Klarstellungen zu Ökumene und Weltethos
Einleitung: Was ist Wahrheit?
Angesichts der Weltsituation erscheinen das Projekt Weltethos und der innerchristliche und interreligiöse Dialog als eine nicht zu leugnende, dringliche Notwendigkeit. Wie aber kann ein ernsthafter Dialog entstehen, wenn die Partner sich der eigenen Wahrheit sicher und der Unwahrheit anderer religiöser Denkweisen gewiss sind? Gibt es nur die eine oder mehrere Formen der Wahrheit, und wie lässt sich Wahrheit im Dialog entdecken?
Schon immer umstritten
Theorie und Praxis liefen nie Hand in Hand. Würde die Praxis immer stimmen, wäre sie einfach plausibel; sie könnte sich selbst erklären und wir bräuchten keine Theorie. Deshalb tragen Theorien, die die Praxis erklären oder steuern wollen, immer den Makel von Lückenbüßern und Stiefkindern, von nicht gedeckten Schecks und Ideologien. Wären umgekehrt die Theorien immer so klar und einsichtig, wie nach Adam Riese zwei und zwei vier sind, dann gäbe es über die Praxis keinen Streit und müssten wir uns in unserem Leben nicht immer wieder auf die pure Praxis berufen, die für die einen die ohnmächtige Macht der Liebe meint, für die anderen aber das Recht der nackten Gewalt.
Manchmal läuft die Praxis der Theologie hinterher, wie es noch in der Neuzeit lange der Fall war. Wir kennen die aufgeklärten Herrscher, die zugleich absolutistisch reagierten, weil sie sich als die Boten der Vernunft verstanden, Leibniz diskutierte seine Theodizee in fürstlichen Salons und Descartes verkehrte gerne in den gehobenen Kreisen von Paris. Sie wollten oder konnten die faktischen Verhältnisse nicht verändern. Erst Karl Marx hat dieses Problem erkannt.
Eine höchts praktische Frage (vgl. Pilatus)
Heute hat sich der Wind gedreht. Doch angesichts unserer glücklichen Kombination von Wohlstand, Demokratie und Toleranz verstehen sich viele als „Opfer ihres eigenen Glücks“. Politik wurde zur Sache der Spezialisten, denn die Verhältnisse drohen, selbstverständlich zu werden und. Unsere gesellschaftliche Praxis will verführen und bietet an, produziert aber keine Orientierungen mehr. Das schlimme Wort der Papstkandidaten Joseph Ratzinger von der „Diktatur des Relativismus“ fand erstaunlich viele Anhänger. So sehnt man sich wieder nach Führerfiguren, die der Menge sagen, wo es langgeht. In Deutschland soll es im Augenblick [2014] etwa 7000 kampfbereite Islamisten geben und wir haben – bei aller Problematik des Vergleichs – in allen Kirchen eine wachsende Anzahl von reaktionären Christen.
In unserer Geschichte theoretisch gelöst
Die einen, denen ihre Freiheit zu viel geworden ist, folgen einem traditionell-westlichen Wahrheitsbegriff. Wahrheit verstehen sie gemäß einem recht einfachen Modell, das in unserer Denkgeschichte zutiefst verankert ist, als die Übereinstimmung von Erkenntnis und Sache („adaequatio rei ad intellectum“). Die anderen, die sich von den Zwängen traditioneller Normen befreien wollen, finden sich nicht mit der These ab, dass sich eine Wahrheit für alle Zeit definieren lässt. Dann nämlich hätte ja immer nur eine Partei die Wahrheit, man muss sich nur für die richtige entscheiden: für Christen, Muslime, Gläubige, Metaphysiker oder vielleicht die Vertreter einer überkommenen, vielleicht bürgerlichen Moral. Doch diese schlichte Position führt nach innen nur zu einem Wahrheitsghetto, in der alles Denken sich selbst einschließt. Nach außen führt sie nur zu Missachten, Intoleranz oder einer Gewalt, die Andersdenkende weder denken noch existieren lässt.
Man kann der Meinung sein (viele Christinnen und Christen sind es), frühere Generationen hätten schon genug und wirklich tiefschürfend über die Wahrheit nachgedacht; ihre Erkenntnisse dürften wir nicht über Bord werfen, die anderen haben deren Grenzen schon lange aufgebrochen. Die Adäquationsbestimmung von Erkenntnis und Sache, die alles nur ruhigstellt, muss endlich in offene Konzepte überführt werden, denn eine neue Geschichte und neue Erfahrungen lassen neue Wahrheitserfahrungen zur Geltung kommen, ob wir es wollen oder nicht.
Fragen seit I. Kant
Unter den vielfältigen Theorien, die seit E. Kant entwickelt wurden, greife ich eine heraus, die mir besonders zusagt, die sich philosophisch begründen lässt und mit der sich die christliche Tradition gut vertragen kann. Meine These soll lauten:
Wahrheit gibt es nicht, vielmehr wird sie in Prozessen, insbesondere in Prozessgeflechten der Kommunikationen immer neu. Wahrheit ist und wirkt, wird immer wieder ausgesprochen, aber es gibt sie nicht in einer Weise, dass man sie definieren, objektiv fixieren könnte. Ich nenne es das Kommunikationsmodell.
Als Zusatzthese füge ich aber hinzu: Recht verstanden gibt es zwischen dem Adäquationsmodell und dem Kommunikationsmodell keinen Widerspruch. Beide haben ihren Platz. Aber es ist gut, mit dem Kommunikationsmodell zu beginnen.
Was ich soeben holzschnittartig in Gegensätzen skizzierte, spiegelt in verkürzter Form eine Wahrheitsgeschichte, die wir spätestens seit zweihundert Jahrhunderten in Europa konkret erlebten, zum Teil durchstritten, zum Teil auch durchlitten haben. Ich möchte sie hier in drei Ebenen erörtern:
- An Hand der komplizierten Übergänge unserer Kultur von der Moderne zur Postmoderne. Es ist eine Geistesgeschichte, in der wir heute noch stecken;
- im Blick auf den internen Glaubensstreit, den alle christlichen Kirchen des Westens je auf ihre Weise ausgetragen haben und immer noch austragen;
- angesichts der wachsenden Dynamik, in die uns – willentlich oder widerwillig – der interreligiöse Dialog der vergangenen Jahre geführt hat.
- Der bisherige Weg des Projekts Weltethos kann uns vielleicht zeigen, worum es heute in dieser Auseinandersetzung geht.
Zum Schluss können wir vielleicht die berühmte Pilatusfrage, was denn Wahrheit sei, auf eine gegenwartstaugliche Weise beantworten.
I. Moderne und Postmoderne
Herrschende Rolle der Vernunft (von Aristoteles bis Descartes)
Seit der philosophischen Hochblüte in Griechenland im 5. vorchristlichen Jahrhundert galt im Abendland Wahrheit als die zentrale Bezugsgröße, die allgemeine Orientierung bot und die Regeln des Handelns bestimmte. Das galt für Platon wie Aristoteles, für die christliche Theologie seit dem vierten Jahrhundert, Die „Kirchenväter“, insbesondere seit Augustinus und seine Wahrheitstradition setzte sich über das Mittelalter bis hin zu den großen Philosophen der Neuzeit fort: Descartes und Leibniz, bis hin zur Philosophie des Idealismus.
