Es muss ein Augenblick vermessener Selbstüberschätzung gewesen sein, als ich Ihnen Selg zusagte, in diesem Kreis einen Vortrag über Jürgen Habermas im Jahre seines 80. Geburtstags zu halten. Wie komme ich dazu? Von Beruf bin ich weder ein Philosoph noch ein Sozialwissenschaftler, noch ein kritischer Zeitgeist mit der Gabe analytischer Weltbeobachtung. Meine spekulativen Fähigkeiten halten sich zudem in Grenzen, obwohl ich sie gerne mit Rhetorik überdecke. Wie soll ich mich jetzt aus dieser Situation retten? Zuerst hatte ich vor, zu Beginn dieses Vortrags alle wirklichen Kenner von Habermas zu bitten, den Raum zu verlassen. Dann dachte ich mir, dass das nicht angängig sei, denn so schließe ich die Betroffenen entweder aus diesem Kreise aus, was zumindest unhöflich wäre und mir nicht zusteht, oder ich degradiere Sie alle, sofern Sie aus Höflichkeit hier bleiben, zu Nichtkennern dieses großen Mannes, der – wie ich mir sagen ließ – schon zum klassischen Bildungsgut unserer Schulen gehört. Schließlich versuchte ich, mich mit meiner Rolle, so gut es geht, zu versöhnen. Dazu fielen mir drei Gründe ein.
Folie mit Preisen und Ehrendoktoraten
Grund 1:
Auch im Hause Habermas wird nur mit Wasser gekocht und zusammen mit seiner Frau Ute, mit der er seit 55 Jahren verheiratet ist, kann Jürgen, wie man hört, ein guter und sehr gastfreundlicher Koch sein. Im Geiste dürfen wir die Milde seiner Gastfreundschaft genießen.
Grund 2:
Bei allen heißen Debatten, die der führte, gehört es zu den Grundüberzeugungen des Philosophen Habermas, dass die Vernunft (seine, die anderer und unsere gemeinsame Vernunft) immer fehlbar sei. Entscheidend ist nur, dass der Diskurs nicht abgebrochen wird. Das kann uns Mut geben.
Grund 3:
Das ganze Denken dieses Mannes wird von einer sehr sympathischen, aber anspruchsvollen Eigenart durchzogen. Er liebt es nicht, konkurrierende Positionen oder Theorien abzuservieren oder einfach zu widerlegen. Er versucht vielmehr, diese zu öffnen und – wie er es nennt – „anschlussfähig“ zu machen (Reemtsma). Mit dieser Technik macht er auch das „anschlussfähig“, was er selbst zu sagen hat.
Anspruchsoll ist diese Eigenart deshalb, weil er so immer mit allen Denkern und Behauptern unserer Geschichte im Gespräch bleiben will und bleiben muss. Sein eigenes Theoriegebäude erweist sich in dieser Anschlussfähigkeit. So wurde dieses zu einer Art Super- oder Metatheorie, zu einer Art Gewölbe bzw. dessen Schlussstein, das nur dank der zahlreichen Pfeiler bzw. der Strebebögen anderer seine Höhe halten kann. Zu solchen Konstruktionen ist dieser Theoriearchitekt allerdings auch fähig. Er analysiert den modernen Sozialstaat ebenso wie Platon, die französischen Postmodernisten ebenso wie Hegel und Kant, postmoderne Architektur ebenso wie Karl Marx, Hermeneutik ebenso wie soziologische Theorien, in der Linguistik ist er genau so sachkundig, wie bei den Theorien Nietzsches oder Freuds. Man müsste im Grunde sie alle und das alles kennen, wollte man sachgemäß mithalten.
Heute Vormittag würde das Sie und mich überfordern, aber nicht nur uns. Es fällt schon sehr auf, dass alle Kommentatoren und Laudatoren sich bei seinen Ehrungen und Geburtstagen immer höchst selektiv auf Einzelfragen beschränken. Man kann über seine politischen Interventionen oder Absichten, über seine Bücher oder seine Rezeption in Japan und China, über sein Verhältnis zu seinen Lehrern oder seine Selbstkorrekturen, über Habermas als Philosophen oder als Soziologen, als politischen Visionär oder als wegweisenden Moralisten sprechen.
Ich möchte das ebenso tun, also einige Aspekte auswählen, die mich in den vergangenen Jahrzehnten in Auseinandersetzung mit Habermas begleitet haben. Dazu sollten Sie wissen, dass ich mich zwar drei Jahre einem höchst intensiven Philosophiestudium gewidmet, mich dann aber der katholischen Theologie zugewandt habe. Dabei haben mich philosophische, hermeneutische, gesellschafts- und ideologiekritische Fragen zwar immer begleitet, aber das theologische Interesse drang natürlich durch alle Ritzen durch, hat die philosophischen Sedimente eingefärbt, vielleicht auch eingestaubt. Ich hoffe dass diese Theologie mein Bild von Habermas nicht allzu sehr verfremdet hat. Sehen wir zu.
Inhaltsangabe
Aus dem reichen Problem- und Themenspektrum wähle ich vier Gesichtpunkte aus. Ich hoffe, dass sie auch auf Ihr Interesse stoßen.
I. Ich frage zunächst nach den Grundmotiven und der zentralen Intention dieses politisch immer engagierten Denkers. Das hilft seinem Gesamtverständnis enorm.
II. Ich stelle in wenigen Zügen Habermas’ zentrale Gesellschaftstheorie vor, geannt die „Theorie des kommunikativen Handelns“.
III. Drittens gehe ich auf die wachsende Gegenwartskritik ein, die Habermas zwar auf höchstem Niveau formuliert, die ihm aber doch den Ruf eines Konservativen einbringt.
IV. Schließlich bespreche ich – aus der Sicht von J. Habermas – Situation und Bedeutung von von Religion unserer säkular demokratischen Gesellschaft. Man weiß ja, das er die schon aufgegebene Religion in den vergangenen Jahren wieder entdeckt.
I. Grundmotivationen und Ziele
Jürgen Habermas gehört zur Generation derer, die – wie viele von uns – als Heranwachsende mit den geistigen und moralischen Folgen von Drittem Reich, 2. Weltkrieg und Auschwitz konfrontiert waren. Sein Vater war Parteimitglied, sein Elternhaus gut bürgerlich und politisch zurückhaltend, für den Studenten Grund genug für ein hohes politisches Interesse an der deutschen Gesellschaft, das sich zugleich mit einem hohen wissenschaftlichen Ehrgeiz verband. Nie ließ er sich einengen, immer fragte er eine Strecke weiter, immer versuchte er, die Differenzierung weiter zu treiben und Polarisierungen zu integrieren, von verschiedenster Seite aus zu beleuchten.
