Freiheit im Haus des Herrn – Zur Zukunft einer gemeinsamen Kirche

Trotz massiver römischer Widerstände ist der Ruf nach einer Entklerikalisierung der römisch-katholischen Kirche unüberhörbar. Inzwischen ist sie ökumenisch unfruchtbar und in der Öffentlichkeit unglaubwürdig. Doch wirksame Reformschritte müssen komplex sein.

Vorbemerkung: Zur aktuellen Situation

Der Titel dieses Vortrags geht auf ein Buch zurück, das ich vergangenes Jahr veröffentlicht habe. Ich habe es geschrieben aus einer tiefen Verärgerung über die Zustände unserer römisch-katholischen Kirche. Mich interessiert: Woran hängt es, dass wir in den aktuellen Zustand geraten sind, der höchst ernst ist, nach dem Urteil vieler hoffnungslos? Zwei Monate nach meinem Buch stellte Hans Küng die Frage: Ist die Kirche noch zu retten? Thomas von Mischke-Collande hat sie inzwischen verschärft: Schafft sich die katholische Kirche ab? Die Gründe für dieses Kirchen-Elend sind vielfältig. Mir scheint es wichtig, über eine Polemik hinaus die Situation mit einem analytischen Interesse zu betrachten.

0.1 Innerlich polarisierte Kirche

Wir haben es mit einer polarisierten Kirche zu tun. Die wichtigen Gesprächsfäden von unten nach oben sind zerrissen. Vergangenen April ließ der Bischof von Augsburg aus Angst vor 2500 Demonstranten den Dom schließen, was die Verbitterung noch steigerte. Auf mich wirkte dieser Vorfall wie ein Symbol für den gegenwärtigen Zustand. Die Bischöfe haben Angst, wir würden ihnen ihr Heiligstes nehmen. Das aber „gehört“ genauso uns wie ihnen. Deshalb hat die Schließung des Domes die Demonstranten noch mehr verärgert als der Anlass der Demonstration. Sie ließen sich aber nicht vertreiben. Vermehrt flammen Zeichen des Widerstands auf, selbst gemäßigte Mitkatholiken, Männer wie Frauen, erheben inzwischen ihre Stimme. Zu erinnern ist an das Memorandum „Kirche 2011. Ein notwendiger Aufbruch“, das von 311 Theologen unterzeichnet wurde. Noch mehr Aufsehen erregte und erregt der „Aufruf zum Ungehorsam“, den österreichische Pfarrer ebenfalls 2011 veröffentlichten und der in anderen Ländern vergleichbare Nachfolgeaktionen fand. Diesen Aktionen waren die Missbrauchs- und Vertuschungsaffären in europäischen und in amerikanischen Ländern vorausgegangen, die vor spätestens 2010 bekannt wurden und der katholischen Kirche neben etwa 180.000 Kirchenaustritten einen dramatischen Ansehensverlust einbrachten. Nicht einmal jetzt zeigten sich Rom und Bischöfe gesprächsfähig. Um das Fass schließlich voll zu machen, wurden wir vor Kurzem von der „vatileaks“-Affäre überrascht, die die römische Kurie als eine Höhle von ehrgeizigen Emporkömmlingen zeigt. Ob das der Fall ist, sei dahingestellt. Schlimm genug ist, dass sich die Öffentlichkeit diesem Eindruck fraglos anschließt. Wie soll das weitergehen? Die katholische Kirche ist unglaubwürdiger denn je.