Empirismus seit dem 17. Jahrhundert
Paradoxerweise erreichte dieses in sich glasklare und unerbittliche Modell seine revolutionären Auswirkungen erst mit dem Aufkommen der Naturwissenschaft. Viele von Ihnen wissen darüber besser Bescheid als ich. Zur Illustration der Vorgänge greife ich auf den unnachahmlichen Roman von Harry Mulisch „Die Entdeckung des Himmels“. In einem teils skurrilen, zugleich aber eindrücklichen Szenario tritt ein Engel auf, der im Namen Gottes in die Weltgeschicke eingreift. Doch angesichts der Tatsache, dass der Mensch im 20. Jahrhundert die absolute Herrschaft über die Welt an sich riss, den Bauplan allen Lebens dekodierte und selbst die letzten Geheimnisse der Kosmogenese entziffert hat, zieht Gott seinen Bund mit dem Menschen zurück. Die Tafeln, auf denen der Dekalog gemeißelt steht, werden von Rom nach Jerusalem zurückgebracht, um dort in Staub zu zerbröseln. Francis Bacon (1561-1626 – „Wissen ist Macht“) ist der große Übeltäter,; er entwickelte das methodische Handwerk, mit dem die Menschheit ihren prometheischen Siegeszug antrat.
Natürlich wird der Theologe der Deutung von Mulisch widersprechen; es kann nicht darum gehen, dass Gott vom Thron gehoben wird, denn dieses wertfreie und herrschaftswillige Denken hat sich ein Gottesbild geschaffen, das mit Recht vom Thron gestürzt wird. Dennoch kann Mulisch rechtgeben, weil er die prometheische Gefahr dieser Art von Rationalität durchschaut hat.
Gibt es eine objektive Wahrheit?
So war es nur konsequent, wenn neben der Kritischen Theorie („Frankfurter Schule“) auch die Philosophie der Postmoderne [den übrigens die Architektur aus der Taufe hob] nach intensiver Vorarbeit durch hermeneutische Konzepte (Dilthey, Heidegger) Theorien entwickelte, die die Grenzen dieser Rationalität herausarbeiteten. Das klassische Wahrheitskonzept, so ihre Kritik, führte zu einem unnachgiebigen, unbarmherzigen, geradezu despotischen Herrschaftsstreben. Denn faktisch reduzierte es die Welt und den Menschen auf seine rational analysierbaren, mathematisch verrechenbaren Schichten. Dadurch vergaß es den Menschen in seiner Unberechenbarkeit, unkontrollierbaren Individualität, also auch in seiner unveräußerlichen Würde. Die Moderne unterdrückte das Heterogene und das Unbekannte. Sie versuchte, die ganze Wirklichkeit schlüssig auf ein Grundprinzip zu reduzieren, nennen wir es Subjekt oder Gott. Vor allem die französischen Denker Jean-François Lyotard (1924-1998, Jacques Derrida (1930-2004), Gilles Deleuze (1925-1995) /Félix Guattari (1930-1992), alle in Paris tätig. Der Postmodernismus zeigte, dass die traditionelle Rationalität mit ihrer bürokratischen Genauigkeit gerade keine Gerechtigkeit herstellt. Vielmehr führte sie zu massiver Ungerechtigkeit, weil sie das Andere nicht zu integrieren vermochte. Die Folge waren Antisemitismus und Fremdenphobie. Wahrheit, so ihre Gegenposition, ist nie absolut, sondern immer nur relativ, abhängig von Zielen und Kontexten, von Personen und Augenblicken.
Postmoderne Grenzen der Rationalität
Hier setzt ein gängiges Missverständnis des philosophischen und soziologischen Postmodernismus ein. Primär kämpfen sie für keinerlei Relativismus. Im Gegenteil, sie leiden unter dem Mangel und unter der Unmöglichkeit der Objektivität. Relativismus ist für sie eine Bestandsaufnahme (die man schon bei Kant finden kann). Allerdings insistieren sie drauf, dass dies kein weltfremd philosophisches Problem ist, sondern ein Problem des Alltags, der Gestaltung von Staat und Gesellschaft. Sie insistieren darauf: ein großer Anteil der Intoleranz, der Gewalt, der Lebensfeindlichkeit und der Zerstörung kommt aus dem mangelnden Eingeständnis, dass wir die Wahrheit (die niemand leugnet) nur relativ entdecken, nur bedingt formulieren und nur unvollständig in die Wirklichkeit umsetzen können.
Sprache schafft Wahrheit
Daraus folgte eine Erkenntnis, die man schon aus der Hermeneutik lernen konnte. Auf der Ebene des Formulierbaren, der Wissenschaft und des Handelns gibt es keine Objektivität.
Erstens können wir die Wahrheit nie ganz erfassen, denn unsere Wirklichkeitsbeschreibung bleibt immer auf halbem Wege stehen bleibt. Gerade theologisches Denken muss zustimmen, denn Gott und die letzte Wahrheit waren schon immer als ein Geheimnis im strikten Sinn definiert.
Zweitens (m.E. noch wichtiger) zerstören wir die Objektivität einer Wahrheit (die wir zu erkennen glauben) genau in dem Augenblick, da wir über sie reden. Jedes Reden ist auch performativ, beinhaltet also ein Handeln. Jede Definition einer Sache oder eines Tatbestands verändert diesen. Wenn ich erkläre, ich sei frei, mache ich mich in diesem Augenblick zu einem freien Menschen. Wer seinen Mitmenschen zu einem Untermenschen erklärt, macht ihn (in seinen Augen) gerade dadurch zu einem Untermenschen. Wer ihn abstrakt für gleichberechtigt erklärt, nimmt ihm u.U. seine besondere Würde.
Warhheit – ein immerwährended Suchprojekt
Nehmen wir zum Beispiel die oft diskutierte Frage, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Was mit „Unrechtsstaat“ gemeint ist, kann nur begreifen, wer unmittelbar Teil dieser erbitterten Diskussion ist; mehr noch: nur der kann dieses Aussage wirklich begreifen, wer in diesem Staat staatlich provoziertes Unrecht erlitten hat. Dies gilt es, ins öffentliche Bewusstsein zu tragen. Objektiv kann eine solche Aussage nie und nimmer sein, aber sie kann wahr sein, sobald die Absicht dieser Aussage mit bedacht wird. Wer die Philosophie der Postmolerne also mit „Relativismus“ identifiziert, hat von ihr nichts begriffen. Damit leugne ich nicht, dass diese Philosophie in banalisierter Form weitergetragen und missbraucht wird („anything goes“). So wenig es also eine objektive, ein für allemal gültige Wahrheit gibt, so sehr gibt es die bleibende Frage nach der Wahrheit, und zu ihr führt nur ein pragmatischer Weg. Es ist der Weg der Kommunikation (Habermas).
Klarstellung 1:
Die Wahrheit ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben.
II. Glaube und Fundamentalismus
Wodurch wird der vormoderne Glaube abgelöst?
Vergleichbare, verzögerte Entwicklung
Eine vergleichbare Entwicklung können wir innerhalb unserer Kirchen im römisch-katholischen wir im evangelischen Raum feststellen; dabei werden die notwendigen Differenzen auf evangelischer Seite offener und differenzierter ausgetragen. Die gängig-oberflächliche Darstellung des Konflikts lautet so: Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein herrschte in der westlichen Christenheit Klarheit über das Glaubensbekenntnis und über die Grundüberzeugungen des Christentums, sofern sie in den grundlegenden Glaubensbekenntnissen niedergelegt sind. Zwar hat man sich immer schon über Einzelheiten gestritten, aber man wusste, dass das Christentum die wahre Religion, dass Gott dreifaltig, dass Jesus Christus wahrer Gott und aus der Jungfrau geboren ist und dass er am Ende der Zeiten als Richter wiederkommen wird.