1.1 Einige Lebensdaten
Geb. 1929 in Düsseldorf
1949-1954 Studium: Philosophie, Geschichte, Germanistik Ökonomie
1961 Habilitation: Strukturwandel der Öffentlichkeit
Habermas studierte (1949-1954) Philosophie, Geschichte, Psychologie, Germanistik und Ökonomie. Hinzu kam schon früh das Interesse für amerikanische, in Deutschland noch unbekannte Strömungen, etwa den Pragmatismus. Später wird er von Hans-Georg Gadamer, dem hoch abstrakten Hermeneutiker entdeckt.
Umgekehrt arbeitet er ab 1965 am berühmten Ort der links und marxistisch orientierten „Frankfurter Schule“, dem „Institut für Sozialforschung“ (ab 1956). Es ist das 1923 gegründete Institut, das sich ganz der Sache des Marxismus widmete, von den Nazis 1933 geschlossen und dann aufgelöst wurde. 1951 wurde es unter der Leitung von Max Horkheimer wieder eröffnet. Dieser, Th. W. Adorno, Erich Fromm und H. Marcuse haben es bekannt gemacht. Hier findet seine Grundmotivation zum ersten Mal ihr grundlegendes Thema, das später sein wissenschaftliches Arbeiten steuern sollte. Es ist die Frage nach einer demokratischen Gesellschaft, die den Bürgern Freiheit gewährt. Es ist zugleich die Frage, wie denn die deutsche Gesellschaft in den 30er Jahren so grauenhaft versagen konnte. Von Anfang an vermeidet Habermas vereinfachende Antworten, bei aller Hochschätzung von Marx auch die des gängigen Marxismus. Nicht einmal die differenzierteren Antworten des damaligen Neomarxismus reichten ihm aus. Er tauchte die Gesamtfrage in den breiten Kontext der politischen, der sozialen und der ökonomischen Verhältnisse ein. Zum Motiv: „wie erarbeiten wir die Grundlagen für eine demokratische Gesellschaft“ kommt also ein Zusatzmotiv hinzu: „Wie können wir dafür sorgen, dass die Antworten möglichst umfassend sind und die konkreten Umstände berücksichtigen?“
1.2 Ein eminent moralischer Impuls
Dahinter verbirgt sich zugleich ein eminent moralischer Impuls, der ihn von Anfang an begleitet. Freiheit degeneriert bei ihm nie zum abstrakt bürgerlichen Privileg der Privilegierten oder derer, die Freiheit verdient haben. Sie ist aktiv zu schützen und die Gesellschaft ist in ihrem Sinne grundlegend zu analysieren und zu gestalten. Angesichts der vergangenen politischen Erfahrungen misstraut er ebenso einem rechten Ordnungsdenken wie einem marxistischen Ökonomismus. Ebenso wichtig wird für ihn eine hohe Sensibilität für unerwartete Entwicklungen, die noch nicht analysiert sind. Wie entwickelt sich die – immer bedrohte, weil immer dynamische – Gesellschaft weiter? Gibt es neue Tendenzen hilfreicher oder gefährlicher Art?
1.3 Geht eigenen Weg
Diese Sensibilität führt ihn schon führt zu einer Distanz zur Frankfurter Schule, so sehr sie seine Schule geblieben ist. Also habilitiert er sich in Marburg mit dem Thema „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1961). Die Öffentlichkeit ist eine moderne Erscheinung und sie schafft Räume der freien Meinungsäußerung, der politischen Willensbildung, damit im Sinne der Demokratie ein höchst wichtiges Meinungsreservoir und Korrektiv gegenüber dem Staat und für ihn. Habermas bleibt ein sensibler Beobachter. 1953 kritisiert der Student schon öffentlich Heidegger angesichts seiner braunen Vergangenheit. 1963/65 vermittelt er beim sogen. Positivismusstreit zwischen einer positivistisch arbeitenden Soziologie und einer abstrakten Gesinnungsphilosophie. Er geht in Distanz zu seinem Lehrer, dem hochintelligenten Th.W. Adorno, und zeigt, dass eine jede Erkenntnis geradezu notwendig von vorgängigen Interessen bestimmt ist. Bei aller kritischen Reflexion muss es deshalb gelingen, die soziologische Arbeit ernst zu nehmen. Bald gilt der junge Shootingstar als Vorzeigelinker und als Inspirator der Studentenrevolte (1968), aber ausgerechnet er sieht in Rudi Dutschke die Gefahr eines „linken Faschismus“, greift ihn deshalb öffentlich an, distanziert sich als Loyalist von der Studentenrevolte.
1.4 Wächteramt
Alle seine späteren Interventionen könnte man auf dieses Wächteramt abklopfen, das er bald einnimmt. Dort wo er Freiheit und demokratische Grundrechte eingeschränkt sieht, wo nach seinem Urteilt pure Machtpolitik ihr Haupt erhebt und wo – so im späteren Streit um Genmanipulation – die Würde des Menschen bedroht wird, überall dort erhebt er seine Stimme. In diesem Streit stellt er selbst Fragen einerseits an I. Kant, der doch die unantastbare Würde des Menschen klassisch formuliert hat, andererseits an all diejenigen, die aus pragmatischen Gründen meinen, man könne ein bisschen an der Schraube der Genmanipulation drehen. Er gehört zu den wenigen, die im genannten Streit um Genmanipulationen versucht, neue Argumente zu finden, die die zerstrittenen Parteien wieder zueinander bringen könnten. P. Sloterdijk verfällt wohl zu Unrecht seiner scharfen Kritik, Habermas wirft ausgerechnet ihm Zynismus vor, als er versucht, den schleichenden Zynismus unserer Vergangenheit zu entlarven. Aber die ganze Kontroverse zeigt nur, mit welcher Entschiedenheit und Konsequenz Habermas in Sachen Menschenrechte und Menschenwürde, in Sachen einer freiheitlich verfassten Gesellschaft immer wieder interveniert.
Habermas versteht seine Aufgabe als Wächteramt. Für ein demokratisches und integrationsfähiges Gesellschaft- und Staatswesen in Deutschland und in Europa.
II. Theorie des kommunikativen Handelns
Genau dieses Motiv, aufmerksam auf die Freiheit zu achten und in der gesellschaftlichen Analyse immer ein Stück weiter zu kommen, ist für mich der Schlüssel eines geistigen Werdegangs, der nicht immer genau zu durchschauen ist. Ich möchte das kurz an seinem wichtigsten Schüsselwerk erklären.