0.2 Ökumenisch zerrissene Kirche

Wichtiger als solche Einzelskandale ist der lähmende Stillstand auf vielen Gebieten, die bald nach dem 2. Vaticanum (1962-1965) begonnen hat, zu einer Zeit also, da man auf die Umsetzung der tiefgreifenden konziliaren Impulse hoffte. Nehmen wir die Würzburger Synode (1971-1975), deren an Rom gerichtete Desiderate bis heute noch nicht beantwortet sind. Oder nehmen wir die Ökumene. Mit größtem Elan hatte das Konzil diese Fragen in Angriff genommen, vor allem in den deutschsprachigen Ländern hat man dafür enorm viel Energie verwendet. Der nachhaltige Widerstand Roms führte zu einer Stagnation auf allen Fronten. Symbolisch dafür stand Papst Benedikt im Februar 2011 in Erfurt. Er hatte den evangelischen Mitchristen schlicht nichts zu sagen und wollte auf die evangelischen Christen keinen Schritt zugehen, sondern ließ sie beschämt und gedemütigt in ihrem Erfurt zurück. Als Antwort von katholischer Seite hörten wir vor wenigen Wochen eine entschiedene Reaktion prominenter deutscher Katholiken. „Ökumene jetzt“, lautet der Titel. Aber auch dieser Ruf verhallt in Rom, wo man den „Laien“ ohnehin keine Kompetenz zutraut.

0.3 Nach außen unglaubwürdige Kirche

Unglaubwürdig wurde die katholische Kirche auch nach außen. Die kollektive Erinnerung an ihr Handeln in früheren und jüngeren Zeiten ist alles andere als verlockend. Zahllose Affären der Missachtung könnte man nennen. Ihr Ansehen in Sachen Menschenrechte ist gering, hat sie doch bis heute die Europäische Menschenrechtscharta nicht unterschrieben. Homosexuelle werden diskriminiert, Wiederverheiratete praktisch exkommuniziert, „künstliche“ Geburtenregelung wird (sofern überhaupt möglich) unterbunden und der Gebrauch von Kondomen auch im Falle von AIDS bzw. bei Infektionsgefahr untersagt. Für viele schließen sich diese Missstände nahtlos an die Gewaltgeschichten aus früheren Jahrhunderten (Kreuzzüge, Ketzerfolter, Hexenverbrennungen, Kriege) an. Diese Vorwürfe wirken oft platt und wenig überzeugend und vieles wäre zur Verteidigung der Kirche zu sagen, aber angesichts einer miserablen Gegenwartspresse stößt man auf taube Ohren. Hinzu kommt ein immer noch gestörtes Verhältnis zu den Human- und Naturwissenschaften. Galilei wurde nach 500 Jahren auf zurückhaltende Weise rehabilitiert. Nur wenige von ihren Vertretern fühlen sich als Katholiken wirklich wohl. Ist die katholische Hierarchie wirklich so weltfern und so denklahm?

04. Führt der Gesprächsprozess weiter?

Der neueste Test für eine erneuerte Kirche lautet „Gesprächsprozess“. In einer Gegenoffensive haben ihn die Bischöfe initiiert, der Bischof meiner Diözese hat ihn „verordnet“[!]. Aber schon die Tatsache, dass man den ursprünglichen Begriff „Dialogprozess“ nicht duldete, zeugt von den Schwierigkeiten, die sich für die Bischöfe daraus ergeben. Bislang ließen sie mehr von dem hören, was nicht „verhandelbar“ sei, als von dem Willen, die Gewissen engagierter Christen ernst zu nehmen. Man soll den Ergebnissen nicht vorausgreifen, aber bis jetzt sind die Zeichen nicht auf Gelingen gestellt. Im Folgenden wird es um die Frage gehen, worin die zahlreichen Gesprächsverweigerungen, Missverständnisse und Blockaden begründet sind.

