Tugenden für eine bessere Welt

Schon lange fordern die Vordenker der Menschheit einen ökologisch verantwortlichen Umgang mit der Erde. Auch Theologinnen, Theologen und kirchliche Amtsträger treten dafür ein. Warum aber hat sich un unerem Verhalten so wenig geäündert? Es kommt darauf an, dass dieser Paradigmenwechsel nicht nur den Katalog unserer Pflichten, sondern auch unsere religiösen Haltungen und Tugenden verändert.

Bewahrung der Schöpfung aus religiöser Sicht

1. Erneuerung unverzichtbar

Das Thema „Bewahrung der Schöpfung“ ist nicht neu. Ich persönlich habe dazu 1986, also vor 14 Jahren, eine erste Tagung gehalten, und ich war nicht der erste. Gestellt wurde die Frage zum ersten Mal Beginn der 1970er Jahre und durch C.F. von Weizsäcker erhielt es eine weite ökumenische Beachtung. Seine Programmschrift hieß Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Sie wurde zum Inhalt des „ökumenischen Prozesses“ (vgl. C.F. von Weizsäcker, Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. München 61987; U. Schmitthenner, Ulrich, Der konziliare Prozeß, 1998; S. Schneider-Grube u.a. (Hg), Bewahrung der Schöpfung. Der kirchliche Beitrag für die Umwelt, München 1989. 1986).

Doch war das Thema mit diesem großen Beginn nicht ausgeschöpft. Dafür gibt es drei Gründe:
1. Inhaltlich wurde das Thema immer weiter ausgeweitet. Es begann als Thema der hochindustrialisierten Staaten, wurde zum Problem der Umweltzerstörung und Umweltverschmutzung, zur Warnung vor möglichen Rüstungs- und Kriegsschäden (Tschernobyl). Hinzu kamen die Ausbeutung der Erde (Nachhaltigkeit) und das Problem einer Weltökonomie, die zur Zerstörung des gesamten ökologischen Gleichgewichts der Erde führt. Inzwischen sprechen wir von der Klimakatastrophe und wir spüren die ersten Vorboten der Erderwärmung. Aus dem Naturschutz wurde schon längst der Umweltschutz und die umfassende Frage der Nachhaltigkeit.
2. Die Thematik wurde in ihrer Problemstellung vertieft. Die summativen Probleme der Einzelphänomene sind längst überrundet. Wir sprechen von systematischen Zusammenhängen, auf Land, im Wasser und in der Luft, verschärft von den Einsichten in die ständige Artenbedrohung und Artenreduktion und der Verschlechterung der Lebensbedingungen.
3. Immer wichtiger wird die politische Frage nach den Techniken und den Strategien, die zum Erfolg führen. Wirklich erfolgreich war bislang keine; Zeuge dafür war der Misserfolg der Klimakonferenz in Kopenhagen. Grund dafür war nach breiter Überzeugung sowohl die mangelnde Kooperation der USA und China, aber ebenso der Unwille vieler Entwicklungsländer. Für deren Unwillen und Provokationen gab es allerdings vielfache Gründe (Jean Ziegler). Spätestens jetzt wurde offenkundig, dass die Frage der Ökologie schon längst zum globalen Politikum und einer Quittung von Seiten der Natur geworden ist.

Was haben Glaube und Theologie mit diesen Fragen zu tun? Die Antwort ist nicht einfach, denn eindeutig ist dies: In erster Linie sind Umweltfragen die Folge von höchst materiellen, empirisch-wissenschaftlich zu erhebender Prozesse. Zu deren Lösung benötigen wir Physik und Chemie, Biologie und Ernährungswissenschaft, Spezialisten für Weltwirtschaft und globale Ressourcenberechnung. Wir brauchen einen enormen Einsatz an computertechnischen Mitteln. In zweiter Linie bedarf es eine weltweit koordinierten Politik

Allerdings, wenn die Politik ins Spiel kommt, melden sich die Einzelinteressen der Staaten und Ökonomien zu Wort. Staaten und Staatenverbände müssen kooperieren, Vor- und Nachteile in Ausgleich bringen und in vielfacher Weise über das Schicksal nachfolgender Generationen nachdenken. Diese aber haben keine Interessenvertreter. Ethos und Ethik kommen also ins Spiel.

Mit Ethos meine ich die eingebürgerten Verhaltenscodes und Sitten, also ein jeweils umfassendes Set von Hochschätzung und Gewohnheiten, die ganze Völker und Kulturen bestimmen. In vielfacher Weise sind sie unbewusst. Man handelt eben so oder anders, isst eben Fisch oder Fleisch, greift auf die einen oder anderen Energiereserven zurück.

Mit Ethik meine ich ausdrückliche, vielleicht wohlkalkulierte Normensysteme oder Normreflexionen, die auf die Fragen antworten: Was ist erlaubt und was ist verboten, was ist wünschenswert und was muss unbedingt geschehen? Was stimmt mit den Grundgeboten der Menschlichkeit und einer fundamentalen Solidarität überein und wo kommen die existentiell unaufgebbaren Werte zum Tragen, die zu einer menschlichen Kultur gehören?