2.1 Ein umfassendes Werk
Sein Titel lautet: Theorie des kommunikativen Handelns. Das Werk umfasst 2 Bände mit insgesamt 1175 Seiten. Man kann es als Kompendium aller wichtigen Sozialtheorien philosophischer, soziologischer und psychologischer Prägung lesen. Allein die Literaturliste erstreckt sich schon über 34 engbedruckte Seiten; nach Ausweis des Registers werden etwa 870 Sozialwissenschaftler und Philosophen zitiert. Dabei gibt es keine Höflichkeits-, sondern nur echte Diskussionszitate. Habermas nimmt, wenn man so will, alle Theorieentwürfe ernst: Hegel und Durkheim, Hegel und Horkheimer, Kant, Lukács und Luhmann, K. Marx und George H. Mead, Parsons und Piaget, M. Weber und Wittgenstein. Mit größter Sorgfalt bringt er alle miteinander ins Gespräch und genau dies entspringt seinem neuen Ansatz.
Der Untertitel des 1. Bandes lautet „Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung“. Dahinter versteckt sich ein Ideal der Aufklärung, zugleich eine Vision, die wir von Max Weber her kennen. Zumal seit der Aufklärung zeichnet sich die Neuzeit dadurch aus, dass sie das Maß der Handlungen und damit die gesellschaftlichen Verhältnisse in wachsendem Maße rationalisiert. Habermas stimmt dieser Perspektive zu, versieht sie aber mit Fragezeichen, so wie dies die „Dialektik der Aufklärung“ schon getan hat. Die Aufklärung muss sich auch über ihre eigenen Grenzen und Gefahren aufklären. Schließlich konnte auch sie die politische, die kulturelle und die moralische Katastrophe nicht verhindern. Wie sie in einer Kultur geschehen konnte, die sich zugleich aufgeklärt und christlich nannte, das bleibt eine unabgegoltene Frage. Dank der Mitarbeit von Habermas ist sie heute wenigstens akzeptiert.
Der Untertitel des 2. Bandes lautet: „Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft“. Dieser Titel zeigt die Stoßrichtung, die Habermas jetzt selbst entwickelt. Die westliche Vernunft steht in der Gefahr, verzweckt zu werden. Sie wird positivistisch verengt. Sie macht Welt und Mensch (scheinbar) be- und verrechenbar. Deshalb ist das Projekt der Aufklärung nicht nur über die Aufklärung selbst, sondern auch über die Kritische Reflexion der Frankfurter Schule hinauszutreiben. Habermas spricht von Kommunikation. Auch die eine Leistung der Vernunft, aber doch in einer Perspektive, die ihre Missbräuche ausschließt: die ständige Verzweckung, die Degradierung menschlicher Gemeinschaften zur Märkten, die ökonomische und administrative Kolonialisierung unserer Gesellschaft, die Ausnutzung demokratischer Institutionen für die Zwecke einzelner. Kommunikation schließt Gegenseitigkeit, deshalb Respekt und die Würde der Individuen ein. Es gilt also zu klären, dass solche Kommunikation nicht nur im gegenseitigen Gespräch der Menschen untereinander geschieht und geschehen muss. Nein, solche Kommunikation beginnt in und mit einem jedem Handeln. In allem, was ich tue, steckt eine kommunikative Komponente, eine Komponente also, die auf Gemeinschaft zielt und diese ermöglicht.
2.2 Die Grundthese
Doch schauen wir genauer zu: Habermas’ Grundthese lautet nicht, dass wir doch alle miteinander reden sollen, sondern: Alles Handeln, wie und wo auch immer und unabhängig von seiner Absicht, alles Handeln ist kommunikativ. Es will und kann etwas, sich mitteilen. Von diesem Ansatz her ist die Gesellschaft zu verstehen und alle Systeme und Subsysteme einer Gesellschaft sind von diesem umfassenden Netz der Kommunikation her zu verstehen. Daraus folgt für Habermas allerdings nicht ein friedlich schiedlicher Einheitsbrei: „Kindlein, redet doch miteinander“, sondern ein hochkompliziertes System gegenseitiger Bezüge und Abhängigkeiten. Endscheidend ist dabei eine Grundspannung zwischen „System“ und „Lebenswelt“.
Lebenswelt meint die Welt, in der wir faktisch leben, die Welt also in ihrer vorwissenschaftlichen Selbstverständlichkeit und Erfahrbarkeit. Eine Welt, die noch nicht reflektiert, distanziert betrachtet wird. Da herrscht noch keine theoretisch bestimmte wissenschaftliche Weltsicht vor. Das Kind, für das der Nikolaus noch wirklich existiert, lebt noch in dieser Lebenswelt mit all einen umfassenden, aber individuell orientierten Perspektiven. In der Lebenswelt wird noch nichts objektiv beschrieben, sondern konkret erfahren, beurteilen, geliebt und gefürchtet.
Systeme hingegen meinen objektive Zusammenhänge, die objektiv zu beschreiben sind und in denen das erlebende Individuum als solches keine Rolle spielt. Die Gesellschaft ist ein solches System, das Gesamt aller zwischenmenschlichen Beziehungen, aber nicht nur dieser, sondern auch aller Institutionen und Vergemeinschaftungen, die in ihr wirksam sind. Verständlich, dass im Rahmen einer Kommunikationstheorie natürlich das System „Kultur“ eine Schlüsselrolle spielt. Denn in der Kultur wird die Wirklichkeit, werden die Lebenswelten (ebenso wie die Systeme) zur Sprache gebracht, „symbolisch reproduziert“.
Eines der Hauptprobleme unserer Gesellschaft ist, dass Lebenswelten und Systeme immer mehr auseinanderfallen. Gesellschaften und Welt sind so kompliziert geworden, dass wir sie in der Regel weder verstehen noch auf unsere Lebenswelt beziehen können. Diese Beobachtung gilt heute, Rahmen fortschreitender Globalisierung noch mehr als 1981, der Erscheinungsjahr des genannten Werkes. Dies ist auch der Grund für eine wachsende Nostalgie, die sich im Werk von Habermas zeigt. In zunehmendem Maße werden wir kolonialisiert, nicht durch ökonomische Ausbeutung und Unterdrückung, sondern dadurch, dass die Subsysteme Ökonomie und Verwaltung, inzwischen auch das Subsystem der Medien unsere Lebenswelt unmerklich durchdringen und unterlaufen. Die von Max Weber so gepriesene Rationalisierung zeigt bedenkliche Effekte.