Beginn der kritischen Schriftauslegung im 17. Jahrhundert
Eine neue Ära begann in der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem französischen Theologen Richard Simon (1638-1712), dessen erstes Buch zum Alten Testament auf Betreiben des einflussreichen Hofpredigers Jacques Bénigne Bossuet 1678 noch vor seiner offiziellen Veröffentlichung verbrannt wurde; 1300 gedruckte Exemplare wurden vernichtet. Im 18. Jahrhundert trieb in Deutschland Johann Salomo Semler (gest. 1791) die historisch-kritische Schriftforschung voran. Im 19. Jahrhundert setzte dann auf breiter Front eine zähe und oft schmerzliche Diskussion ein, die schon im 18. Jahrhundert ihre Vorläufer hatte. Wir kennen die Stichworte. Sie begann mit einer liberal gesonnenen kritischen Exegese, die oft in naiver Weise die alten Texte mit modernem Denken in Einklang bringen wollte. Das Weinwunder von Kana wurde mit Mineralwasser erklärt, Erscheinungen mit „Halluzinationen“, kurz mit Täuschungen in der Wahrnehmung, die heute überwunden sind.
Es folgte – auf dem Weg zu wachsender Seriosität – eine historische Bibelkritik, die das Fremde und heute Unverständlich mit den Mitteln historischer Rekonstruktion zu erklären begann. Nicht alle Rekonstruktionen haben sich gehalten, aber zahllose andere hielten Bestand. Ich nenne einige Stichworte: die historische Genese der jüdischen Schriften; Untersuchungen also, die zu einem hochkomplexen System historischer Einordnungen, Zueignungen, staats- und kulturgeschichtlicher Bezüge führte.
Auch für das Neue Testament erzielte man bleibende Ergebnisse. Z.B. die Unterscheidung zwischen jesuanischem Urbestand und literarischer Ausgestaltung, zwischen „ursprünglichen“ und symbolhaft zu verstehenden, zwischen originalen und ausgeschmückten Wundern, die Unterscheidung zwischen vor- und nachösterlichem Schriftgut, die Sensibilität für das Urjüdische und das Neue an Jesu Verkündigung sowie die immer noch heikle Frage der Naherwartung mit all ihren Folgen.
Folgen für das Glaubensverständnis („Entmythologisierung“)
Zu einer weiteren Stufe führten kultur- und geistesgeschichtliche Einordnungen, so etwa Bultmanns Programm der Enmtythologisierung, das noch vor 150 Jahren die Geister zutiefst erregte und innerkirchlich polarisierte.
Übrigens muss die katholische Theologie ihr langes, langes Versagen bekennen, weil sie sich den aufgebrochenen Fragen lange einfach verweigert hat. Die wenigen Kollegen, die sich den neuen Problemen stellten, wurden mit Lehrentzug und Verketzerung bestraft (z.B. Alfred Loisy [gest. 1940], Franz von Hummelauer [gest. 2014] u.a.)
Fundamentalismus: Reaktion auf den vor-modernen Glauben
Seitdem läuft der Prozess kritischer Schriftauslegung ebenso weiter wie ein reaktionär reagierender Fundamentalismus, der auf einem „wörtlichen“ Verständnis deer Bibel besteht. Die Schriftauslegung hat sich immer weiter differenziert. Er entwickelte neben das „diachronen“ (= historischen) Methoden schon seit den 1970er Jahren „synchrone“, z.B. linguistische, soziologische oder psychologische, feministische und befreiungstheologische, narrative und intertextuelle Ansätze. Für die Fachwelt haben sie alle schon längst schon ihren Schrecken verloren; sie wurden sogar von offiziellen vatikanischen Dokumenten akzeptiert. Der Biblizismus und Evangelikalismus hingegen haben sich ebenso selbstverständlich als eine warnende und verurteilende Gegeninstitution etabliert. Sie sieht in aller methodischen Differenzierung nur einen wachsenden Glaubensabfall und stellt dieser engagierten Wahrheitssuche mit wissenschaftlichen einen verhärteten Buchstabenglauben entgegen.
Ein Ausweg aus dieser Polarisierung scheint im Augenblick nicht möglich zu sein. Übrigens hat sie ihre perfekte Parallele in der internen Polarisierung der römisch-katholischen Kirche. Dass und wir sie diese fundamentalistischen Spannungen überwindet, ist bis heute noch niemandem klar.
Neues Wahrheitsbewusstsein:
Diese Überwindung dieser destruktiven Polarisierungen ist nur möglich, wenn sich auch innerhalb der Kirchen ein neues grundlegendes Wahrheitsbewusstsein durchsetzt. Wichtige Schritte auf diesem Weg sind schon lange unternommen. Ich beschränke mich hier aus den deutschsprachigen Raum und nenne aus der „Gründerzeit“ die Rezeption hermeneutischer Ansätze in der evangelischen Theologie (Rudolf Bultmann, Ernst (gest. 1976), Ernst Fuchs (gest. 1983), Eta Linnemann (gest. 1909), aber auch den überragenden systematischen Theologen Gerhard Ebeling (gest. 2001), der im 20. Jahrhundert als erster eine systematisch verankerte Verstehenslehre entwarf. Rudolf Bultmann legte – noch ganz in der Dialektischen Theologie zu Hause – seinen Auslegungen ja noch ein existentialistisches Prinzip zugrunde; durch den Glauben kommt der Mensch zu seinem geradezu wortlosen Selbst. Gerhard Ebeling verlegt das Verstehen in die Sprache selbst hinein. Die Sprache ist es, die – wenn man so will – sich selbst auslegt; die Texte selbst weisen die Wege zu ihrem Verständnis. Welche Rolle dabei die Spätphilosophie Heideggers dabei eine Rolle spielte, sei hier nicht untersucht. Soviel ist sicher: in kürzester Zeit war ein Bewusstsein für die Vielfalt, Elastizität und die kontextuelle Bezüglichkeit von Sprache und Wahrheit entstanden.
Wahrheit als Ereignis des Sprache:
Für viele von uns ist es selbstverständlich: die Sprache des Glaubens bildet nicht eins zu eins, also nicht rein deskriptiv und objektiv, eine abstrakte Glaubenswahrheit ab. Vielmehr lebt die Wahrheit lebt in der Sprache und diese Wahrheit lebt als Sprache in erzählenden, symbolischen und meditativen, in dichterischen, ästhetisch anspruchsvollen und visionären Formen, selbst als Verhaltensregeln und Aussagen des Rechts. Religiöse Sprache trägt – wenn sie denn etwas taugt – immer schon den Hinweis in sich, dass sie an das Geheimnis, das sie benennt, nicht heran rührt. Anders als empirische oder technische Sprachen ist sie fähig, Geheimnisse zu benennen, ohne ihren Geheimnischarakter zu zerstören. Das aber heißt zugleich: Religiöse Sprache schafft ihre Wahrheit und kreiert Räume religiöser Erfahrung. Sie bewirkt Sensibilität für Grenzüberschreitungen, treibt die Erfahrungen von Freiheit, Verantwortung und Sinnbegegnung voran.
Nur im Rahmen eines solchen umfassenden Sprachkonzepts wird auch deutlich, dass und warum die religiöse Sprache keine objektive Sprache ist oder sein kann. Religiös ist sie nur dann, wenn sie alle Wirklichkeitsbrührung mit dem subjektiven Bezug zu mir, zum Ich, zu unserer Existenz zusammenbringt. Die wahre Objektivität dieses Denken und Redens ist, wenn man so will ihre Subjektivität. Unbeschadet aller rationalen Reflexion lebt sie von der Betroffenheit, die sie hervorbringt. Aus ihr erwachse eine eigene Verbindlichkeit, ein Versprechen, eine Übergabe und eine der Reflexivität, die in ihr stecken.
Das alles haben viele von uns verstanden und das alles vollziehen wir in den Sprachwelten unserer Gemeinden wie selbstverständlich. Nach diesem Kriterium beurteilen wir die Predigten und den christlichen Charakter dessen, was Mitchristinnen und Mitchristen uns sagen. Dennoch lassen wir uns in erregten Diskussionen, vielleicht im Streit um die christliche Identität, zu schnell und immer wieder auf das modern rationalistische Wahrheit zurückwerfen, das auf den Buchstaben starrt, – genauer gesagt: das übersieht, dass ein jedes Wort, auch das religiöse und das christliche, immer schon in einem unübersichtlichen Geflecht von Bezügen lebt.
