Eine streitlustige Rück- und Vorschau
Bei Katholiken ist das 2. Vatikanische Konzil, nahezu 40 Jahre nach seinem Abschluss, seit der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst (April 2005), erneut ins Zentrum des Interesses gerückt. Das ist erstaunlich, denn nach 40 Jahren könnte ein Reformprozess abgeschlossen sein; inzwischen haben wir neue Fragen zu bewältigen.
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (Gaudium et Spes, Nr. 1)
Bei Katholiken ist das 2. Vatikanische Konzil, nahezu 40 Jahre nach seinem Abschluss, seit der Wahl Joseph Ratzingers zum Papst (April 2005) erneut ins Zentrum des Interesses gerückt. Das ist erstaunlich, denn nach 40 Jahren könnte ein Reformprozess abgeschlossen sein; inzwischen haben wir neue Fragen zu bewältigen. Schließlich haben sich die deutsche und die europäische Gesellschaft ebenso dramatisch weiterentwickelt wie die soziale und ökologische, die ökonomische und politische Situation der gesamten Erde, die sich zudem in einem bislang unbekannten Prozess der Globalisierung befindet[1]. So entbehrt die aktuelle Rückerinnerung an die 1960er Jahre für Außenstehende nicht einer gewissen Komik. Sind Katholiken wirklich so rückständig?
Doch es gibt für diese Rückerinnerung einen doppelten Grund.
(a) Reformwillige Katholiken mahnen die Einlösung damaliger Beschlüsse und die Aufbrüche dieses Konzils immer noch an. Zudem tritt die Generation der damaligen Augenzeugen allmählich ab und fragt sich, wie man den Geist jener Jahre so massiv verdrängen konnte.
(b) Nach dem langen Pontifikat Johannes Pauls II. versucht der neue Papst in aller Form, das Konzil in ein kritisches Licht zu rücken, seine neuen Impulse also auch theoretisch zu eliminieren.
In seiner Rückschau (auch er ist Augenzeuge) eröffnete das Konzil nicht eine neue Ära der katholischen Kirche. Er betrachtet es als Grenze einer Entwicklung, die keinesfalls weiter voranzutreiben, sondern vollständig in die vorkonziliare Tradition einzubinden, in ihren Auswirkungen also zu begrenzen ist. Vorkonziliare Tradition bedeutet aber konkret: Rückkehr in eine antireformatorisch autoritäre Tradition, die zuletzt Pius XII. verkörperte, und in ein Denken, das sich noch nicht versöhnt hat mit Moderne und Demokratie, mit Menschenrechten und Religionsfreiheit, mit ökumenischer Offenheit und interreligiöser Gesprächsbereitschaft. Wie aber will man so auf religiösem bzw. theologischem Gebiet noch eine Epoche bewältigen, in der die Säkularisierung weltweit fortschreitet, die politischen und sozialen Probleme nur noch auf entschieden demokratischen Wegen zu bewältigen sind und die Religionen (das Christentum eingeschlossen) vorbehaltlos in weltweite interkulturelle und politische Zusammenhänge einbettet[2]?
Damit erhält die gegenwärtige innerkatholische[3] Diskussionslage für Außenstehende geradezu absurde Züge. Am Beginn des 21. Jh. gibt es in Europa eine Gruppe von über 200 Millionen Menschen (immerhin 55 % ihrer Gesamtbevölkerung), deren offizielle Vertreter noch vormodernen Strukturen anhängen, die innerhalb der eigenen Reihen weder demokratische Modelle noch die Gleichberechtigung von Frauen akzeptieren[4]. Bis heute hat der Vatikan die Europäische Charta der Menschenrechte noch nicht unterschrieben. Engagierten Katholiken jedoch vergeht bei dieser Absurdität das Lachen: Schon im Namen der Menschlichkeit, aber auch aus speziell christlichen Motiven ist die aktuelle Situation untragbar. Immer neu hat man in den vergangenen Jahrzehnten dagegen reagiert. Immer entschiedener werden diese Initiativen ignoriert und nach Möglichkeit blockiert. Paradigmatisch dafür steht Bischof G. L. Müller von Regensburg, der Herrn F. Wallner das passive Wahlrecht für Laiengremien in seiner Diözese abspricht und darin von römischen Gremien bestätigt wird. Dieses bischöfliche Vorgehen spricht allem christlichen Verhalten, die juridische Behandlung des Falles durch die römischen Stellen aller Rechtlichkeit Hohn.
Insofern hat die Initiative kritischer Katholikinnen und Katholiken vom Frühjahr 2009 anlässlich der Affäre um Richard Williams paradigmatische Bedeutung. Die von über 54.000 Personen unterzeichnete Petition fordert die uneingeschränkte Anerkennung des 2. Vatikanischen Konzils. Dies geschah nicht aus nostalgischen Gründen, sondern aus Gründen der inneren Erneuerung und mit dem Ziel, in der Gestaltung innerkirchlicher Verhältnisse sowie im Umgang mit der Welt endlich in uneingeschränktem Sinne christlich, sachgemäß und human handeln zu können. Die Anliegen dieses Konzils sind endlich einzulösen, weil sie aus sich selbst sprechen. Dieses Konzil wird erfüllt sein, wenn es sich selbst erledigt hat. Solange dies aber nicht eintritt, wird die katholische Kirche mit einem massiven Defizit ihrer Glaubwürdigkeit belastet sein.
Mit dieser Problemstellung sei im Folgenden das 2. Vatikanische Konzil noch einmal beleuchtet: Was hat sich auf dem Konzil ereignet, was hat es faktisch bewirkt, worum dreht sich die aktuelle Auseinandersetzung und wie geht es – mit dem Konzil und nach ihm – weiter?
I. Die Konzilsereignisse (1962–1965)
1.1 Ankündigung (Januar 1959) und Inspirationen Johannes’ XXIII.
Erinnern wir uns: Im Januar 1959 kündigt Johannes XXIII. die Einberufung eines Konzils an. Nördlich der Alpen steigen die Erwartungen sofort an. Endlich will man aus der bedrückenden Epoche des hochautoritären Pius XII. heraustreten. Theologisch und kirchenpraktisch ist in Ländern wie Frankreich, Deutschland, Österreich und Belgien schon viel vorgearbeitet. Ich nenne für Deutschland Namen wie M. Schmaus und R. Guardini. Bald kommen der junge K. Rahner und (seit 1957) der Shootingstar H. Küng dazu. Seit 1962 gilt J. Ratzinger als große Hoffnung. In Frankreich arbeiten schon seit den Kriegsjahren u.a. H. de Lubac und Y. Congar[5], seit 1956 der belgische Theologe E. Schillebeeckx. Hinzu kommen in einigen Ländern die Liturgische Bewegung und katholische Jugendorganisationen. Von hochrangigem Einfluss ist die Bewegung der Arbeiterpriester in Frankreich. Hier seien fünf Aspekte besonders genannt.
(1) Aggiornamento
Johannes XXIII. fasst diese Neuansätze und seine eigenen Ziele im Begriff „aggiornamento“ zusammen. Er ist nur schwer zu übersetzen mit Begriffen wie Anpassung, Aktualisierung, Neuübersetzung oder einfach fällige Erneuerung. Bis in die Gegenwart hinein wird immer wieder versucht, diese Losung als oberflächliche Anpassung zu diskriminieren. Dem Historiker Johannes XXIII., der die düsteren Zeiten des Antimodernismus[6] erlebt hat geht es darum, dass der christliche Glaube in einer schwieriger gewordenen Gegenwart neu verstanden, neu ausgesprochen und neu praktiziert wird. Dieser sein Leitgedanke hat sich bis in die Gegenwart durchgehalten.
Von Anfang an weckt er mit seiner charismatischen Ausstrahlung viele Erwartungen; bei Gegnern der Erneuerung löst er Ängste und harte Widerstände aus. Bis heute haben sich diese Reaktionen nicht geändert. Von Anfang an wird auch die Frage gestellt, ob diese Polarisierungen nicht ein typisches Phänomen in den westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern sind. Das mag sein, zugleich aber gibt es dafür einleuchtende Gründe, denn in anderen Ländern und Kontinenten ist die katholische Kirche noch kaum zu einem selbständigen Leben erwacht; die Epoche der Kolonialisierungen und des Imperialismus wirkt nach. Zunächst begreift man nur in Westeuropa und in Nordamerika, welche tiefgreifenden Änderungen dieses kirchliche aggiornamento auslösen kann. Zugleich ist das die Folge vor allem theologischer Niveauunterschiede zwischen den Ländern, in denen an (öffentlichen) Universitäten oder hochqualifizierten Hochschulen theologische Forschung betrieben wird und solchen Ländern, die nur kircheneigene Seminare zur Weitergabe des theologischen Standardwissens betreiben[7].
(2) Ökumene
Zugleich zeigt sich vom Augenblick der Konzilsankündigung an, dass der Frage der Ökumene eine Schlüsselfunktion zukommt, denn die vorhergehenden Jahrhunderte waren stark antireformatorisch geprägt. Zudem werden ökumenische Erwartungen durch ein Missverständnis ausgelöst. Man bezieht den innerkatholischen, jetzt allseits verkündeten Fachbegriff „Ökumenisches Konzil“ nicht auf den althergebrachten Anspruch Roms, für die gesamte Christenheit zu sprechen, sondern auf die konkret existierende ökumenische Situation. Wie nicht anders zu erwarten, verweigern die orthodoxen Kirchen die Teilnahme an einem von Rom einberufenen Konzil. Die evangelischen Kirchen dagegen beanspruchen seit 430 Jahren beanspruchen den Status einer eigenen Konfession[8] und 1563 endet das Konzil von Trient, das von katholischer Seite aus den Bruch reformatorischen Bruch endgültig besiegelt. Seitdem sind die ökumenischen Fragen der westlichen Kirche (die Problematik der Reformation also) nicht nur ungelöst und nie einvernehmlich besprochen, sondern auch in einer langen Geschichte von theologischer Aufrüstung, gegenseitigen Verletzungen und grausamen Kriegen verhärtet. Es ist höchste Zeit, in dieser Frage einen Schritt weiterzukommen[9], aber dafür ist mühsame Arbeit notwendig.
(3) Gesellschaft und Welt
Zugleich bricht eine breite Skala neuer Fragen auf, die sich auf die Situation einer Gesellschaft und einer Welt beziehen, sie sich – nach den Ereignissen zweier Weltkriege und der moralischen Katastrophe der Shoah – tiefgreifend verändert hat. Es geht ebenso um neue anthropologische Fragestellungen wie um kulturelle und soziale Umwälzungen, um hochdifferenzierte Probleme der ökonomischen und politischen Weltsituation wie um theologisch formale Aspekte: Wie etwa gehen wir mit der Säkularisierung um und was ist von der Autonomie der Welt und der Wissenschaften zu halten? Wie gehen wir um mit den weltanschaulichen Großideologien (Kommunismus, Kapitalismus, Humanismus)? Hier ist wirklich Neuland zu beackern – es ist so neu, dass niemand die tatsächlichen Entwicklungen der späteren Theologie oder Philosophie voraussehen kann. In diesen Fragestellungen deutet sich ein Paradigmenwechsel an, dem Theologie und Kirche – zumindest in Deutschland – ahnungslos entgegengehen.
(4) Warum ein Konzil?
Wichtig ist von Anfang an die Frage, wer dieser Konzilsankündigung kritisch gegenübersteht und was die Gründe dafür sind. An diesem Punkt zeigt sich ein Phänomen, das sich bis heute durchhält. Am kritischsten sind diejenigen, die den Kern der römischen Zentralmacht bilden bzw. ihr am nächsten stehen, die durch Reformen also nur zu verlieren haben. Es sind die Hauptvertreter der Kurie, Kardinal Ottaviani etwa, damaliger Präfekt der Inquisitionsbehörde, die sich inzwischen „Heiliges Officium“ nannte und später „Glaubenskongregation“ genannt wird. Wie andere kann er nicht sehen, was so eine Veranstaltung überhaupt soll. Die dogmatischen Fragen (und andere sieht er nicht) seien nahezu alle gelöst. Übrig blieben nur noch einige Fragen der Mariologie, etwa ihrer Gnadenmittlerschaft. Hier zeigt sich bald eine Front der Unerbittlichen und der Unbekehrbaren. Sie blicken nur nach innen und bereiten das Konzil mit Dokumenten vor, die später rundum abgelehnt und ausgetauscht werden. In den Blick nehmen sie weder die anderen Konfessionen oder Religionen noch die außenstehenden Menschen oder die großen Fragen der Menschheit, immerhin in einer Zeit, die einem möglichen Atomkrieg nicht fern steht und in der sogar ein Papst die Anwendung der Atomwaffen unter bestimmten Bedingungen gutgeheißen hat. Noch weniger sehen sie die Schuld- und Versagensgeschichte der eigenen Kirche oder die Distanz, die eine katholische Frömmigkeit inzwischen gegenüber der Schrift aufbaut und verteidigt. An diesem Widerstand ändert sich in den vergangenen 40 Jahren also nicht viel und J. Ratzinger, der einst so progressive Theologe, schwenkt, wie es scheint, als Benedikt XVI. immer deutlicher auf diesen Widerstand ein. Was während der Konzilsvorbereitung begann, erhält bei Konzilsbeginn deutliche Konturen. Es kommt zu den ersten Geplänkeln zwischen der Kurie (und erzkonservativen Bischöfen) einerseits und einer Kerngruppe reformwilliger und engagierter Bischöfe andererseits, die von ihren theologischen Beratern unterstützt werden.
(5) Ein pastorales Konzil
Aber die Zeichen stehen zunächst gut. Junge Spezialisten, so etwa H. Küng und J. Ratzinger, werden neben erfahrenen Kämpfern herangezogen. Solche, die über Jahrzehnte hin im Verdacht der Häresie standen, werden von ihren Disziplinarmaßnahmen befreit und können uneingeschränkt mitarbeiten. Das gilt etwa für K. Rahner, der zuvor einer besonderen Zensur unterstellt war, oder für Y. Congar, der viele Jahre lang vom Hl. Officium schikaniert, gedemütigt und 1955/56 von Paris in den noblen Bußort Cambridge verbannt wurde[10]. Neue Zeiten brechen an und man sieht sich in dieser Hoffnung bestärkt, als Johannes XXIII. zur Konzilseröffnung (11. Okt. 1962) davon spricht: Wir brauchen eine zeitgemäße Glaubensverkündigung, einen „Sprung nach vorn“. Gegen alle Angst vor einem neuen Modernismus sagt der Papst: „Eines ist der Gehalt (die Substanz) der alten Lehre des Glaubens, etwas anderes ist die Formulierung ihrer Darlegung (Einkleidung). Und gerade darauf ist heute – allenfalls braucht es Geduld – großes Gewicht zu legen, indem man alles prüft im Rahmen und mit den Mitteln eines Lehramtes von vorrangig pastoralem Charakter.“[11] Johannes XXIII. verwendet die Metapher von Substanz und Einkleidung. Was genau sich ändern darf und inwiefern eine andere Darlegung die Substanz selbst berührt, diese Detailfragen bleiben vorerst unbeantwortet. In welchem Umfang ist eine Aktualisierung (aggiornamento) gewisser dogmatischer Sätze möglich? Wer genau hört und auf die ersten Reaktionen achtet, spürte damals schon, dass es bald hart auf hart gehen wird[12].