I.   In Strukturen denken

1.1 „Dispositive der Macht“ (Foucault)

Wir Katholiken müssen lernen, nicht nur in Kategorien des guten Willens, der Friedfertigkeit und loyalen Geduld zu denken. Eine jede organisierte Kirche ist zugleich ein Machtapparat; wir müssen lernen, ihre Strukturen zu erkennen, sie realistisch zu akzeptieren, über sie nachzudenken und mit ihnen umzugehen. Dies muss in Nüchternheit geschehen, denn es lässt sich nicht leugnen: Eine jede Gemeinschaft schafft Strukturen. Der französische Strukturalist Michel Foucault (1926-1984) sprach von Strukturen als „Dispositiven“ der Macht. Die Strukturen schaffen also die Disposition für die Art, die Verteilung und die Qualität der Macht, die sich in ihnen entwickelt. Die moralische Qualität der Mächtigen selbst spielt dabei nur eine Teilrolle. Das gilt auch für Bischöfe und Papst. Allerdings wurde in der Moderne der Begriff der Macht formalisiert (Max Weber). Wer über die Dispositive der Macht nachdenkt, muss deshalb auch wissen, dass Macht und Macht nicht dasselbe sind. Die Kirchen nahmen sich religiöse Macht, zumindest eine religiös legitimierte Macht zunutze, die ihre eigenen Gesetze hat. Einige Beispiele seien genannt.

1.2 Argumentative Legitimation

Auch in der Kirche muss Macht (Lehrbefugnis, Entscheidungsbefugnis, Rechtspositionen) begründet werden. Dies geschieht in der Regel mit Hilfe von religiösen, spezifisch christlichen Argumenten. Die wichtigste Standardlegitimation lautet, die machthabenden Personen stünden in der „Apostolischen Nachfolge“, also in einem besonderen Beauftragungsverhältnis zu den Aposteln. Das Amt des Papstes leitet sich speziell von der Nachfolge des Petrus ab. Papst und Bischöfe nennen sich (in verschiedener Intensität) zudem „Stellvertreter Christi“. Suggeriert wird eine besondere Nähe einerseits zu den privilegierten Jüngern Jesu (die alles hörten und miterlebten), andererseits eine besondere Nähe zu Christus selbst (der Stellvertretertitel erhebt zunächst einen politischen Herrschaftsanspruch und ist von den mittelalterlichen Kaisern übernommen). Diese kirchlichen Legitimationen überschreiten Kategorien des notwendigen Zwangs in einer Gesellschaft, der Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit bei weitem. Sie berühren archaische Bindungskräfte, denen viele von uns ausgeliefert sind.

Die große Frage ist: Warum wurde seit dem Mittelalter der Gegenpol einer solchen Argumentation in wachsendem Maße verdrängt? Er besagt: Im Prinzip stehen nach alter Überzeugung alle getauften (und gefirmten) Christen (Männer wie Frauen) in der Apostolischen Nachfolge; die Kirche als ganze ist apostolisch. Warum also lassen sich die „normalen“ Mitglieder der Kirche dieses Argument entwinden? In feudalen Epochen und in Zeiten der Fürstentümer mag man das noch verstanden haben; heute ist es nicht mehr akzeptabel.

1.3 Geschichtliche Verankerung

In unserem Zeitalter werden lebenswichtige Zusammenhänge geschichtlich, also durch ihre Entstehung begründet (vgl. Evolutionstheorie umfassende Welterklärung, die inzwischen die Kosmologie umgreift). Deshalb spielen – zur Zufriedenheit der reformatorischen Traditionen – historische Rückfragen heute auch in der katholischen Kirche/Theologie eine wichtige Rolle. Man beruft sich auf die Schrift, weil sie vom Beginn Auskunft gibt. Man erklärt, dass sich schon im 2. Jahrhundert erste Formen einer Dreiämterstruktur (Diakon-Priester-Bischof) ausbildeten und man verweist auf Paulus, der die Kirche als Leib Christi verstehe (der ohne sichtbares Haupt nicht leben könne). Allerdings überzeugt diese Argumentation nur, solange die katholische Kirche sich auch als Herrin der Interpretation behaupten kann (vgl. Traditionsprinzip). Denn auch hier gilt, dass kein historisches Argument nicht auch einen gegenläufigen Unterbau und einen relativierenden Kontext hat. Die Dreiämterstruktur begann zwar früh, stand aber nicht am Anfang. Die Metapher vom Leib ruft zwar nach einem Haupt, spricht aber auch von den Gliedern. Das paulinische Modell von der charismatischen Struktur wird dadurch relativiert, dass man eine Funktion postuliert, die über deren Legitimität entscheidet. Das war ursprünglich aber kein Bischof oder Papst, sondern die Gemeinde. Man sieht also: Auch die historische Argumentation überzeugt nur dann, wenn ihr eine religiöse Überzeugung von der Legitimität einer Struktur als solcher vorausgeht. Dieser ambivalente Zustand wurde in den Konzilstexten verschleiert und nach dem Konzil nie hinreichend besprochen (Kritiker hat man ihres Amtes enthoben).