Konzil von Nikaia als Beispiel:
Nehmen wir die Aussagen des Konzils von Nikaia (325) als Beispiel: Streng genommen hat es nichts gesagt, dass sich einfach objektivieren lässt. Es hat (um einige Bedingungen aufzuzählen) etwas unter den Denkzwängen der griechischen Philosophie gesagt, eine Formel zur Situation einer werdenden Staatskirche gesetzlich festgelegt, sich von einem antik polytheistischen Weltverständnis mit seinem vergehenden Imperium der Götter und Opferreligionen abgegrenzt. Es hat in einer Welt gesprochen, die weder unsere Religions- oder Sozialkritik noch die differenzierten Sprachwelten kannten und in der sich biologische Aussagen schon längst aus den symbolischen Zusammenhängen ihrer antiken Vorgängerinnen herausdifferenziert hatten. Wir kommen im Verständnis dessen, was Religion für Religiöse bedeutet, keinen Schritt weiter, wenn wir nicht begreifen, dass die Wahrheit, um die es uns geht, ein ständiger Prozess ist, in den wir mit unseren Sprachen verwickelt sind und in dem wir auf die Antworten von Mitchristen und Mitmenschen angewiesen sind.
Übrigens hat – welch positives Paradox! – genau diese schrittweise Befreiung vom modern statischen Wahrheitsverständnis wieder einen Zugang zum biblischen Wahrheitsverständnis mit seinen urjüdischen Wurzeln eröffnet. Wir haben mit der antiken Sprache der Alten Konzile nicht einfach deshalb Probleme, weil wir unseren Glauben aufweichen ließen und uns an den modernen Zeitgeist anpassten. Vielmehr haben wir uns wieder der biblischen Sprache angenähert. Die biblische Sprache – das wissen Sie als evangelische Christinnen und Christen besser als ich, ein ins Mittelalter verstrickter Katholik – will eben nicht neutral und wertfrei beschreiben. Sie schafft Wirklichkeit, legitimiert und verurteilt, eröffnet Visionen und Schreckensbilder. Sie beschwört keine statische Gegenwart oder chronologische Zukunft, sondern ruft die höchst dynamischen Kategorien des Unvollendeten und des Vollendeten auf, gleich ob dieses in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft liegt. Die jüdische Kultur geht davon aus, dass Gottes Wort nicht Fakten definiert, sondern Leben schafft und gestaltet, gegebenenfalls verbindet oder entzweit, also wie ein Schwert oder wie eine lebenspendende Quelle wirkt.
Keine Verfallsgeschichte, sonern fruchtbare Metamorphose:
Diese Wahrheit bringt den Menschen Freiheit, in dem sie dieser zur Verantwortung ruft und zum Träger seiner eigenen Zukunft macht. Die jüdisch-biblische Wahrheit lebt wie selbstverständlich in einem Raum, der auf das Spiel von Wort und Antwort angewiesen ist, sich immer fortentwickelt. Sie verschwendet keine Energie in die Frage, ob bestimmte Worte in sich richtig oder falsch sind. Sie will wissen, wofür Worte angemessen, in welcher Situation sie lebensdienlich sind. Man könnte von einem prophetischen Wortverständnis reden.
Dies schließt nicht aus, dass sich in diesem Kulturraum auch eine Weisheit entwickelte. Es verbietet sich auch nicht, dass diese Wortkultur unmerklich in die hellenistische Wortkultur eindringt oder von ihr Denkwelten ausleiht (Stichwort Hellenisierung). Doch nie kippen auch die hellenistisch infiltrierten Texte (etwa des Johannesevangeliums) in den definierenden Sprachgestus der hellenistischen Kultur um. So wird es endlich Zeit, dass wir diese Texte nicht mehr so missverstehen. Dieses objektivierende Missverständnis ist ja bis heute noch beträchtlich und – wie ich finde – katastrophal. Ich nenne zum Beispiel die „Ich-Worte“ des Johannesevangeliums, die gerade keinen Absolutheitsanspruch Jesu zum Ausdruck bringen, sondern umgekehrt die Tatsache, dass sich Jesus vorbehaltlos in den Wag, die Wahrheit und das Lebenseine jüdischen Glaubenstradition eingebunden weiß.
Ich schlage deshalb vor, dass wir die Abkehr und das Zerbröseln des klassischen Wahrheitsverständnisses nicht als Verfallsgeschichte interpretieren. Natürlich sind die Übergänge und die damit verbundenen Metamorphosen von Religion und Religiosität nicht zu unterschätzen; wir nehmen sie als Säkularisierung, als Gottes- und Glaubensverlust, als grassierende Orientierungslosigkeit wahr. Und natürlich verlangen diese Metamorphosen ihre Opfer, weil sie unsere freie Umkehr und Kooperation in ungeahnter Weise herausfordern. Dennoch lässt dieser Umbruch eine neue Ursprünglichkeit und Lebensfähigkeit auch des christlichen Glaubens erwarten. Das ist die große Chance eines kulturellen und gesellschaftlichen Prozesses, den wir Säkularisierung nennen; sie öffnet diesem neuen Wahrheitsverständnis Bahnen. Der Terror einer rational verbindlichen, verfügbaren und staatlich durchsetzungsfähigen Wahrheit ist ein für allemal vergangen. Dass unsere kirchlichen Institutionen ihr noch allzu stark verhaftet sind, das zeigen die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Reformationsfeiern ebenso wie die unendliche komplizierteren Ablösungsprozesse, gegen die sich die offizielle Institution des Katholizismus noch massiv wehrt.
Verhärteter Fundamentalismus der Wahrheit
Es gehört zu den tragischen Nebeneffekten dieser Neubesinnung, dass sie zu einem verhärteten Fundamentalismus geführt hat. Offensichtlich ist die Tiefenerschütterung dieser heilsamen Prozesse zu groß, als dass sie alle bewältigen könnten. Eine Teilschuld treffen sich die wohl etablierten christlichen Kirchen, die sich immer noch zu selbstherrlich mit der Hellenisierung des christlichen Glaubens identifizieren. Sie, die immer mehr Sympathien für die Tradition als für deren zeigemäße Öffnung zeigten, ließen die Propheten in ihren Reihen allein.
Das Christentum – das sollten wir allmählich gelernt haben – ist eben keine Lehr-Religion mit wohldefinierten Doktrinen und ausgefeilten Katechismen, sondern eine Religion, die das Verhalten und Leben einer Person interpretiert bzw. die Lebenspraxis einer Person zur Interpretation der jüdischen Tradition heranzieht. So gesehen sind unsere Bekenntnisse und Doktrinen nur wie Behältnisse, die die Kernbotschaft schützen und deren Interpretationsrichtung steuern wollen. Dass die christliche Kernbotschaft nicht aus Glaubenssätzen, sondern aus einer Erinnerung, d.h. aus Erzählungen besteht, die sich bei jedem Fort-Erzählen von selbst neu interpretieren, steht in völligem Einklag mit den Fragen, die die Nachmoderne an die „großen Erzählungen“ der neuzeitlichen Rationalität stellt.
Klarstellung 2:
Wir erleben heute keinen Wahrheitsverlust, sondern einen Wahrheitsgewinn
III. Bekenntnis und interreligiöser Dialog
Was ich zur christlichen Tradition ausgeführt habe, lässt sich m. E. auch auf die anderen Religionen anwenden (beschränken wir uns auf die klassischen Weltreligionen). Es ist dieses neue dialogisch-prophetische Wahrheitsverständnis, das uns auch den Zugang zu ihnen öffnet.
