäße Perversion dieses inneren Kampfes gelten.
1.5 Widrigkeiten und Scheitern
Solche Zweifel können in ihrer Intensität verschiedene Formen annehmen.
– Es sind die normalen Widrigkeiten, die kleinen Enttäuschungen des alltäglichen Lebens, mit denen wir alle fertig werden müssen und die zu bewältigen zur normalen Lebenstauglichkeit gehört. Die Eltern und Großeltern unter uns wissen, wie wichtig es ist, Kindern und Heranwachsenden an die Hand zu gehen, wenn es darum geht, diese Lebenstauglichkeit einzuüben.
– Es können massive Lebensenttäuschungen und Verzweiflung sein, eine enttäuschte Liebe, eine zerbrochene Partnerschaft, berufliches Scheitern, schwere, gar unheilbare Krankheit. Wir stehen vor einer schwarzen Wand. Die Religionen bieten zahllose solcher Beispiele. Sie sagen aber nie: Nimm es nicht so ernst, es wird wieder!, sondern leiten uns an, uns damit auseinanderzusetzen.
– Es können schließlich außerordentliche, existentielle Lebenskrisen sein, in denen der Sinn meines Lebens und der Sinn der Welt zusammenbrechen. Die Mystiker haben dies immer wieder beschrieben. Sie raten aber nicht zu Auswegen, sondern zum Durchstehen (Johannes vom Kreuz spricht von der „Nacht der Sinne“). Mehr noch, nach Erfahrung vieler, die solche Nächte durchlaufen haben, wird diese Verzweiflung zur notwendigen Durchgangsstufe einer tieferen Wahrheitserfahrung.
– Doch darf auch dieser Trost nicht zur Belohnung für eine tiefe Verzweiflung bagatellisiert oder instrumentalisiert werden. Der Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz bleibt – zunächst – ein Ruf ins Leere und endet im Tod. Wie unerträglich diese Botschaft ist, zeigt der Koran, der in höchstem Respekt vor dem großen Propheten den Tod Jesu nicht zulässt. Diese Unerträglichkeit bricht auch bei Paulus durch, der erklärt, dass Jesus als Gekreuzigter vom Fluch Gottes getroffen wurde.
1.6 Oft verharmlost
Die westliche Tradition ist mit diesen Erfahrungen des Zweifels und der Verzweiflung nicht immer gut umgegangen. Man hat sie verharmlost, den Eindruck eines sadistischen Gottes erweckt, als hätte Jesus über die Klinge springen müssen, um Gottes beleidigte Ehre zu retten. Nein, ein solcher göttlicher Ehrenmord entspricht nicht den kanonischen Dokumenten. In den biblischen Schriften spielt allenfalls der Gedanke der Stellvertretung eine Rolle. Darauf komme ich später zurück. Es gibt aber zahllose Dokumente, in denen sich die Weltreligionen der Verzweiflung stellen und Lebenshilfen anbieten.
II. Grenzen bedenken
Der Umgang mit den Weltreligionen feiert Hochkonjunktur. Allerdings ist vieles mit Fragezeichen zu versehen. Oft werden Religionen mit simplen Techniken verwechselt. Yoga ist dafür ein gutes Beispiel. Nichts gegen gute und professionell eingeübte Yogaübungen; das moderne, bei uns bekannte Yoga hat sich im 19. Jahrhundert entwickelt. Es setzt auf (körperliche) Entspannung, auf innere Ruhe und Konzentration. Gegebenenfalls werden einige philosophische Ideen über die Einheit von Leib, Seele und Geist hinzugefügt. Es ist aber keine religiöse Übung bzw. Lebenspraxis mehr. En vogue sind auch zahllose esoterische Ansätze und Praktiken. Auch sie sollten wir nicht einfach verteufeln, uns aber darüber klar werden, wie unklar und biegsam der Begriff der Esoterik ist. Wörtlich geht es um ein inneres Wissen, das nur einer erlesenen Gruppe von Menschen zuteil wird. Ursprünglich waren es erlesene und elitäre Kreise, denen Sonderkenntnisse mitgeteilt wurden. Geheimzirkel übten ihre besonderen Riten. Heute hat sich der Akzent verschoben. Die Esoterik strebt ein „inneres“ Wissen an, das nur denen zukommt, die sich mit den geheimnisvollen Aspekten der Wirklichkeit und mit dem Tiefenwissen um sich selbst beschäftigen.