1.4 Versprechen der Gewissheit

Umso wichtiger ist die Selbstdarstellung kirchlicher Ämter in Gottesdiensten und Liturgie, denn dort wird Gegenwart Gottes erfahren, also Religiosität eingeübt und konkretisiert; die Hierarchen treten in den Glanz solcher Göttlichkeit. Dabei spielt die Gegenwart der Amtsträger mit ihren sakramentalen Vollmachten eine zentrale Rolle. Von daher erklärt sich, dass große Liturgien in Kooperation mit Fernsehen und Massenmedien so wichtig sind und dass sich die vatikanischen Ereignisse inzwischen als eine Welt in der Welt darstellen. Von daher erklärt sich auch der intensive Populismus autoritärer Päpste (Pius XII., Johannes Paul II.) und ihre Neigung, in prachtvolle Gewänder der Vergangenheit zu schlüpfen und sich auf barocke Stühle zu setzen. Man weiß, dass Johannes Paul II. das Schriftwort „Ich bin bei euch…“ sehr liebte. In ihm konnte er seine Gegenwart mit der Gegenwart Christi verbinden.

1.5 Schlüsselwort: „Klerus“

Die religiös tabuisierenden und deshalb wirksamen Machtstrategien der katholischen Kirche lassen sich im Schlüsselwort „Klerus“ bündeln. Es gibt ihn auch in anderen Religionen, aber er findet im Katholizismus eine spezifische Ausprägung und wurde in der antireformatorischen Periode (1560-1960) besonders ausgeprägt. Klerus meint eine geschlossene, zu strengem hierarchischem Gehorsam verpflichtete Gruppe von sakral legitimierten und mit heiligen Aufgabe betrauten Männern (s. „Männerbund“), die sich für die Qualität, den Bestand und die Zukunft ihrer geheiligten Organisation (hier: der Kirche) verantwortlich wissen. Der Anspruch ethischer Vollkommenheit und die Einhaltung bestimmter Codes wird durch Zölibatspflicht und bestimmte Lebensregeln unterstrichen. Geradezu militärisch geordnet sind die Kleidervorschriften. Eines jeden Rang muss von außen erkennbar sein. Im Folgenden geht es um den höheren Klerus (Prälaten und Bischöfe in allen Stufungen, bis hin zum Papst). Der niedere Klerus (Priester im Pfarrdienst, bei anderen Seelsorgsdiensten und Aufgaben) teilt nur bedingt die Eigenschaften des höheren Klerus, zumal er – schon von ihren Aufgaben her – den nicht „geweihten“ Gläubigen wesentlich näher steht und oft ihre Anliegen teilt.

Wer die Probleme der katholischen Kirche verstehen will, muss das Selbstverständnis und die Funktion ihres (höheren) Klerus verstehen. Ich analysiere ihn hier als eine – in ihrer Machtausübung religiös legitimierte – Wissens-Elite, Führungs-Elite und Heils-Elite im Sinne einer Einbahnstraße. Die Bischöfe etwa verstehen sich als die geborenen Lehrer, Hirten und Priester. Deshalb können sie nicht zulassen, dass sie selbst von „einfachen“ Gläubigen belehrt, geführt oder gesegnet werden. Aus ihrer Perspektive ist die autoritäre Verfassung der Kirche also nicht von außen übergestülpt oder als epochal bedingte Form mitgegeben. Sie ergibt sich von innen aus der Wesensstruktur ihrer Funktionen. Ein interessanter Vergleich: Der preußische König Friedrich Wilhelm IV. lehnte die ihm 1849 angebotene Erbkaiserwürde mit der Bemerkung ab, diese sei nur „aus Dreck und Letten“. Ähnlich würden wohl unsere Bischöfe reagieren, wenn man sie zu Bischöfen wählte.