Klassisches Wahrheitsmodell blockierte die Dialoge:
Zunächst sollten wir dies nicht vergessen: Das klassisch-metaphysische Wahrheitsmodell, von dem die christliche Tradition bestimmt war, ließ keinen wirklichen Dialog mit anderen Religionen zu. Gewiss, wir konnten andere Religionen empirisch zur Kenntnis nehmen und inventarisieren. Das haben die (vergleichenden) Religionswissenschaften auch seit dem 19.Jahrhundert mit großer Intensität in Angriff genommen und ein enormes Wissen über sie zusammengetragen. Aber die christliche Theologie tat sich damit schwer, weil sie ihren Überlegenheitsstandpunkt nicht aufgeben wollte und konnte. Wer nämlich Gott und Welt mit Hilfe des metaphysischen Wahrheitsmodells eins zu eins vermessen, sein Denken also der vermeintlichen Sache angeglichen hat, muss im Blick auf konkurrierende Weltinterpretationen irritiert sein. In jedem Fall stößt er auf Alternativen, die innerhalb der einen Wahrheit möglich sind.
Wer sich zudem vermeintlich einer direkten göttlichen Wahrheitserfahrung erfreut, muss den Unfehlbarkeitsanspruch entwickeln, den die katholische Kirche 1870 definiert hat. Im Rahmen dieses Systemzwangs nannte selbst der offene Karl Rahner, entschiedener Verteidiger des Unfehlbarkeitsanspruchs, den Islam eine vor-christliche Religion; er hielt – im Sinne eines Wahrheitsfortschritts – nach dem Christentum keine ernstzunehmende Religion mehr für möglich. Einen wirklichen Dialog mit dem akzeptierten Risiko, selbst noch Wesentliches zu lernen oder zu korrigieren, konnte es also nicht geben. Deshalb musste man auch die Theologie – als einer Wissenschaft, die ihre Wahrheit mit innerer existentieller Zustimmung vorantreibt – klar von den Religionswissenschaften abgrenzen, die lange Zeit mit t Phänomene als definierbare Fakten zur Kenntnis nahm, ohne den eigenen existentiellen Bezug eindringen zu lassen, geschweige denn zu klären.
Interaktion zwischen Erfahrung und Kultur:
Doch je mehr sich auch in der Theologie ein hermeneutisches Bewusstsein durchsetzte, umso schwieriger wurde es, diese Trennungslinie strikt durchzuhalten. Also begann man, in teilweise komplizierten Konstruktionen zwischen Christentum und anderen Religionen innere Teilbezüge zu konstruieren. Sie brachten immerhin Teilannäherungen, zwangen aber auch dazu, die inneren Trennlinien (jetzt nach innen verlegt!) umso schärfer zu ziehen, wenn nicht gar das Ja und das Nein umso unmissverständlicher herauszuarbeiten. Die Bedrohung durch verführerische Religionen musst in eindrücklichen Farben nachgezeichnet werden. Die Berührungsängste zwischen fundamentalistischen Kreisen und anderen Religionen sind bekannt, ebenso bekannt, die Schwierigkeiten, die vor allem Benedikt XVI. mit einem interreligiösen Dialog hatte.
Dabei ist unbestritten: Faktisch folgten Religionen nie einer Rationalität, die sich ihrerseits an überzeitlich absoluten Maßstäben messen ließ. Eine jede real existierende Religion lässt sich ja zugleich als ein Gespräch zwischen einem religiösen Grundansatz und kulturellen Ausdrucksformen verstehen. Alle großen Religionen sind ja alle aus ihrer gelungen Interaktion mit einer großen Kultur entstanden. Deshalb können wir auch unsere eigene Geschichte nicht eindimensional als Christianisierung unserer vor-christlichen Kultur verstehen. Der real existierende christliche Glaube lässt sich genauso gut als eine bestimmte, in vielem zufällige Inkulturation des Christentums verstehen. Wir haben ein Urchristentum in jüdischer, ein Alt-Christentum in antiker Form ein mittelalterliches Christentum und moderne Christentümer. Es geht also nicht um einseitige, sondern um gegenseitig osmotische Verhältnisse.
Der Vorschlag von Charles Taylor (*1931): Marker, Integralisten und Seeker
Charles Taylor, kanadischer Moral- und Religionsphilosoph unterscheidet zwischen einer „eingebetteten Religion“.
(1) Eingebettete Religion
Er meint damit die ungestörte, gewachsene Religion, die in Osmose mit „ihrer“ Kultur lebt („christliches Abendland“). Es ist diejenige Form von Religion, der wir im Grunde alle nachtrauern, weil sie unsere Denk- und Verhaltensformen aufgegriffen, in vielem bestätigt, sanft korrigiert hat und bei harten Korrekturen („Sünde“) auch einen heilsamen Ausweg anbot. In diesem Zustand arbeitet die religiöse Rationalität wie selbstverständlich in gegenseitiger Ausgeglichenheit und Offenheit.
(2) Religion als Marker
Erst wenn diese Selbstverständlichkeit ins Wanken gerät, die Religion eine provokative Vorreiterfunktion übernimmt und sich Anhänger dieses Glaubens in bekennender Weise damit identifizieren, erscheint diese Religion als Marker. Sie schlüpft – allmählich oder plötzlich – in diese Rolle hinein. Die offene Rationalität wird dadurch nicht ausgeschaltet, aber doch auf bestimmte (politische, soziale, ethnische) Ziele ausgerichtet, dies sich meist verengen.
Diese Marker-Religion setzt entsprechende Zersplitterungen voraus. Doch kann sie sich auch verselbständigen, Zersplitterungen vorantreiben oder neue schaffen. In diese Marker-Funktion sind nach Taylor die Konfessionskirchen seit der Reformation allmählich hineingewachsen. Die katholische Kirche ist seit dem Konzil von Trient (1545-1563) stark davon geprägt, hat sich damals leider für die Marker-Funktion entschieden. Die evangelischen Kirchen hatten keine andere Wahl, als diese Rolle zu übernehmen. Für Taylor erfüllt eine Religion, die als Marker funktioniert, ihren genuinen Sinn nicht mehr. Das würde ich nicht so scharf sehen, weil es immer Übergänge gibt. Zudem ist nicht zu übersehen, dass das Christentum selbst gegenüber dem Judentum mit einer Markerfunktion ebenso begonnen hat, wie der Buddhismus gegenüber hinduistischen Entwürfen. In dieser Situation ist der Weg zum Fundamentalismus vorbereitet.
(3) Integralistische Religion
In bestimmten Situationen können Religionen ihre Markerfunktion weiter steigern. Sobald sie, vom Misserfolg frustriert, ihre Aufgabe forcieren, kann ihr Steuerungs- und Lenkungsversuch umschlagen. Die Frage nach ihren Zielen zieht sich auf die Frage nach ihrer unaufgebbaren Kernidentität zurück. Sie lässt sich von ihrer eigenen Unsicherheit beherrschen und wird zu einer Religion des Integrismus oder des Integralismus. Sie versucht, die Mechanismen der alten Einbettung zurückzuerobern und durchzusetzen, despotisch zurückzugewinnen. Nach Taylor haben wir es heute oft mit diesem aufgeklärten Despotismus zu tun. Man kann dies am Antimodernismus, protestantischen Fundamentalismus, aber auch am Wahhabismus und Salafismus studieren. Diese Religionstyp erfüllt alle Kriterien eines intellektuellen Fundamentalismus.