2.1 Sich einordnen:
Diese Art des geheimnisvollen Wissens, das man sich nicht erobern kann, sondern dem man sich in mühsamer Konzentration nähern muss, wurde und wird in allen Weltreligionen gepflegt. Man kann es auch Weisheit oder Innenschau nennen, die man sich durch meditative Übungen oder konzentriertes Meditieren erwirbt. Wer von Ihnen schon einmal in China war, hat an stillen Orten oder in Parkt gewiss schon die Menschen entdeckt, die sich in kunstvollen körperlichen Übungen (Tai Chi) ergehen. Sie drehen sich und strecken ihre Arme nach bestimmen Regeln. Sie wenden sich dem Boden zu oder von ihm ab, schießen in hochkonzentrierter und höchst präziser Weise Pfeile auf Zielscheiben. Aber sie tun das eben nicht mit der westlich-technischen Mentalität, die Rekorde im Bogenschießen erreichen will. Im Gegenteil, sie versetzen sich in einen Zustand des inneren Bei-sich-seins, des Eingeordnetseins in ihre Umgebung, die zur gelassenen Selbstverständlichkeit wird. Es geht ihnen nicht um Perfektion oder Erfolg, sondern um Gelassenheit. Bogenschießen wird zur spirituellen Handlung.
2.2 Der Atem
Ganz anders die Religionen Indiens, aus einer Ur-erfahrung entstanden, die wir alle minütlich machen und die damals zu einer Schlüsselerfahrung wurde. Wir atmen. Stellen oder setzen wir uns hin, schließen wir die Augen und beobachten wir uns selbst. Lassen wir den Atmen tief ein- und wieder ausströmen, ein und aus, ein und aus. Beobachten wir, wie dies – solange wir leben – in einem unaufhörlichen Rhythmus geschieht, beim Wachsein und im Schlaf. Es gibt also einen Stoff, der gleichermaßen allgegenwärtig, in uns und außerhalb ist und uns als Lebensfluidum umgibt, leicht, unsichtbar, unaufdringlich, aber unverzichtbar, wehend oder ganz still. Für die Religionen Indiens wird diese Atemluft zum Ur-Medium des Lebens. Atem, im vedischen Sanskrit atman, wird zum schwebenden Urstoff allen Lebens. In der Regel übersetzen wir ihn mit einen Begriff übersetzen, der in seinem Ursprung ebenso archaisch undefinierbar und ungreifbar ist: Geist: allgegenwärtig, in und zwischen Menschen, geheimnisvoll wirkend. Die semitische und die westliche Kultur geben ihm ein individuelles Gepräge; Seele als Lebensquell, Lebenskern einer jeden einzelnen Person, zugleich die große Antenne, mittels der wir unsere Grenzen überschreiben. Bald wird das Atman als Menschenseele eng mit dem Brahman, der Weltseele verknüpft. Sie sind eins. Kraft unserer Seele sind wir also zugleich in der Mittel der Welt, nie von der kosmischen Kraft getrennt.
2.3 Die Frage nach dem Menschen:
Wir können hier den vielfachen weiteren Differenzierungen dieses Begriffs hier nicht weiter nachgehen, stoßen aber auf einen Punkt, an dem sich diese Vorstellungswelt mit dem des Daoismus trifft. Wer sich auf die Erfahrung des atman einlässt erfährt seine Identität, als den einen inneren Bezugspunkt, zu dem alle Selbsterfahrung zurückkommt. Er erfährt sie aber immer noch als umgeben, eingeordnet, begrenzt. Diese Entdeckung des Atman-Ich scheint der Ursprung aller Weltreligionen zu sein. Sie beginnen nämlich nicht in dem Augenblick, in dem die Frage gestellt wird: wer ist Gott? Die Gottesfrage existiert schon lange zuvor und hat zu sehr absonderlichen Antworten geführt. Der Geist der Weltreligionen beginnt mit der Frage: Was macht uns Menschen zu Menschen? Und ein erster Entwurf gelingt mit der Metapher des Atems. Denn es gibt keinen Menschen, der nicht atmet, deshalb hat die Antwort eine universale Tragweite.
Menschsein lautet also: einen rhythmischen, pulsierenden Lebenskern erfahren, der ein innen und außen, also eine Grenze kennt. Das scheint mir die gemeinsame Antwort aller Weltreligionen zu sein: die Erfahrung einer selbstverständlichen Grenze, die zugleich eine Überschreitung möglich macht. 1000 Jahre später ist diese Grundsituation des Überschreitens eine Grenze unter dem Begriff des Transzendierens/der Transzendenz in unseren Kulturkreis eingegangen.