Was also tun? Habermas ist kein Politiker, auch versteht er sich nicht als den Mann hilfreicher Rezepte. Vor den gesellschaftlichen Entwicklungen steht auch er als hilfloser Beobachter. Dennoch hält er an der kommunikativen Kraft unseres Wirkens fest. Dies ist nach Habermas eine Kraft, die – auch im Positiven – unsere Verfügbarkeit übersteigt. Und dies lässt sich an seinem Verständnis von Wahrheit zeigen?
2.3 Was ist Wahrheit?
Was ist Wahrheit: Wir kennen aus unserem Alltagsbewusstsein eine Wahrheitstheorie, die auch in der Philosophie lange Zeit gegolten hat. (1) Wahrheit bezieht sich auf Aussagen. (2) Wahr ist eine Aussage dann, wenn sie mit der ausgesagten Wirklichkeit übereinstimmt. Der Satz „der Baum ist grün“, ist also wahr, wenn der Baum wirklich grün ist. Wir können dann von einer ontischen Wahrheitstheorie sprechen, wenn wir die Wahrheit einer Sache in die Sache selbst leben („omne ens est verum“). Wir können den Akzent aber auf das Verhältnis von Sprecher und Sache legen. Dann gelangen wir zu einer Korrespondenztheorie. Vielleicht ist wahr einfach das, worüber eine Gemeinschaft von Menschen Übereinstimmung erzielt hat. Dann geht es um eine Konsenstheorie. Wir können die Wahrheitsfrage aber auch ins Innere der Argumente oder des redenden Subjekts legen. Dann erhalten wir eine subjektimmanente Wahrheitstheorie, die vielfältige Formen annehmen kann. Wir wissen um die Grenzen einer jeden dieser Theorie.
Habermas fragt (als erster) nach den Gründen dieser Mängel und verlegt die Wahrheitsfrage zunächst von der Ebene wissenschaftlicher (deskriptiv oder hermeneutisch begründeter) Aussagen in die Lebenswelt der Menschen mit folgendem Resultat: Die Wahrheit an sich gibt es überhaupt nicht oder nur im Idealfall. Im alltäglichen Umgang fällt die Wahrheit immer in vier Dimensionen auseinander, aus denen sie sich immer zusammensetzt. Es geht um
(1) Verständlichkeit: eine Aussage muss man verstehen können; es geht um begriffliche und grammatikalisch Ordentlichkeit, auch um die Mitteilbarkeit bestimmter Begriffe eines Satzes. Gegebenenfalls wir nähere Erklärung erforderlich.
(2) Wahrheit: der Aussagegehalt einer Aussage hat im Gemeinten selbst seine Entsprechung. Es geht um die elementare Überzeugung, dass eine Sache „in sich so ist, wie sie beschrieben wird. Es geht um den deskriptiven Charakter einer Aussage. Über diese Wahrheit wird dann argumentativ gestritten. Ein Diskurs muss Klärung bringen.
(3) Richtigkeit: in Frage steht immer eine Norm, an der sich der Wahrheitsanspruch misst. Eine Aussage hat einen Geltungsanspruch, dem ich mich zu stellen habe. Dieser Geltungsanspruch muss akzeptiert, also akzeptabel sein. Es geht um die Aussage als einen Sprechakt, um den performativen Charakter einer Aussage. Auch hier muss ein Diskurs Klärung erbringen.
(4) Wahrhaftigkeit: Dem Sprecher wird unterstellt, dass er aufrichtig ist. Gegebenenfalls wird ihm nicht geglaubt. Diese Wahrheitsdimension ist in der Regel unterschätzt oder zur Frage der richtigen Aussage vs. einer Lüge degradiert.
Entscheidend scheint mir dies zu sein: Habermas stellt nicht nur die abstrakte Frage: Was ist an und für sich Wahrheit? Vielmehr stellt er sich auch der Frage: Wie funktioniert Wahrheit in der Kommunikation des Alltags, also konkret? Genau dies erweist sich als ein vielschichtiger Prozess, immer offener und mehrdimensionaler Prozess. Oft kommt er nie ganz zur Deckung. Ein Mensch kann sachlich etwas Falsches sagen, dennoch ist er authentisch. Ein anderer kann alles sehr ernst meinen, aber es gilt für mich nicht. Ein anderer ist zutiefst unglaubwürdig, auch wenn seine Aussage wahr ist. Anders gesagt, Kommunikation vollzieht sich immer so, dass Wahrheit oder Richtigkeit zu justieren ist und Wahrhaftigkeit eingefordert wird. Wohin soll dieser Prozess also führen?
2.4 Worauf es ankommt
Hier kommt nun ein Apriori, eine Grundvoraussetzung ans Licht, die Habermas zum wirklichen Philosophen und zu einem authentischen Wortführer unserer Zeit macht. Diese Wahrhaftigkeit ist nach ihm mehr als eine moralische oder eine ethische Forderung und Richtigkeit ist nicht nur etwas, das heute wirksam und morgen abwesend is. Nein, in der Kommunikation selbst, im Gespräch, in der Diskussion, im öffentlichen Diskurs steckt immer und allem voran eine Tendenz zur Wahrheit, die sich dem Druck der Wirklichkeit widersetzt. Habermas nennt dies „kontrafaktisch“, gegen die Wirklichkeit gerichtet. Selbst das perfekte Lügenspiel kann sich von dieser Voraussetzung nicht befreien, denn auch der Lügner will überzeugen. Diese implizite Tendenz geht einem jeden Irrtum und einem jeden Täuschen-wollen voraus. Dass alles Handeln also eine kommunikative Dimension hat, das gibt Habermas Anlass zu einem tiefen Optimismus (der natürlich der Optimismus der Aufklärung ist): Reden, Argumentieren und Diskurs sind nicht nur Realisierungen von Freiheit (denn im Grund nehme ich diejenigen ernst, mit denen ich rede). Reden, Argumentieren und Diskurs schaffen und stabilisieren auch Freiheit. Sie lassen freiheitliche Strukturen entstehen, denn Rede schafft Gegenrede; der Diskurs setzt das Argument der Gegenseite voraus. Freie Rede, Öffentlichkeit, Partizipation, auf Freiheit und Menschenrechten begründete Demokratie sind die Leistungen der Kommunikation.