1.2 Konzilsarbeit unter Paul VI. (ab Juni 1963)
(1) „Con carità“
In der ersten Konzilsperiode lernt man sich kennen, nimmt den ersten Kampf mit der Kurie auf und beide Seiten legen ihre Strategien fest. Im Juni 1963 stirbt Johannes XXIII.. Sein Nachfolger, der zögerliche Paul VI., setzt das Konzil fort. Zum Nachteil der Konzilsgeschäfte und der ersten nachkonziliaren Jahre ist er kein Mann der klaren Entscheidungen (selbst die später so wichtige Enzyklika „Humanae Vitae“ vom Juli 1968 versteht er als eine Nichtentscheidung, die der römischen Unfehlbarkeitstheorie in die Hände spielt. Das ist nichts Besonderes, aber von außen gesehen doch etwas absurd, denn kraft solcher Unbeweglichkeit bestätigen viele Päpste faktisch ihre Unfehlbarkeit, auf die man so stolz ist. Zum Vorteil kirchlicher Einheit hält er allerdings daran fest, dass alles „mit Liebe“ (con carità) zu geschehen habe. So zieht sich vieles eben quälend hin und erst sein Nachfolger (wir sprechen von Johannes Paul II. und J. Ratzinger als seinem Glaubenspräfekt) agieren neu mit Drohungen, Verurteilungen und Sanktionen.
(2) Ein komplizierter Prozess
Werfen wir einen Blick auf den Gang der Konzilsgeschäfte mit seinen vier Sitzungen insgesamt: Die schon genannten Themen werden herausgehoben und inhaltlich profiliert. Im Auf und Ab der Diskussionen und Abstimmungen, der Kompromisse und neuen Ansätze werden sie herausgearbeitet. Viele verlieren die Übersicht über den höchst komplizierten Gang der Dinge, aber das schadet dem Außenbild des Konzils nicht. Im Gegenteil, man hat das Gefühl, dass hier – in Kommissionen, Abstimmungen und Vermittlungsausschüssen – hart gearbeitet wird, dass man für Überzeugungen und Interessen kämpft, auch mit den politischen Mitteln der großen Strategien und der kleinen Taktik arbeitet. Viele Unangenehmes sieht man dem Konzil gerne nach, denn insgesamt wird es zum Zeichen einer neuen, gesprächs- und diskussionsfähigen, nach neuen Wegen suchenden, in jedem Fall aber internationalen Gemeinschaft. Dass sich unter Führung der Bischof Marcel Lefebvre damals schon eine Gruppe von Verweigerern bildet, die das Konzilsgeschehen prinzipiell ablehnt, bleibt der Öffentlichkeit weitgehend verborgen.
Global zusammengefasst geht es um Kirche, Ökumene und Welt.
(a) Kirche
Höchst intensiv (und kontrovers) befasst man sich mit der Kirche. Dieses Konzil ist stark mit sich selbst beschäftigt, und diese Selbstbeschäftigung hält bis heute an. Das ist unvermeidlich, aber auch gefährlich. Nicht als ob man seine eigenen Angelegenheiten nicht regeln sollte, aber Kirche ist eben kein Selbstzweck. So werden positive Impulse gesetzt:
* In Grundzügen wird eine Liturgiereform mit drei Akzenten beschlossen:
– die Einführung der Muttersprache, die langfristig auch zu einer neuen Leseordnung der Schrifttexte führt,
– die „aktive Teilnahme“ aller Mitfeiernden am Geschehen der Eucharistie, die durch die Liturgische Bewegung schon nachhaltig vorbereitet war, und
– eine Entrümpelung des überladenen, in vielem mittelalterlich geprägten Ritus. Die Bedeutung des Wortes wird gegenüber dem Sakramentsgeschehen herausgestellt und der Opfercharakter der Eucharistie wird relativiert.
* Leitmodell für das neue Kirchenbild wird die Metapher vom Volk Gottes. Damit werden die Schwergewichte der inneren Kirchenordnung neu verteilt. Im Sinne des Allgemeinen Priestertums und der grundlegenden Taufe geht die geschwisterliche Einheit der Überordnung des (männlichen) Klerus voraus. Leider entwickelt man kein neues Konzept von priesterlichem, bischöflichem und päpstlichem Amt. Trotz des nachdrücklich signalisierten neuen Geistes (Kirchenkonstitution, Kap. 2) werden die alten dogmatischen Klerikerstrukturen (Kap. 3) repetiert. An diesem elementaren Mangel leidet die katholische Kirche bis heute[13].
* Ein gravierender Rückschlag setzt im September 1964 ein, als – neben anderen reaktionären Maßnahmen – „auf Grund höherer Autorität“ in die Kirchenkonstitution eine „Vorbemerkung“ eingefügt wird, die auf den uneingeschränkten Lehr- und Leitungsbefugnissen des Papstes besteht. Leider wird die Aufnahme dieses autoritären Textes in die Konstitution nicht verhindert; die Bischöfe beugen sich in ihrer Gesamtheit dem päpstlichen Diktat. Der „Geist“ des Konzils hat sich geändert; er ist fundamental verletzt. Dies wirkt bis heute nach.
(b) Ökumene
Verstehen wir hier „Ökumene“ – der damaligen Zeit voraus – in einem Sinn, die die Begegnung mit den nichtchristlichen Religionen schon einbezieht:
* Dank des Engagements des deutschen Kardinals Augustin Bea SJ nimmt die innerchristliche Ökumene bald einen hohen Stellenwert ein. Mit dem Dekret über den “Ökumenismus“ wird ein ökumenisches Grundbewusstsein geschaffen, das sich – trotz aller späteren Widerstände – durchsetzen wird. Das Konzil wird zum Beginn eines breiten und intensiven Netzwerkes von Gesprächen mit allen nichtchristlichen Kirchen bzw. Konfessionen. Die innere Logik der ökumenischen Frage erzwingt einige grundlegende Schlüsse:
– auch von der katholischen Kirche wird ein Prozess der „inneren Bekehrung gefordert“
– die christliche Wahrheit ist keine Summe von isolierten, in sich richtigen Sätzen. Es gibt vielmehr eine „Hierarchie“ der Wahrheiten. Im ökumenischen Gespräch ist darauf sorgfältig zu achten.
* Das Dekret zum Verhältnis mit den nichtchristlichen Religionen ist epochemachend. Zwar bleiben die Aussagen schematisch und recht global. Aber als Basis für die aktuelle Füllung und Belebung eines positiven Grundansatzes reichen sie aus. Bitter bleibt nur zu vermerken, dass eine Minderheit des Konzils lange Zeit eine versöhnliche Erklärung zum Judentum verhindert hat. Erst am Schluss gelang es, den Kern der abgelehnten Erklärung zu den Juden in die allgemeine Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen aufzunehmen. Wegen seiner spezifischen Nähe zur christlichen Religion hätte die jüdische Religion eine andere Behandlung verdient. Es versteht sich, dass man diese Geschichte damals nicht zur öffentlichen Affäre erhob. Sie hätte dem gegenseitigen so verletzlichen Verhältnis noch mehr geschadet. Immerhin hat der Vatikan erst in den 1990er Jahren, also mit einer Verzögerung von rund 30 Jahren, mit Israel offizielle Kontakte aufgenommen. Die späteren Verdienste des gegenwärtigen Papstes um das katholisch-jüdische Verhältnis seien dadurch nicht geschmälert, ebenso wenig das persönliche Engagement seines Vorgängers verschwiegen.
(c) Welt
Die Frage nach den unzähligen Aspekten eines neuen, positiven und – der höchst differenzierten Gegenwart entsprechenden – Weltverhältnisses durchzieht alle Konzilssitzungen sowie die Zwischenperioden. Eine wirklich umfassende Systematik dieser Frage kann und muss auch nicht gelingen. Immerhin hat die ständig gegenwärtige Fragestellung eine therapeutische Wirkung. Sie führt dazu, dass man sich in der eigenen Nabelschau nicht hoffnungslos verfängt. Schon der Eröffnungssatz der Konstitution (s.o.: „Freude und Hoffnung…“) schlägt einen Ton an, der für die Gesamtkirche heute noch programmatisch und maßgebend sein kann. Dass der lange Text der Konstitution noch ein eurozentrisches Weltbild atmet, schließt seine bleibende Bedeutung nicht aus.
Zu erwähnen ist noch das Dekret über die Religionsfreiheit, das – in erstaunlicher Entschiedenheit und unbeschadet der eigenen Glaubensüberzeugung – die gültigen Grundsätze unseres modernen, auf den Menschenrechten begründeten Rechtsbewusstseins übernimmt: Gewissensfreiheit in der persönlichen Glaubensentscheidung, Verpflichtung des Staates, Religionsfreiheit zu gewähren sowie die Regeln einer allgemeinen und positiven Toleranz gegenüber anderen Überzeugungen und Weltanschauungen. Diese Toleranz beruht auf dem Respekt vor der (religiös begründeten) Würde der menschlichen Person.
(3) Die wichtigen Dekrete
Damit sind die wichtigsten offiziellen Konzilsergebnisse erwähnt, die in den Folgejahren für Fragen christlicher Identität eine epochale Bedeutung erlangen. Die wichtigen Dokumente über die Kirche und über die „Kirche in der Welt von heute“, die Dekrete über den Ökumenismus, über die nichtchristlichen Religionen und die Religionsfreiheit werden auf der letzten Konzilssitzung im Dezember 1965 verabschiedet. Auf die oft unterschätzte Konstitution über „die Quelle der Offenbarung“ komme ich im kommenden Abschnitt zu sprechen.
1.3. Innerer Neubeginn (Volk Gottes vor Ort)
Ebenso wichtig, auf der Ebene neuer Grundhaltungen vielleicht noch wichtiger, sind allerdings einige unerwartete Inspirationen. Sie wurden von der faktischen Konzilsatmosphäre auf die real existierende Kirchenwirklichkeit übertragen, denn sie ließen sich nach konziliarem Vorbild nicht mehr verhindern. Ich nenne – ohne Anspruch auf Ausgewogenheit oder Vollständigkeit – vier Inspirationen: eine neue Diskussionskultur, eine Kultur des aktiven, persönlich mitgetragenen Feierns, eine biblische Spiritualität und eine Offenheit gegenüber der Welt.
(1) Diskussionskultur
Mit dem 2. Vatikanischen Konzil hält – jedenfalls in den Ländern des westlichen Kulturkreises – eine offene und umfassende Diskussionskultur Einzug in die örtlichen Gemeinden, in personale Gruppierungen, weitgehend auch in kirchliche Gremien. Wer die vorkonziliare Zeit noch kennt, kann diesen sehr schnellen und unkomplizierten Umschwung nur staunend zur Kenntnis nehmen. Seitdem ist ein stummes Hören auf die Anordnungen von oben kaum mehr vorstellbar. Dies ist die Folge des Konzils und ihrer vielfältigen Diskussionen, die in dieser Direktheit nicht vorherzusehen oder zu planen waren. Diskussionen kann man nicht durch öffentliche Anordnung in Gang setzen. Umso wichtiger ist es, dass diese grundlegende Errungenschaft erhalten bleibt.
(2) Erneuerte Liturgie
Seit der Liturgiereform (vielleicht der geglückteste Teil aller angestrebten Reformen) wächst in den Gemeinden eine neue Kultur aktiven Mitfeierns, die bisweilen die aktive Partizipation in evangelischen Kirchen übersteigt. In weit höherem Maße als früher verstehen sich Gottesdienstbesucher heute als Mitbetende, Mitfeiernde, Mithörende und (immer noch zu wenig) Sprechende. Die Teilnahme an der Kommunion ist von der Ausnahme zur Regel geworden. Eine stumme Teilnahme ist nach wie vor möglich, aber stark reduziert. Durch diese Entwicklung wird der massive Rückgang der Gottesdienstbesucher in den vergangenen 40 Jahren in hohem Maß ausgeglichen. Menschenmassen in der Kirche fördern nicht gerade die Intensität der Frömmigkeit. Natürlich haben sich das wachsende liturgische Engagement und die Suche nach neuen Formen oft beunruhigend und verunsichernd ausgewirkt. Neue und überzeugende Stile müssen erst gesucht, ausprobiert, gefunden und – nach vielen bewussten oder unbewussten Regeln – austariert werden. Umso unverständlicher ist das Krisengerede, das bekannte Kirchenführer in solchen Perioden immer wieder anstimmen. Die Errungenschaft liturgischer Kreativität ist mit allen Kräften zu schützen und nicht durch neue Formalismen, durch römische Kontrollen und dogmatistische Maßnahmen zu schwächen.
(3) Biblische Spiritualität
Lange übersehen, aber von unermesslicher Tiefenwirkung ist eine biblische Spiritualität, die in den vergangenen 40 Jahren in katholischen Gemeinden und Gruppierungen gewachsen ist. Ich gehe hier nicht auf die neue Theologie ein, die sich von Schrift und Exegese prägen ließ. Man denke nur an Systematiker wie H. Küng, E. Schillebeeckx oder E. Drewermann, ferner an viele Religionspädagogen sowie an die vielen Alt- und Neutestamentler, deren Artikel und Bücher gelesen werden. Ich verweise schließlich auf Bibelkreise, auf die zahllosen Seelsorgerinnen und Seelsorger, deren Handlungen, Ansprachen und Predigten von der Bibel inspiriert sind[14].
Dass die Auseinandersetzung mit der Bibel oft in ökumenischen Kreisen geschieht, liegt auf der Hand; dass ökumenische Gemeinsamkeit und die Relativierung spezifisch katholischer Glaubenspositionen auf diesem Weg nachhaltig relativiert werden, bedarf keiner eigenen Begründung. Theologisch und aus unmittelbarer Glaubensperspektive betrachtet ist dies vielleicht der wichtigste Impuls, den das Konzil uns bleibend mitgegeben hat. Ebenso verständlich ist dies: Der gegenwärtige Papst hat als Verteidiger des klassischen, hellenistisch formulierten Glaubensguts damit größte Probleme. Er versucht, eine nachhaltige, im Grunde antireformatorische und vorkonziliar ausgerichtete Korrektur durchzusetzen. Umso wichtiger ist es, dass diese neue Nähe zur Schrift geschützt und fruchtbar gemacht wird.
(4) Schrift und Offenbarung
Aus den genannten Gründen ist die Konzilskonstitution „über die göttliche Offenbarung“ von höchster Bedeutung. Sie rückt die Bedeutung der Schrift (also beider Testamente) in die Mitte: in ihr hat Gott sich selbst offenbart und in ihr spricht – bis heute – Gottes Sohn. Es ist die besondere Aufgabe der Bischöfe (als „Nachfolger der Apostel“), über die unversehrte Weitergabe dieser Offenbarung zu wachen. Die Schrift ist zu verehren „wie der Leib des Herrn selbst“ und allen Glaubenden muss der Zugang zu ihr offen stehen und „das Studium des heiligen Buches sei gleichsam die Seele“ der Theologie, denn die Schrift nicht kennen heißt Christus nicht kennen. Diese relativ knappe, aber klare Konstitution kann als Beginn einer neuen Ära in der katholischen Kirche gelten. Jetzt nimmt man die Schrift wieder unverstellt zum Ausgangspunkt, zur wichtigsten Inspiration des eigenen Glaubens. Zahllose Initiativen haben mit dieser neuen Begegnung begonnen.
(5) Ein neues Verhältnis zur Welt
Vom Versuch des Konzils, ein neues Weltverhältnis zu gewinnen, wurde schon gesprochen. Weiter unten wird es näher ausgeführt. Vorerst genüge der Hinweis: Ähnlich wie die neu erworbene Diskussions-, Feier- und Bibelkultur hat sich aus den vorgegebenen Impulsen – schnell und wie selbstverständlich – eine neue, offene, eine politisch sensible und zutiefst solidarische Beziehung zu denjenigen Ereignissen und Lebensräumen entwickelt, die wir pauschal mit dem Begriff der Welt umschreiben. Für diese Entwicklung sollten wir in höchstem Maße dankbar sein, denn die Welt (als das in Gott versöhnte Reich der Freiheit) ist das Ziel, dem die Kirche zu dienen hat und allein diese Ausrichtung rettet uns von der Verkrampfung in uns selbst und von der unseligen Fixierung in die eigenen Lebens-, Struktur- und Glaubensfragen. „Liebe und tue, was du willst!“ (Augustinus).