Zur weiteren Entwicklung der hinduistischen Religionen muss hier eine Bemerkung genügen. Sie hatten ja als eine urwüchsige Religion von vielen Göttern begonnen; wir sprechen von Polytheismus. Aber diese neue Fragestellung nach dem Wesen von Mensch und Welt hat alle Religionssysteme Indiens verändert. Sie ließen eine grundstürzende Überzeugung entstehen: Die zahllosen sympathischen und angsterregenden, ernsten und phantasiereichen Göttergestalten, denen wir bis heute in Indien begegnen, so heißt es jetzt sind nur Erscheinungen des einen göttlichen Brahman. Bis heute gibt es sie und bis heute kann es sie geben. In der Volksreligiosität werden sie, wenn man so will, für bar Münze genommen. Man feiert ihre Feste, pilgert in ihre Tempel und bringt ihnen Opfer. Aber die Weisen, die in die Tiefe der Wirklichkeit schauen, also die Asketen und die meditierenden Philosophen nehmen diesen Götterkult gelassen. Sie stehen darüber und nehmen ihn in ihr symbolisches Zeichenreservoir auf. So können sie auch sagen, in jeder Kuh wohnten tausend Götter. Nach ihrem Befinden hat das nur wenig mit Polytheismus zu tun.
2.4 Auflösung des Subjekts
Ganz anders der Buddhismus, der sich diesem exorbitanten Götterkult stößt. Buddha findet wieder zur Grundfrage nach der Existenz des Atman zurück, kommt aber zum Schluss, dass ein unzerstörbarer Kern der Persönlichkeit nicht existiert. Eine jede Subjekthaftigkeit bedeutet Unerlöstheit. Zu sich gekommen ist nur, wenn auch die innere Grenze zum Nichts geworden ist. Alle Grenzen sind aufzulösen; das Ich wird zum Nichts (zum „Nicht-Atman“) und geht schließlich ins Nirwana ein.
Damit haben Religion und Religiosität eine nie wieder erreichte Radikalität erlangt. Mich interessieren hier weder die daraus folgenden philosophischen Spekulationen, die sich aus dem Buddhismus ergeben, noch die Parallelen, die wir in unserer Kulturgeschichte aufspüren können. Man denke nur an Heideggers die Theorie von der ontologischen Differenz, die endlich zu überwinden sei oder an die Forderung aller Philosophen, alles dingliche Denken zu überwinden. Das Sein ist keine Summe vom Wirklichkeitsklötzchen. Mich interessiert die ungeheure Ausstrahlung, die das buddhistische Denken auf den Westen ausübt.
– Beispiel Terzani 1
Ich komme zurück auf Terzani zurück, den weltberühmten Buchautor und Spiegeljournalisten, Kenner der südostasiatischen Welt, der schon immer nach der Wahrheit hinter den Dingen schaute und die Mentalität der Chinesen und Vietnamesen, der Kambodschaner und der Inder bewunderte, in ihrer Kultur einen ungeheuren Reichtum vermutete, der der westlichen Kultur überlegen ist. Der politische Journalist entwickelt tiefschürfende Fragen. „Weißt du“, erklärt er einmal seinem Sohn: „die Menschheit hat mich immer brennend interessiert. Was ist der Mensch nur für ein Wesen? Und so bin ich am Ende bei der vielleicht törichten, aber doch enorm wichtigen Frage angelangt, die sich letztendlich alle stellen: Wer bin ich? Wer sind wir? Der Mensch, die Menschheit … die hat es mir angetan. Wohin treibt sie? Was tut sie? Bessert sie sich oder eher nicht? (140)
1997 erreicht ihn eine Krebsdiagnose. Jetzt wird es für ihn ernst, aber sein Verhalten zeigt, dass sich in ihm etwas verändert hat. Er lässt sich in radikaler Weise auf diese Herausforderung ein. Er vertraute sich nicht der westlichen Medizin an, sondern zieht sich ein Ashram im Himalaya zurück und bleibt dort drei Monate, um die Wahrheit über sich zu erfahren. Sein Ziel dieses Aufenthalts hat er nicht genau geschrieben. Zunächst erklärte er, er wolle gegen seine Krankheit kämpfen, denn er hatte gelernt, dass der Buddhismus auf die die eigenen Kräfte der Menschen und seines Körpers setzt. Aber unter der Anleitung seine geistlichen Meisters lernt, er, loszulassen. „Der Alte sagte immer: „Du musst loslassen, loslassen, alles, was du kennst. Lass es los. Hab keine Angst, mit leeren Händen da zu stehen, denn eben dieses Nichts wird letztlich deine Stütze sein.“ (370) Terzani erklärte nie, dass ihm dieses Loslassen gelungen sei. Das wäre noch ein letzter Rest seiner Stolzes gewesen. Doch anscheinend ist es ihm am Schluss doch gelungen. Kurz vor seinem Tod erklärt er: „Die ersten Wochen dort oben im Himalaja waren magisch. Sie haben mich vollkommen umgekrempelt. Auf einmal erschien mir alles in einem anderen Licht, alles bekam eine andere Bedeutung. Damals habe auch ich ‑ das muss ich dir gestehen, obwohl ich mir am liebsten auf die Zunge bisse ‑ dieses Aufleuchten erlebt, das du bei deinem Tibeter erfahren hast. Einen Augenblick, nachts, weißt du, während einer Meditation. Etwas, was … Auf einmal war ich jenseits. Und das … Er verstummt. Womöglich ist es nur ein Tropfen, doch ist es wie der Ozean. (370f.)