(4) Religion der Sucher
Religionen als Marker bieten die Gefahr, dass sie zu weiteren Aufspaltungen führen oder Spaltungen verhärten. Auch die integristische Religionsform hat ihre eigene Gefahr, genauer: sie ist schon ihrer Gefahr der Unfähigkeit zur Kommunikation erleben. Doch in dem Maß, in dem sie sich zugleich von aktuellen Kulturformen abspaltet, verabschiedet sie sich etappenweise von vital agierenden Religionen. Taylor spricht von einem Phänomen, das wir alle kennen und das sich immer verstärkt. Es ist die Religion der Seekers. Das sind diejenigen, die sich von vorherrschenden, religiös integrierten Kulturformen abkoppeln und ganz neue Formen suchen.
Wir kennen die religiösen Sucher, die ihre Heimat verloren haben. Sie treten oft als Individualisten auf, nicht weil sie sich dem Individualismus verschrieben haben, sondern weil sie in den herrschenden, „eingebetteten“ Religionen faktisch keine Gemeinschaft mehr finden. Als Folge eines integralistischen Glaubensverständnises geraden sie in einen Prozess, der sie sind kulturell ent-bettet, ent-wurzelt. Sie werden zu Auswählern und Sammlern. Vermutlich stellen sie keine Basis für eine neue Religion dar, weil sie von der Entkoppelung von übergreifenden kulturellen Formen leben. Religion funktioniert bei ihnen als persönlich-individuelle Antwort auf ganz persönliche Sinnfragen.
Ich möchte diese Gruppe von Suchern durch eine Gegenklasse von Entwurzelten erweitern. Auf sie macht der französische Kulturphilosoph und Islamkenner Olivier Roy aufmerksam. In mehreren Büchern vertritt er die These, dass der Islam als politische Ideologie gescheitert ist. In gewissem Sinn trat damals der Islam früher als Marker, also als der Propagator bestimmter politischer und sozialer Ideen auf. An seine Stelle trat jetzt ein „Neofundamentalismus“, der keine kulturelle oder religiöse Erdung mehr hat. Roy spricht von „ungeerdeten kulturellen Markern“, man könnte auch von religions- und kulturlosen Markern sprechen, für die nur noch eine verengte Identität übrig bleibt (Heilige Einfalt: über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen, aus dem Französischen von Ursel Schäfer, Siedler, München 2010).
Die Weiterführung von Olivier Roy (*1949): Auf dem Weg zur kulturlosen Religion
Faktisch greift Roy die Idee von Taylor auf. Eine eingebettet funktionierende Religion formt die Gesellschaft und wird von der Gesellschaft geformt. So erhält die Gesellschaft eine Basis von Werten und die Religion passt sich den Anforderungen des Lebens an. Wird aber eine Religion aus der Kultur herausgelöst, findet keine Korrektur mehr statt ‑ so entsteht Fundamentalismus. Ich füge hinzu: So wird auch die instinktive Basisfunktion der Vernunft ausgeschaltet. Wahr ist jetzt nicht mehr, was uns für die anderen öffnet und worüber wir mit ihnen offen kommunizieren können. Wahr ist, was meinen Zielen und Bedürfnissen nützt.
Entkoppelung auf dem muslimischen Lebensstil
Deshalb warnt Roy auch vor einer falschen Interpretation der aktuellen Ereignisse, die wir unter den Begriff „islamischer Fundamentalismus“ einordnen und in denen wir den von Huntington vorhergesagten Clash of Civilisations entdecken. Nein, gerade dies ist nicht der Fall. Die übergroße Mehrheit der Muslime lehnt Gewalt als Form der Auseinandersetzung ab und die gewiss konfliktreichen, oft angstbesetzten Prozesse der Assimilation vollziehen sich in der Regel geräuschlos. Den Neofundamentalismus mit muslimischer Prägung kennzeichnet die beschriebene Ent-bettung oder Ent-koppelung aus den muslimischen Werte- und Lebensstil. Die führenden Kräfte von Al-Qaida oder ISIS sind keine kulturverankerten, keine unter Demütigung Leidenden, sondern wohlgebildete, im Westen oft ausgebildete, von ihren Kulturen entfremdete, bewegungsorientierte Einzelkämpfer. „Die Faktoren dafür sind Globalisierung und globale Vernetzung, und vor allem Gesellschaften, die selbst kein Wertesystem bieten, das allen, die dort leben, als Struktur ausreicht.“ Der große Zulauf zur ISIS aus den westlichen Ländern deutet Roy als eine radikale Jugendbewegung. Junge Menschen möchten aus ihren engen, ökonomisch oft strangulierten, im Wirklichkeitsbezug hochdistanzierten, biographisch zukunftsarmen Gefängnissen ausbrechen, die in eine scheinbar global und menschlich entgrenzten Zukunft.
Verhältnis von Kirche und Staat
Ich komme zu Taylor’s Gedankengang zurück. Er spricht von eingebetteten Religionen als dem Ideal, das natürlich immer Spannungen ausgesetzt ist. Das erhält einer Religion ihre vitale Kraft. Doch in der europäischen Geschichte lief diese Einbettung spätesten seit Beginn der Neuzeit schief, denn die konkurrierenden Kirchen bildeten ihrr jeweils als Marker aus. Spätestens der dreißigjährige Krieg brachte einen Wendepunkt.
Dies zwang den aufgeklärten und wissenschaftlich orientierten Westen dazu, Verhaltensregeln und Weltinterpretationen konsequent empirisch an der vermeintlichen „Wirklichkeit“ zu spiegeln. Charles Taylor, stark an der französischen Religionsgeschichte orientiert, spricht von einer „prinzipiengeleiteten Distanz“ zwischen Kirche und Staat. Die drei (immer noch aktuellen) Prinzipien lauten: liberté, égalité, fraternité, angesichts der Kontraste von 1789 zu übersetzen mit Religionsfreiheit, Religionsgleichheit und Geschwisterlichkeit. Der 1871 entstandene spätere Kampfbegriff der laïcité (Laizismus à Laizität) meint ursprünglich keine Trennung vom Kirche und Staat, sondern die Wahrung der Vielfalt von Weltanschauungen. [vgl. den Pädagogen und Menschenrechtskämpfer, Nobelpreisträger Ferdinand Buisson (1841-1932), der für die Freiheit im/vom Unterricht in Religionswahrheiten kämpfte, die damals als intolerante Wahrheitsansprüche galten].
Erst 1905 kam es [propagiert von Aristide Brian] zur strikten Trennung von Staat und Kirche. Zwar wurde sie in kämpferischer Ablehnung der Religion durch den Staat durchgeführt. Wer aber die Vorgeschichte, genauer: die katholische Position in der Dreyfus-Affäre kennt, kann die Reaktion des Staates verstehen. Es ging in erster Linie – ähnlich wie in den USA – um die Wahrung der Vielfalt. Bei Konkurrenzen ist (wie unter Brüdern) eine jede Bevorzugung zu vermeiden. Unbestrittene gemeinsame Überzeugungen (auch wenn sie religiös sind) sind nicht zu verbannen.
Müssen Religionen in säkularen Staaten also nach wie vor eine Rolle spielen? Natürlich, so Taylor, dagegen hatte auch die Aufklärung nicht einzuwenden. Inhaltlich ging es um den Schutz der Menschenrechte, um Gleichheit und Freiheit vor Diskriminierung, um Demokratie. Wir sind heute zu einem überlappenden Konsens verurteilt.
Gemeint ist die Überlappung zwischen religiösen und nicht-religiösen Begründungen. Zu diesem überlappenden Konsens gehören aber alle in einem Land bzw. Kulturraum anwesenden Religionen und gehören alle Religionen und weltanschaulichen Entwürfe in dem globalen Raum einer Erde, die in vielem zu einer Einheit zusammengewachsen ist.