II. Was ist geblieben (Themen- und Praxisfelder)?
Was unter I/3 unter dem Stichwort „Inspirationen“ kurz umrissen wurde, sei im Folgenden unter thematischen Gesichtspunkten näher ausgeführt. Trotz härtester Probleme ist mit dem Konzil ein Neuanfang gelungen, der tiefer reicht als Verordnungen, Regeln und offizielle Absprachen. Es geht um die schon genannten Themen Kirchenpraxis, ökumenische Beziehungen, Solidarität mit der „Welt von heute“ und das Verhältnis zu anderen Religionen.
2.1 Eine neue Kirchenpraxis
Zu aller Zeit und in jedem Volk ruht Gottes Wohlgefallen auf jedem, der ihn fürchtet und gerecht handelt (vgl. Apg 10,35). Gott hat es aber gefallen, die Menschen nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung, zu heiligen und zu retten, sondern sie zu einem Volke zu machen, das ihn in Wahrheit anerkennen und ihm in Heiligkeit dienen soll. (Nr. 9)
Ganz grundsätzlich löst das Konzil in vielen Ländern eine neue Kirchenpraxis aus. Ich meine eine neue Gemeinde- und Kirchennähe, ein neues Gemeinde- und Kirchenbewusstsein, damit einen neuen Bezugs- und Erlebnisrahmen, in den sich seitdem katholische Religiosität einordnet. Natürlich gibt es schon zuvor Nähe zu Gemeinde und Kirche, aber sie ist obrigkeitlich gestaltet und bezieht sich in der Regel auf kirchliche Gebote und Anordnungen. Das normale Gemeindeglied – der „einfache Gläubige“ – geht vor allem in die Kirche, um ein Gebot zu erfüllen, um Sündenvergebung, Gnade und die Hoffnung auf ein gutes Jenseits zu empfangen. Neben dem Besuch der Messe steht die regelmäßige Beichte als Zeichen einer guten Kirchlichkeit. Die Regelmäßigkeit der Beichte ist bisweilen wichtiger als die Frage, ob man wirklich etwas zu beichten hat. Die Gläubigen sind also bewusst zu einer Art Sakramentenfrömmigkeit und damit zu einer prinzipiellen Ehrfurcht vor denjenigen erzogen, die „im Besitz“ der Sakramente sind, diese also „spenden“ können. Das sind der Priester und – als Quelle aller Sakramente schlechthin – der Bischof.
(1) Aktive Teilnahme am Kirchengeschehen
Vielfach wirkt diese sakramentale Basis zum Empfang der Gnade bis heute weiter, doch wird sie – gerade bei den aktiven Katholikinnen und Katholiken – zunehmend durch andere Werte und Zugangsweisen ersetzt. Man nimmt jetzt aktiv an der Gestaltung der Gottesdienste teil; man lässt sich in den Pfarrgemeinderat wählen oder übernimmt eine aktive Rolle in kirchlichen Gremien oder Vereinigungen. Die sozial-karitative Arbeit wird ebenso aktiviert wie der konsequente Aufbau ökumenischer Aktivitäten und Begegnungen. Hinzu kommt die Aktivierung der Kirchengemeinde auf verschiedensten Ebenen, vom Kindergarten bis zur Sorge um die Älteren. So wird das gottesdienstlich-liturgische Leben allmählich aus seiner Isolation geholt.
Das hat Folgen: Je mehr das Gemeindeleben zur Sache der aktiven Gemeindemitglieder wird, umso mehr haben sich Funktion und Stellung des Gemeindepfarrers und anderer Priester neu zu definieren. Zum diskutierten Thema werden auch die Fragen nach Hauptaktivitäten und Lebensform der Priester: Welchen Sinn hat die Zölibatsverpflichtung und die Beschränkung priesterlicher Funktionen auf Männer? Muss ausgerechnet er Vorsitzender des Pfarrgemeinderats sein? Wem steht grundsätzlich das Recht zu, zu predigen? Oft werden diese Diskussionen von aufgeschlossenen Priestern selbst vorangetrieben; nach dem Konzil hat sich eine eindrucksvolle Geschichte kritischen Engagements entwickelt. Die daraus entstandenen Konflikte sind Legion. Jahrzehnt um Jahrzehnt nehmen sie zu, weil die „normalen“ Gemeindemitglieder immer intensiver und selbstverständlicher – ganz gemäß der Charismenlehre des Paulus (1 Kor 13) – in den Gemeinden verschiedenste Funktionen übernehmen können und wollen, von der Katechese und theologischen Lehre über liturgische Initiativen bis hin zu sozialen und sozialkritischen Aktivitäten, mit denen die Gemeinde gestaltend nach außen tritt.
(2) „Volk Gottes“ – Kompromisse?
Hier rächt sich, dass die Kirchenkonstitution des Konzils in Sachen innerkirchlicher Partizipation einen höchst labilen Kompromiss geschlossen hat. Engagierte Kirchenmitglieder freuen und stärken sich an Kapitel 2 über das Volk Gottes. Sie erfahren diese Gemeindesicht als Aufforderung und Berechtigung zu kirchlichem Handeln zugleich. Übrigens wird diese Entwicklung von vielen Pfarrern – individuell und in den vielen damals entstandenen kritischen Gruppierungen – unterstützt. In der Regel stehen sie ja zwischen den Machtblöcken. Sie müssen darauf achten, dass sie nicht zerrieben werden. Was aber tut die Hierarchie? Bis auf wenige Ausnahmen holen die Bischöfe ihr Kirchen- und ihr Selbstbild eben nicht aus Kapitel 2, sondern aus Kapitel 3 über die Hierarchie, das im alten Kirchenmodell verharrt, das pyramidal von oben her und nach untern hin denkt. Der wachsende Bedeutungsverlust des Sakraments im alten Stil unterminiert ihr altes, sehr machtvolles Sakraments- und Kirchenbild [Sakrament wird in Kategorien der „Vollmacht“ formuliert]. An dessen Stelle treten juridische Kategorien, der Austrag von Rechtsansprüchen und von Handlungsverboten. „Laien“ dürfen nicht mehr predigen; die Zuständigkeit der Sakramentenspendung wird klar abgegrenzt; in einem skandalösen römischen Rechtsspruch wird bestätigt, dass ein aktiver Katholik das passive Wahlrecht verlieren kann, wenn er dem Bischof massive Schwierigkeiten bereitet.
(3) Neue Inspirationen
In dieser Schärfe werden die wachsenden Schwierigkeiten vor allem in deutschsprachigen Ländern ausgetragen, denn in Deutschland (ähnlich in Österreich und in der Schweiz) konnte sich das Leben kirchlicher Gemeinden – aus Gründen der staatsrechtlichen Situation und der finanziellen Ausstattung – besonders günstig entwickeln. Man sollte also nicht vergessen: Die wachsende Konflikthaltigkeit unserer Situation ist die Kehrseite einer an sich wunderbaren Entwicklung: Die neue Kirchenpraxis, von der hier die Rede ist, führt in der nachkonziliaren Epoche zu einer Umkehr der Definitionen und Inspirationen. Unmittelbar nach dem Konzil denken wir über die Frage nach, was „Volk Gottes“ biblisch eigentlich bedeutet. In dieser Weise, sagen wir dann, müssen Kirchen und Gemeinden biblisch gestaltet werden. Im genannten Buch von H. Küng („Die Kirche“) ist dieser appellative, auf der Bibel liegende Ton deutlich zu spüren. Inzwischen aber erleben wir als aktive Christen das „Volk Gottes“ nicht mehr nur als biblische Metapher, sondern auch als konkrete Realität, jeweils als unsere Gemeinde, als unsere „Ortskirche“ vor Ort. Wir erfahren inzwischen konkret, was Volk Gottes ist und sein kann (mit Erfüllungen und Enttäuschungen natürlich). Die Metapher hat schon lange begonnen, sich selbst zu tragen.
(4) Sakrales Geheimnis – heilige Gemeinschaft?
Rom hat von diesem Umschlag sehr wohl Notiz genommen und bemerkt, dass die „hierarchische“ Kirche es im Alltag mit dem Volk Gottes nicht mehr aufnehmen kann. Umso wichtiger sind für Rom deshalb die Weichenstellungen, die schon 1985 auf der römischen Bischofssynode festgelegt wurden. Es beginnt nämlich ein höchst folgenreiches Ausweichmanöver: Jetzt rückt der Grundgedanke von Kapitel 1 der Konzilskonstitution in die Mitte: Die Kirche ist ein Geheimnis, genauer: sie gilt als ein sakrales Geheimnis, das sich als eine Gemeinschaft (communio) präsentiert, die streng von oben nachuntern geordnet ist. Damit wird der Gedanke des Heiligen und Priesterlichen, des Sakramentalen also, neu gestärkt, ins Zentrum gerückt und von anderen Gesichtspunkten isoliert. Faktisch wird die Position des bloßen „Laien“ wieder geschwächt. Junge Priester lieben wieder klerikale Kleidung (und Bischöfe treten in Talkshows wieder in voller, goldbewehrter Montur auf), um ihre sakrosankte, ehrfurchtgebietende Position zu demonstrieren.
(5) Drei Pole
Wie ist im Sinne der offiziellen Konzilsdokumente darauf zu reagieren? In aller Nüchternheit ist zuzugeben: Dem Buchstaben nach hat die Kirchenkonstitution diese Spannung nicht oder nur unzureichend gelöst. Aber sie signalisiert in jedem Fall, dass keiner der drei Pole (Geheimnis der Gemeinschaft, Volk Gottes, Hierarchie) zu vernachlässigen ist.
Erstens gilt: Kirche ist weder einfach sakrales Geheimnis (sonst hätte das Kapitel 1 genügt). Deshalb kann dieser – antireformatorisch instrumentalisierte – Ansatz in keiner Weise befriedigen. Er dient nur dazu, die Sache der Kirche in ein unnahbares Licht zu rücken und einer jeden weiteren Diskussion zu entziehen. Übrigens wird damit auch kein Gegenpol gegen eine befürchtete innerkirchliche Säkularisierung gesetzt, sondern man fördert diese. Denn die Kirche wird jetzt wieder zu dem ganz Anderen, das mit dieser Welt relativ wenig zu tun hat.
Zweitens gilt: Die Kirche ist auch keine hierarchische Institution. In der Schrift ist nichts von der klassischen, seit dem vierten Jahrhundert installierten „heiligen Herrschaft“ einer sakral legitimierten Elite zu spüren. Natürlich bedarf die Kirche einer funktionstüchtigen Organisation; aber schon Paulus umschreibt diese nicht mit sakralen, sondern mit profanen Begriffen. Wir verstehen uns durchaus als Realisten, die die straffe Organisation eines global player akzeptieren, Führungsämtern Respekt entgegenbringen und sich an wohlabgesprochene Spielregeln halten. Aber diese Bedürfnisse sind nach funktionalen Gesichtspunkten, also nach einem Grundgedanken zu regeln, der der genannten Charismenlehre zugrunde liegt. Übrigens sind der aktuelle dramatische Priestermangel sowie der Zusammenbruch der klassischen Pastoral nicht nur die Folge einer zur Erneuerung unfähigen und unwilligen Hierarchie, sondern auch ein Fingerzeig dafür, dass die so effektive Kombination von Sakralität und heiligem Herrschaftsanspruch definitiv an ihr Ende gekommen ist.
Drittens gilt: Kirche war schon immer erfahrene Lebensgemeinschaft. Leben aber lässt sich nie voll in Worte, Metaphern, gar Begriffe fassen. Deshalb unterliegt eine jede begriffliche oder metaphorische Festlegung ihrem konkreten Kontext und damit dem sozialen, politischen, geschichtlichen Wandel. Die Metapher vom Gottesvolk hat den Vorteil, dass sie keine Personengruppe innerhalb der Kirche ausschließt und allen eine gemeinschaftliche Identifikation anbietet, die mit der allen gemeinsamen Taufe gegeben ist. Sie weist zugleich darauf hin, dass wir alle auf Wanderung sind, also den ständigen Wandel von Geschichte und Gesellschaft positiv aufzunehmen haben, dies – wohlgemerkt – immer in tätiger Erinnerung an die Geschichte von Leben und Botschaft, Geschick und Auferstehung Jesu.
(6) Identität immer neu
Deshalb darf das Wissen um eine neue Kirchenpraxis (als „Volk Gottes“ identifiziert) kein Ruhekissen sein. Gerade der Erfolg des Konzils in diesem Bewusstseinsprozess gibt zu neuem Fortschreiten Anlass. Es gibt Anzeichen dafür, dass unsere Gemeinden auf erneute Kontinuitätssuche gehen müssen. Dabei gehört die stets neue Suche nach Identität zum Wesen gelungener Identität und Kirchenpraxis. Gemäß innerchristlicher Sprachregelung nennen wir dies Nachfolge Christi. In diesen Zusammenhang gehört die berühmte und neu umstrittene Aussage der Nr. 8 (Kap. 1) der Kirchenkonstitution: „Die Kirche Christi ‚subsistiert’ (= existiert) in der katholischen Kirche“. Zwar zeigt der Textzusammenhang die ganze Schwierigkeit und Unklarheit eines unfertigen Kompromisses. J. Ratzinger macht sich dies zunutze, indem er im Jahr 2000 (und 2007) den reformatorischen Kirchen ihre Qualität als Kirche abspricht. Klar ist aber auch, dass genau dies nicht die Intention der konziliaren Aussage ist. Ausdrücklich soll die Frage offengehalten werden, in welcher Weise die Kirche Christi auch in anderen Kirchen existiert. Die katholische Kirche kann sich der Gegenwart Christi gewiss sein, aber diese Gewissheit wird anderen Konfessionen eben nicht abgesprochen. Ziel der Aussage ist es (entgegen der päpstlichen Intention), dass wir einander auf gleicher Augenhöhe begegnen können. Schließlich erheben auch sie den Anspruch, das Erbe Christi darzustellen (Ökumenismusdekret). An keinem Punkt wird m. E. deutlicher, wie grundlegend J. Ratzinger/Benedikt XVI. sich dem Geist des Konzils versagt.
2.2 Ökumenische Beziehungen
Christus der Herr hat eine einige und einzige Kirche gegründet, und doch erheben mehrere christliche Gemeinschaften vor den Menschen den Anspruch, das wahre Erbe Jesu Christi darzustellen; sie alle bekennen sich als Jünger des Herrn, aber sie weichen in ihrem Denken voneinander ab und gehen verschiedene Wege, als ob Christus selber geteilt wäre. Eine solche Spaltung widerspricht aber ganz offenbar dem Willen Christi, sie ist ein Ärgernis für die Welt und ein Schaden für die heilige Sache der Verkündigung des Evangeliums vor allen Geschöpfen. (Ökumenismusdekret, Nr. 1)
(1) Begegnung
Zunächst löst die neue Begegnung mit anderen Kirchen vor allem in Deutschland und in den Niederlanden einen Schub vielfacher Aktivitäten aus; Neugierde und das Studium anderer Konfessionen stehen im Vordergrund. Ihnen schließen sich die Fragen nach konkreter Zusammenarbeit bis hin zu gemeinsamen Gottesdiensten, nach liturgischer und eucharistischer Gastfreundschaft an. Ziel soll die gegenseitige Anerkennung der Kirchen als Kirchen sein. J. Ratzinger gibt einmal zu: Es ist der Erfolg des ökumenischen Gedankens, der Rom spätestens in den 1970er Jahren vorsichtig macht, denn diese Ökumene beginnt, der Kirche ein anderes Gesicht zu geben.