Dass sich bei dem breiten Fächer solcher Ethikfragen immer auch die Religionen zu Wort melden, ist bekannt und auch gut so. Ihre Impulse können von eminenter Bedeutung sein. Allerdings haben sie sich – zumal bei globalen Fragen, die die Menschheit global zu lösen hat – einer allgemeinen, über- oder trans-religiösen Beurteilung zu stellen. Gut ist, was der Menschheit insgesamt dient oder entschiedener gut ist als andere Regelungen. Das ist keine Nebensächlichkeit, denn diese Fragen können, wie wir wissen, die physischen, sozialen und genetischen Grundlagen menschlicher Existenz berühren. Dass diese transreligiöse Fragestellung erkannt ist und wie weit die Bemühungen um einen solchen weltweiten Grundlagendialog fortgeschritten sind, lässt sich z.B. am Projekt Weltethos ablesen. Grundlegende Übereinstimmungen zu Fragen des Lebensschutzes, der Gerechtigkeit, der gegenseitigen Glaubwürdigkeit und Treue sind formuliert; die strikte Ablehnung von Gewalt, sozialer Ausbeutung, Korruption und dem Verlust gegenseitiger Sorge sind erkannt und prinzipiell formuliert. Auch wer den faktischen Ergebnissen bzw. entwickelten Thesen nicht zustimmt, kann das Faktum und die Bedeutung des entstandenen Diskurses nicht leugnen. Aber angesichts der extrem komplizierten, in allem interagierenden und gegeneinander abzuwägenden Zusammenhänge und Wirkungen (die zudem oft nur auf vermutbaren Extrapolationen beruhen) bleiben die Grenzen zwar prinzipiell, aber was innerhalb ihrer geschehen kann und geschehen muss, in vielem offen. Es gelten eben nicht die einfachen ethischen Regeln, die man als Prinzipien wohl formulieren kann, sondern die Regeln einer ethisch geleiteten Politik:

Vorgaben sind zu machen und Führungsrollen wahrzunehmen. In Vorlage müssen genau diejenigen gehen, die – jedenfalls dem Anschein nach – weniger betroffen sind. Und jenen, denen das Wasser buchstäglich am Halse steht, deren Staatsgebiet bei Erhöhung der Meeresspiegel also untergeht, oder denen bei Erhitzung des Weltklimas die letztes Ernährungsquellen verdorren, denen man vor ihren Küsten die letzten Fische mit Riesennetzen weggefischt hat, genau sie müssen warten, bis sich die dominierenden Staaten zu einem Handeln entschließen. Gemäß den aktuellen Strukturen sind die dazu beauftragten Weltorganisationen unfähig (oder nicht willens), einzugreifen. Auf eine Prinzipienethik, also auf ein theoretisch zu formulierendes und dann im Verhalten einzulösendes Konstrukt ist in dieser Situation kein Verlass, zumal eine so zu formulierende Ethik mit Gewissheit Gegenethiken hervorruft, so dass sie einander gegenseitig blockieren.

Mit dem faktischen Ethos von Kulturen und Religionen verhält es sich jedoch anders. Zwar gibt es auch dieses Ethos nur im Plural und in vielem könnten sie sich – auf eine globale Ausdehnung hin befragt – einander blockieren. Aber diese Ausprägungen eines Ethos entsprechen doch weitgehend den Religionen, die seit ungezählten Generationen Erfahrungen des Heils und des Unheils aufgenommen haben. Gewiss, auch hier ist mit Bedacht voranzugehen, denn – abstrakt gesehen – haben wir kein Recht, das Ethos von kleinen Religionen einfach zu unterdrücken. Andererseits verdienen die großen und verbreiteten Ethosformen der „Weltreligionen“ ein gewisses Zutrauen. Anerkanntermaßen lassen sie sich ja von umfassenden Prinzipien leiten, dem Schutz des Lebens, der Gerechtigkeit, der Vertrauenswürdigkeit und gegenseitigen Sorge dienen. Bei einer weiteren Entwicklung weltethischer Perspektiven ließe sich vermutlich zeigen, dass auch der Schutz der Erde in allen Weltreligionen eine Rolle spielt. Ich komme später darauf zurück.

In jedem Fall könnten schon gewonnene ethische Konsense zwischen den Weltreligionen systematisch untersucht, ausgebaut und zu gemeinsamen Handlungsvorschlägen transformiert werden. Es gibt in allen Religionen menschengemäße, wohltuende, stabile und stabilisierende Grundhaltungen, die wir Tugenden nennen.

Doch fragen wir zunächst noch grundsätzlicher: Was kann ein Ethos mit solchen Grundtugenden im Sinne der großen kulturellen Einheiten leisten?

Grundsätzlich gilt, und das ist in aller Bescheidenheit festzustellen: Das Ethos von Kulturen und Religionen setzt zunächst faktische Normen und Regeln. Zwar gelten diese intern als unabdingbar; oft werden sie mit dem Willen Gottes oder einer höchsten Weisheit begründet. Aber deren Handlungsanweisungen und Ziele sind nicht per se für alle Ziele begründet. Die Umweltproblematik ist ja ein neues, ein unerhört neues Phänomen. So wird z. B. darüber gestritten, ob die 10 Gebote und die daraus abgeleiteten Lebensregeln dem Schutz der Umwelt dienen. So gesehen sind sie nicht an sich schon gut oder schlecht. Sie setzen Akzente, die gewiss auf einer Lebenserfahrung von Jahrhunderten oder Jahrtausenden gründen; sie haben sich im Rahmen ganz bestimmter Lebensräume als unbedenklich erwiesen. Deshalb könnten sie auch Codes enthalten, die in heutiger Situation gefährlich werden können. Man denke nur an das Verhalten gegenüber der Natur, den Umgang mit Wasser, die Sorge für Früchte, die Anpflanzung von Bäumen und Nahrungsmitteln. Es gibt Lebensräume, in denen die Natur sorgsamer zu schützen ist und andere, in denen die Völker jahrhundertelang auf einen Kampf mit der Natur trainiert waren, – bis zu dem Augenblick da sich die technischen Möglichkeiten der „Naturbeherrschung“ dramatisch veränderten.

So können wir also nicht auf die Vorgaben der großen Kulturen und ihrer religiösen Selbstverständigung verzichten, aber sie sind nicht nur nachzujustieren, sondern zum Teil fundamental zu erneuern und eingreifend zu ändern. Denn: Die Umweltproblematik, die aktuellen Probleme der Ökologie, zumal die globale Dimension der Systeme und Subsysteme, in die wir heute eingriffen, sind – gemessen am Alter der Religionen und großen Kulturentwicklungen – neu. Es genügt in dieser Frage nicht einfach, auf die vier Grundregeln einer in ihrer Existenz bedrohten Menschheit einzugreifen. Es geht ja um die Vorbedingungen menschlichen Lebens überhaupt.