II.  Problem Wissens-Elite

2.1 Auslegung der Schriften

Fragen des Wissens und des Verstehens spielten im Christentum von Anfang an eine herausragende Rolle. Es gab ja einen reichen Schatz von Schriften (das „Alte“ Testament), die man neu verstehen musste. Ferner spielte von Anfang an die hellenistische Kultur eine entscheidende Rolle (das Neue Testament ist nicht in hebräisch, sondern in griechisch geschrieben), so dass Übersetzungsfragen von kulturellem Ausmaß zu leisten waren (Alexandrien war damals ein Zentrum des Kulturaustauschs; Philos von Alexandrien [gest. um 40 n. Chr.] entwickelte dazu ein hermeneutisches System). Es versteht sich also, dass das junge Christentum von Anfang an komplexe Archive des Wissens anlegte. Zudem war die Identität Jesu von Anfang an umstritten und musste intensiv diskutiert werden. Dabei spielte der Streit zwischen Judenchristen und „Heidenchristen“ vom ersten Tag an eine entscheidende Rolle; anfänglich war er mit dem zunehmenden Ausschluss der Christen aus der Synagoge verbunden. So entsteht bald ein Netzwerk von hochreflektierten Auslegungen, und diese Tradition hat seit dem 3. Jahrhundert zu einer hochdifferenzierten Theologie geführt. Bald war die Lehre wichtiger als die Nachfolge.

2.2 Hellenistischer Kulturraum

Noch wichtiger sind der vollumfängliche Eintritt des Christentums in die hellenistische Kultur sowie dessen volle Akklimatisierung in diesem Denken, in dieser Symbolwelt und in dieser philosophisch anspruchsvollen Bildung. Zudem vergesse man nicht, was es bedeuten musste, dass die Eckpunkte der christlichen Lehre im 4. Jahrhundert zu Teilen des Reichsgesetzes (Dogmen) wurden. Jetzt wird der christliche Glaube in eine Rationalität eingepasst, die die Lehre institutionell verfügbar machte. Sie erlaubte es, eine geistige Einheit zu erzwingen, zu kontrollieren und so politisch-ideologische Macht auszuüben. Sobald aber Glaubensfragen einmal einer verbindlichen Instanz unterworfen sind, kann man nicht mehr zurück. Denn jetzt verlockt immer die Frage, wer denn Recht hat, wie sich das überprüfen lässt und wer das entscheiden kann: Das konnte natürlich der Kaiser, aber nur unter bischöflicher Mitwirkung, oder sie taten es im kaiserlichen Auftrag. Die Frage nach der Wahrheit ist so zur Frage nach der Richtigkeit mutiert; die Nachfolge geriet doppelt ins Hintertreffen.

2.3 Unfehlbare Lehre

Historisch machen wir einen gewaltigen Sprung ins Hochmittelalter und schließlich ins 19. Jahrhundert. Die Denkform mit Namen „juristisch verfügbare Rationalität“ (s.o.) ließ nicht nur Dogmen als Reichsgesetze erscheinen (dies auch im Mittelalter, wohl bis zur Aufklärung), sondern mündete auch – natürlich nach vielfältigen Metamorphosen – in den Rationalismus des 19. Jahrhunderts ein. Dieser war von der Objektivität und möglichst der Messbarkeit wissenschaftlicher Aussagen fasziniert. Die Vermählung beider Rationalitätsformen kulminiert 1870 in der Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit. Der Papst wird in Angelegenheiten des Glaubens und der Disziplin zum höchsten Richter ohne Berufungsmöglichkeit. Seine Lehrvollmacht gipfelt in der Arbeitsweise eines Kassationsgerichts. Ihr Vollzug ist also absolut autoritär; der höchste Richter unterliegt keinerlei Bedingungen. Dafür sieht man auch keine innere Notwendigkeit, denn dieses Denken ist völlig unsensibel für geschichtliche Veränderungen, für Pluralität oder andere kontextuelle und kulturelle Grenzen.