Diese neue Aufmerksamkeit schafft auch auf offizieller Ebene ein waches Bewusstsein. Wenige Jahre nach Konzilsschluss entwickelt sich ein reiches und vielfältiges Netz von interkonfessionellen Studiengruppen und Kommissionen. Nahezu jede Kirche spricht jetzt mit jeder. Die Aktivitäten des Weltrats der Kirchen erhalten einen neuen Schub. Ein Jahrzehnt später tritt Ernüchterung ein, denn vor allem die katholische Kirche setzt deutliche Grenzen. Die Frage nach dem Amt, insbesondere nach der kirchlichen Lehr- und Leitungsautorität (Unfehlbarkeit eingeschlossen) werden nie gelöst und führen dazu, dass einer jeden Studiengruppe eine weitere folgt, die noch genauer schauen soll. Bekannt ist die darauf folgende Phase der Selbstprofilierung bis hin zur römischen Erklärung, die den reformatorischen Kirchen ihre Kirchlichkeit rundweg abspricht.
Dass es bei uns mit der Ökumene dennoch weitergeht, ist das Verdienst der zahllosen Gemeinden, die den Konzilsgedanken aufgegriffen haben und unbeirrt verfolgen. Hinzu kommt (wie auch bei anderen Gebieten konziliaren Handelns), dass die Sache bald aus sich selbst überzeugt. Das Konzil dient als Anstoß und hat damit einen Erfolg, der nicht mehr rücknehmbar ist. Hier zeigt sich ein Phänomen, das schon in Sachen Kirchenpraxis zu beobachten war. Wachsendes Engagement drängt voran. Wer tiefe geistliche, im wahrsten Sinn des Wortes christliche Gemeinsamkeiten entdeckt, will die Gemeinschaft intensivieren und vollenden. Er entzieht sich zunehmend der offiziellen Kontrolle. Die klassischen, teils bedingten, teils unbedingten Verbote überzeugen nicht mehr: Ökumenische Teilnahme am Abendmahl und ökumenisches Angebot der Eucharistie, Anerkennung des evangelischen Abendmahlsverständnisses und der protestantischen Ämter (Amtsträgerinnen eingeschlossen). Die theologischen Argumentationen und Gegenargumentationen sind längst ausgereizt und lassen sich (aus katholischer Perspektive) auf eine Grundalternative reduzieren: Lädt die Kirche zum Mahl Christi oder lädt Christus zum Mahl der Gemeinschaft ein? Komme ich zusammen, um die Kirchengemeinschaft mit der Eucharistie zu feiern, oder komme ich zusammen, um im gemeinsamen eucharistischen Mahl Kirche entstehen zu lassen? Die offizielle katholische Kirche hat diesen Knoten noch nicht gelöst. Christi Gegenwart bleibt an die Bedingungen kirchlicher Instanzen gebunden. An diesem Punkt ist im Namen des Konzils Widerspruch geboten.
(2) Frage der Priorität
Die genannte Streitfrage nach der Priorität der Kirche vor Christus oder umgekehrt zeigt, dass zwei Bemerkungen des Ökumenismusdekrets später nicht wirklich ernstgenommen, geschweige denn theologisch durchdacht und ausgeschöpft werden.
* Die erste Bemerkung lautet: „Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung“ (Nr. 7). „Bekehrung“ wird in der Regel als moralische Kategorie verstanden. Das ist nicht falsch, aber ungenügend. Zu dieser Bekehrung gehört auch die Bereitschaft, umzulernen. Im katholisch-evangelischen Verhältnis ist das anders gar nicht denkbar, denn die Differenzen betreffen in erster Linie theologische Lehrunterschiede. Bis heute lässt sich die offizielle katholische Kirche auf dieses Umdenken nicht ein; sie akzeptiert ganz grundsätzlich nicht, dass ihre eigene Tradition korrekturbedürftig ist. In den Gemeinden liegt diese Situation grundlegend anders. Mit Korrekturen im Sinne der Schrift hat man in der Regel keine Probleme. In zunehmendem Maße werden traditionelle Formeln und Differenzierungen zudem nicht mehr verstanden[15]. So sollten die Vertreter der wahren Lehre gelegentlich gefragt werden, wann und wie sie zum letzten Mal in Sache christlicher Lehre eine innere Bekehrung erfahren haben.
* Die zweite Bemerkung lautet: „Beim Vergleich der Lehren miteinander soll man nicht vergessen, dass es eine Rangordnung oder ‚Hierarchie’ der Wahrheiten innerhalb der katholischen Lehre gibt, je nach der verschiedenen Art ihres Zusammenhangs mit dem Fundament des christlichen Glaubens.“ (Nr. 11) Diese Bemerkung ist für die gegenseitige Annäherung noch wichtiger. Nicht alles, was wir behaupten, ist gleich wichtig. Die Frage nach der Einigkeit Gottes und nach dem Sinn des Weihwassers sind nicht miteinander zu vergleichen. Leider wird weder auf dem Konzil noch nach dem Konzil nachdrücklich die Frage gestellt, was denn aus dieser Bemerkung folgt. Schlagend wird dagegen gehalten, eine Aussage sei entweder richtig oder falsch. Vergessen wird, dass es eine Wahrheit an sich überhaupt nicht gibt. Sie schließt immer Ziele mit ein und reagiert immer auf Zusammenhänge. Ein Satz kann heute Aspekte enthüllen, an die gestern noch niemand gedacht hat. Heute zu behaupten, es gebe eine Hölle, in der ein physisches Feuer brennt (was man in den 1960er Jahren noch gelernt hat), kann nur noch Gelächter hervorrufen. Was aber war damals an diesem Satz wahr? Doch wohl unter vormodernen Bedingungen das Vertrauen auf einen gerechten Gott. So wird die ökumenische Bewegung auch eine Lehrschule intellektueller Bescheidenheit, die uns alle Rechthaberei abtrainieren sollte.
(3) Vision von der Einen Kirche
Das Wichtigste, das uns das Konzil aber beigebracht hat, ist die Vision von der Einen Kirche. Es ist eine Vision, die die römisch-katholische Führerschaft unter den Kirchen nicht einschließt. Sie schließt aber die Erkenntnis ein: Die konkret existierende katholische Kirche ist eine unter anderen Kirchen. Im Ökumenismusdekret wird das dadurch deutlich, dass die Rede ist von der einen Kirche Christi. Zwar existiert sie (auch) in der katholischen Kirche. Für das nachkonziliare Bewusstsein wurde aber klar, dass die Eine Kirche Christi natürlich auch in anderen Kirchen gegenwärtig ist. So gesehen braucht es gar keine institutionelle Vereinigung aller Kirchen. Es genügt durchaus eine gegenseitige Anerkennung, ein Leben in „versöhnter Verschiedenheit“, wie neuere ökumenische Theologie gerne sagt. Denn auch die römisch-katholische Kirche und der in ihr so hoch geehrte „Petrusdienst“ waren bislang nicht fähig, die Einheit zu beschützen. Spätestens mit dem west-östlichen Schisma (1054) begann die Geschichte ihres Versagens, das im reformatorischen Schisma (1517/1521) seinen Tiefpunkt erreichte.
Es ist nicht zu bestreiten: Das Konzil kann als Beginn einer epochemachenden Annäherung zwischen den Konfessionen gelten. Ob es Rom endgültig gelingt, den Weg zu einer wirklichen Versöhnung zu blockieren, ist noch nicht entschieden.
2.3 Solidarität mit der „Welt von heute“
Zur Erfüllung ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. (Nr.4)
(1) Neuland
Die Apostolische Konstitution über die „Kirche in der Welt von heute“ betritt, wie schon gesagt, Neuland. Gewiss, schon im 19. Jh. hat man sich über die Welt und Gesellschaft Gedanken gemacht, aber damals ging es nur um Verurteilungen. Dann begann ein positiver Strang, der heue noch nachwirkt. Gemeint ist die katholische Soziallehre. Jetzt, auf dem Konzil, entdeckt man unter dem Stichwort der Welt eine breite Palette einzelner Themen. Es geht in einem ersten Teil um die Würde der menschlichen Person sowie um die Gemeinschaft, um das, was der Mensch in der Welt „schafft“, sowie um Aufgaben der Kirche in der heutigen Welt. In einem zweiten Teil stehen Einzelfragen zur Debatte: Ehe und Familie und kultureller Fortschritt, Ökonomie und Grundfragen der Politik, schließlich das hochmoderne Thema der „Förderung des Friedens und die Aufgabe der Völkergemeinschaft“.
(2) Die Türen geöffnet
Die Vielfalt der Themen hat das Konzil gewiss überfordert und es lässt sich schwer sagen, welche Einzelaussagen sich wirklich durchgesetzt haben. Viel wichtiger ist, dass dieser Text insgesamt die Türen der Kirche zu Welt und Gesellschaft hin breit aufgestoßen hat. Hier wird ein Bild von Mensch, Gemeinschaft und gegenwärtiger Welt entworfen, das endlich die Scheuklappen einer betulichen Sorgeanstalt sowie die bevormundende Gestik einer Übermutter ablegt, die sich Kirche nennt und immer alles besser weiß. Hier werden Christen eingeladen, sich rational, human und in solidarischem Geist mit den großen Fragen auseinander zu setzen, die Kirche und Gesellschaft miteinander verbindet: Was ist der Mensch in seiner Würde und seinem Versagen; wie gehen wir mit der Würde der Vernunft und des Gewissens, der menschlichen Freiheit und mit dem Geheimnis des Todes um? Worin besteht die Eigengesetzlichkeit der Welt und die Herausforderung der Kultur? Fragen über Fragen, die heute kaum mehr im Blick auf diese Konstitution besprochen werden, deren Bedeutung seitdem aber anerkannt ist und die heute in Kooperation mit den einschlägigen Wissenschaften zu analysieren sind. Auch dieser neue Blick nach außen, diese solidarisch-konstruktive Auseinandersetzung mit allem, was vor unserer Haustür geschieht, ist inzwischen selbstverständlich geworden.
(3) Eurozentrischer Blick
Einen wichtigen Punkt hat die nachkonziliare Generation allerdings zu lernen. Es sind die Überwindung eines eurozentrischen Blicks, das Wissen um die ganz andere kulturelle, politische, soziale Situation anderer Kontinente. Dies war dem Konzil noch nicht gelungen, aber wenige Jahre nach seinem Abschluss beginnen in der Kirche Lernprozesse von umfassendem Ausmaß. Angesagt ist nicht nur eine „anthropologische Wende“, die den Menschen (und seine Welt) grundsätzlich ernst nimmt und in den Mittelpunkt des Interesses stellt. Angesagt ist auch eine Wende der Globalisierung, die andere Kontinente nicht hinter Europa verschwinden lässt. Nicht nur auf den Landkarten, sondern auch im religiösen Denken haben jetzt die Kolonien und die Kolonialisierungen zu verschwinden. In dieser Ausweitung der Blicke hat sich wirklich ein Quantensprung vollzogen. Wahrscheinlich hätte er sich auch ohne Konzil eingestellt, aber im Konzil erfuhr er eine nachhaltige Legitimation. Manche innerkirchliche Problematisierung blieb uns so erspart.
(4) Politisches Bewusstsein
Globale Themen werden also entdeckt und mit dem allgemeinen Weltbewusstsein geht die Entdeckung eines politischen Bewusstseins einher. Von den Erfahrungen der Shoah geradezu aufgezwungen, von der Frankfurter Schule vorbereitet und von Entwürfen wie der „Theologie der Hoffnung“ flankiert, entstehen jetzt in Europa die „Politische Theologie“ und in Lateinamerika die „Befreiungstheologie“ (die es trotz gegenteiliger Propaganda immer noch gibt), die feministische Theologie und die vielen anderen kontextuellen Theologien, die auf die soziale und kulturelle Situation der Welt in all ihrer Unterschiedlichkeit eingehen. Rom ist (bis heute) über diese Entwicklungen entsetzt, denn den Grundimpuls der genannten Konstitution hat man nie verstanden, geschweige denn akzeptiert. Das Vorgehen gegen die Befreiungstheologie in den 1980er Jahren gehört bis heute zu den schwärzesten Stunden der Glaubenskongregation und ihres Präfekten. Dennoch hat sich seitdem nicht nur ein deutsches oder europäisches, sondern ein weltweites Bewusstsein um politische, ökonomische, soziale und Genderfragen entwickelt. Wir denken heute wie selbstverständlich in diesen neuen Kategorien. Dass von ihnen ein hohes Maß an Ideologiekritik auf unsere eigene Theologie und auf unser eigenes Denken zurücksprang, ergab sich wie selbstverständlich. Natürlich fragen wir heute, welche massiven psychologischen oder ökonomischen Ängste und Interessen hinter einem bestimmten Bild von Kirche, von Priester, von Bischof und Papst stecken. So wäre heute manches Problem vom Soziologen oder Therapeuten statt von Theologen zu lösen.
(5) Solidarität
Zeichen einer vitalen Religiosität ist es immer, wenn abstrakte Ideen und Visionen auf konkretes Handeln überspringen. Wie steht es mit der konkret geübten Solidarität, wie mit dem weltweit gepflegten Netzwerk der gegenseitigen Hilfe? Es geht nicht nur um Misereor und Adveniat, sondern auch um die konkreten Patenschaften und Hilfsaktionen, die von deutschen Gemeinden in alle Weltrichtungen ausgehen. Seit dem Konzil lernen wir, dass Kirche heute nur noch als Weltkirche, d.h. als vor Ort lebende Gemeinden mit weltweiten Ohren, Augen und Händen ihre Aufgabe erfüllt.
2.4 Verhältnis zu anderen Religionen
Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. (Dekret über die nichtchristlichen Religionen, Nr.2)
(1) Grundsätzlicher Respekt
Das Dekret über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen ist knapp gehalten und mag in seiner Zurückhaltung enttäuschen. Umso klarer kommt die zentrale Linie der neuen Annäherung an die Religionen zum Ausdruck. Es geht um einen grundsätzlichen Respekt, um ernsthafte Auseinandersetzung und um die Bereitschaft, in ihnen den Strahl der Wahrheit zu erkennen. Ungewollt und ohne dass es vorherzusehen war, erhielt dieser Text in den vergangenen 20 Jahren für Europa eine geradezu prophetische Funktion, denn inzwischen gehört es zu den grundlegenden Herausforderungen der Kirchen, ein fruchtbares Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen zu entwickeln.
(2) Judentum
Einen bitteren Nachgeschmack enthält immer noch die Geschichte des Textteils über das Judentum (Nr. 4), denn bis in die letzte Sitzungsperiode hinein stemmt sich eine Minderheit gegen die Verabschiedung einer eigenen Erklärung, die endlich eine Versöhnung einleiten soll. Schließlich wird eine verschlankte Version in dieses mehr allgemeine Dokument aufgenommen. Immerhin bleiben die wesentlichen Elemente der fälligen Erklärung erhalten: Die Heilbedeutung des „Alten Bundes“ wird anerkannt. Die Juden gelten noch immer als „von Gott geliebt“ und die These von der jüdischen Kollektivschuld am Schicksal Jesu wird zurückgewiesen. Schließlich werden alle Formen der Judenverfolgung und des Antisemitismus beklagt. Formal entschuldigt sich die Kirche nicht für Verfolgungen, die sie selbst verursacht hat. An diesem Punkt bleibt das Dokument ebenso unverbindlich wie in der allgemeinen Behauptung, auch die Klage über das jüdische Los gehe von einer Kirche aus, „die alle Verfolgungen gegen irgendwelche[?] Menschen verwirft“. Auch hier lassen sich im Sagen und Schweigen Kompromisse rekonstruieren. Dennoch hat dieser Text in der katholischen Kirche eine ganz enorme Wirkungsgeschichte entfaltet. Dieses Phänomen ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Konzilien nie einfach aus sich gewirkt haben. Ihre Wirkung hing immer an der Aufnahme der formulierten Anliegen durch die Adressaten der Texte. Ohne das Kirchenvolk wäre auch das 2. Vatikanische Konzil nicht zu dem geworden, was es schließlich geworden ist. Bis heute pflegen die Kirchenleitungen, diese wichtige Tatsache zu verdrängen.