2. Die Erblast christlicher Kultur

Für das Grundethos des Christentums lastet in dieser Gesamtfrage zudem eine schwere Hypothek. Es sind ja die westlichen Länder und deren Verhaltensweisen, die damit begonnen haben, das globale ökologische Gleichgewicht der Erde insgesamt zu stören. Gewiss, niemand hat das gewollt und vielleicht hätte man schon im frühen 20. Jahrhundert andere industriellen Entwicklungen in die Wege geleitet, hätte man etwa vorhergesehen, was der exzessive Gebrauch von fossilen Brennstoffen zu Folge hat. Vielleicht hätte man auch schon lange Abstand genommen von einer Wirtschaftsform, in deren Effektivität das stetes Wachstum gehört. Ich weiß es nicht. Zu fragen ist aber: Was sind die Gründe, die zu dieser katastrophalen Entwicklung, also der intensiven Störung des Weltgleichgewichts führten?

Sie liegen in dem Menschenbild, das sich zu Beginn der Neuzeit herauskristellisierte. Es setzte sich die Überzeugung durch, dass die (westlichen) Menschen das Ziel und die Herren der Schöpfung sind: Dieses neue, vielgerühmte Selbstbewusstsein begann mit der Renaissance und es zieht einen langen Schleier der Herrschaftsphantasien, der Kolonialisierung und später eines Imperialismus nach sich, der nicht nur die Erde, sondern den Rest der Menschheit in grausamer Weise in Mitleidenschaft zog. Ich zitiere einen Satz, den der italienische Philosoph Picco della Mirandola 1489 geschrieben hat. Es war das Jahr, das Columbus „Westindien“ erreichte und die „katholischen Könige“ ihr kastilisches Reich für judenfrei erklärten. und es war eine Epoche, da in Europa bald die religiöse Einheit zerbrechen sollte.
Picco della Mirandola schreibt in diesem Jahre einer Paraphrase zur Schöpfungsgeschichte. Gott selbst hat in seinem Text das Wort und er spricht zu Adam, dem ersten Menschen. Gott sagt:

In die Mitte der Welt habe ich dich gesetzt, damit du alles besser überblicken kannst. Weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich habe ich Dich gemacht, damit Du in Freiheit und Ehre gleichsam als Bildner Deiner selbst Dir die Form gibst, die Du möchtest

„In Freiheit und Ehre“ handelt der Mensch. Das heißt für die Renaissance: Der Mensch darf in unbeschränkter Willkür [arbitrarius] und ganz im eigenen Interesse auftreten und handeln. Der Gedanke, dass menschliches Handeln von bestimmten Grenzen umgeben sei und sich nachbestimmten Regeln richten müsse, ist bei dieser Überlegung völlig verschwunden. Wenn ich jetzt einen großen Sprung von 421 Jahren mache, wird diese Grenzenlosigkeit noch deutlicher. Im futuristischen Manifest von 1910 lesen wir:

„Wenn das Gebet die Kommunikation mit der Gottheit ist, so bedeutet es, mit hoher Geschwindigkeit zu rasen, ein Gebet. Die Heiligkeit von Rädern und Schienen: ‚“Man muss auf den Geleisen knien, um zur göttlichen Geschwindigkeit zu beten. Man muss vor der ungeheuren Drehzahl eines Kreiselkompasses knien: 20.000 Umdrehungen pro Minute, die höchste mechanische Geschwindigkeit, die vom Menschen bisher erreicht wurde. Der Rausch hoher Geschwindigkeiten in Autos ist nichts anderes als das Hochgefühl, sich mit der ewigen Gottheit zu vereinigen. Die Sportler sind die ersten Katechumenen dieser Religion…“ (F. Marinetti 1910)

Es fällt nicht schwer, die Vorstellungen auf dem Jahr 1910 durch die aktuellen Möglichkeiten und Vorstellungen von Geschwindigkeit zu ersetzen. Es lässt sich aber auch leicht zeigen, dass dieser Geschwindigkeits- und Herrschaftswahn sich gerade nicht – so mir nichts, dir nichts – auf die Bibel berufen kann. Im Gegenteil dieses Selbstverständnis ist immer mehr in Widerspruch zur Kultur getreten, auf die sich die – jetzt säkularisierte – Kultur des 20. Jahrhunderts beruft. Man sollte also vorsichtige sein, wenn man die Bibel und deren Tradition zum Ausgangspunkt des westlichen maßlosen Herrschaftssyndroms erklärt.

Und dennoch zeigen sich in einer Tiefendimension weitere Verbindungen.
Sie betreffen das (im Kern stoische) Menschenbild, das sich seit Augustin in der westlichen Theologie durchgesetzt hat. Für Augustinus gibt es im Leib-Seele-Verhältnis eine Analogie zum Verhältnis Gottes zu Menschen: Wie Gott die Welt beherrscht, so beherrscht die Seele den Körper. Gottes Bild ist also Gottes Hoheitszeichen und seine Lehnsherrschaft auf Erden. … Die Seele ist erhaben über den Körper. Sie wirkt auf den Körper, der Körper aber nicht auf die Seele. In diesem Sinn ist der Mensch nach Augustins Auffassung Gottes Abbild. Anders gesagt: Der Mensch vollzieht nur die Herrschaft der Seele über den Leib und er verlängert nur die Herrschaft des souveränen Gottes über die Welt, wenn er – an Gottes Statt – über die Welt herrscht.