Der Buddhismus hat diese Erfahrung in viele Gewänder gekleidet. Das ist die „Erleuchtung“, oder er ist das Erwachen, wenn ein Mensch aus seinem Schlaf aufgerüttelt wird. Andererseits sind es die beeindruckenden Statuen vom liegenden Buddha, der ruht (also völlig zu sich kommt) oder ins Nirwana eingeht und dort erlöscht.
Die Menschheitsgeschichte kennt wohl keine beeindruckenderen Zeugnisse für die Haltung der Gelassenheit, die loslässt, sich an keinen Grenzen mehr stößt und so von allem Leistungsdenken Abstand genommen hat.
Werfen wir vor diesem Hintergrund noch einen Blick auf die westlichen Religionen
2.5 Suche nach Transzendenz
Das Judentum bietet ein reiches Schauspiel über die Entwicklung seiner Frage nach der Transzendenz. Zuerst zeigen sich Bilder vom mächtigen Gott und von Menschen, die sich der Transzendenzfrage allmählich nähern. Das schafft natürlich Grenzerfahrungen, aber sie sind ambivalent. Wer auf seinen jenseitigen allmächtigen Gott allzu stolz ist, sonnt sich gerne im Licht dieser Transzendenz. Das ist eine ambivalente Situation. Es waren – beginnen mit dem 8. Jh. vor Christus – die Propheten, die das Thema der Grenze und Begrenzung mit Nachdruck thematisieren. Eine beispiellose Welle der Verinnerlichung und der existentiellen Verantwortung durchzieht das Volk. Jetzt erst wird wirklich begriffen, dass Grenzerfahrung und Grenzerfahrungen und Maßstäbe setzen. „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele …“ Es ist die Linie der prophetischen Verinnerlichung, die Jesus, der große Sohn des Judentums, aufgegriffen hat.
2.6 Gemeinsam und verbindlich
In den monotheistischen Religionen bekommt die Grenzerfahrung eine andere Dimension. Es ist die Grenze der gesamten Menschheitsgemeinschaft mit ihrer Frage, in welchen Raum sie sich einzuordnen hat. Hier drängt sich ein weiterer Aspekt in den Vordergrund. Es ist die Erfahrung, der gegenseitigen Grenze, der Solidarität und des Einsatzes für eine gegenseitige Gerechtigkeit. Dementsprechend erfährt diese Dimension auch eine andere Erfüllung. Es ist die Erfahrung des Zusammengehörens und der gelungenen Gemeinschaft.
– Beispiel Terzani 2
Ich komme zu Terzani zurück. Er war auf diese Wochen gut vorbereitet. Intuitiv hatte er schon zuvor gespürt, dass hinter der weltlichen Wirklichkeit, also jenseits dieser Grenze, ein sinnvoller Zusammenhang steht. Schon vorher hatte er gelernt, den Gang der gegenwärtigen Geschichte kritisch einzuschätzen: „Unsere Stütze ist doch nicht all der überflüssige Kram, an dem wir hängen. Wer hält das alles zusammen? Wer, oder was? Stiege die Temperatur nur um ein paar Grad an, würden die Polarkuppen schmelzen, und alles wäre vorbei. Aber noch ist es nicht so weit. Wer lässt die Vögel zwitschern? Es gibt ein kosmisches Wesen, und wenn du einmal gespürt hast, dass du ihm angehörst, brauchst du nichts anderes mehr. Damit geht alles los“ (370).
Er verlässt den Ashram nach drei Monaten und akzeptiert eine weitere ernüchternde Erkenntnis: „Ich habe eifrig gelernt und tiefe Verehrung für den Lehrer empfunden, für alles, was ich ihm verdankte. Und doch war es mir unmöglich, einer von seinen Anhängern zu werden, die ihm morgens die Füße berührten, um sich mit Energie aufzuladen. Es ging einfach nicht. Trotz allem blieb ich tief im Herzen ein Florentiner, ein Skeptiker. Irgend wie hatte ich das Gefühl, mitten in der Furt zu stehen. [vgl 362] Zurück konnte ich nicht mehr, schließlich hatte ich den Eindruck, einen deutlichen Schritt voran getan zu haben. Doch ich konnte auch nicht einfach ans andere Ufer waten und sagen: ‚Da bin ich, nun bin ich einer von euch!‘“ (359). (Es ist unsere Situation der Postmoderne).