(3) Andere Religionen
Was ist über die anderen Religionen gesagt? Jeweils ein umfänglicher Satz über Hinduismus und Buddhismus, ferner einige Bemerkungen über die übrigen Religionen der Welt, die „der Unruhe des menschlichen Herzens auf verschiedene Weise … begegnen“ (Nr. 2). Immerhin folgen dann zwei wohldurchdachte Absätze zum Islam, der – als monotheistische Religion akzeptiert – Abraham, Propheten, Jesus und Maria anerkennt. Der Auftrag, sich um ein gegenseitiges Verstehen zu bemühen, ist noch kaum eingelöst. Die Entwicklung der Zeit sorgt alleine dafür, dass dies alsbald geschieht.
III. Konzil im Widerstreit
3.1 Gesunde Auseinandersetzungen
(1) Vitale Konflikte
Das vorhergehende Kapitel über das, was geblieben ist, mag sich lesen wie die schematische Aufzählung einiger Lehrpunkte, die es jetzt eben zu akzeptieren gilt. Interessant sind sie aber deshalb, weil sie alsbald zu interessanten Auseinandersetzungen führen. Das gilt für die vergangenen Jahrzehnte und für die Gegenwart. Vitale Konflikte und Auseinandersetzungen sind das Zeichen eines konziliaren Erfolgs. Es gibt etwa Konzilsdekrete, die niemanden aufregen, die aber auch vergessen sind. Man denke an die Dekrete über Kommunikationsmittel, über die Ausbildung und Lebensform der Priester, über das Ordensleben und die christliche Erziehung. Weithin vergessen sind auch die Dekrete über die kirchliche Missionstätigkeit und das Laienapostolat. Sie setzen jedenfalls keine neuen oder aufsehenerregenden Maßstäbe.
Gesunde Auseinandersetzungen gibt es dagegen auf anderen Gebieten. Dort musste Neues erst entwickelt und versucht, mussten ein gutes Unterscheidungsvermögen und überzeugende Formen gefunden werden.
(2) Liturgische Stile
Von höchstem Interesse ist die Diskussion um theologisch und ästhetisch gute liturgische Stile. Sie dauert bis in die Gegenwart hinein an und vermischt sich unmittelbar mit theologischen Akzentsetzungen, wie der unversöhnliche Streit mit der Piusbruderschaft zeigt. Dieser Streit ist noch nicht ans Ende gekommen, weil Rom auf Weltebene und immer wieder mit einem Übermaß an Kontroll- und Einschränkungsmaßnahmen eingreift. Ein eurozentrisches Regime räumt wirklicher Interkulturalität immer noch nicht genügend Raum ein. In Europa bezieht sich die Auseinandersetzung eher auf eine angemessene Pluralität möglicher Formen bei verschiedenen Zielgruppen (Kinder und Jugendliche, Alte und kategoriale Gruppen). Der Rückgriff auf die lateinische Liturgie hat eher nostalgische Motive und sollte m. E. nicht überbewertet werden.
(3) Politische Partizipation
Wichtig und von höchster Notwendigkeit ist – auch aus zentral christlichen Gründen – der Streit um angemessene Formen der politischen Partizipation. Die Zukunft einer Kirche ohne partizipative (sprich: demokratische) Strukturen ist undenkbar. Gemessen am Zeugnis der Schrift sind die aktuell gültigen, zugunsten der gegenwärtigen Strukturen vorgebrachten Argumente niederschmetternd; die in der Regel gegen demokratische Grundregelungen vorgebrachten Gründe nicht stichhaltig. In deutschsprachigen Ländern haben zahllose Gruppierungen mit großer Geduld und Gesprächsbereitschaft versucht, stufenweise Änderungen durchzusetzen.[16] Sie sind nicht an eigenem Fehlverhalten, sondern am Unwillen der Hierarchie gescheitert. Anders gesagt: Die vom Konzil initiierten Neuansätze wurden nur ungenügend übernommen und der aktuelle Zusammenbruch der überkommenen Pastoral kann die Problematik nur noch verschärfen. Deshalb ist in aller Nüchternheit mit bleibenden Auseinandersetzungen zu rechnen.
(4) Das Heilige
Es kann nicht erstaunen: Die konziliaren Neuansätze für ein schrift- und zugleich zeitgemäßes Kirchenbild mussten und müssen auch zu einer allmählichen Neuformulierung der sakralen Dimension von Glaube und Kirche führen. Vorauszusetzen ist, dass die Frage nach dem Heiligen in den Evangelien selbst eine erstaunlich untergeordnete Rolle spielt. Zur Debatte stehen dort, neben moralischen Regeln und Haltungen, Fragen des Alltags und des alltäglichen Umgangs miteinander. Heilig ist nur Gott; er allein ist Vater zu nennen.
In der Geschichte der Kirche hat sich die Erfahrung des Heiligen dann auf zwei Schwerpunkte fixiert: (a) Liturgie und Sakramente sowie (b) die kirchlichen Ämter. Nun hat schon die ins Zentrum gerückte Metapher vom Gottesvolk zu einer Entsakralisierung unseres Kirchenbildes geführt. Neben dem „Sakrament“ hat – gut biblisch – das „Wort“ eine wichtige Stellung erhalten. Dabei hat sich immer deutlicher gezeigt, dass die einseitige Sakralisierung von Amt und Sakrament zugleich zu deren Tabuisierung geführt hat. An der Geltung von Sakrament und Amt ist nicht zu rütteln; ihnen kommt eine Bedeutung in sich zu. Zölibat und der Ausschluss von Frauen vom Amt des Priestertums hängen mit dieser Sakralisierung engstens zusammen.
Eine Enttabuisierung dieser sakralen Perspektive musste und muss zu tiefgreifenden Auseinandersetzungen führen. Umso wichtiger ist es, dass sich grundlegend neue (z.T. reformatorische) Aspekte durchsetzen: Das priesterliche Amt ist neu von der Aufgabe der Gemeindeleitung her zu verstehen und zu formulieren. Sakramente können – in aller respektvollen Nüchternheit – als Erfahrungsräume begriffen werden, in denen die christliche Botschaft (das „Wort“) eine dichte Gegenwart erhält (z. B. die Eucharistie als gegenwärtige Erfahrung des Teilens in Erinnerung an Jesus). So hart und unnachgiebig vollzieht sich im Augenblick die Auseinandersetzung, weil der Klerus zugleich zum Interessenträger seiner eigenen Privilegien wird, die er nach außen in Kategorien des Willens Christi, des selbstlosen Dienstes und der Verantwortung übersetzt. An diesem Punkt hilft nur nüchterne und ideologiekritische Reflexion: Nicht jeder Amtsträger ist Vertreter der vorherrschenden Ideologie. Viele versuchen in großer Aufrichtigkeit, zwischen den Parteien so zu vermitteln, dass die Institution Kirche selbst und die seelsorgerlichen Anliegen möglichst wenig beschädigt werden.
(5) Wahrer Glaube
Zusammengenommen zeigen diese höchst kontroversen Einzelfragen, dass die eine Grundsatzfrage zur Debatte steht: Was ist – unter der Perspektive des aggiornamento – wahrer Glaube? Die Frage kann hier nicht umfassend beantwortet werden. Es sei nur darauf hingewiesen, dass sich unser Verständnis vom Glauben grundlegend verändert hat und weiterhin verändert. Wir stehen am Beginn eines neuen Paradigmas. Man kann sich darüber streiten, ob das 2. Vatikanische Konzil diesen Änderungsprozess ausgelöst hat oder nur repräsentiert. Kulturhistoriker sagen, dass eine Änderung spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts einsetzte (mit Nietzsche als dem großen Propheten einer untergehenden, damals schon hohl gewordenen Kultur). Andere sehen in der moralischen Katastrophe des Nationalsozialismus (mit dem 2. Weltkrieg und Auschwitz) die große Zäsur. Jedenfalls kann das Konzil als Glücksfall gelten, weil es diese innere und unmerkliche Umwälzung nach außen dokumentiert und dafür einige Meilensteine gesetzt hat. Diese Zäsur schließt aber eine mühsame, schmerzliche, konfliktreiche und langfristige Nacharbeit nicht aus.
(6) Bleibende Auseinandersetzung
Kurz zusammengefasst: Wer das 2. Vatikanische Konzil ernst nimmt, muss auch der Überlegung zustimmen, dass wir seine Folgen in so kurzer Zeit gar nicht aufarbeiten können. Deshalb ist eine bleibende Auseinandersetzung unverzichtbar und notwendig. Nur ist dabei jede Selbstgerechtigkeit zu vermeiden. Was wir gerne (und zu Recht) bei anderen kritisieren, wirkt nur allzu oft bei uns selber nach. Kritik nach außen muss also konsequent von selbstkritischen Fragen nach unserem eigenen Verhalten begleitet sein.
3.2 Prinzipielle Verweigerungen
(1) Lefebvre und Genossen
Schon während der Konzilszeit formiert sich – innerhalb und außerhalb der Konzilsaula – eine Bewegung, die Ausgangsfrage und Leitprinzipien des Konzils prinzipiell ablehnt. In der Rückschau zeigt sich, dass dabei von Anfang an der antidemokratisch und royalistisch gesonnene französische Bischof M. Lefebvre eine wichtige Rolle spielte. Seine Impulse gehen später in die „Bruderschaft Pius X.“ über. Erschwerend kommt in der aktuellen Situation ein weiterer Faktor hinzu: Die römische Kirchenleitung stimmt dieser prinzipiellen Verweigerung zwar nicht formell, aber in vielen inhaltlichen Punkten zu. Man versucht, die Impulse und Folgen des Konzils im Sinne der vorkonziliaren – also antireformatorischen (Konzil von Trient) und antimodernistischen (1. Vatikanisches Konzil) – Epoche zu relativieren. Man nimmt also im Konzil formulierte oder vom Konzil nahegelegte Prinzipien nicht zur Kenntnis oder konterkariert sie durch vor-moderne Grundsätze. Dies ist die m. E. plausibelste Erklärung für die mehr als konservative Haltung, die Benedikt XVI. im Augenblick der Kirche als gesamter auferlegt[17]. Diese Auseinandersetzung mit verbindlichen Äußerungen und Maßnahmen von päpstlicher Seite macht die besonderen Schwierigkeiten und Konflikthaltigkeit der aktuellen Auseinandersetzungen aus[18]. Auch von den nationalen Bischofskonferenzen oder Ortsbischöfen ist im Augenblick keine gesprächsbereite Haltung zu erwarten.
(2) Wahrheit – Sakrament – Freiheit
Zu dieser Verweigerungs- oder Verdrängungshaltung gehören:
… der exklusive und rationalistisch ausgelegte Wahrheitsanspruch, an dem die offiziellen Instanzen der römisch-katholischen Kirche immer noch festhalten. Dieser Anspruch wird nicht nur gegenüber der „Welt“ und anderen Religionen, sondern auch gegenüber anderen christlichen Kirchen und Konfessionen durchgesetzt. Dies führt zur Blockade vieler überfälliger Diskussionen, und diese Blockade wirkt sich nicht nur auf die theologische Fachwissenschaft, sondern auch auf die kirchliche Öffentlichkeit und die Gesprächssituation der Einzelgemeinden aus.
… der Sakramentalismus, der entgegen allen konziliaren Ansätzen wieder um sich gegriffen hat und von den Kirchenleitungen massiv propagiert und durchgesetzt wird. Das Wesen der Kirche wird ausschließlich von der Gegenwart des sakramentalen Bischofsamts und der Eucharistie erklärt, mit allen schriftfremden und ökumene-feindlichen Folgen dieser Position. Die konziliare Dialektik von Wort und Sakrament ist in hierarchischen Äußerungen wie verschwunden. Anstehende Fragen wie die Ordination von Frauen, der Zugang von Frauen zum Diakonat, die Zölibatsverpflichtung, das Recht von „Laien“ auf Predigt und liturgische Funktionen werden aufs neue tabuisiert.
… Prinzipien wie Gewissens- und Religionsfreiheit oder Toleranz werden von offizieller und offiziöser[19] Seite nur mit Misstrauen und innerer Distanz behandelt. Sie haben nicht die Chance, zu treibenden Kräften der Meinungsbildung zu werden. Der Skandal um den Umgang mit den bischöflichen Piusbrüdern im Frühjahr 2009 haben dieses Problem deutlich gemacht.
(3) Bedeutung der Schrift
In grundlegenden Fragen des christlichen Glaubens und der kirchlichen Ordnung werden die Aussagen der Schrift faktisch oder prinzipiell relativiert. Als Beispiele können gelten: (a) das offizielle Amtsverständnis, das sich mit den Aussagen biblischer Zeugnisse offensichtlich nicht decken lässt, (b) die biblisch verantworteten Jesusbilder, die – implizit oder ausdrücklich – seit Jahrzehnten schon in die Ecke der Oberflächlichkeit oder der Häresie abgedrängt werden, (c) das geltende Verständnis der Eucharistie, das mit den biblischen Zeugnissen nicht in Einklang zu bringen und deshalb korrekturbedürftig ist.
(4) Widerstand geboten
Diese Verweigerungshaltung, die eine genuin christliche, d. h. auf Schrift und Gegenwart basierende Auseinandersetzung verhindert, verdient um der Sache willen entschiedenen Widerstand. Nach nunmehr 44 Jahren können Forderungen auch nicht mehr mit der Bitte um mehr Geduld oder Achtsamkeit aufgeschoben werden. Zu überwinden ist die – lange Zeit verständliche – Reaktion, die Polarisierungen vermeiden will oder bei beginnenden Konflikten die Schuld eher bei sich selbst als bei anderen sucht. Der polemische Begriff eines Schismas von oben hat eine durchaus enthüllende Kraft. Übertreibungen mag es immer auf allen Seiten geben und vor Pauschalurteilen ist zu waren. Generell ist jedoch dies zu erwarten: Die „einfachen“ Gemeindemitglieder, die aus Engagement, auf Grund ihrer Beschäftigung mit der Schrift und in der Sorge um eine angemessene und menschenfreundliche Lebenspraxis in Konflikte geraten, können mit Selbstbewusstsein für ihre Überzeugungen eintreten. Damit leisten sie der Sache des christlichen Glaubens einen unverzichtbaren Dienst.
3.3 Testfälle: Rolle der Frau, Judentum und Religionsfreiheit
Drei Testfälle können den unbefriedigenden Zustand der gegenwärtigen Kirchen- und Gemeindesituation illustrieren:
(1) Stellung der Frau
Trotz tiefgreifender gesellschaftlicher und kultureller Änderungen in den vergangenen 100 Jahren, trotz eines weithin geänderten Rechtsbewusstseins und trotz umstürzender anthropologischer Erkenntnisse von vielfältiger Art hat sich die (offizielle) Stellung der Frau in der Kirche bis heute nicht geändert. Sie bleibt ausgeschlossen von der Ordination; Rom hält Frauen nicht einmal für fähig, die Priesterweihe zu empfangen. Damit verbindet sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, für Frauen die Möglichkeit, Leitungsämter, die Spendung von Sakramenten, insbesondere den Vorsitz in der Eucharistiefeier zu übernehmen. Ins Gewicht fällt (a) der faktische Ausschluss von Frauen aus der Ämterhierarchie, (b) die symbolische Bedeutung, den dieser Ausschluss für das christliche Selbstverständnis der Frau entfaltet, (c) die vor-moderne, d. h. absolut unreflektierte Begründung, die diesem Ausschluss gegeben wird. Nach offizieller römischer Version können Frauen keine Priesterinnen werden, weil der Priester im sakramentalen Handeln die „Person Christi vertritt“, der ein Mann war. Die Willkür dieser Begründung zeigt, dass die offizielle katholische Kirche immer noch einem vordemokratischen, wenn nicht gar mittelalterlichen Menschen- und Gesellschaftsbild verhaftet ist. Theologinnen und Theologen kritisieren diesen Zustand schon seit den 1970er Jahren.[20]
Umso problematischer ist dieser Tatbestand, als Frauen sich nicht nur gegen diesen Missstand wehren, sondern in ihrer Weise für Abhilfe sorgen. Weltweit und an vielen Orten sind es Frauen, die faktisch Gottes- und Abendmahlsdienste feiern, und weltweit entwickelt sich zur Zeit eine Bewegung. Sie umfasst schon gegen 100 geweihten Priesterinnen und fünf Bischöfinnen, die mit einer wachsenden Akzeptanz rechnen können[21].