Hier haben wir einen Punkt erreicht, die auch im Weltethosprojekt weiterer Differenzierungen bedarf. Was in den normativen Grundschriften der Religionen angelegt ist, kann in den Folgeinterpretationen in hohem Maße verfälscht sein. Augustinus ist nicht die Schrift und dennoch hat er die Schriftinterpretation der kommenden Jahrhunderte, bis in die Gegenwart hinein, tiefgreifend bestimmt.

Was aber sagt die Schrift selbst? Auch hier ist genauer nachzusehen. Es ist unbestreitbar: An eine Menschenherrschaft über die Welt und an ein Weltbild, das allein vom Menschen und seinen Interessen her bestimmt wird, hat die Bibel, hat auch die Schöpfungsgeschichte nicht gedacht. Dennoch können auch spätere Übersetzungen und Interpretationen nicht verhehlen, dass der Herrschaftsgedanke von Anfang an mitgegeben ist: „Seid fruchtbar und mehret euch, und füllet die Erde und macht sie euch untertan, und herrschet über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und alle Tiere, die auf der Erde sich regen“ (Gen 1,28)

Mit der Ökologie und ihren anthropologisch-religiösen Grundlagen verhält es sich also wie mit der Ökologie selbst. Es geht nicht um ein Ja oder Nein. Es geht um Gleichgewichte, um Ausgleich, um einen ganzheitlichen Blick, um die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Deshalb ist von der gegenwärtigen Entwicklung her eben doch noch einmal kritisch auf den Beginn der biblischen Impulse zu achten. In jedem Fall ist zuzugeben: der späteren industriellen weltdominanten und ausbeutenden Entwicklung der westlichen Kultur, die sich in ihrer bewusst ausgebauten Übermacht im Grunde über die ganze Welt ausbreitete, gegen diese global und global signifikante, des Gleichgewicht der Erde störende Entwicklung konnte die Tradition der Schrift – jüdisch oder christlich interpretiert -, konnte auch die monotheistische Tradition des Koran keinen Widerstand entwickeln. Man hat diese Entwicklung – in einem undurchsichtigen Ineinander von religiöser Bejahung und religiösem Widerstand – im Grund bis in die Gegenwart hinein weitergetrieben und wir wehen noch keine Wege, die sie in Schranken weisen könnte. Durch bloße ethische Appelle können wir sie jedenfalls nicht aufhalten. Es muss uns gelingen, die emotionale Grundstruktur unserer kulturellen Codes zu beeinflussen. In diesem Sinn muss es uns gelingen, das Ethos unserer Kultur öffentlich besprechbar zu machen, sodass sich Weg zu seiner Beeinflussung eröffnen. In diesem Sinn müssen wir über das Ethos unserer Kultur öffentlich reden, es zu einem Thema machen, dessen öffentliche Relevanz anerkannt wird.

3. Die Rolle anderer Religionen

Umso wichtiger die die Frage nach den anderen Religionen. Allerdings muss sie richtig gestellt werden. Sie lautet nicht mehr, ob auch bei Nichtchristen Heilselemente für die Menschheit zu finden sind. Uns soll die Vermutung leiten: Auch andere religiöse Traditionen verfügen über entscheidende und unentbehrliche Visionen und Werte im Blick auf das Heil der Erde, ohne die es für die Menschheit weder eine Rettung noch eine Zukunft geben wird. Deshalb müssen wir die Frage heute neu stellen: Was kann das Christentum im Dialog mit anderen religiösen Traditionen von ihnen für das Heil des Planeten Erde lernen, sodass menschliches Heil sich ereignen kann? Wir brauchen also ein interreligiöses Gespräch als Baustein für eine neue Ökotheologie. Dabei gibt es einige Erkenntnisse, denen Christen ohne weiteres zustimmen können: Ein auf Habgier und Konkurrenz gegründetes Wirtschaftssystem sowie ein ungezügeltes Produktions- und Konsumverhalten werd die Regenerationsfähigkeit der Erde überfordern.

Es geht um die Untugend der Habsucht, die alles Verhalten unvermeidlich instrumentalisiert. Eine Instrumentalisierung begünstigt Macht, Dominanz, Manipulation der Menschen und eine Verweigerungshaltung gegenüber der Gerechtigkeit. Gerade die östliche Religionen: Hinduismus, Buddhismus die chinesischen Weisheitsströme betonen den inneren Eigenwert von Erde und Natur. Die religiösen Traditionen der Indios sehen die Erde als Mutter, die alle Seienden in ihrem Schoß trägt und für sie sorgt. Die östlichen Religionen betonen, dass die Natur ihren eigenen Rhythmus hat, der auch uns Menschen Segen bringt. Alle Bemühungen wie etwa die Einrichtung von Naturparks, Projekte zur Erhaltung der Tierwelt und dergleichen sind rein technische Lösungen, die der moralischen und spirituellen Krise nicht gerecht werden, die im habsüchtigen und verschwenderischen Gebrauch der natürlichen Ressourcen ihren Ursprung hat. Solche Lösungsversuche scheinen die Werte vom Sein zu trennen. Doch in unserer Reaktion auf die ökologische Krise müssen wir beide als Einheit zusammenhalten. Da die „Wurzel aller Übel die Habsucht ist“ (l Tim 6,10), ist diese auch die Wurzel der ökologischen Krise.