Hatte er also nichts gelernt. Im Rückblick wage ich die Behauptung. Genau diese Selbstbescheidung war es, die dieser immer ehrgeizige Schriftsteller und Journalist lernen musste. Seiner Grenzen bewusst wurde er bescheiden. Er zog sich nach Orsigna zurück, schrieb noch zwei Bücher. Und unversehens war ihm eine letzte Grenzüberschreitung in die Grenzenlosigkeit der Wahrheit gelungen. Er war schließlich bereit, den Tod zu akzeptieren; das vermittelte ihm einen tiefen Frieden.
„Wer hätte das gedacht, dass ich mein Leben trotz einer Krebsdiagnose ohne jede Hoffnung bis zum Schluss genießen würde? Sollte mir das nicht reichen? Was sollte ich denn sonst noch wollen? Hm? Dass man mir ein Denkmal setzt?
FOLGO: … Obwohl .. vielleicht hat du recht; wenn man den Tod annimmt, was kann man dann noch wollen? Was kann es innerlich Größeres geben, als den eigenen Tod anzunehmen? (364)
TIZIANO: Noch ein Schritt weiter wäre es, Gut und Böse zu integrieren, Leben und Tod. Wenn du das nicht nur mit dem Kopf verstehst, sondern wenn dir diese Integration wirklich gelingt, hast du intuitiv, mit dem Herzen, die Quintessenz des Universums erfasst; dass es zwischen asuras und devas im Grunde keinen Unterschied gibt, dass Dämonen und Götter sich zwar zu bekämpfen scheinen, letztendlich aber ein und dasselbe sind.“ (364f.)
Dennoch bleibt er auch jetzt nüchtern; er verdrängt die Situation seiner Krankheit nicht:
„Klar, dann ist da immer noch dieser andere Teil, das muss man einfach zugeben… Weißt du, wenn dich diese furchtbaren Schmerzen durchbohren, hier, dort, im Magen, verlangt der Körper unendlich viel von dir. Er verlangt deine ganze Aufmerksamkeit, er will nicht, dass du dich ablenken lässt. Gelingt dir das aber doch einen Moment, dank einer Pille oder weil deine Aufmerksamkeit von etwas anderem angezogen wird, fühlst du dich wie ein anderer Mensch. Mir geht es gut, wirklich, das ist nicht gelogen, und es wäre auch nicht recht, dich in dieser Sache anzulügen. Am liebsten würde ich lachend sterben. Und sollte das sehr schwer oder gar unmöglich sein, lachen wir eben nicht ganz so lange — und das war’s dann.
Das spüre ich ganz stark, und das ist das Ergebnis der drei Jahre mit dem Alten. Ach was, der ersten drei Wochen! Was du brauchst, ist eine Gelegenheit. Manchmal war er durchaus grausam, obwohl es sicher nicht immer nötig gewesen wäre. Aber wenn es jemanden gibt, der Tiziano Terzani zertrümmert hat, dann er. ‚Der Tag, an dem es mir gelingt, dein Ego aufzubrechen, wird es bis zum Himmel stinken!‘, hat er immer gesagt. FOLCO: Mama sagt, sie habe euch einmal nebeneinander den Weg zum Wald hinuntergehen sehen, zwei alte Männer, du baumlang und er klein wie ein Zwerg und noch viel älter als du. Dabei habe sie den Eindruck gehabt, am liebsten hättet ihr euch geprügelt.“(370)
Terzani hat also gegen die letzte Erkenntnis gekämpft und sich doch lachend geschlagen gegeben.
Es muss in den letzten Tagen seines Lebens gewesen sein, dass Terzani doch noch einmal eine letzte Umwandlung erfährt. Er erfährt, dass auch keine Religion sie selbst bleiben kann. Zwar bietet die Wahrheit keinen Weg; man muss sie selbst finden. Und sie lebt nur, indem sie sich selbst ständig auf die Probe stellt „Was wir brauchen, ist ein spiritueller Kraftakt, ein Überdenken der alten Muster, ein allgemeines Erwachen. Und das hat mit Wahrheit zu tun, etwas, worum sich heute keiner mehr schert. Auch darin war Gandhi groß. Er suchte die Wahrheit, das, was hinter allem steht. ‚Früher dachte ich, Gott sei die Wahrheit. Heute würde ich sagen, die Wahrheit ist Gott.‘ (344)
Die Wahrheit ist Gott. Das ist ein kühner Satz, den Christen nur mit einiger Vorsicht sagen durften. Es ist aber ein unverzichtbarer Satz, weil er auch unsere liebgewordenen Gottesbilder auf die Probe stellt.