2.4 Bleibt die Kirche in der Wahrheit?

Mit der Kritik am päpstlichen (und allgemein kirchlichen) Unfehlbarkeitsanspruch ist noch keineswegs die Überzeugung aufgegeben, dass die Kirche als ganze in der Wahrheit bleibt. Wer wirklich auf Gottes Geist vertraut, bleibt dieser Hoffnung zugetan. Allerdings müsste man dann erklären können, was unter Wahrheit zu verstehen ist. In jedem Fall ist das metaphysische Wahrheitsmodell abgelaufen. Eine der wichtigsten Gegenwartsfragen des Christentums lautet: Wie bekommt christliche Wahrheit eine neue, auch nach außen überzeugende Gestalt? Wie kann es gelingen, christlich-religiöse Überzeugungen heute in einen säkularen Diskurs zu übersetzen?

2.5 Bischöfe als Lehrer der Kirche

Die hohe Konzentration auf Fragen des Wissens und der Lehre hat zunächst zu einer höchst anspruchsvollen Theologie geführt. Aber spätestens die Auseinandersetzung mit dem Islam in Spanien gab dieser Entwicklung eine bedauerliche Wende: Immer mehr dient die wahre Lehre – wie schon angedeutet – der Kontrolle von Verdächtigen (bist du ein verdeckter Moslem oder Jude?). So geriet die Theologie in die Hände der Inquisition und immerhin ist die heutige römische Glaubenskongregation faktisch die Nachfolgerin der römischen Inquisitionsbehörde. Im Laufe dieser Entwicklung präsentierten sich die Bischöfe immer profilierter als die (streng urteilenden und verurteilenden) Lehrer des Glaubens. Damit verschafften sie sich eine enorme, religiös legitimierte Machtstellung, die sich bei wachsendem Verlust von äußerer politischer Macht deutlich herausschälte. Seit dem 19. Jahrhundert (s. Unfehlbarkeitsdefinition) bildet sich zudem auch auf der Ebene der Bürokratie ein strenges römisches Lehr- und Kontrollmonopol heraus. Damit hat die Wissens-Elite ihre Möglichkeiten perfektioniert. Dieser Prozess dauert bis in die Gegenwart noch an. Der neue Präfekt der Glaubenskongregation bietet dafür beste charakterliche und intellektuelle Voraussetzungen. Immerhin kann er Reformbegehren nur unter der Kategorie des Parasitentums begreifen.

Verdrängt wurde auch hier eine umfassende urchristliche Glaubensüberzeugung: Kraft der Taufe und ihres Prophetentums sind die Gläubigen in ihrer Gesamtheit in die Wahrheit eingeführt: „Ihr habt es nicht nötig, dass euch jemand belehrt; sondern wie euch seine Salbung alles lehrt, so ist’s wahr und ist keine Lüge, und wie sie euch gelehrt hat, so bleibt in ihm.” (1. Johannes 2,27). Entgegen allen strukturellen Regelungen gibt es in Sachen christliche Wahrheit keine Laien.