Habgier und deren Bekämpfung scheint in unserem Umgang mit der Natur eine Schlüsselkategorie zu sein. Denn sie ist es, die Gewalt und Aggression begünstigt, die den Bereich des Seins und der Werte trennt. Es geht darum, die Erde und ihre Werte, das Leben dieser Erde mit eigenem Respekt zu achten. Der Dalai Lama hat das mit Blick auf die buddhistische Tradition so ausgedrückt:

„In der Praxis des Buddhismus sind wir mit dieser Idee der Gewaltlosigkeit und der Beendigung allen Leids so sehr vertraut, dass wir schon gewohnheitsmäßig nichts wahllos schädigen oder zerstören. Obwohl wir keineswegs der Meinung sind, Bäume und Blumen seien mit Verstand ausgestattet, behandeln wir sie doch mit Achtung. Auf diese Weise teilen wir ein Gefühl universaler Verantwortung für die Menschheit und die Natur.“

Der Hinduismus kennt die grundlegende Tugend des Nahimsa. Gemeint ist ein gewaltfreies und mitfühlendes Verhalten, ein sorgsamer und ein schonender Umgang mit allen Lebewesen. Die hinduistische religiöse Bewegung der Jaina vermeidet einen jeden Fleischkonsum. Radikale Gruppen tragen immer ein Tuch vor dem Mund, um keine Fliegen einzuatmen. Andere kehren den Weg, den sie gehen, immer mit einem Wedel, um kein Tier, auch kein Insekt und keinen Käfer totzutreten. Natürlich, technisch gesprochen kann das nicht der Weg unserer Ökologie sein, aber die symbolische Bedeutung, dieser öffentlich und von allen akzeptierten Verhaltensweisen bringen etwas von dem Respekt zum Ausdruck, der uns in der Regel fehlt. Eine interreligiöse Öko-theologie könnte dort ein Gefühl für die Heiligkeit des Natur lernen, die wir heute nicht mehr kennen. Sie bieten ein Gegengewicht zur anthropozentrischen Haltung unserer Kultur.

„Die Natur spricht eine von Theologen bis auf die jüngste Zeit kaum vernommene und nur unzulänglich in Worte gefasste Wahrheit aus. In unserem Denken haben wir die für das Heil der Welt zentrale Rolle der geschaffenen Natur abgespalten oder gar völlig verbannt. Ich sage bewusst, in unserem Denken‘, denn wenn Gott sich in der geschaffenen Welt offenbart, dann ist er auch ,in allen‘ Dingen (Kol 3,11) gegenwärtig. Oder anders gesagt, in allem Sichtbaren gibt es eine unsichtbare Dimension, ein ,Darüberhinaus‘ über alles materiell Sichtbare. Alles Geschaffene ist bei aller konkreten Greifbarkeit letztlich doch ein ungreifbares Geheimnis, eine ins Unermessliche gehende Inkarnation‘ von kosmischem Ausmaß.

Ich füge dieser Ehrfurchthaltung noch einen zweiten Aspekt hinzu, bevor ich einige kritische Bemerkungen anschließe. Es geht darum, dass die östlichen Religionen versuchen (nicht immer mit vollem Erfolg) den Dualismus zwischen Mensche und Natur, zwischen Gott und Mensch zu vermeiden oder zu überwinden.

Biblisch monotheistisches Denken geht von einer grundlegenden Dualität zwischen Gott und seiner Schöpfung aus. Gott hat die Welt, geschaffen, „gemacht“. Dies ist eine Metapher der Kausalursächlichkeit, die ohne einen grundlegenden Unterschied zwischen Gott und Mensch nicht zu denken ist. Gott ist transzendent und Gottes heilendes, erlösendes Handeln besteht darin, dass unserer Natur eine neue, eine neu schaffende Wirklichkeit hinzugefügt wird. Natürlich kennen wir viele Versuche, diese Beziehung zwischen Gott und Mensch näher zu denken. Gott ist nicht nur des Bosse, sondern er neigt sich seiner Schöpfung zu. Er ist nicht nur der Jenseitige, sondern ist in dieser Welt gegenwärtig. Er ist das unergründliche Geheimnis dieser Welt selbst. Allerdings bleibt die Schöpfung sein Werk: „Die Himmel rühmen die Herrlichkeit Gottes, vom Werk seiner Hände kündet das Firmament“ (Ps 19,1).

Dagegen stehen andere Traditionen. Für den Hinduismus sind Gott und Welt gerade eine „Nicht-Dualität) werden Gott und Welt weder als eine einzige Realität noch als zwei getrennte Entitäten gesehen. Das gesamte Universum ist die körperlich greifbare Erscheinung Gottes. Das findet in vielen Gedichten und Riten des Hinduismus seinen Ausdruck. Wer einmal die Abend- und die Morgenliturgie im Varanasi (Benares) am Ganges mitgemacht hat, konnte die intensive Nähe dieses Geheimnisses im Wasser, im Feuer, in der Luft und in der Erde erleben. Oder wie hinduistische Traditionen diese grundlegende Intuition beschreiben: Die Beziehung des Schöpfers zur Schöpfung ist die eines Tänzers, der selbst ganz Tanz geworden ist. In der shivaitischen Tradition des Hinduismus erschafft Shiva tatsächlich das gesamte Universum durch seinen ewigen Tanz. Die Bewegung und der Rhythmus des göttlichen Tanzes hält das ganze Universum in Bewegung.

Der Buddhismus spricht ebenfalls nicht von der Kausalität des Glttlichen, sondern von einer „abhängigen Miturheberschaft“ (pratitya-samutpadä) der Gesamtwirklichkeit, in der es für die Vorstellung von Ursache und Wirkung keinen Platz mehr gibt. Im Gegenteil, die Ursache ist in der Wirkung ebenso sehr präsent wie umgekehrt die Wirkung in der Ursache: ein Gedanke, der uns hilft, die Immanenz Gottes intensiver und tiefer zu verstehen als die Sicht von Über- und Unterordnung, wie das Ursache-Wirkungs-Verhältnis traditionell interpretiert wird.