Zum Schluss gelingt es ihm, loszulassen: „Das ist das Ergebnis des Himalaja, als ich begonnen habe, meine Wünsche über Bord zu werfen. Es war auf einmal alles eins. Alles eins. Das Schöne ist, wenn du alles eins sieht, verändern sich die Dinge von Grund auf. Dann blickst du auf die Erde und merkst, dass alles eins ist, dass nichts abgetrennt ist von dir. Und das Schöne ist, wenn du alles eins siehst, wird dir bewusst, dass es keine Unterteilungen mehr gibt. Das heißt, wenn du die Blumen und das Gras betrachtest, sind sie nicht mehr Blumen und Gras, sondern Teil dieser majestätischen Schönheit des Lebens, Da braucht man sich nicht mehr zu fragen, ob das ein Stein ist oder eine Pflanze. Sobald du zu schauen beginnst, merkst du, dass alles eins ist.“ (408)
III. In die Welt eintauchen
Ich weiß, dass ich mit diesen Überlegungen an eine Grenze gekommen bin, die dazu einlädt, den Vortrag zu beenden, Sie alle in einen Ashram im Himalaya, in ein sufistisches Kloster oder in die Zelle eines Kartäuserkloster zu schicken. Doch möchte ich es nicht bei einem pathetischen Lob mystischer religiöser Erfahrungen belassen. In dieser Kapelle, also an einem Ort des Schmerzes, schwierigster Lebensentscheidungen und täglicher Abschiede, von Enttäuschungen, auch von Mit-Leiden und Solidarität kann aber auch dies klar werden: Letztlich geht es nicht um eine Weltabgeschiedenheit, die im Alltag aller Weltreligionen eine Ausnahmesituation darstellt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Weltreligionen erziehen dazu, das Grundparadox menschlichen Lebens nicht auszublenden. Schmerz, Abschied und die Frage nach allem, was dahinter steckt und danach kommt, dies alles gehört ins normale Leben hinein.
3.1 Vom Ausnahmefall zum Normalfall
Bis jetzt habe ich von religiös Privilegierten gesprochen, die die Botschaft ihrer Religionen besonders herausarbeiten konnten. Wir alle sind das nicht. Auf den ersten Blick sind wir das in einer säkularisierten, von Leistungsdruck und wirtschaftlichen Zwängen gejagten Zeit weniger denn je. Die paradoxe Botschaft der Weltreligionen lautet also: Tauche in die Welt ein, um auch ihre Grenzen und Hintergründe kennen zu lernen. Akzeptiere sie ohne dir Scheuklappen anzulegen oder die wunden Stellen zu überpflastern. Das verlangt Anstrengung. Diese Anstrengung kann heute, keine 10 Tage nach den Anschlägen von Brüssel und unter dem Eindruck, der von Hunger, Repressionen und Tode bedrohten Menschen in Syrien, im Irak, in Afghanistan uns sonst wo, oft unerträglich werden. Warren Richardson, der an der serbisch-ungarischen Grenze das bekannte Foto vom Flüchtling machte, der in der Dunkelheit ein Baby durch den Stacheldraht schiebt, sagte vor einigen Tagen in Rottenburg: „Schauen, wo es weh tut“.
3.2 Epoche der Säkularisierung
Manchmal denke ich, dass eine Epoche der Säkularisierung über uns kommen musste. Sie heilt uns nämlich vom Irrtum, Religionen seien da, um uns von der Welt abzulenken. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist endlich Zeit dass wir die Kehrseite der äußeren Transzendenz wieder entdecken. In ihr unterscheiden sich die Religionen. Sie können sich bekriegen, weil eine jede ihre Gottesvorstellungen für die einzig wahren hält. Das ist eine verständliche, aber verderbliche Folge der Leidenschaft, die in Religionen zu Hause ist. Entscheidend, uns alle verbindend ist die innere Transzendenz, die Einkehr in die Tiefe der Welt und ihres Alltags.
3.3 Die Welt verlässlich gestalten
Deshalb sollten wir zum Schluss noch die Spiegelfrage stellen, die sich daraus ergibt. Welche Perspektiven und Grundhaltungen haben die Weltreligionen zu einer nachhaltigen, beständigen Gestaltung unseres Alltags herausgearbeitet. Bis jetzt konnte der Eindruck entstehen, die Kernfragen des Vertrauens und des Zweifelns, der Grenzerfahrungen und Grenzüberschreitungen sollten unser Interesse möglichst schnell von dieser Welt wegverlagern. Deshalb füge ich hinzu: Diese Erfahrungen setzen Weltvertrauen, menschliche Solidarität und die Sorge um eine gemeinsame Menschheitszukunft voraus, waren mit ihnen zuinnerst verwoben. Es gibt Hintergründe, aus denen die Weltreligionen ihre Kraft zu einer menschlichen Lebensgestaltung schöpfen.