(2) Judentum und Staat Israel
Komplexer liegt das Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum und zum Staat Israel. Jahrhundertealte Grundfragen gelten als theoretisch gelöst und das Schuldeingeständnis Johannes Pauls II. in Jerusalem (26.03.2000) ist von weittragender, geradezu erlösender Bedeutung. Natürlich ist auch Benedikt XVI. alles andere als ein Antisemit und seine Verdienste um ein geordnetes Verhältnis zwischen Jerusalem und Vatikan sind unbestritten. Allerdings ist das Verhältnis Benedikts XVI. zum jüdischen Volk nicht unproblematisch.
– Bei seinem Auschwitzbesuch (28.05.2006) minimiert er die Schuld des deutschen Volkes am sechsmillionenfachen Judenmord.
– Im Rahmen der restituierten lateinischen Liturgie ordnet er eine Fürbitte an, die implizit doch wieder die Bekehrung der Juden ins Zentrum der christlichen Ziele rückt (05.02.2000).
– In seinem Jesusbuch wird die jüdische Heilsgeschichte an vielen Punkten zugunsten Jesu Christi enteignet.
– Die offizielle Versöhnung mit dem radikalen Antisemiten Richard Williamson und den anderen bischöflichen Piusbrüdern hat gezeigt, dass in den jahrzehntelangen Verhandlungen zwischen Rom und der Piusbruderschaft die konkrete Frage nach deren Stellung zum Judentum überhaupt keine Rolle spielte.
– Für die Empörung zahlloser Christen über die offengelegten Missstände zeigte der Papst keinerlei Verständnis, sondern fühlt sich ungerecht und aggressiv behandelt (11.3.2009).
Angesichts der eigenen Schuldgeschichte sind diese Mängel und Irritationen zumal in der deutschen Kirche nicht hinnehmbar. Die große Empörung, die sich an vielen Orten und Gemeinden zeigte, belegt nur die Sensibilität, die sich zum Verhältnis zu Juden inzwischen eingestellt hat.
(3) Religionsfreiheit versus Dominus Iesus
Einen dritten Testfall bilden das Prinzip der Religionsfreiheit und des Respekts vor anderen Religionen. Im Schrifttum J. Ratzingers fällt auf, dass Fragen der Demokratie und der Geltung anderer Religionen immer restriktiv, mit Kritik und mit Warnung versehen sind. Gemäß dem immer noch gültigen Dekret Dominus Iesus (2000) ist die Kirche nach wie vor das „universale Heilssakrament“ schlechthin und anderen Religionen wird kein „göttlicher Ursprung“ zugestanden. Alle Mitglieder anderer Religionen befinden sich „objektiv in einer schwer defizitären Situation“. Die langfristigen Folgen dieser Grundhaltung sind unabsehbar, können jedenfalls nicht zu einer neuen Begegnung mit den uns umgebenden Religionen ermuntern.
3.4 Warum der massive Widerstand?
(1) Interessen der Kurie
Ein Vergleich mit der Rezeption anderer Konzile zeigt, dass der faktische Widerstand gegen das 2. Vatikanische Konzil kein außerordentliches Geschehen darstellt. Man vergleiche die Wirkungsgeschichte des 2. Vaticanums etwa mit der Wirkungsgeschichte des Konzils von Konstanz. Bis heute wird es vom Papsttum faktisch ignoriert wird. Auch weisen uns – anders bzw. massiver als es die offizielle Geschichtsschreibung bzw. Aktenlage wiedergibt – Zeitzeugen[22] nachdrücklich darauf hin, dass sich in Rom gegen das Konzil schon vor dessen Beginn prinzipieller Widerstand zeigt. Teils sind sie durch starke Interessenkonflikte von Seiten der Kurie motiviert, teils beziehen sie ihre Energie aus der damaligen politischen Situation der Republik Italien; man befürchtet einen theologischen und kirchenpolitischen Linksruck, den man unbedingt vermeiden will. Vor diesem Hintergrund liest sich mancher Konzilstext noch einmal nüchterner, weil er die umfassende Kompromisssituation der damaligen Jahre zeigt.
(2) Machtverfall
Sehr früh wird deutlich, dass das Konzil das Gesicht der Kirche verändern wird. Jede Veränderung einer Institution ruft beharrende Kräfte auf den Plan. Zudem wird von Kurie und Hierarchie ein starker Machtverfall befürchtet, der angesichts der soziokulturellen Situation ohnehin schon im Gange ist. Verfälschende Projektionen von Sündenböcken setzen sich durch. So gilt Kritik an der Kirche, so konstruktiv sie auch gemeint ist, als Auslöserin für deren schwindende Autorität, obwohl doch die Glaubwürdigkeit der Kirche wiederhergestellt werden soll. Diese Projektionsmechanismen übertragen sich auf andere Zusammenhänge. Wer etwa ist schuld am wachsenden Orientierungsverlust unserer Kultur? Welche Kirche kann den Sinn für Normen und Werte neu wecken? In solchen Gedanken- und Argumentationsnetzen richten sich die Gegner konziliarer Veränderungen in wachsendem Maße ein. Es gilt deshalb, deren Plausibilitätsdiskurse zu durchbrechen und fällige Erneuerungen offensiv zu verteidigen.
(3) Wachsende Polarisierung
Natürlich haben sich seit Konzilsende die gesellschaftlichen Horizonte auch innerhalb der Kirchen und Gemeinden stark verändert. Angesichts wachsender gesellschaftlicher Differenzierungen und intensiver Globalisierungsprozesse haben die Polarisierungen und die Unfähigkeit zur gegenseitigen Verständigung zugenommen. Das gilt auch für den innerkirchlichen Diskurs. Die eine Gruppe von Menschen wird zunehmend autonom und ist immer weniger bereit, die traditionellen Formen pastoraler Weisungen und Zumutungen zu akzeptieren. Die andere Gruppe fällt eher in ein unpolitisches und vorkritisches Modell von Religion und Religiosität zurück. Kurz gesagt: Das eigene Religionsverständnis rückt eher auf die Seite der (wohlverstandenen) Autonomie oder auf die Seite des so lange eingeübten Gehorsams (vgl. das Image junger, höchst konservativer Priester). Diese Polarisierung führt dazu, dass die aktuellen Probleme noch schwerer überbrückbar sind, als sie es vor zwanzig Jahren waren[23].
IV. Wie geht es weiter?
Dennoch geht das Leben in Kirchen und Gemeinden weiter, auch wenn sich die Vorzeichen verdüstern. Umso wichtiger ist es, eine nüchterne Diagnose zu stellen und für die Zukunft gute Strategien zu entwickeln. Sie beziehen sich nicht nur auf ein bestimmtes Handeln, sondern auch auf die Entwicklung eines bestimmten Selbstbewusstseins, das die eigenen und höchst wirksamen Ressourcen aktiviert.
4.1 Was unbestritten bleibt
(1) Kein Rückzug
Beginnen wir mit einer kleinen Bestandsaufnahme, die schon Gesagtes noch einmal zusammenfasst. Unbestritten und täglich neu zu bestätigen ist, was erarbeitet wurde und sich bislang als richtig erwiesen hat (s. Kap. II): eine neue und selbstbewusste, bis dahin unerhörte Kirchenpraxis, das Leben in unbestreitbaren ökumenischen Beziehungen, ein weltoffenes und unbestritten solidarisches Verhältnis mit den Fragen und den Nöten der Welt sowie die Erarbeitung interreligiöser Kenntnisse, Begegnungen und Kooperationen. Vor allem ist der Versuchung zu widerstehen, dass wir alle diese Bezugsrahmen einer innerkirchlichen Frömmigkeitspraxis einfach unterordnen. Nicht um Unterordnung geht es, sondern um Konkretisierung und Bereicherung. Wir beziehen die Inhalte unserer Spiritualität nicht aus einer neuen Weltflucht, sondern aus einer neuen Zugewandtheit zur Welt.
(2) Gelassenheit
Ich behaupte auch: Recht verstanden können wir diese Hartnäckigkeit, mit der wir auf dem „Neuen“ bestehen, ohne innere Irritationen und Besorgnisse aufrechterhalten. Angesagt ist eine innere Freiheit und Gelassenheit, eine gewachsene Intuition, die vielen Christen ihren Weg weist. Die genannten großen Linien des Konzils überzeugen inzwischen aus dem Geist der Schrift, dem Geist der Solidarität, also dem Geist unseres eigenen Gewissens. Konzilsbeschlüsse sollten oder brauchen nicht fundamentalistisch durchgedrückt werden. Es geht um eine innere Flexibilität, die ihre Ziele nicht aus den Augen verliert. Wir haben nämlich davon auszugehen: Viele Details haben sich inzwischen verändert und manches würden wir heute anders, zumindest weltoffener formulieren.
(3) Reformforderungen
Dazu gehören etwa die Reformforderungen der Kirchenvolksbegehren von 1995 und 1996: (a) Aufbau einer geschwisterlichen Kirche, (b) volle Gleichberechtigung von Frauen in allen kirchlichen Ämtern, (c) freie Wahl zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform, (d) positive Bewertung der Sexualität, (e) Frohbotschaft statt Drohbotschaft. Die genannten Elemente und die damit verbundenen Konsequenzen sind notfalls mit (klug organisiertem) Widerstand zu verteidigen.
4.2 Gemeinden müssen/dürfen zu sich selbst finden
(1) Verhärtete Reaktionen
Die leidenschaftlichen Auseinandersetzungen um die konzeptionelle und die strukturelle Gestaltung von Gemeinden und überörtlichen Zusammenhängen führen oft zu verhärteten Reaktionen und Haltungen. Es besteht die Gefahr, sich auf den Streit mit den Kirchenleitungen zu fixieren. Das ist verständlich, denn in vielen Fällen werden bei der Vorbereitung von Beschlüssen Gemeinden, Verbände, die Vertretungen von Gemeinden bzw. Diözesen schlicht ignoriert; ganze Strukturen der Repräsentation und Partizipation werden außer Kraft gesetzt. Denunziationen und Diskriminierungen bestimmen in Krisensituationen den Alltag. In Streitfällen wird regelmäßig denen recht gegeben, die eine höchst konservative oder autoritäre Linie vertreten. Erschreckend oft weicht der Geist des Gesprächs dem Geist von Befehl und Gehorsam. Diese Atmosphäre verschärft sich unter Benedikt XVI., dessen hochkonservative Auffassungen aus der früheren Zeit bekannt sind und mit dem man die Zeit der vorkonziliaren Reaktion wieder angebrochen sieht. Die Gefahr, dass der Geist der Gemeinschaft auf Dauer beschädigt wird, ist nicht zu unterschätzen. Deshalb ist über Gegenstrategien offen nachzudenken.
(2) Getauft und vom Hl. Geist belehrt
Wichtiger als alle konkreten Auseinandersetzungen ist deshalb ein neues Selbstbewusstsein der Gemeinden, das mit der theologisch-geistlichen Besinnung auf ihre eigene Würde beginnt. Ohne die Bedeutung der Gesamtkirche auszuschließen, ist in erster Linie die Gemeinde „Volk Gottes“. Mit ihr und nicht mit der Hierarchie beginnt das Geheimnis der neuen Botschaft, in ihr und nicht in den Bischöfen subsistiert die Kirche (um die Konzilskonstitution Nr. 8 aufzunehmen). In der Gemeinde beginnt das grundlegende Ereignis von Gottes Reich, das die einzelnen Menschen zum Volk Gottes bildet (Nr. 9). Die Taufe eines jeden Einzelnen ist es, die uns verbindet und zum „Allgemeinen Priestertum“ führt, an dem wir alle teilhaben und die keine ausschließende Über- und Unterordnung mehr zulässt. Deshalb hat auch die Willensbildung einer Gemeinde ihre eigene Würde. Dass eine christliche Gemeinde sich um ihre vertrauensvolle Einordnung in größere Verbände bemüht und die umfassenderen Ämter anerkennt, ist selbstverständlich. Aber diese Akzeptanz einer umfassenden Gemeinschaft (Diözese und Gesamtkirche, Verband aller christlicher Kirchen) setzt die unbeschädigte Identität und Würde der Einzelgemeinden voraus. Bei allem Streit kann dieses Bewusstsein zu einer großen Gelassenheit und zu einer angemessenen Relativierung all derjenigen Ämter führen, die sich immer noch aus sich selbst begründen und dabei ihre Dienstfunktionen für die Menschen verdrängen. Die Kirche lebt nicht in erster Linie von den äußeren, offiziell sakralisierten Rechtsstrukturen, sondern von einer inneren Rechtlichkeit und Funktionalität, die geistlich zu begründen ist und die geistlich ausgehöhlt werden kann.
Gegebenenfalls können auch hoch anerkannte und hochangesehene Rechtsstrukturen ihre Verbindlichkeit verlieren, denn „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29). In Zeiten der Krise ist dieses Bewusstsein neu in den Mittelpunkt gemeindlicher Praxis zu rücken.
(3) „Kirche von unten“
Für das klassische katholische Kirchenbild[24] bedeutet das neue, biblisch begründbare Bewusstsein einer „Kirche von unten“ (= „Volk Gottes“ in soziologisch modernisierter Formulierung) eine Revolution, deren Radikalität vielen Konzilsteilnehmern nicht bewusst war. Übersehen wird in der Regel auch, dass dieses neue Modell dem klassischen reformatorischen Kirchenverständnis zwar nahe kommt, aber sich wieder erneut – und entschiedener als die Reformation – auf das charismatische Kirchenmodell des Paulus einlässt. Unbestreitbar ist, dass das 2. Vatikanische Konzil die überlieferte dogmatische Lehre nicht antasten wollte. Ebenso wenig ist zu bestreiten, dass das Konzil ein pastorales Konzil sein wollte. Auf längere Frist hat sich gezeigt: Dieser pastorale Konzilsakzent musste den klassisch dogmatischen Rationalismus relativieren. Wir haben, anders gesagt, dies eine zur Kenntnis zu nehmen: Eine pastorale Fragestellung unterminiert auch Überzeugungen, die bislang als dogmatisch unveränderlich galten. Dazu gehört die historisch bedingte (und platonisch gedachte) Überzeugung, die Kirche sei im Sinne einer Pyramide von oben nach unten konstruiert. Biblisch gesehen ist das nicht der Fall, denn einzelne Gläubige werden kraft der Taufe in eine örtliche Gemeinschaft zusammengefügt, die den Grundstein von Kirche bedeutet. Die späteren Amtsstrukturen (Bischöfe und Papst eingeschlossen) sind Folgeerscheinungen. In einem weltweiten Personalverband sind sie vielleicht wichtig und unverzichtbar, aber in Krisenzeiten brauchen wir die Rückbesinnung auf die ursprünglichen Konstruktionselemente. In diesem Sinn haben alle Ämter (das priesterliche Pfarramt eingeschlossen) eine dienende Funktion. Letztlich gilt nicht ihre formale und rituell geregelte Amtsübertragung, sondern ihre Glaubwürdigkeit und Akzeptanz, die am besten durch Akte der Wahl abgesichert werden.