Hier liegt auch die Grundforderung begründet, in der er eine Demokratie erfüllt sieht. Es ist der „repressionsfreie“ Dialog/Diskurs, eine Situation also, in der sich alle mit allen ohne jeden beengenden Druck verständigen können. Dass diesem Ideal ein reiches Maß an Naivität einwohnt, hat Habermas später selbst eingesehen. Aus vielerlei Gründen ist dieser repressionsfreie Zustand nicht herstellbar. Die Gründe liegen vor allem darin begründet, dass ein jedes freie und nichtgesteuerte Gespräch seine eigenen Ungleichheiten produziert. Die Unterschiede der Bildung, des Sprach- und Sprechvermögens, der Herkunft sind viel zu verschieden. Heute wären die großen Probleme hinzuzufügen die Immigration und Interkulturalität mit sich bringen. Nicht verdient hatte Habermas aber das hohe Maß an Aggression und Verunglimpfung, dem er sich in den siebziger Jahren noch ausgesetzt sah. Es war die pure Repression selbst, die von rechts auf ihn einschlug. Sie verwechselte Repressionsfreiheit mit einem Zustand, in dem ein jeder Dümmling und Besserwisser sollte mitreden können. Solche Fiktionen sind inzwischen stummer geworden, Gott sei Dank. Verschwunden sind sie leider nicht.
Habermas entwirft eine Gesellschaftstheorie, die einem offenen, Liberalen und den Menschenrechten entsprechenden Modell verpflichtet ist.
III. Auf dem Weg zur Postmoderne
3.1 Einfluss der französischen Philosophie
Im Jahr 1983 lernt Habermas den französischen (poststrukturalistischen) Philosophen Michel Foucault nennen, der sich der Frage gestellt hatte, wie der Mensch durch gesellschaftliche Verhältnisse konstituiert und vielleicht auch zerstört wird. In Anlehnung an Nietzsche sprach er prophetisch vom Tod des Menschen. Habermas was von diesem Kollegen beeindruckt. Er soll gesagt haben: hätte er Foucault früher kennengelernt, seine ganze Philosophie hätte vielleicht einen anderen Weg genommen. Zu einem weiteren Treffen kommt es nicht mehr, denn Foucault stirbt unerwartet im Juni 1984. Habermas schreibt ihm einen Nachruf, der noch heute gerühmt wird. Im August 1984 äußert sich Habermas in Le Monde dann zu einigen grundsätzlichen Fragen. Sie machen eine veränderte Situation deutlich. Drei Jahre zuvor hätte man noch glauben können, dass die Neo-Aufklärung mit Habermas neue Urständ feiert. Jetzt zeigt sich auch in Deutschland, dass sich in Frankreich schon längst eine Wende vollzogen hatte.
Umschreiben wir diese Wende mit dem Stichwort „Postmodernismus“ und nennen wir zu Zwecken der Identifikation einige Namen: Jean-Francois Lyotard, Jacques Derrida, Gilles Deleuze, Michel Tournier, Georges Bataille. Einer der Hauptvorwürfe gegen das moderne Denken: es leide an einem „Logozentrismus“, einer Überbetonung der nüchternen Rationalität, einem Imperialismus des Logos, der ordnet und einordnet, legitimiert und verwirft, der einteilt und ausschlueßt, der für Leib und Emotionen, für die Verwischungen der Zeit und die verschlungenen Weg der Interpretationen keinen Raum lasse.
Habermas antwortet in Le Monde, der abendländische „Logozentrismus“ verdanke sich „nicht einem zuviel, sondern einem zuwenig an Vernunft … Die Privilegierung des Seienden in der Ontologie, des Bewusstseins in der Erkenntnistheorie, des Aussagesatzes und der propositionalen Wahrheit in der Semantik“ seien drei Beispiele für eine kognitivistische Verengng des Vernunftbegriffs. Dabei gesteht Habermas postmodernen Positionen durchaus ihr Recht zu, aber dies kann nicht gegen die Hochschätzung der Vernunft geschehen. Diese Reaktion ist für Habermas typisch.
3.2 Der philosophische Diskurs der Moderne
Was geschieht? Habermas sieht den Umschwung. Er reagiert auf ihn 1985 mit dem Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“. Warum kommt er – aller Postmoderne zum Trotz – auf die Moderne zurück? Sein Vorgehen ist typisch. Er setzt nicht etwa mit dem Beginn der Postmoderne an, sondern mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der immerhin schon 1831 gestorben ist. Schon er habe eine Schwäche der modernen Denkwelt entdeckt, das Problem des Subjekts nämlich, das sich selbst begründen muss. Ich umschreibe das – an sich hochkomplizierte – Problem etwas verkürzt: Die Vernunft, die über sich keine Autorität mehr anerkennen kann, weil sie die Wahrheit von allem beurteilen muss, diese Vernunft entdeckt plötzlich, dass sie ihre eigene Autorität begründen, sich am eigenen Schopf also aus dem Sumpf ziehen muss (Verzeihung, so eine banale Metapher käme Habermas nicht über die Lippen). Die Überzeugungskraft der Religion, die Hegel ins Reich der Vorstellungen befördert, war ja schon zerbrochen. Immer noch argumentiert er im Namen der Vernunft und er überzeugt (später links- oder rechtshegelianisch), bis Nietzsche schließlich in seiner Vernunftkritik auch auf den Anspruch verzichtet, dadurch die Emanzipation des Menschen zu erarbeiten. An die Stelle der Vernunft treten der Mythos und die Verzweiflung an einer jeden richtungsweisenden Ausrichtung für Selbstbewusstsein und Wissen. „Nietzsche“, so Habermas, „benützt die Leiter der historischen Vernunft, um sie am Ende wegzuwerfen und im Mythos, dem Anderen der Vernunft, zu fassen.“ (S 107) Das Dionysische wird zur zweifelhaften Rettung. Das Subjekt verliert sich, die Erfahrungen fallen ins Archaische zurück. Die Vernunft verrottet zum Steigbügelhalter eines zynischen Machtwillens. Für Habermas ist hier das Ende der Moderne schon angelegt, die u.a. von Heidegger vollendet wird. Selbst Horkheimer und Adorno halten diesem Zerfallsprozess nicht stand.
Heute (schon 1985) liegen die gesellschaftlichen Folgen dieser Entwicklung voll zutage. Habermas kann und will sich mit den Zielen der Postmoderne nicht einfach versöhnen. Er stimmt ihrer Kritik in gewissem Maße zu. Die Moderne wird kritisiert als „verdinglichter und verwerteter, als technisch verfügbar gemachter oder als totalitär aufgespreizter, vermachteter, homogenisierter, eingekerkerter Lebenszusammenhang“. Er sieht in diesen kritischen Beschreibungen immer einen Protest gegen „komplexe Verletzungen und sublime Vergewaltigungen“. Es gebe dabei keinen Sinn für „Sein und Souveränität, Macht, Differenz, Nicht-Identischem.“ Gut, aber Habermas hat doch Probleme mit den Gegenidealen, die da aufgerichtet werden. Es geht um „Huld und Erleuchtung, ekstatisches Entzücken, leibliche Integrität, Wunscherfüllung und schonende Intimität.“ Das allein kann es nicht sein, das uns weiterbringt. Es geht auch um selbstbewusste Praxis und solidarische Selbstbestimmung, um die authentische Selbstverwirklichung eines jeden einzelnen (391). Diese vernunftkritischen Ansätze haben die Alltagspraxis nicht vorgesehen, sie stürzen sich auf das Außeralltägliche.