3.4 Konsens der Weltreligionen
Das Projekt Weltethos hat sich mit diese Frage auseinandersetzt und dies gezeigt: In diesem grenzenlosen Eintauchen in die Welt haben alle Weltreligionen geradezu synchron vier Grundregeln entwickelt, die ihnen gemeinsam sind. Dabei zeigt sich: Die Weltreligionen denken und fühlen zutiefst menschlich. Sie orientieren sich an den Grundkonstanten menschlicher Existenz: Leben, Teilhabe, Mitteilung und Fruchtbarkeit Es geht um
– unbedingten Respekt vor dem Leben. Er ergibt sich aus der Tatsache, dass niemand von uns ohne ein physisch-organisches leben da sein könnte. Wer dies akzeptiert, muss es für alle akzeptieren. Die Grenzregel lautet: Gewaltverzicht.
– Einsatz für vorbehaltlose Gerechtigkeit für alle. Sie ergibt sich daraus, dass alle Güter der Welt nur begrenzt vorhanden sind. Leben heißt teilen. Dieses Teilen beginnt mit Lebensbeginn, bestimmt alle politischen Fragen der Gesellschaft und endet in der Sorge um Kranke und Sterben. Die Grenzregel lautet: Solidarität
– Sorge für Wahrhaftigkeit. Sie ergibt sich daraus, dass wir uns täglich einander mitteilen müssen, wenn wir menschlich miteinander leben wollen. Die Grenzregel lautet: Vertrauen und Verbot der Lüge.
– Gegenseitige Treue. Wir dürfen uns nicht verraten, weil wir damit uns selbst verraten. Diese Treue betrifft sexuelle Beziehungen und Beziehungen der Partnerschaft ebenso wie die Sorge für die Schwachen und die Alten. Unsere Zusammengehörigkeit ist im Fleisch begründet und kann sich trotz aller Digitalisierung der Welt von dieser Fleischlichkeit nicht dispensieren. Die Grenzregel lautet: Schutz der Würde von Menschen.
– Justieren und zusammenfassen lassen sich diese Lebenshilfen in der Goldenen Regel, die in allen Weltreligionen auftaucht. Tu anderen nicht an, was Du nicht möchtest, dass es dir angetan wird. Radikalisiert in den Geboten der Nächsten- und der Feindesliebe.
3.5 Ein säkulares Programm
Ist das nicht ein moralinsaures Programm, das die Religionen auf einige moralische Anweisungen reduziert? Geht es nicht um eine „moralische Aufrüstung“, wie sie 1938 in Caux (Schweiz) begründet wurde? Nein. Die „moralische Aufrüstung“ von Caux strebt einer moralische Erneuerung der Welt in Jesus an. Mit dieser Beschränkung verschärft sie die interreligiösen Eifersüchteleien und Spannungen, erreicht also das Gegenteil. Um mit Joachim Gauck zu reden: „Gerade in diesen Wochen sollten wir daran denken, was wir gelernt haben, hier im sogenannten christlichen Abendland. Und man kann das christliche Abendland heute weder verstehen, noch schützen, noch verteidigen, wenn man diese Lektion vergisst. Wer, wie einige Verwirrte, glaubt, das christliche Abendland mit der Herabsetzung Anderer, mit Ausgrenzung Andersgläubiger, mit Hassparolen oder gar Säuberungsphantasien verteidigen zu sollen, der hat es schon verraten.“ (6. März 2016, Woche der Brüderlichkeit in Hannover).
Das Projekt Weltethos versteht sich nicht als a-religiöses, gar als religionskritisches Projekt sondern als ein säkulares Projekt, das auch aus religiösen Quellen lebt. Erschrecken Sie nicht, kein religiöses Projekt. Damit wird keine Religion kritisiert, aber deren innerster Kern dargelegt. Alle Weltreligionen leben aus zutiefst menschlichen, humanen Impulsen. Dieses Programm verbindet Religionen und Welt. Jesus wollte keine Kirche gründen, Buddha keinen Buddhismus kreieren, Mohammed das jüdische Erbe und das Erbe des Propheten Isa nur erneuern. Gestalten wie Terzani zeigen das. Er sprach immer von der Sache, der Zukunft der Völker, der Sorge für ein gewaltfreies Zusammenleben. Jesus sprach vom Reich Gottes, dem Fest der Versöhnung.