2.6 Freiheit des eigenen Verstehens?

In Kritik an dieser Entwicklung ist daran zu erinnern, wie in der Kirche die Wahrheitsprozesse legitim vonstatten gehen sollten. Zur Wahrheitsfindung gehören sicher drei Instanzen: Die Schrift (insbesondere die neutestamentlichen Texte), das eigene Gewissen (von Einzelnen und Gemeinden im jeweiligen Diskurs) sowie die Gegenwart (also die ständige solidarische Auseinandersetzung der christlichen Botschaft mit den Fragen und Erwartungen der eigenen Zeit). Die christliche Lehre ist kein statisches Produkt, sondern Ergebnis eines ständigen Austauschs in Praxis und Wort. Solange Wahrheit aber nach dem Modell von Metaphysik und Unfehlbarkeit verstanden wird, kann sie weder Dialoge noch Änderungen zulassen. Das heutige Lehramt folgt noch präzis den Erwartungen, die dieser zeitlose Rationalismus einfordert. Es vermeidet die Solidarität mit den Menschen und der Gesellschaft von heute. Insofern ist es – im negativen Wortsinn – zeit-, d.h. auch gegenwartslos.

 

III. Problem Führungs-Elite

Jede Gemeinschaft braucht Führung. Die Frage ist nur, wie intensiv in den vorliegenden Strukturen die Führungskompetenzen und –ansprüche zu den Geführten selbst rückgekoppelt sind. Wir kennen inzwischen demokratische Lösungen und können sie auch in der Urkirche entdecken. Synodalität und Partizipation sind zwei Begriffe, die in der Kirchengeschichte von frühesten Zeiten an zu Hause sind.

3.1 Vorsprung der Apostel?

Wieder werden die Führungsansprüche von Bischöfen und Papst mit religiösen Legitimationen umgeben. Das „evangelische“ Modell (im Sinn der Evangelien) spricht von den Aposteln als Weggenossen Jesu. Apostel übernahmen später erste Leitungsaufgaben; in diese Erinnerung werden die heutigen Bischöfe gestellt. Ferner hat sich das Paradigma von Hirt und Herde durchgesetzt, obwohl es – biblisch gesehen – von Jahwe als dem Hirten des Volkes handelt. Schließlich gilt der Hl. Geist als die Kraft, die (so der Pfingstbericht) die Apostel in besonderer Weise stärkt (nur sie waren im Abendmahlsaal). Über die Einseitigkeit dieser Zuordnung ist schon gesprochen. Besonders klar zeigt sich das Problem in Mt 18,18, wo die Binde- und Lösegewalt des Petrus (Mt 16,18) mit exakt denselben Worten der Gemeinde als entscheidender Letztinstanz zugesprochen wird: „Alles was ihr auf Erden binden werdet …“ Matthäus, der seine Stücke mit höchster Präzision redigierte, wusste, was er damit tat. Erstaunlich ist nur, dass diese Einsetzung der Gemeinde als höchste Entscheidungsinstanz bis heute praktisch unbekannt ist.

3.2 Übergang zur Staats- und Volkskirche

Ein enormer Zuwachs an formaler Führungskompetenz und formalisiertem Führungsanspruch erwuchs der Führungselite durch den Übergang zur Volks-, dann zur Staatskirche im 4. Jahrhundert (Konstantin und Theodosius). Die Leitung der (Stadt-)gemeinden wird zum öffentlichen Amt und mit dem Purpur der Staatsbeamten ausgezeichnet. Die „Kathedralen“(also die öffentlichen Versammlungsräume und Orte der Rechtsfindung) werden zum Bischofssitz (oft „Stuhl Petri“ genannt). Die Einheit der Gemeinden wird jetzt zum staatspolitischen Projekt, die Einheit des Reiches zur ideologischen Funktion des christlichen Glaubens.