Neue Rolle der Religion
Natürlich verändert sich in dieser neue Gesamtsituation, zumindest in demokratischen Staaten und in demokratisch agierenden Weltorganisationen, auch die Rationalität dieser Religionen. Sie erhalten die Freiheit, sich auf Welt und Menschen hin zu öffnen. Mehr noch: Je brüchiger auch weltweit das metaphysische Wahrheitsmodell wurde, umso intensiver konnte die christliche Theologie die Fragen an sich heranlassen, die sich aus der Beschäftigung und aus der inneren Annäherung anderer Religionen ergeben. Wir arbeiten an der Weltzukunft, wenn und sofern wir diese Öffnung der Vernunft für das Andere und für die Anderen vorantreiben. Dies, nicht einfach ein quantitativer Gewinn von Erkenntnis, ist der theologische Sinn der Religionsdialoge.
Klarstellung 3:
Entscheidend ist nicht Innendarstellung des Glaubens, sondern sein aktives Verhältnis zu Kultur und Welt.
IV. Religionen und Weltethos
Slidarische, zugleich kritische Weltbejahung
Wahr ist, was uns für die anderen öffnet. Die Bemühungen um ein Weltethos liegen genau auf der Linie dieser Entwicklungen und Erkenntnisse liegen. Zwar sollten Religionen nach wie vor in Kulturen eingebettet sein, also im lebendigen Austausch mit ihren stehen. Noch besser wär es, wenn sich in neuer Weise multireligiöse Kulturen entwickelten, in denen eine Religion wie selbstverständlich auf die andere bezogen ist, von ihr lernen und sie bereichern kann. Aber ebenso wichtig ist es, dass diese Religionen – in kritische Distanz zu ihren faktischen Kulturbindungen – einander kennenlernen und miteinander eine theoretische Basis bilden.
Unverzichtbare Grundwerte
So können Religionen in ihrer Gemeinsamkeit zu einer neuen und hochqualifizierten Ressource von Werten und Transzendenzerfahrungen werden. Sie lernen es, sich zu verstehen und eine Art übersteigenden Erfahrungs-, Sprach- und Imaginationspools zu bilden, die in einem vorbehaltlos offenen und intensiven Austausch steht. Zugleich können sie entdecken: In und trotz ihrer unterschiedlichen Ausprägung sind sie miteinander verbunden in einer tragfähigen und universalen Tiefenschicht der Werte, der Haltungen und der Zukunftserwartung. Die Wahrheit der Welt liegt
– in diesem universal-unabdingbaren Ja zu allem was lebt und leben kann, in dieser – universal-dynamischen Hoffnung auf Gerechtigkeit,
– in diesem universal-lebensnotwendigen Willen zur Wahrhaftigkeit,
– in dieser universal selbstverständlichen Grundhaltung der Treue und Solidarität,
– in dieser universalen Offenheit für eine gemeinsame Humanität.
Dieser universale Gesamthorizont gehört zu einer jeden der Grundwerte, die sich im weltreligiösen Gespräch entdecken lassen. Deshalb reicht es nicht, die Werte der Lebensbejahung, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue einfach zu wiederholen. Wir müssen sie in der Abfolge der Generationen auch neu ausweiten und interpretieren; sie müssen mit der Entwicklung der Herausforderungen wachsen.
Spiegelung an neuen Entwicklungen
Das gilt für eine jede der genannten Grundwerte; vielleicht steht gegenüber 1983 jetzt schon eine erste Revision der Bestimmungen an.
(1) Ich nenne die konsequente Fiskalisierung und Kapitalisierung der Weltgesellschaft. Daraus folgt, dass unser persönliches ethisches Handeln immer mehr entmächtigt wird. Wir müssen ethische Maßstäbe entpersönlichen, zu Regelungen und Strukturen umbauen. Das bedeutet: ethisches Handeln muss immer schon fachkundiges und professionell kompetentes Handeln sein.
(2) Ich erinnere an die unerwartet globale Ökonomisierung der Gesellschaft. Wir haben ein weltweites, dichtes Netz des Warenaustauschs aufgebaut. Der Preis eines T-Shirts kann ebenso wie der Kauf eines Hartholzes auf dem afrikanischen Urwald ethisch relevant werden. Unser je persönliches Handeln ist ökonomisch-ethisch kaum mehr eindeutig zu beurteilen. Diese Eindeutigkeit ist wiederherzustellen.
(3) Die Weltkommunikation ist digitalisiert. Damit wachsen nicht nur Macht und Einfluss von starken Kommunikatoren ins Unendliche, sondern können Maschinen in beängstigendem Maße ethisch hoch brisante Entscheidungen treffen. Peter Schirrmacher hat in seinem Buch Ego: Das Spiel des Lebens (2013) einen Einblick in moderne Finanzprogramme, die allein und in Sekundenbruchteilen über den Transfer von beliebig hohen Fiskalwerten entscheiden. Erschreckend ist nur, dass diese modernen Fiskalprogramme als militärische Angriffs- und Verteidigungsprogramme. Der springende Punkt ist damit schon klar: Konkurrenten werden prinzipiell als Feinde behandelt. Man traut ihnen nur einen Vernichtungswillen zu und handelt nach dem Prinzip des Alles oder Nichts. Andere Aspekte, die eine humanen Ethik entspringen, sind systematisch ausgeschaltet. Gemäß Schirrmachers Analysen ist diese Haltung inzwischen von der Finanzwelt in die Welt des Handels, auch in die Welt der Ausbildung übergesprungen. Mitschüler werden prinzipiell als Konkurrenten, als Gewinner oder Verlierer betrachtet, eine Zwischenlösung gibt es nicht. Die Herausforderung, gegen diese prinzipiell wertfreie, von Gewinn oder Niederlage gestimmte Denkweise anzugehen, ist geradezu übermenschlich und erfordert gemeinsame, politische relevante Gegenstrategien mit dem Ziel, elementare Erfahrungen neu zu gewinnen.
(4) Bürokratisierung: Die modernen Staaten einschließlich ihrer internationalen Beziehungen werden zu Konkurrenten einer je persönlichen, solidarischen, wenn nicht gar altruistischen Ethik. Dies ist kein Prozess der systematischen Brutalisierung, sondern der systematischen Entpersönlichung und Anonymisierung, ebenfalls von der Macht der Cyberwelt unterstützt. Man denke nur an die Steuerpolitik, die Familien- und Sozialgesetzgebung, die Gesetzgebung zur Asylantenproblematik, dies alles verbunden mit den internationalen Verflechtungen und Aktionsmöglichkeiten. Als Antworten sehe ich nur Prozesse einer nachhaltigen, langfristigen, über Generationen dauernden Bewusstseinsbildung, die den Staat als Kooperator und Lebensermöglicher der Betroffenen begreift und damit einen Korb von Kriterien schafft, ohne deren Erfüllung kein Politiker mehr die Chance hat, in eine Parlament gewählt zu werden. Wir müssen die Wissenschaften vom öffentlichen Handeln neu sortieren.
Angesichts dieser Herausforderungen ist der Begriff des Wahren wieder aus seinen Verengungen herauszuführen. Wenn das Neue Testament Christus die Wahrheit nennt, meint es nicht, dass Jesus das Richtige sagt. Es unterscheidet auch nicht zwischen dem Wahren und dem Guten, weil es auch eine Wahrheit des Guten und eine Güte der Wahrheit gibt.
Dasselbe gilt für alle Weltreligionen, in denen die großen Fundamentalhaltungen und –kulturen direkt in den Begriff der Wahrheit eingehen. Wird der Wahrheitsbegriff dadurch verwässert oder verfremdet? Ich meine nicht. Er wird bereichert und gegen Missbrauch geschützt. Fundamentalistische Verkürzungen, die zum Ausschluss von Menschen aus ihren religiösen Gemeinschaften führen, sind nicht mehr möglich. Der ständige, geradezu konstitutive Konkurrenzstreit mit den Naturwissenschaften verliert seine Basis, weil er ganz grundsätzlich nicht mehr mit einer Wirklichkeitsbeschreibung, sondern mit einer Wirklichkeitshaltung und dem Überschreiten einer empirischen Wirklichkeit identifiziert wird.