3.3 Kritik im Namen der Vernunft
Nüchternheit, rationale Nüchternheit ist also geboten und sie wird von Habermas eingefordert, denn nur in ihr kann sich das Kontrafaktische Geltung verschaffen. Wir müssen in dieser Nüchternheit dafür sorgen, dass die Lebenswelt wieder Anschluss an die großen Zusammenhänge der Kultur, des sozialen Raum und unsere Geschichte finden. Wir leiden unter Sinnverlust, anomischen Zuständen und Psychopathologien. Unsere Lebenswelten sind verformt durch Reglementierung, Zergliederung, Kontrolle und Betreuung. Uns bedrohen nicht materielle Ausbeutung und Verelendung, wohl aber soziale Konflikte, die – psychisch wie körperlich – aufs Innerliche abgewälzt sind. „Geld und Macht können Solidarität und Sinn weder kaufen noch erzwingen“. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Impulse der Lebenswelt wieder in die Selbststeuerung der Funktionssysteme einfließen können. (422) Ähnlich wie schon Nietzsche spart Habermas deshalb nicht mit Kritik am zeitgenössischen Europa: „Das moderne Europa hat die geistigen Voraussetzungen und die materiellen Grundlagen für eine Welt geschaffen, in der die [sozialdarwinistische] Mentalität den Platz der Vernunft eingenommen hat. (425).
Genau hier setzt der Punkt an, der meine ganze Bewunderung auf Jürgen Habermas lenkt. Habermas verzweifelt nicht am modernen Europa der Aufklärung und der Vernunft. Im Gegenteil, umso mehr besteht er auf dessen normativen Prinzipien, der kontrafaktischen Kraft einer rationalen Kommunikation: auf dem Recht und der Freiheit des Subjekts sowie an der Fähigkeit, die gegenseitige Kommunikation nicht zerbrechen zu lassen. Dass er auch das gegenwärtige Scheitern dieses Projektes sieht, ist zuzugeben. Er sieht aber auch, dass irrationale Auswege und ekstatische Verheißungen keinen Ausweg bieten. Allerdings gibt es da einen interessanten Vorbehalt, der sich bei Habermas mit wachsendem Alter herausschält. Verstehen wir Habermas richtig: Zur fortschreitenden Rationalisierung – auch im Sinn seiner kommunikativen Vernunft – gehörte in den 1980er Jahren noch das allmähliche Verschwinden der Religion: Säkularisierung tendiert zu Säkularisierung pur. An diesem Punkt hat er – wie wir im letzten Teil sehen werden – seine Meinung geändert.
Trotz aller Kritik wird Habermas kein Anhänger der Postmoderne. Er besteht darauf: Die Vernunft ist nicht zu kritisieren. Sie ist erst recht ernst zu nehmen.
IV. Religion und liberale Demokratie
4.1 „… und ohne Amen“
In seiner berühmten Rede von Regensburg im September 2006 äußerte sich Benedikt XVI. auch zum Verhältnis von Glauben und Wissen. Der Vernunft räumte er im Glauben einen zentralen Platz ein, zugleich leitete er daraus auch deutliche Ansprüche auf das Wahrheitsverständnis der Gesellschaft ab. J. Habermas, der im Januar 2004 darüber mit Kardinal Ratzinger ein einvernehmliches Gespräch geführt hatte, wurde um eine Stellungnahme gebeten. Er eröffnete diese mit einer eindrucksvollen Anekdote:
„Am 9. April fand in der Stiftskirche St. Peter in Zürich eine Totenfeier für Max Frisch statt. Zu Beginn verlas Karin Pilliot, die Lebensgefährtin, eine kurze Erklärung des Verstorbenen. Darin heißt es unter anderem: ‚Das Wort lassen wir den Nächsten und ohne Amen. Ich danke den Pfarrern von St. Peter in Zürich für die Genehmigung …., dass während unserer Trauerfeier der Sarg in der Kirche sich befindet. Die Asche wird verstreut irgendwo.’ Es sprachen zwei Freunde. Kein Priester. Kein Segen.“
Für Habermas war das eine „merkwürdige“ Form. Der Agnostiker Frisch habe wohl die Peinlichkeit nichtreligiöser Bestattungsformen empfunden. Er habe damit gezeigt, dass die aufgeklärte Moderne „kein angemessenes Äquivalent für eine religiöse Bewältigung des letzten, eine Lebensgeschichte abschließenden rite de passage gefunden hat.“ (47f.)
4.2 Nach dem 11. September 2001
Zu Beginn der 1980er Jahre schien es ihm noch, diese Bewältigung werde sich demnächst einstellen. Kann die säkulare Gesellschaft so etwas höchst Bedeutsames nicht leisten? Braucht man nicht wenigstens den Kirchenraum, wenn auch in verstohlen anonymer Weise? Jetzt klingt das anders, anders schon bei seiner Dankesrede zum Empfang des Friedenspreises des deutschen Buchhandels (14. Okt. 2001), die er einen Monat nach der Zerstörung der Twin Towers in New York (11. Sept.) hielt. Für Habermas wurde da kein erbitterter Streit zwischen der arabischen und der westlichen Welt ausgetragen. Für ihn ist etwas ganz anderes, nämlich die „Spannung zwischen säkularer Gesellschaft und Religion explodiert.“ Diese Interpretation von Habermas ist nun wirklich nicht zwingend, für seine Sensibilität aber umso interessanter. Wie früher – und für viele unmotiviert – spricht Habermas jetzt von der Dialektik des abendländischen Säkularisierungsprozesses und wie früher schon nennt er ihn unabgeschlossen. Plötzlich ist diseser Prozess bedrohlich präsent. Und der Verlauf seiner Rede vermittelt immer weniger den Eindruck, dass sich dieser Säkularisierungprozess irgendwann vollenden, problemlos abschließen wird. Im Gegenteil, dieses Attentat großen Stils gerät ihm zum warnenden Symbol für eine gefährliche Schieflage, die es zu regeln gilt.