(4) Welches Kirchenkonzept?
Zu einem scharfen und unerträglichen Konflikt führen diese Unterschiede des Kirchenkonzepts in Fragen Pfarrstruktur und Teilnahme an der Feier der Eucharistie.
* Das traditionelle, vom Konzil unberührte Kirchenkonzept verleitet die Bischöfe zu Pfarrstrukturen, die der Anzahl verfügbarer Priester angepasst sind. Unabhängig von der Frage, nach welchen Kriterien eine christliche Gemeinde zu definieren sei, werden Pfarreien zusammengelegt bzw. „Seelsorgeeinheiten“ konstruiert. Das selbstverständliche Grundprinzip: „Einer Gemeinde steht eine – im relativ christlichen Sinne eigenständige – Gemeindeleitung zu“ wird entgegen aller christlichen Einsicht in sein Gegenteil verkehrt. „Einem Pfarrer steht eine – durch bischöflichen Willen errichtete – Gemeinde zu.“ Funktionierende Gemeinden werden zerschlagen und die angestammte kirchliche Praxis zahlloser Katholikinnen und Katholiken wird mit Füßen getreten. Demgegenüber ist festzustellen: Bischöfe haben grundsätzlich kein Recht, in dieser Weise mit dem Status vernünftig funktionierender Gemeinden umzugehen. Unbeschadet der schwierigen rechtlichen Fragen steht Bischöfen eine derart situierte Entscheidungsgewalt nicht zu; ihren Entscheidungen wohnt keine Gültigkeit inne. Dagegen gehört es zur unbedingten Pflicht der Bischöfe, in Kooperation mit den betroffenen Gemeinden für eine glaubwürdige Gemeindeleitung zu sorgen bzw. den Gemeinden eigene Aktivitäten zur Einrichtung von Gemeindeleitungen zuzugestehen.
* Der aktuelle Priestermangel führt dazu, dass viele Gemeinden nicht mehr wöchentlich die Eucharistie feiern können, wie sie es nach althergebrachten Regeln ihrer Kirche gewohnt sind. Dadurch werden sie in eine ausweglose Situation gebracht. Einerseits fühlen sie sich gehalten und ihn ihrem Glauben dazu gedrängt, wöchentlich in tätiger Erinnerung des Abendmahls, des Todes und der Auferstehung des Herrn zu gedenken. Zu Recht ist die katholische Kirche stolz darauf, dass sie dieses Sakrament immer hoch in Ehren gehalten hat. Andererseits weigert sich die römisch-katholische Kirchenleitung, für eine ausreichende Anzahl von dazu befugten Personen zu sorgen bzw. es den Gemeinden zu erlauben, in eigener Regie (wenn auch in Kooperation mit den Kirchenleitungen) für Abhilfe zu sorgen. Dieser Zustand ist unhaltbar und trägt selbstzerstörerische Züge.
* Deshalb ist mit Nachdruck an dem unveräußerlichen Recht einer jeden Gemeinde an der wöchentlichen Eucharistiefeier festzuhalten. Wenn die Bischöfe in dieser Aufgabe versagen, fällt das bischöfliche Recht auf die Gemeinden zurück. Sie haben das Recht und die Pflicht, geeignete Kandidatinnen und/oder Kandidaten auszusuchen und für die Aufgabe der Gemeindeleitung und den damit verbunden Auftrag zum Vorsitz in der Eucharistiefeier zu bestimmen.
* In Grenzfällen, die die Gemeinden nicht zu verantworten haben, kann eine Eucharistiefeier auch ohne offiziellen Vorsitz geboten und „gültig“ sein. Dass darin die Frage des Zölibats und der Ausschluss von Frauen eine wichtige Rolle spielt, ist unbestritten. Deshalb ist auch der folgende Hinweis von Bedeutung: Im Augenblick gibt es innerhalb der katholischen Kirche etwa 100 geweihte Priesterinnen und mindestens fünf geweihte Bischöfinnen, die – weithin unbemerkt, aber mit wachsendem Erfolg – für eine neue Tradition eucharistischer und sakramentaler Aktivitäten sorgen.
(5) Engagement vor Ort
Die wachsende innere Strukturproblematik der Gemeinden und der wachsende Unfriede mit uneinsichtigen Kirchenleitungen birgt allerdings die Gefahr einer neuen Nabelschau in sich. Deshalb sollten Gemeinden in ihrer Not darauf achten, dass sie nach wie vor ihre Dienstfunktion, ihr tätiges Engagement vor Ort, an Gesellschaft und Welt wahrnehmen. Daran erweist sich, was ihr Anteil am kommenden Reich Gottes sein wird. Deshalb sollten sich Gemeinden – in konservativer oder in progressiver Richtung – vor jeder Selbstfixierung hüten. Keine Gemeinde ist Selbstzweck oder Zweck zum höheren kirchlichen Ruhm, sondern beauftragt zu einem Dienst an der Zukunft einer versöhnten Menschheit.
V. Neue Horizonte
Im Sinne des Konzils befinden sich die Gemeinden, dieses wandernde Gottesvolk, auf einem ständigen Weg. In der Kirche geht es letztlich um die Zukunft einer Menschheit und Welt, die sich stets ändert, uns zu neuen Herausforderungen ruft und zum ständigen Wandel der eigenen Identität führt; denn diese wächst nicht unabhängig von den Kontexten, in denen wir täglich leben. Deshalb muss eine Gemeinde lernen, sich ständig loszulassen. Sie muss zu neuen Horizonten finden, die sie mit Welt und Gesellschaft teilt. Nur das Korn, das stirbt, bringt neue Frucht (Joh 12,24). Im Folgenden werden drei Horizonte genannt, die die Identität christlicher Gemeinden in Zukunft mitbestimmen und ihr eine neue Weggemeinschaft mit der Welt ermöglichen. Diese Horizonte werden behandelt unter den Stichworten Spiritualität, Interreligiosität und Säkularisierung.
5.1 Spiritualität
Dass der Begriff „Spiritualität“ nicht eindeutig ist, sondern einen recht diffusen Eindruck macht, hängt mit der Tendenz aller Spiritualität zur Grenzüberschreitung und mit ihrer dynamischen Entwicklung zusammen. Traditionell christliche Gemeinden verbinden ihn mit einer verinnerlichten Frömmigkeit, die sich dem Geistigen/Geistlichen zuwendet. Sie greift bisweilen auf mystische, bisweilen auf biblische, poetische oder philosophische Texte oder Bilder zurück. Der Begriff stammt aus dem 19. Jh. und wurde zunächst im französischen Sprachraum entwickelt. Inzwischen hat er eine dramatische Ausweitung erfahren. Spiritualität ist nicht mehr an spezifisch christliche Texte gebunden; sie verweist zunehmend auf säkulare Inhalte wie Lebensweisheit und Lebenssinn. Zugleich erinnert sie an psychologische Phänomene wie das unendliche Verlangen des Menschen nach Erfüllung und innerem Glück. In diesem Sinn führt Spiritualität zu großen und schwebenden, bisweilen auch esoterischen Zusammenhängen, die in vielfältigen Kategorien zum Ausdruck kommen: Sehnsucht und Lebensenergie, Ganzheit und kosmische Weite, Versenkung und Meditation. Hier müssen drei weiterführende Gesichtspunkte genügen:
(1) Zerfall und neue Grundlegung zugleich
Die Frage nach Spiritualität ergreift Christen und andere Menschen gleichermaßen. Man kann dieses Phänomen begreifen als Zeichen des Verfalls und der wachsenden Diffusion der religiösen Tradition: Christliche Inhalte verlieren an Konturen. Sie weichen allgemeineren Verweisen auf „irgendetwas“, das „tiefer“ oder „weiter“ reicht, das „existentieller“ oder „umfassender“ wahrgenommen werden kann. Es geht um Ergriffenheit, Ehrfurcht, Transzendenzerfahrung und Gestimmtheit, um inneres Wachstum oder um die große Stille, mit der schon der Platonismus das Göttliche umschreibt. Dieser Zerfallsprozess eindeutiger Inhalte zeigt sich nicht nur außerhalb christlicher Kreise, sondern auch bei vielen, die sich redlich um eine christliche Weltinterpretation bemühen.
Doch sollte die positive Seite dieses Prozesses nicht verkannt werden. In diesem Prozess werden religiöse (auch christliche) Inhalte zugleich in einem neuen Horizont rekonstruiert. Menschen nähern sich neu den religiösen Grundlagen, die auch eine christliche Glaubenspraxis voraussetzt. Bevor ich die Gottesfrage entdecke, muss ich die säkulare Sinnfrage überhaupt verstanden haben. Bevor ich von der Sehnsucht nach Gott rede, sollte klar sein, was Sehnsucht für uns Menschen überhaupt bedeutet. In diesem neuen Horizont müssen auch Christen entdecken, dass wir gemeinsam mit den Menschen unserer Gesellschaft auf einer neuen Suche nach Wahrheit und Heil, nach der Deutung unserer Grenzen und Grenzerfahrungen sind[25]. Diese neue Frage nach Spiritualität überschreitet die Grenzen der Kirchen und einzelner Gemeinden. Deshalb müssen sich Gemeinden öffnen. Bevor sie sich auf spezifisch christliche Inhalte konzentrieren, müssen sie diese Solidarität in einer gemeinsamen Sinnsuche akzeptieren und ihre Grenzen verflüssigen. Nur in dieser interessefreien Offenheit lassen sich Menschen neu für die Sache des christlichen Glaubens gewinnen.
(2) Unspektakuläre Arbeit
Unter den Vorzeichen unserer verzweckten und überbeanspruchten Gesellschaft gehört die Pflege einer offenen Spiritualität zum unverzichtbaren Sauerteig einer jeden religiösen und christlichen Gemeinschaft. Wir müssen uns in transkirchlicher Arbeit ein Gebiet neu erarbeiten, das die Kirche in den vergangenen Jahrhunderten sträflich vernachlässig hat: nämlich den reichen Erfahrungsschatz der Mystik, der Meditation und der religiösen Erfahrung. Spiritualität verlangt eine unspektakuläre Arbeit: offene Gespräche und existentielle Offenheit, gemeinsame Suche und Verzicht auf jede Rechthaberei. Wichtig ist die Bereitschaft, einer jeden Generation und einem jeden Geschlecht eigene Wege zuzugestehen und deren spezifische Erfahrungen ernst zu nehmen. Der drohende Abbruch einer Kontinuität zwischen den Generationen hängt vermutlich mit diesem Defizit zusammen. Wir müssen aufhören, alle Generationen mit der einen vorgegebenen Glaubensform unserer Gottesdienste, Predigten und Gebetskultur zu konfrontieren. In jedem Fall gehen sie ihre eigenen Wege, auch wenn wir auf weite Strecken hin deren christliche oder religiöse Identität nicht erkennen können.
(3) Anarchisches Wachstum
Die Offenheit für neue spirituelle Formeln verlangt von den eingeübten und wohl trainierten „Christen“ ein hohes Maß an Selbstlosigkeit und Verzicht. Eine neue und wirklich zeitgemäße Spiritualität lässt sich keine Vorschriften machen. Sie wächst anarchisch und nach dem Zufallsprinzip, lässt sich auch nicht gängeln und vorschnell beurteilen. Sie verlangt deshalb ein großes Vertrauen auf die Menschen, die sich ihrer Dynamik überlassen, sowie die Bereitschaft, die eigenen Konzepte zu korrigieren. Grundsätzlich stellt eine neue Spiritualität die Frage, ob sich ein Glaube überhaupt (wie die Älteren es gewohnt sind) von festgelegten Sprach- und Begriffsregelungen steuern lässt.
5.2. Religionen und Religiosität
Neu und vom Konzil noch nicht erfasst ist der weltweite interreligiöse Horizont, in den das zeitgenössische Christentum eingetreten ist. Die interreligiösen Beziehungen sind keine Frage unseres selektiven und aktiven Interesses mehr. Sie überrollen uns, sind uns also aufgegeben, weil wir mit den Angehörigen vieler Religionen oft täglich konfrontiert sind. Ihre Vorstellungswelten und Phantasien, ihre Werteordnungen und ethischen Codes, ihre Gottesbilder und Heilskonzepte fordern uns heraus, zwingen uns zu Vergleichen und Beurteilungen. Wir bleiben davon nicht unberührt, sondern suchen auch nach dem, was uns bereichert. Dabei hilft uns nicht nur die Erkenntnis, dass die Weltreligionen in ethischen Grundfragen erstaunliche Konvergenzen zeigen (vgl. Projekt Weltethos). Uns hilft auch die Erweiterung unseres eigenen Horizonts, weil wir dieselben Grundanliegen in verschiedensten Kulturen und unter unterschiedlichsten Vorbedingungen verwirklicht sehen. Für die Zukunft unserer Gemeinden ziehe ich daraus drei Folgerungen.
(1) Was ist eigentlich „wahr und heilig“?
Die Konzilstexte erkennen in den anderen Religionen an, was in ihnen „wahr und heilig“ ist. Aber die Erkenntnis des Wahren und Heiligen ist keine Einbahnstraße, denn auch wir haben von den anderen Religionen zu lernen. Zur zeitgenössischen Weitung unseres Horizonts haben wir deshalb die Begegnung mit (Vertretern anderer) Religionen systematisch und in methodisch reflektierter Weise zu fördern. Es reicht nicht, gelegentlich eine Synagoge, eine Moschee oder einen hinduistischen Tempel zu besuchen. Sich in andere Religionen einzuarbeiten ist ebenso mühsam wie die Aneignung einer zeitgemäßen Religiosität, die dicht an die Auseinandersetzung mit Spiritualität heranreicht. Nicht ohne Grund umschreiben Religionssoziologen die Funktion der Religion oft mit der Bewältigung von Kontingenz, also den unvermittelten, zufälligen, oft schmerzhaften Grenzerfahrungen, denen wir ausgesetzt sind. Wir müssen Religionen kennen lernen, wie wir (in Religionsunterricht und Katechese) die eigene Religion kennen lernen. Wir müssen – überspitzt ausgedrückt – überhaupt lernen, was Religion ist und bedeutet, bevor wir die christlichen Besonderheiten voll begreifen. Deshalb ist die Begegnung mit Religionen und mit Religiosität ein langfristiges Projekt.
(2) Religionen anerkennen
Daraus ergibt sich die Aufgabe, andere Religionen in vernünftiger Weise ernst zu nehmen und anzuerkennen. Das ist ein schwieriges Geschäft, das uns anfänglich so unmöglich erscheint wie die Quadratur des Kreises (weshalb ein traditioneller Denker wie J. Ratzinger vor einem echten Religionsdialog warnt, der sich dem Risiko eigener Meinungskorrektur aussetzt). Wie kann man eine Religion vollumfänglich anerkennen und dennoch von der eigenen überzeugt bleiben? Das ist nur unter zwei Bedingungen möglich: (a) die Wahrheit einer Religion bzw. eines Glaubens ist nicht (wie unsere Tradition es getan hat) zu verwechseln mit einer wohldefinierten Begriffwahrheit. Religionen bringen in Symbolen (Bildern bzw. Metaphern) zum Ausdruck, was im direkten Zugriff nicht fassbar sein kann. So gesehen zeigt sich im jeweils eigenen Symbolkosmos eine Fülle von Symbolen, die in anderen Religionen wiederkehren (man vergleiche nur die christliche Symbolwelt mit der des alten Ägyptens oder des Islam). (b) Die Wahrheit einer Religion bzw. eines Glaubens enthüllt sich in Erzählungen, d.h. in geronnenen, in Geschichte geformten Erfahrungen. Hier steht uns also ein Umdenken bevor, das die Fähigkeiten einer einzigen Generation übersteigt.