Klarstellung 4:
Religionen, die mit anderen Religionen nicht kooperieren, verlieren ihre Weltberechtigung
Schluss: Wahrheit als Dialog
Wir brauchen eine neue Weltordnung
Kürzlich legte Henry Kissinger als 91-Jähriger eine brillante Analyse des Weltgeschehens vor (Weltordnung, Gütersloh 2014) Seine zentrale Aussage lautet: „Wir brauchen eine Weltordnung“. Wir recht er hat. Fragt sich nur wie dieses Unternehmen anzupacken ist. Auch Religionen wissen es nicht, aber schon immer haben sie sich – in welcher Form auch immer – die Selbstüberschreitung der Welt und die Heilung von deren Unordnung zum Thema gemacht. Alle Weltreligionen denken, agieren und imaginieren kontrafaktisch. Sie halten also ein Bewusstsein dafür wach, dass diese unsere Weltordnung nicht die letzte sein kann. Das Christentum hat diese Utopie nie einfach aufgegeben, sondern die Utopie des Reiches Gottes immer im Gedächtnis behalten. Aber es hat dieses Weltziel massiv entschärft und verfremdet, indem es das Reich Gottes in ein unerreichbares Jenseits verlagert hat.
Keine Rezepte, sondern permanente Gesprächsbereitschaft
Mit einem neuen globalen Bewusstsein ist der Augenblick gekommen, an dem die Weltreligionen ihre Potenzen zur Weltveränderung voll ausschöpfen können und müssen. Angesichts des weltreligiösen Gesprächs der Gegenwart kann ihre gemeinsame Botschaft nur lauten: Alle Unterschiede in ihren Menschen-, Welt- und Gottesbildern mögen sich unterscheiden. Alle konkreten Zukunfts-, Himmels- und Jenseitsbilder mögen sich geradezu widersprechen. Doch diese Unterschiede relativieren sich, bedeuten Bereicherung statt Widerspruch, denn schon jetzt hat das interreligiöse Gespräch zur Erkenntnis geführt: Alle (religiöse, menschliche und universale) Wahrheit kann nur darin ruhen, dass wir uns für einander, für den Anderen öffnen. Genau das aber ist auch der letzte Sinn aller säkularen Rationalität. Anders gesagt: der Sinn und die Triebkraft aller Religionen lautet vorbehaltlose Mitmenschlichkeit, in den Weltreligionen durch die Goldene Regel ausgedrückt, dies verbunden mit der Überzeugung, dass deren Verwirklichung durch ein alle durchdringendes Geheimnis ermöglicht wird.
Klarstellung 5:
Wahrheit findet nur im Blick auf den Nächsten und die Welt statt
Gegenwärtig haben es Religionen in der westlichen Kultur nicht einfach. Sie stolpern von Irritation zu Irritation, die sie auslösen und deren Opfer sie sind. Doch trösten wir uns, denn dies ist kein spezifisch religiöses, sondern ein gemeinsames kulturelles Problem. Die auftretenden Probleme beweisen nur, wie eng Religionen und Kulturen verwandt sind.
Wir befinden uns in einer beispiellosen kulturellen Metamorphose und ich versuchte, deren Ausmaße an unserem Wahrheitsbegriff zu illustrieren. Er wandelte sich radikal, seine ursprüngliche Stärke schlug um in eine tödliche Schwäche. Als wahr galt seit Aristoteles‘ Zeiten eine jede Aussage, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Diese Fixierung führte zu einem rigiden Umgang mit allem, was man für wahr gehalten hat. Träger auch kirchlicher Macht machten sich diese Fixierung zunutze. Glaube wurde zur Tugend der Unterwerfung und Wahrheit zum Instrument der Unterdrückung.
Doch die neue (hermeneutische) Entdeckung, dass Wahrheit ein Ereignis der Kommunikation ist, weckte innerhalb und außerhalb der Kirchen umso mehr Widerstand, als sich die vormals beruhigende Klammer zwischen Wahrheit und objektiver Sicherheit auflöste. Jetzt ist uns Wahrheit nicht mehr gegeben, sondern aufgegeben. Doch wie schon Kierkegaard erkannte, führt diese neu gewonnene Freiheit zunächst zu Unsicherheit und Angst.
Wie konnten die Kirchen sie überwinden? Vor dem beschriebenen Hintergrund ließen wir uns von Charles Taylor und Olivier Roy über einen wichtigen Teilaspekt belehren: Schon seit Reformationszeiten setzte diese befreiende und zugleich verunsichernde Kommunikationsstruktur nicht nur das Verhältnis zwischen Glauben und kirchlichen Institutionen, sondern auch das Verhältnis zwischen Religion und Kultur unter Spannung. Eine Religion kann in naiv selbstverständlicher Unschuld in ihre Kultur eingebettet sein. Sie kann aber auch zum kämpferischen Signal einer kulturellen Gruppenidentität missbraucht werden; Taylor spricht von einer Religion als Marker; die Kommunikation bricht nicht ab, wird aber eingeschränkt und instrumentalisiert. Die neuzeitlichen Konfessionen dienen dafür als Beispiel.
Seit dem 19. Jahrhundert, dem Beginn der Moderne mit seinen vielfachen Verunsicherung, entwickelte der christliche Glaube geradezu aggressive Züge. Jede offene Kommunikation wurde unterbrochen. Kirchliche Gruppen oder Institutionen wachten jetzt eifersüchtig, kontrollversessen und misstrauisch über die Unversehrtheit ihres spezifischen Glaubenssytems.
Die beschriebene Vorstellung von objektiver Wahrheit, die sich perfekt für Machtinteressen einsetzen ließ, ermöglichte diese fatale Entwicklung, und je mehr ein überheblicher und geschichtsfeindlicher Integralismus die Glaubensgemeinschaften aus ihrer eigenen Kultur herauskatapultierte, umso zielsicherer förderten sie die innere Entfremdung von Glaubensgeschwistern und produzierten die ortlosen Wahrheitssucher, die uns heute überall umgeben. Vielleicht gehören wir selbst zu ihnen.
In dieser hochbrisanten Epoche sind für Religionen das Gespräch untereinander und das Gespräch mit der Welt unverzichtbar geworden. Das eine wird ohne das andere nicht möglich sein. Es kann gelingen, je mehr es sich auf die gemeinsamen Lebensorientierungen konzentriert, die uns faktisch verbinden. So werden Religionen in einer globalisierten Zeit nur gemeinsam zu Hüterinnen unserer Weltzukunft.
Klarstellung 6:
Es gibt keine Religion, keinen Glauben und keine Glaubenswahrheit an sich, denn alle Wahrheit ereignet sich nur im Gespräch mit Mitmenschen, die immer schon Teil eines größeren Gesprächsnetzes, ihrer Kultur sind.
Klarstellung 1:
Die Wahrheit ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben.
Klarstellung 2:
Wir erleben heute keinen Wahrheitsverlust, sondern einen Wahrheitsgewinn
Klarstellung 3:
Entscheidend ist nicht Innendarstellung des Glaubens, sondern sein aktives Verhältnis zu Kultur und Welt.
Klarstellung 4:
Religionen, die mit anderen Religionen nicht kooperieren, verlieren ihre Weltberechtigung
Klarstellung 5:
Wahrheit findet nur im Blick auf den Nächsten und die Welt statt
Klarstellung 6:
Es gibt keine Religion, keinen Glauben und keine Glaubenswahrheit an sich, denn alle Wahrheit ereignet sich nur im Gespräch mit Mitmenschen, die immer schon Teil eines größeren Gesprächsnetzes, ihrer Kultur sind.
(Vortrag vom 03.12.2014)