Auch die chinesische Vision des Daoismus ist ganz entscheidend von einer engen Beziehung zur Natur geprägt. Für ihn spiegelt tugendhaftes menschliches Verhalten nur die tragenden Prinzipien von Ausgewogenheit und Systemgleichgewicht wider, die in der Natur wirksam sind. Die Gesundheit des menschlichen Körpers selbst ist eine Situation der Homöostase, in der die aufeinander bezogenen Prinzipien von yin und yang sich gegenseitig ausgleichen und der Körper seinerseits sich im Einklang mit der Umwelt befindet. Von daher wird dieser Einklang als der Weg empfohlen, dem wir für unser allgemeines geistiges und körperliches Wohlbefinden folgen müssen. Auch dies ist eine sehr dynamische Imagination des Göttlichen, das untrennbar in Erde, Kosmos und Welt gegenwärtig ist. Es gibt immerhin die vergleichbare christliche Tradition, die sich in den Worten ausdrückt: caro cardo salutis; „außerhalb der Welt kein Heil (E. Schillebeeckx).

4. Eine wirkliche Lösung?

Allerdings warnen kundige Fachleute davor, die wahre ökotaugliche Weltkonzeption einfach aus anderen Religionen zu holen. Gewiss, die genannten Bilder und Interpretationen haben für unser Weltproblem einen wichtigen ergänzenden und inspirierenden Wert. Aber wir sollten nicht die Bilder von den heilen anderen Religionen, mit dem Erbe unserer Religionen in ihrer realistischen Gestalt vergleichen. Es gibt eben auch den realexistierenden Buddhismus und den real existierenden Hinduismus, der real existierenden Konfuzianismus und die real existierenden Yogatechniken. Alle bezahlen ihre – für uns faszinierenden –Vorteile mit weniger faszinierenden Problemen. Faktisch gibt es auch in den östlichen Religionen einen Dualismus. Er kommt vor allem in eines Askese zu Geltung, die die Erde geradezu verachten. Und er drückt sich in der Gleichgültigkeit aus, mit der man die Erde sich selbst überlässt. Wer einmal in Indien war, die fürchterliche Verschmutzung des Ganges und die hygienischen Verhältnisse der Städte kennt, weiß wovon ich rede. Es hat den Anschein, dass hinduistisch geprägte Staaten mit den neuen Problemen der Überbevölkerung, der Industrialisierung noch weniger zu Rande kommen als wir.

Es ist überhaupt nicht so, dass die großen Weltreligionen aus sich heraus die Lösung unserer Probleme wissen. An diesem Punkt müssen alle Religionen eine neue Demut lernen. In keiner Generation war die ökologische Frage bekannt und hinzuzufügen ist: Keine Religion der Gegenwart kann auf die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Religion wirklich verzichten.

Eine jede Ökologie und Ökotheologie, auch eine interreligiöse, muss heute von empirischen, wissenschaftlich gesicherten Daten ausgehen. Diese Daten liefern uns kein statisches, sondern ein dynamisches Naturverständnis und einen Denkansatz, wie ihn uns naturwissenschaftliche Tatsachen liefern. Entscheidend dabei ist, dass wir ein Verständnis von der Natur entwickeln, das sie in ihrer ganzen Komplexität und evolutiven Selbstorganisation begreift. Erst von einer solchen Sichtweise her gewinnen die wechselseitige Abhängigkeit von Naturprozessen und der Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit ihre Detailgenauigkeit. Die biologische Evolution sagt uns, dass keine Art unabhängig, in sich geschlossen oder gar statisch sei, sondern der Mutation und Entwicklung unterhegt. Sie hilft uns, die Trennwände zwischen den verschiedenen Arten in der Natur zu überwinden und ihre vielen Gemeinsamkeiten zu sehen: die evolutiven Vorläufer, den genetischen Code und die Keimungsprozesse des Lebens, sein Wachsen, Aufblühen, seinen Verfall und seine Auflösung. Die Menschen machen hier keine Ausnahme, sondern sind Teil dieser Urgegebenheiten aller Lebensprozesse. Auf diese Weise verstärkt die biologische Wissenschaft unser Verständnis von den Wechselbeziehungen im Universum und hilft uns, den Menschen selbst in einen weiteren Bezugsrahmen hineinzustellen.

Die gegenseitige Abhängigkeit, was den „Ursprung der Arten“ angeht, sowie die Ähnlichkeit in den Lebensprozessen schließt jedoch das Vorhandensein von Konflikten in der Natur ganz offensichtlich nicht aus – was viele als Ärgernis empfinden – und jede Zusammenschau der Dinge, welche darüber hinwegsähe, wäre wohl gar zu idyllisch. Letztlich hilft uns die evolutive Sichtweise, einen naturzerstörenden Anthropozentrismus zu überwinden, indem sie uns klarmacht, dass die Menschen nur eine unter vielen Arten sind, und sie bekräftigt den Zusammenhang alles Geschaffenen und die Notwendigkeit eines Ganzheitsverständnisses. Insbesondere lässt sie uns erkennen, wie sehr wir Menschen Teil eines ineinandergreifenden Öko-Systems sind und wie unsere ganze Existenz von den Vorgegebenheiten des Universums abhängt.

Das Besondere an der evolutiven Betrachtungsweise der Natur ist nicht, dass sie wissenschaftlich ist, sondern dass sie sich von einer mechanistischen Wissenschaft, vor allem von deren technologischer Anwendung unterscheidet. Die evolutive Perspektive scheint mit der grundlegenden Weltanschauung von Hinduismus, Buddhismus, Daoismus usw. einige Berührungspunkte aufzuweisen. Sich mit deren Auffassungen auszusöhnen war für monotheistische religiöse Traditionen nicht ganz einfach, wie der anhaltende Widerstand gegenüber dem Evolutionsgedanken in der christlichen Tradition zeigt, der auch heute noch weit verbreitet ist.