Habermas greift zunächst auf seine früheren Theorien zurück: Die Sprache muss auch in dieses sprachlose Geschehen wieder zurückkehren; die Politik muss wieder als verbindende, als international vermittelnde Gestaltungsmacht auftreten. Dann aber beginnt er erneut, über Sinn und Ziele der Säkularisierung nachzudenken. Dabei verwahrt er sich entschieden dagegen (und das ist ein neuer Ton), dass die Auseinandersetzung zwischen Religion und Säkularisierung als das „Nullsummenspiel“ unbarmherziger Konkurrenz verstanden wird. Im nächsten Satz stellt er endgültig einiges von dem auf den Kopf, was er bisher nahegelegt hat. Überraschenderweise spricht er von einer „post-säkularen“ Gesellschaft, ein höchst paradoxer, höchst widersprüchlicher Begriff. Und zum Erstaunen der Insider spricht er davon, dass sich zwischen säkularisierter Gesellschaft und Religion eine dritte Partei einen Weg bahne. Er nennt sie einen „demokratisch aufgeklärten common sense, der offensichtlich zwischen beiden, also zwischen Religion und Säkularität, vermittelt. Er nennt zur Stützung seiner neuen Sicht ungelöste, höchst kontroverse Grenzfragen moralischen Handelns, etwa gentechnischer Eingriffe, bei deren Bewältigung die säkulare Gesellschaft an ihre Grenzen kommt. Religionen dagegen wissen es, klare Werte einzubringen.
4.3 Was ging verloren?
„Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen.
Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.
Die Säkularisierung hat weniger die Funktion eines Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der Tradition umwandelt.
Zwei Gründe bringt Habermas für diese Asymmetrie ins Spiel.
- Auch religiös motivierte Menschen, so der erste, mehr formale Grund, sind Mitbürger, denen – gemäß demokratischen Regeln – Recht auf Gehör gebührt. Auch wenn sie nur eine Minderheit darstellen, in so wichtigen Fragen sind sie doch zu hören; ihre Argumente sind – nach Möglichkeit? – in eine säkulare Sprache zu übersetzen. Man achte auf diese hermeneutische Wende.
- Der zweite Grund bringt eine höchst interessante Beobachtung ins Spiel, die an die Erfahrung in St.Peter/Zürich anschließt. „Säkulare Sprachen, die das, was einmal gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen“. Habermas sagt: „Als sich Sünde in Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Offensichtlich weiß die religiöse Sprache Inhalte, Erfahrungen, Tiefendimensionen zu benennen, die einer säkularen Sprache verschlossen bleiben. Gewichtsunterschiede werden in der säkularen Welt medial vergleichgültigt und plappernd trivialisiert; moralische Empfindungen finden keinen differenzierten Ausdruck mehr. Es gibt ganz offensichtlich eine Ebene persönlicher Tiefenerfahrung, in der „eine ganz andere, als kausal vorgestellte Abhängigkeit ins Spiel“ kommt, und die wird – bis heute jedenfalls – nicht verlustlos vergessen oder verdrängen können. So lautet denn Habermas’ Folgerung: Es geht nicht darum, Religionen zu vernichten, überflüssig zu machen oder ihren Unsinn anzuprangern. Es geht vielmehr darum, sie zu hören und gegebenenfalls zu übersetzen. Für Habermas ist das die Lehre, die wir aus unserer Säkularisierungsgeschichte zu lernen haben. Und er hält diese Geschichte für wichtig, weil wir am Beginn eines weltweiten Säkularisierungsprozesses stehen.
Nun vermute ich, dass Habermas diese Frage nur angeschnitten, sie aber noch nicht genau durchdacht hat. Bei ihrer Thematisierung blieb er noch ungenau. Auch religiöse Aussagen wären erst eingehender auf ihre Sachaussagen, ihre Geltungsansprüche und das Maß ihrer Authentizität, auf die Kraft ihrer symbolischen und ästhetischen Rede zu untersuchen. Auch über den genaueren gegenseitigen Umgang zwischen Frommen und Säkularisierten wäre noch einiges zu sagen und aufzuarbeiten.
4.4 Gespräch mit J. Ratzinger (19. Jan. 2004)
Deshalb komme ich auf das Gespräch zwischen Ratzinger und Habemas zurück. „Einvernehmlich“ nannte ich das damals geführte Gespräch und ich konnte dem damaligen Jubel nicht zustimmen. Kardinal Ratzinger mit einem Weltintellektuellen auf Augenhöhe? Eine epochale Öffnung von katholischer Seite im Namen der Vernunft? Sprachen der Welt- und der Heilige Geist plötzlich mit einer Stimme? Ich war damals wesentlich nüchterner, denn zumindest Kardinal Ratzinger hatte einen merkwürdigen Vorbehalt eingebaut. Wie es Habermas im Namen einer Weltvernunft tat, hat Ratzinger im Namen der Religionen Fehlverhalten und Pathologien eingeräumt. Auch Religionen müssten auf die Vernunft hören, gemeinsam müssten wir hören. Zwischen Vernunft und Glaube besteht nach Ratzinger eine „polyphone Korrelationalität“.
Habermas ließ diese Aussage gelten, und warum auch nicht. Er bestand aber nicht auf der Klärung der Begriffe Vernunft, Rationalität; leider hatte er nicht das letzte Wort. Habermas war konkreter. Er ging vom Standpunkt einer säkular begründeten Demokratie aus und stellte – ganz im Sinne des schon Gehörten – fest: „Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, den gläubigen Mitbürgern nicht das Recht abstreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen.“ Ein ähnliches Zugeständnis hat man von Ratzinger nicht gehört. Müssen/dürfen also auch gläubige Bürger ihren säkularisierten Mitbürgern das Recht zugestehen, in säkularer Sprache Beiträge zu religiösen Diskussionen zu machen? Vermutlich wäre Ratzinger eine solche Korrelationalität zu weit gegangen. Ich vermute, dass der Grund ihrer verdeckten Differenz in einem verschiedenen Vernunftbegriff liegt, über den nicht gesprochen wurde. Ratzinger nämlich belässt es nicht wie Habermas bei jenem formalen Vernunftbegriff, der Überzeugungen im Diskurs in die Kommunikation einbringt. Für Ratzinger ist die Vernunft (die Rationalität, der Sinn) faktisch identisch mit dem göttlichen Logos, der Mensch geworden ist. Dieser Losog geht keine Diskurse ein, sondern offenbart. Das letzte Wort hat also immer diese, für Ratzinger allein legitime göttliche Vernunft.
4.5 Übersetzen statt Verdrängen
„Es macht einen Unterschied, ob man miteinander spricht oder nur übereinander. Dafür müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein:
Die religiöse Seite muss die Autorität der „natürlichen“ Vernunft, also die fehlbaren Ergebnisse der institutionalisierten Wissenschaften und die Grundsätze eines unversalistischen Egalitarismus in Recht und Moral, anerkennen.