(3) Gemeinsam und sachbezogen
Zum Abschluss kommt die respektvolle Anerkennung einer anderen Religion nicht in der gegenseitigen Bezeugung der eigenen Religion. In dieser direkten Form ist sie relativ uninteressant. Gegenseitige Begegnung erfüllt sich im gemeinsamen sachbezogenen Engagement. Biblisch ausgedrückt: Es kommt auf das gemeinsam erstrebte Reich Gottes an. Säkular ausgedrückt: Es geht um den gemeinsamen Einsatz für eine humane, gegenseitig versöhnte Menschheit. Auch hierfür ist paradigmatisch auf das Projekt Weltethos zu verweisen, das nicht nach den spezifischen Glaubensaussagen einer Religion fragt (womit Ideologien Tür und Tor geöffnet wäre), sondern sich einer gemeinsamen Kultur des Lebensrespekts, der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung verschreibt.
5.3 Solidarität mit säkularisierter Gesellschaft und Welt
Historisch ist die Säkularisierung genauso schwer wie die Postmoderne zu situieren. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass es sich jeweils um Prozesse handelt, deren Beginn, Ende und inhaltliche Begrenzung kaum festlegbar sind. Säkularisierung hat vermutlich nicht viel mit entstehendem Unglauben oder dem religiösen Versagen von Menschen zu tun. Säkularisierung ist die notwendige Begleiterscheinung einer Gesellschaft, die sich immer weiter differenziert und fragmentiert. Sie entwickelt Sektoren und Subsektoren, die sich immer weiter verselbständigen und ihre eigenen Gesetzlichkeiten entwickeln. Dann bleibt für die Gesamtheit der die einzelnen Teile überschreitenden Wirklichkeit kaum mehr ein Raum übrig. Religion selbst, die einmal die Funktion des Schlusssteines unserer Wirklichkeitsdarstellung hatte, wird selbst zu einem ihrer Teile.
(1) Weltweite Dimension
Deshalb zwingt der Säkularisierungsprozess die Religionen zum ersten Mal, aus sich selbst herauszutreten und ihr Ziel in wirklich selbstloser Weise zu erfüllen. Ihr Ziel kann (metaphorisch gesprochen) nicht mehr sein, die Menschen in die Kirche zu bringen. Sie hat vielmehr in eine eigenständige Welt hinauszugehen und dort für menschliche Verhältnisse einzutreten. Deshalb kann in einer säkularisierten Gesellschaft keine christliche Gemeinde mehr überzeugen, die nicht ihre eigenen Hallen verlässt, um vor Ort ihre Solidarität mit den Menschen auf allen anstehenden Problemgebieten zu zeigen. Die immanenten Fragen von Kirche und Theologie werden massiv relativiert, denn die Glaubwürdigkeit der Gemeinde erwächst aus ihrem Verhalten, nicht aus ihrer Selbstdemonstration. Vermutlich ist diese Selbstbezogenheit der entscheidende Grund für die gegenwärtige miserable Situation der Kirche im westlichen Kulturkreis. Wir suchen Abhilfe am falschen Ort. Im Rahmen der Globalisierungsdynamik weitet sich der (soziale, kulturelle, politische) Einsatz vor Ort notwendigerweise zu einem weltweiten Einsatz aus. Je mehr eine zeitgemäße Gemeinde diese Sache in aller Nüchternheit ernst nimmt, umso mehr wird sie in diesen Einsatz verwickelt.
(2) Verantwortung
Christen haben alles, was sie bewegt und was ihnen gegeben ist, unter dem Zeichen der Verantwortung für die Mitmenschen neu durchzubuchstabieren. Eine solche Verantwortung lässt sich aber nicht delegieren. Sie beginnt an der Basis und behält dort ihr Schwergewicht. Diese Verantwortung ist der entscheidende Maßstab auch für die Struktur- und Interpretationsfragen einer Gemeinde. Von diesem Maßstab können sich auch die Fragen nach dem Wesen der Kirche, nach den Sakramenten und nach den Heilserwartungen der Menschen nicht freimachen. Diese Verantwortung ist in konkreten Projekten der Solidarität einzuüben.
(3) Die Frage nach Gott
Welcher Raum bleibt in diesen säkularisierten Lebensraum noch für Gott? Für Gott bleibt allemal der liturgische Raum. Gebet und gottesdienstliche Feier sind und bleiben der Ort, an dem Gott genannt und seines allgegenwärtigen Geheimnisses gedacht wird. Allerdings ist der Geheimnischarakter dieses Wortes und dieser Anrede nicht zu vergessen.
Für die säkulare Welt aber beginnt „Gott“ im tätigen Schweigen, das sich dem Unsagbaren, den überall gegenwärtigen Geheimnis des Lebens pragmatisch und praktisch stellt. Vermutlich lebt der Glaube der Zukunft davon, dass er dieses Schweigen aushält, ohne an der Zukunft zu verzweifeln. Nur wenn es Menschen gibt, die – stellvertretend für alle – die Last dieser Lücke, dieser Ferne und Orientierungsfragen aushalten, können wir vermutlich auf eine Zukunft hoffen. Deshalb gilt gerade für die Glaubenden, dass sie zu leben versuchen, „als ob es Gott nicht gäbe“ (D. Bonhoeffer).
Schluss: Ein neues Konzil?
Angesichts der Enttäuschungen der vergangenen Jahre wird in gewohnter Regelmäßigkeit der Ruf nach einem 3. Vatikanischen Konzil laut. Dagegen ist zu sagen: Wichtiger als ein neues Konzil ist es, den Geist und die Ziele des 2. Vatikanischen Konzils durchzusetzen. Was nämlich ein Zweites Konzil nicht geschafft hat, wird angesichts des bleibenden Bodenpersonals auch ein folgendes Konzil nicht schaffen. Deshalb fällt die Frage nach einem Folgekonzil auf die Erfolgsbilanz des vergangenen Konzils zurück.
Umso wichtiger ist es, die Dringlichkeit kirchlicher Reformen endlich durchzusetzen. Angesichts der skandalösen Immobilität der offiziellen katholischen Kirche in der Gegenwart ist deshalb darüber nachzudenken, welche Reformen durch gezielten und klugen, strategisch reflektierten Ungehorsam erreicht werden können. Kein Bischof kann z. B. verbieten, dass sich unter angemessenen Umständen eine christliche Gemeinde etabliert und sich als solche präsentiert, Gottesdienste und die Sakramente feiert.
Dazu gehören auch die Bemühungen, innerhalb der Gesamtkirche ein „ständiges Konzil“ als eine demokratisch legitimierte Institution zu etablieren. Es könnte das Handeln der Amtsträger kritisch begleiten und nach Möglichkeit die undemokratischen Leistungsinstitutionen kritisieren und ersetzen.
(diesem ausgearbeteten Text liegt ein Vortrag vom 21.11.2009 zugrunde)
Anmerkungen
[1] Man soll nicht so tun, als sei Globalisierung ein völlig neues Phänomen. Fachleute entdecken bis zu sechs Globalisierungswellen, deren erste vom 4. bis zum 7. Jh. stattfand. Neu ist die Intensität des gegenwärtigen Prozesses, der sich auf bislang ungeahnte technische, ökonomische und mediale Mittel stützen kann. Er berührt die Weltreligionen ebenso wie die Lebenswelt des Alltags.
[2] Es geht um globale Prozesse der gegenseitigen Beziehungen und entsprechender Wahrnehmung, die zunehmend mit dem Begriff „postmodern“ umschrieben werden. Zugespitzt ausgedrückt: Offiziell leistet sich die katholische Kirche Nachhutgefechte mit und gegen die Moderne in einer Epoche, die diese Moderne hinter sich lässt und ein postmodernes Zeitalter eröffnet.
[3] Zur Relativierung dieses Beitrags ist zu bemerken: In erster Linie führen wir hier nur eine inner-west-europäische Diskussion. Sie ist zwar unvermeidlich, weil es zunächst um die katholische Kirche Westeuropas und um Inhalte geht, die ein europäischer Papst vor europäischem Hintergrund und mit ausdrücklich „abendländischer“ Programmatik vertritt. Doch bislang steht der Nachweis noch aus, dass die hier vorgetragenen Positionen von gesamtkirchlicher Bedeutung sind.
[4] Zum Verhältnis päpstlicher Äußerungen zu Demokratie s. A. Posener, Benedikts Kreuzzug. Der Angriff des Vatikans auf die moderne Demokratie, Berlin 2009.
[5] Der theologische Neuaufbruch in Frankreich wird bald unter dem Begriff „nouvelle théologie“ zusammengefasst.
[6] Die Zeit (und Stimmung) des „Antimodernismus“, also der Epoche der offiziellen Bekämpfung des „Modernismus“, wird die Epoche genannt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. mit Pius IX. beginnt und bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jh. anhält. Zu nennen sind der „Syllabus errorum“ (= „Übersicht über die Irrtümer“) beginnt. Als bekämpfenswert gelten Überzeugungen, die heute selbstverständlich sind, z.B. Religions-, Gewissens- und Pressefreiheit, philosophische Positionen wie Relativismus und Agnostizismus. Nach einer leichten Beruhigung unter Leo XIII. (1878-1903, der soziale Fragen in den Mittelpunkt rückte) flammte unter Pius X. die antimodernistische Stimmung wieder auf. Zahllose Theologen verloren oft unter erniedrige Umständen ihre Lehrstühle. Die Tatsache, dass die antimodernistische Lehrtradition offiziell nie aufgearbeitet und kritisch beleuchtet wurde, macht diese Haltung bis heute immer wieder virulent. Der Antimodernismus zeigt sich heute in differenzierter, aber in nicht weniger gefährlicher Form, wenn man die römischen Verurteilungen der vergangenen 40 Jahre beobachtet.
[7] Natürlich darf die Beurteilung einzelner Institutionen nicht pauschalisiert werden. Von hoher Bedeutung waren z.B. die ordenseigenen theologischen Hochschulen der französischen Jesuiten in Lyon-Fourvière sowie die theologische Hochschule der Dominikaner (Le Saulchoir) in Tournai.
[8] Ich beziehe mich auf die Verkündigung der staatsrechtlich relevanten Verkündigung des Confessio Augustana im Jahre 1530.
[9] Wichtig waren damals zwei von Y. Congar verfasste Buch über „Chrétiens désunis“ (1937) und „Vraie et fausse réforme dans l’Église“ (1950). H. Küng schrieb sein programmatisches Buch „Konzil und Wiedervereinigung“ (1960).
[10] Immerhin vergleicht er, der im französischen Widerstand mitgearbeitet hatte, in seinem Tagebuch die römischen Zensurbehörden mit der Gestapo.
[11] Hier zitiert nach H. Küng, Erkämpfte Freiheit, München 2002, 363.
[12] Die offizielle Aktenlage und die Geschichtsschreibung, die dieser folgt, blendet die konfliktgeladene Atmosphäre, in der die Konzilssitzungen abliefen, stark ab. Wichtig deshalb der Bericht von H. Küng, in: Erkämpfte Freiheit, 357-554.
[13] In der allgemeinen Konzilseuphorie bleiben damals auch die Reformwilligen guten Mutes. Idealistisch vertrauen sie auf den alles erneuernden Konzilsgeist, um später bitter enttäuscht zu werden. H. Küng ist einer der Wenigen, die das gravierende Problem erkennen. Er zieht sich bald aus der Mitarbeit an der Kirchenkonstitution zurück und beginnt mit seinem Buch „Die Kirche“, das 1967, eineinhalb Jahre nach Konzilsschluss, erscheint und von Rom höchst kritisch aufgenommen wird. Die Routine römischer Kontroll- und Zensurprozesse wird wieder eröffnet.
[14] Zu nennen sind natürlich auch die Grenzen solcher Schriftvermittlung. Exegetische Standpunkte zu Fragen etwa der Jungfrauengeburt und Auferstehung (Stichwort: leeres Grab) sind noch erstaunlich unbekannt und werden in Predigten kaum als kontroverse Themen berührt.
[15] Ein frappantes Beispiel für diesen Prozess des Nicht-mehr-Verstehens sind die Konsenserklärungen, die im Herbst 1999 in Augsburg unterzeichnet wurden. Die Formeln und Darlegungen der Rechtfertigungslehre in evangelischem und katholischem Sinne haben in den Gemeinden kaum ein bemerkenswertes Echo gefunden; man hat sie schlicht und einfach nicht mehr als hilfreiches und erhellendes Glaubenszeugnis wahrgenommen.
[16] Von großer Bedeutung sind die Priester- und Solidaritätsgruppen, die sich schon 40 Jahre lang – innerkirchlich, aber auch ideologie- und sozialkritisch – für die Reform der Kirche einsetzen. Andere Gruppierungen sind ihnen gefolgt, so etwa „Kirche von unten“, die KirchenVolksBewegung und zahlreiche Interessengruppen, die ebenfalls im Sinne einer tiefgreifenden Kirchenreform agieren.
[17] Dabei muss es sein Recht sein, sich über Ablauf und Rezeption des Konzils sein eigenes Urteil zu formen. Er hat aber nicht das Recht, seine Privatmeinung der katholischen Gesamtkirche ohne weitere öffentliche Diskussion und Urteilsbildung als verbindlich aufzuerlegen.
[18] Auf den wachsenden Einfluss höchst autoritärer Gruppierungen wie das Opus Dei u.a. sei hier nicht eingegangen.
[19] Gemeint sind die vielfältigen Meinungsäußerungen aus der Feder des vormaligen Professors bzw. Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger, denen inzwischen eine hohe Bedeutung zugemessen wird.
[20] Vgl. dazu das wichtige Plädoyer des brasilianischen Bischofs Cl. Isnard, Gedanken eines Bischofs zu den heutigen kirchlichen Institutionen, Gösing 2009.
[21] Vgl. dazu: E. H. McGrath u.a. (Hg.), Frauen finden einen Weg: Die internationale Bewegung Römisch-Katholische Priesterinnen, Münster u.a. 2009.
[22] Wichtig sind die Memoiren von Hans Küng.
[23] Ob sich diese Polarisierung durch das Heranwachsen einer neuen Generation von allein wiederholt, wird noch zu besprechen sein.
[24] In der ökumenischen Diskussion ist der Begriff „katholisch“ nicht eindeutig. Aus verständlichen Gründen versucht die katholische Theologie, bei der Beschreibung der eigenen Kirche den eigentlich korrekten Zusatz „römisch“ zu streichen. Auch reformwillige Katholiken reden lieber von der „katholischen Kirche“, um diese reformbedürftige Institution von der Verengung des römischen Zentralismus und Monokulturalismus zu befreien. Im breiteren ökumenischen Gespräch gilt „katholisch“ als die (phänomenologische) Charakterisierung aller Kirchen, in denen folgende Strukturmerkmale gelten: (a) die Drei-Ämterstruktur von Bischof-Priester-Diakon, die auf der Apostolischen Sukzession begründet wird, (b) die ungeschmälerte Hochschätzung der klassischen Sakramente (Sündenvergebung, Firmung, Ehe und Krankensalbung eingeschlossen), (c) die Anerkennung der kirchlichen Tradition, die bei der Auslegung der Schrift eine konstitutive Rolle spielt. (d) In der Regel wird ferner die Geltung der ersten sieben ökumenischen Konzile (325-727) genannt. In diesem umfassenden Sinn können also als katholisch gelten: die orthodoxen Kirchen, die lateinische bzw. römisch-katholische Kirche einschl. der unierten Kirchen, die anglikanische Kirchengemeinschaft und die altkatholische Kirche. Alle in diesem Sinn katholischen Kirchen denken wie das antike Gesellschaftsmodell ihre Strukturen s von oben.
[25] Hannah Arendt spricht von Natalität und Mortalität.