Ein evolutiver Bezugsrahmen ist für jede interreligiöse Ökotheologie von großer Bedeutung. In einigen der religiösen Traditionen wie im Hinduismus, Buddhismus und Daoismus ist ein evolutives Denken direkt in deren Glaubensüberzeugungen und Weltbilder hineinverflochten, während andere Traditionen wie das Christentum, Judentum und der Islam wohl eine eher statische Sicht von der Natur, der Erde und vom Universum haben. Was wir daher brauchen, ist eine Konvergenz aller religiösen Traditionen. Auf jeden Fall aber fordert ein naturwissenschaftlicher Evolutionismus – wenn auch in unterschiedlichem Grad – alle Religionen und ihre Einstellungen zur Erde und ihren vielfältigen Lebensformen kritisch heraus. Die indigenen religiösen Traditionen bieten von ihrem Ursprung her keine Lehrmeinungen und Glaubensinhalte, sondern bringen die Beziehung der Menschen zum Ökosystem tendenziell in den Redewendungen ihres Alltags zum Ausdruck, in denen das Wissen der Ureinwohner von der Vielfalt des Lebens und dessen Rangordnung in der Region aufbewahrt ist.

Von ihrer gemeinsamen Verantwortung gegenüber der Erde stellt sich somit den Religionen die Aufgabe, einige ihrer Grundauffassungen über Gott, den Menschen und die Natur auf  den Prüfstand zu stellen und neu zu  interpretieren.

„In Anbetracht der Umweltkrise, der wir gegenüberstehen, müssen sich alle religiösen Traditionen, wenn sie überleben und weiter zu deren Lösung beitragen sollen, in einem gewissen, vielleicht sogar beträchtlichen Grad einer Neuorientierung unterziehen. Eine solche Aufgabe lässt sich ohne eine eingehende und mutige Prüfung der eigenen Grundüberzeugungen nicht bewältigen. Dem Anschein nach umweltfreundliche Einzelelemente einer jeden religiösen Tradition aufzuzählen, aneinander zu reihen oder sie sorgfältig zu systematisieren und dann die Tradition als Ganze für ökologisch unbedenklich zu erklären, ohne die tieferen Hintergründe kritisch geprüft zu haben, dürfte bestenfalls eine kurzlebige Inspiration erzeugen. „

5. Von Gott und den Tugenden

Sie werden sich wohl ungeduldig, wann ich endlich zum Thema das Abends komme. Sollte es nicht um die Tugenden um eine besser Welt gehen? In der Tat, ich muss meine Themenstellung endlich korrigieren, denn es geht mit eher um die Quellen und Motivationen eines neuen Verhaltens. Es hat keinen Zweck, die Menschheit in pädagogischer Absicht zu neuen Tugenden auszufordern. Das wäre weder sehr theologisch noch sehr christlich. Es geht vielmehr um eine Weltsicht, die diese neuen Tugenden begründet, als plausibel und selbstverständlich erscheinen lässt.

Dazu bedarf es aber doch noch einmal einer Rückfrage nach einem angemessenen Gottesbild. Kann es das Alte bleiben oder müssen wir auch dieses ändern? Brauchen wir einen ökologisch verantworteten Gott, gar einen Ökogott? Ich bin der Meinung, dass die modernen Naturwissenschaften, die Evolutionstheorie insbesondere und dazu herausfordern müsste, die traditionellen Verengungen unseres Gottesbildes endlich aufzugeben.

Wir müssen uns neu klar machen, dass Gott ein wirklich dynamischer und ein weltimmanenter Gott ist. Gott ist dynamisch, weile er alles Leben, alles Handeln, alle Aktivität und Kreativität, alle Freiheit begründet. Er ist nicht derjenige, der die Verhältnisse festzurrt, sondern derjenige, der sie entfesselt.

Gott ist – weil der absolut transzendente und allgegenwärtige, derjenige, der dieser Erde immanent ist. Die christliche Tradition muss die immanente Dimension des Göttlichen Geheimnisses stärker als bisher entfalten, gleichsam als notwendiges Vorspiel für ein tieferes und bedeutungsvolleres Verständnis der Natur und der Erde. Daher muss die Erfahrung, Gott in allen Dingen zu erkennen, die ja auch in der mystischen Tradition des Christentums ihren festen Platz hat, gefördert werden. Hier gibt es gemeinsame Schnittmengen mit dem Hinduismus und anderen östlichen Traditionen. Im Dialog mit ihnen müssen wir die Heilsfrage neu und viel radikaler aufwerfen, um so den Weg zu Veränderungen frei zu machen.

Dies also ist die erste Tugend, die wir für eine bessere Welt brauchen. Es ist die Tugend der Einordnung und der weisen Gelassenheit. Uns ist aufgetragen, die Erde vor Zerstörung zu behüten. Unser Auftrag ist es aber nicht, sie prinzipiell zu verbessern. Herbert Jonas hat schon vor Jahren eine Ethik der Verantwortung geschrieben (die übrigens gegen E. Blochs Philosophie der Hoffnung gemünzt war).

Im übrigen lasse ich mich zur Frage der Tugenden von einem Buch inspirieren, das Leonardo Boff geschrieben hat (2009). Er schreibt ein visionäres Buch. Er sieht uns am Beginn einer neuen, der planetarischen Phase, die ein neues Verhalten erfordert. Bislang wurden Politik und Wirtschaft überbetont. Jetzt ist es an der Zeit, ethischen und spirituellen Fragen einen neuen Raum zu geben. Der Einzelne hat sich der Gemeinschaft, die Wirtschaft der Politik und die Politik der Ethik unterzuordnen, die ihrerseits ihre Inspiration aus einer neuen Spiritualität beziehen. Dieses Programm wird auf drei Ebenen durchgespielt.

Gastfreundschaft (15-151). Er sieht eine Weltgeschichte, die mit ihren Globalisierungsschüben vor schwerste Entscheidungen stellt, denn wir stehen vor tiefgreifenden Alternativen. Die erste lautet Weltkatastrophe, weil Menschengruppen die Erde für sich und ihre Vorteile beanspruchen, eine universale Gastfreundschaft, die die ganze Welt endlich als einen Tisch begreift, der uns allen gedeckt ist. Er ist für uns alle gedeckt, weil ich in allen Gaben Gottes Gegenwart selbst präsentiert. Die Eucharistie wird zum großen Symbol des Teilens. Diese Gastfreundschaft wird sich in Gerechtigkeit, Demokratie und einer Kultur des Friedens realisieren.