Umgekehrt darf sich die säkulare Vernunft nicht zur Richterin über Glaubensfragen aufwerfen, auch wenn sie im Ergebnis nur das, was sie in ihre eigenen, im Prinzip allgemein zugänglichen Diskurse übersetzen kann, als vernünftig akzeptiert. Sowenig die eine Voraussetzung aus theologischer Sicht trivial ist, so wenig ist es dies andere aus philosophischer Sicht.“
Habermas seinerseits greift die Problematik in einer Antwort auf die Regensburger Rede des Papstes (12. Sept. 2006) noch einmal auf. Ich greife für uns nur zwei Gedanken heraus: Der liberale Staat gewährt den Religionen nicht aus pragmatischen, sondern aus prinzipiellen Gründen die gebotene Freiheit. Sie geht davon aus, dass die Gläubigen von ihrem Glauben überzeugt sind, und diese Überzeugung ist uneingeschränkt zu respektieren. Im Gegenzug muss der liberale Staat von den glaubenden Mitbürgern fordern, dass sie dieses Prinzip der positiven Toleranz aktiv teilt. Ferner haben die moderne Gesellschaft und der moderne Staat ihren Weg zur säkularen Vernunft auf der Basis von griechischer Metaphysik und biblischer Tradition zugleich vollzogen. Sie lehnen diese Ausgangspunkte nicht einfach ab, aber sie haben gelernt, darüber in Distanz zu reflektieren. Daraus erwächst eine Erwartung an die gläubigen Mitbürger, dass auch sie zu ihrer ihnen eigenen Glaubenssubstanz in ein reflektiertes, in gewissem Sinn distanziertes Verhältnis treten. Ich meine übrigens, das die meisten unter uns das getan haben und tun. Konkret: Wir glauben nicht mehr, weil uns Schrift oder Kirche das befohlen haben, sondern weil wir kraft eigenen Nachdenkens und kraft unserer verarbeiteten Lebenswelt davon überzeugt sind. Das ist ganz in Habermas’ Sinn.
Habermas besteht auf einem einvernehmlichen Verhältnis mit der Religion, nimmt sie aber durch das Vernunftgebot in die Pflicht.
Schluss: „Leben, als ob es Gott nicht gäbe“
Die Zeit ist fortgeschritten. Deshalb werde ich in äußerster Kürze einige Folgerungen ziehen, die sich aus dem Besprochenen erschließen. Ich gebe sie in prägnanten Habermas-Zitaten wieder Ich beschränke micht auf drei Gedanken.
- Religion steht in der Pflicht
„Der Entschluss zum solidarischen Handeln im Anblick von Gefahren, die nur durch kollektive Anstrengungen gebannt werden können, ist nicht nur eine Frage der Einsicht …“
- Religion hat ein Angebot
Im Licht der … spröden Vernunftmoral begreift man, warum der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – vom Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entgleiten müssen.“
2. Was Religion und Säkularität verbindet
Es geht um die Kraft, „in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität,ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wach zu halten.“.
Mitbürger, die sich als Christinnen und Christen verstehen, können solchen Thesen durchaus zustimmen. Überdies meine ich, dass es unter den Gläubigen viele gibt, die an der faktischen Kraft ihres Glaubens immer wieder zweifeln und an seinen Impulsen doch nicht verzweifeln. In Habermas sehe ich ein Gegenbeispiel, das uns höchsten Respekt abverlangt: immer mehr zweifelt er an der faktischen Kraft der kommunikativen Vernunft, aber er verzweifelt nicht. Im Gegenteil, mit der Kraft seines Diskurses nimmt er den Kampf um eine repressionsfreie Zukunft auf, akribisch analysiert er die gegenläufigen Entwicklungen, um ihnen zu widerstehen. So setzt er sich aktiv für eine gesprächsfähige Zukunft, für humanes Zusammenleben in unserem Kulturraum ein. Gläubige Mitbürger haben dieses Engagement, das auch ihnen gilt, zu honorieren. Sie können es auf dreifache Weise tun, und alle drei kommunikativen Handlungen wären ein – im besten Sinne des Wortes – unverzichtbarer Dienst an Gesellschaft und Staat:
- Sie müssen ihre Überzeugungen reflektieren. In einem modernen, säkularisierten Staat muss ein Christ oder ein Moslem wissen, warum er ein Christ oder Moslem ist.
- Sie müssen ihre Überzeugungen gesprächsfähig machen. In einem aufgeklärten Staat muss ein Christ oder ein Moslem seine Überzeugungen so nach außen hin übersetzen, das nichtgläubige oder andersgläubige Mitbürger seine Überzeugungen auch verstehen können.
- Vermutlich gelingt das dann am besten, wenn gläubige Mitbürger zusammen mit anderen Mitbürgern mit aller Kraft und gemeinsam für ein menschenwürdiges Zusammenleben in unserer Gesellschaft, unserem Staatswesen sowie in einer globalisierten Welt kämpfen.
Letztlich kommen Christen („…kommen wir Christen“, kommen wir Gläubige) angesichts des säkularen Staates immer in eine Situation, die D. Bonhoeffer mit jener tiefgründigen Formel umschrieben hat: Wie müssen so leben, „als ob es Gott nicht gäbe“. Das bedeutet nicht Unglaube, sondern ganz im Gegenteil. Es bedeutet, den Glauben vorbehaltlos in die Welt zu tragen. Habermas kann uns dabei helfen.
(vorgetragen am 17.11.2009)
Literatur:
Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Ff. 1981
Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Ff. 1976
Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V, Ff. 1985
Der philosophische Diskurs der Moderne, Ff. 1986
Strukturwandel der Öffentlichkeit,. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Ff. 1990
Die Moderne – ein unvollendetes Projekt: philosophisch-politische Aufsätze 1977 – 1990 Leipzig 1990.
Wahrheit und Rechtfertigung: philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 1999.
Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Ff. 2001
Der gespaltene Westen, Frankfurt, Suhrkamp, 2004.
Glauben und Wissen (und Laudatio v. Philipp Reemtsma, Frankfurt, Suhrkamp, 2003.
Zwischen Naturalismus und Religion: philosophische Aufsätze, Frankfurt, Suhrkamp, 2005.
Die Einbeziehung des Anderen: Studien zur politischen Theorie, Frankfurt, Suhrkamp, 2005
Dialektik der Säkularisierung: über Vernunft und Religion, und Joseph Ratzinger, Freiburg 2005.
Die postnationale Konstellation: politische Essays,- Frankfurt, Suhrkamp, 2006
Ach, Europa, Frankfurt: Suhrkamp, 2008.
R. Wiggershaus, Jürgen Habermas, Hamburg 2004