IV. Sich der Gegenwart stellen
4.1 Keine Ethik, sondern erfahrbare Selbstverständlichkeit
Wer vorbehaltlos in die Welt eintaucht, kann auch ein Gespür entfalten für den Unterschied zwischen moralischen Regeln und dem Ethos der Welt- und Menschenbejahung, in denen sich die Grundimpulse der Weltreligionen spiegeln. Die genannten Lebensregeln formulieren keine außerordentliche, heroische Lebenspraxis, sondern Grundhaltungen, die sich aus dem großen Zusammenhang wie selbstverständlich ergeben. Wenn die Menschheit sich erhalten will, kann sie gar nicht anders als
– Leben kategorisch zu schützen (-> Leben),
– Gerechtigkeit unteilbar herzustellen (-> Teilhabe),
– prinzipiell aller Unaufrichtigkeit und Korruption den Hahn abzudrehen (-> Kommunikation),
– sich in der Treue zu Mitmenschen zu verankern, von denen ich abhänge und die von mit abhängen (-> Weitergabe von Leben),
– human zu handeln (-> in Frieden versöhnte Gesellschaft).
4.2 Bewusstsein und praktische Erfahrung
Es geht also nicht in erster Linie darum, moralische Regeln einzuschärfen. Überlebensnotwendig ist vielmehr ein neues Bewusstsein um unsere Situation. Wem einmal die grassierende Brutalisierung der Weltgesellschaft klar geworden ist (Vernichtungsparolen, Terroranschläge, weltweite verzweifelte Flüchtlingsbewegungen), dem sind diese Regeln selbstverständlich. Joachim Gauck erklärte: „Wir erleben doch in diesen Tagen eine zutiefst zerstrittene Welt, eine Welt, in der Not und Krieg Menschen zu Hunderttausenden, ja Millionen in die Flucht treibt. Wir erleben eine Welt, in der Hass immer neue Gewalt gebiert, in der Gewalt immer neue Vergeltung provoziert.“ Diese Welt lässt nur die Alternative zwischen Hass und Geschwisterlichkeit zu. Weiter moralische Überlegungen sind in dieser Situation überflüssig.
4.3 Weltweite Gemeinschaft
Um diese Selbstverständlichkeit geht es ebenso wie um das Bewusstsein, dass wir mit diesen Regeln nicht alleine sind. Sie werden auf den Antillen ebenso verstanden wie in Kasachstan, in Kanada ebenso wie auf Sizilien, in der Ukraine und in Somalia. Wir kommen erst weiter, wenn wir die Grenze zwischen dem Ich und dem Anderen aufsprengen. Die Weltreligionen führen uns nicht ein eine jenseitige Welt, sondern zeigen uns eine Wahrheit, die wir noch nicht begriffen haben. „Der Lachende hat die furchtbare Nachricht noch nicht empfangen.“
4.4 Sinnhorizont – letzte Instanz
Natürlich liegt im Weltethos nicht das Heil der Welt. Niemand muss sich zu einem Anhänger oder eine Anhängerin des Projekts Weltethos entwickeln. Aber das Bewusstsein um diese menschliche Grundorientierung scheint mir unverzichtbar. Unser ethisches Verhalten wir erst dann stabil, wenn es in einen Sinnhorizont eintritt, der ihm eine unzerstörbare Endgültigkeit tritt.
– Die chinesischen „Religionen“ sprechen von einer letzten Ordnung oder Harmonie,
– die Religionen Indiens vom Brahman, das sich mi dem Atman des Menschen verbindet,
– der Buddhismus vom Gesetz des Karma und dem Ziel des Nirwana,
– die prophetischen Religionen von Gott: JHWH, dem Vater Jesu Christi oder von Allah, dem Allbarmherzigen,
– in einer säkularen Kultur sind wir auf der Suche nach neuen Worten, die diese Endgültigkeit und Verbindlichkeit ausstrahlen
Unverzichtbar ist es gerade an Orten, an denen die Hinfälligkeit von Menschen offenkundig wird: ihr (innere und äußere) Armut und Einsamkeit, ihr Leiden und ihre Verletzlichkeit bis hin zum Tode.
Irgendwie und diffus wissen wir das alle. Deshalb ist es gut, wenn sich dieses Wissen zu einer Vision verdichtet, die uns Gewissheit verleiht und das Bewusstsein, dass wir in unserem Handeln und in unseren Haltungen auf dem guten Weg sind. Wir brauchen Visionen, klare Zielvorgaben, zumal Institutionen in denen er um den Menschen geht.
Vortrag vom 31.03.2016