Zusammenleben, Respekt und Toleranz (153-245): Im zweiten Teil rücken das mitmenschliche Verhalten und deren Auswirkungen in den Mittelpunkt: Wie entstehen – auf Grund dieser Gastfreundschaft – Gemeinschaften und Völker, wie Macht, wie organisieren sich (als Beispiel) die verschiedenen Typen von Kirche? Welche Funktion haben der Respekt vor dem Anderen, vor dem Gewissen, dem Staat und dem Sein überhaupt? Aus Boffs Antworten ergeben sich die Bedingungen einer aktiven Toleranz, die als Grundlage eines demokratischen Zusammenlebens gelten kann und die gegen jeden Fundamentalismus und Terrorismus zu schützen ist. Denn Fundamentalismus und Terrorismus sind genau die Untugenden, die das gastfreundliche Zusammenleben am Tisch der Erde unterlaufen und zerstören.

Tischgemeinschaft und ein Leben in Frieden (247-345): Im dritten Teil zeigt sich: Der Befreiungstheologe Boff begreift Tugenden nicht als abstrakte Gesinnungen, sondern als selbstverständliche, fleischgewordene Handlungen. Paradigmatisch dafür steht das Teilen der Nahrung am Tisch, Ort der Gemeinschaft, Geschwisterlichkeit und Solidarität, die sich in den langen Prozessen der Kulturbildung herausbildete und den aktuellen Hunger von ca. 800 Millionen Menschen umso schrecklicher erscheinen lässt. Das ist ein ethisches und ein politisches Problem, das uns zu neuen Maßstäben der Produktion, der Verteilung, des Umgangs mit Wasser und Grundnahrungsmitteln zwingt. Das Buch kulminiert in der Frage des Friedens, der nicht nur als politisches, sondern auch als zutiefst menschliches, auch als religiöses Ziel zu sehen ist. Die Frage nach dem Frieden zeigt, dass sich äußere und innere Umstände finden müssen. Nicht ohne Grund hoffen Christen auf die Tischgemeinschaft Jesu und auf Gottes Reich.

In Mythen und Geschichten illustriert Boff seine Zukunft. Jeder Teil ist um eine zentrale Erzählung organisiert. Sensibel ausgelegt wird die Legende von Philemon und Baukis (Teil I), prägnant interpretiert die vom barmherzigen Samariter (Teil II), geradezu verlockend und mit weiteren Erzählungen angereichert die Parabel vom König, der alle zum Hochzeitsmahl einlädt (Teil III).

Schluss

In unserem Verhältnis zur Natur und zur Erde ist ein Paradigmenwechsel erforderlich. Er ist nicht erforderlich, sondern er wird sich von selbst einstellen, denn es werden sich wichtige Einsichten einstellen. Einige kosmetische Korrekturen reichen nicht. Ein Paradigmenwechsel erfordert eine neue Vision, eine neue Haltung und Werteordnung. Ich bin davon überzeigt, dass die dies – trotz ihres bisherigen Versagens – bieten können.

Die indische Mythologie bietet für diese Vision ein schönes Bild. Sie vergleicht die hochkomplexen Zusammenhänge von Mensch, Erde und Welt mit Indras Netz. Es umgreift das Universum in ist an jedem Knotenpunkt mit einem Kristall besetzt. Jeder Kristall in diesem Netzwerk spiegelt auf seiner Oberfläche alle anderen Kristalle wider und die Widerspiegelungen der Widerspiegelungen und so weiter in einem unendlichen Prozess. Darauf folgt die für den Hinduismus entscheidende Tugend, die alle anderen zusammenfasst: Es ist die Haltung des einfühlsamen Mitgefühls mit allen Geschöpfen und ein tiefes Gespür für mitmenschliche Solidarität. Wer die naturwissenschaftlichen Erkenntnis über die Zusammenhänge von Erde und Kosmos, Leben und Mensch begreift, hat damit einen guten Ausgangspunkt, vom dem her sich die religiösen Traditionen durchleuchten lassen mit dem Ziel, ein ausgewogenes Verhältnis zur Natur und zur Gesamtwirklichkeit zu erreichen.

Eine interreligiöse Ökotheologie sollte auch unser Verständnis vom Individuum kritisch hinterfragen, wonach der Einzelmensch angeblich über der Gemeinschaft und der Natur stehe, und sie sollte einen Beitrag leisten, einen wachsenden Verdrängungswettbewerb und die Anhäufung von immer mehr Reichtum einzudämmen, die für die Entstehung der gegenwärtigen Umweltkrise weitgehend verantwortlich sind. Eine Ökotheologie muss sich auch der Herausforderung stellen, radikale Änderungen in den heutigen Wirtschafts- und Entwicklungsstrukturen herbeizuführen, was bedeutet, dass sie in ihrer Praxis in einem wahren Sinne politisch werden muss.

In einem schönen Bild (aus der indischen Mythologie) könnte man diese Zusammenhänge mit Indras Netz vergleichen, das an jedem Knotenpunkt mit einem Kristall besetzt ist und das ganze Universum umgreift. Jeder Kristall in diesem Netzwerk spiegelt auf seiner Oberfläche alle anderen Kristalle wider und die Widerspiegelungen der Widerspiegelungen und so weiter in einem unendlichen Prozess. Aus der Erkenntnis, dass alles in der Welt mit allem verbunden und von allem abhängig ist, strömt eine Haltung einfühlsamen Mitgefühls mit allen Geschöpfen und ein tiefes Gespür für mitmenschliche Solidarität.

(Vortrag vom 12.03.2010)