3.3 Zusammenbruch der Stadtstrukturen

Weitere Entwicklungen über Spätantike, Mittelalter und Neuzeit verlaufen komplex, steuern aber, wenn man so will, zielsicher auf eine Monopolisierung der Ordnungsaufgaben in bischöflichen, schließlich päpstlichen Händen zu. In der Spätantike lösen sich die Stadtstrukturen auf; vermutlich verschwinden damit auch die Wahlrechte der Gemeinden. Bekannt ist, dass während des Zusammenbruchs des weströmischen Reichs viele Bischöfe öffentliche Ordnungsfunktionen wahrnahmen. Allmählich – was blieb ihnen anderes übrig – sorgten sie selbst für ihre Nachfolge. Beim Entstehen neuer Stadtstrukturen im frühen Mittelalter erhalten die Gemeinden aber keine Rechte mehr zurück; hier liegt der Sündenfall der Führungs-Elite. Das neue innerkirchliche Selbstbewusstsein der „Laien“ wird als Ketzertum verfolgt und damit endgültig diskriminiert. Vielleicht war diese Entwicklung nicht so dramatisch, weil die „Laien“ in einer „christlichen“ Gesellschaft auch außerhalb der Kirche christlich legitimierte Positionen fanden.

3.4 Päpstlicher Primat

Der päpstliche Primat in seiner modernen Form wurde im Mittelalter grundgelegt (Gregor VII. [1073-85] Gregorianische Reform) und mit gefälschten Urkunden abgestützt. Zuvor schon hat man die Spaltung mit den Kirchen des Ostens in Kauf genommen (1054). Der Höhepunkt wird 1870 mit der Primatsdefinition erreicht. Die Zentralisierung schreitet voran und ist seit 1965 massiver denn je ausgebaut. Auf Mt 18,18 als dem angemessenen Gegenstück wurde schon hingewiesen.

3.5 Säkularisierung zu Lasten der „Laien“

Das Ungleichgewicht zwischen Klerikern und Laien verschärft sich formal mit dem Zusammenbruch der monarchischen Systeme, inhaltlich mit der wachsenden Säkularisierung, denn die geborenen Gegengewichte der „Laien“ fallen weg; viele traditionell anerkannte „weltliche“ Funktionen (in Staatswesen und Bürgertum) werden gegenstandslos, innerkirchliche Funktionen aber nach wie vor verweigert oder strenger klerikaler Kontrolle unterstellt. Die entsprechenden Impulse des Vaticanum II haben sich nicht durchgesetzt.

3.6 Rolle der eigenen Verantwortung

Angesichts der klerikalen Inflexibilität ist es an der Zeit, dass Laien ihre Verantwortungen in eigener (nicht in delegierter) Verantwortung übernehmen, dies entsprechend der Charismenlehre des Paulus. Gemäß ihm ist eine jede Gabe, die der Gemeinde dient, anzuerkennen. Das Recht einer Gemeinde, ihre Gemeindeleiter (Mann oder Frau, verheiratet oder nicht) zu wählen, ist nachdrücklich einzufordern.

IV. Problem Heils-Elite

Mit der Kombination von Wissens- und Führungseliten wurden die Klerikereliten zu einem machtvollen Block. Ihrem Handeln kann kein Argumentierender mehr auf Augenhöhe widersprechen, ein absolutistisches Denken und Rechtssystem gehen eine Symbiose ein. Eine machtvolle psychisch-emotionale Unterstützung erhält diese Akkumulation von kirchlicher Macht durch eine dritte Komponente, nämlich den sakral-priesterlichen Heilsanspruch. Er entwickelt eine ungeheure religiöse Bindekraft, tabuisiert das System und macht es geradezu undurchdringlich.

4.1 Heiligkeit in der Urkirche

Zur Erinnerung: In urkirchlichen Zeiten ist Heiligkeit Sache der Gemeinden und ihrer Mitglieder. Zeuge ist Paulus. Er schreibt: An die Kirche Gottes, die in Korinth ist, an die Geheiligten in Christus, berufen als Heilige mit allen, die den Namen Jesu Christi … anrufen (1 Kor, 1f.). „Heilig“ ist, wer getauft, also von Gott gerufen und auserwählt ist. Das Heilige selbst ist in Handlungen, nicht in Gegenständen gegenwärtig. Alle Charismen sind geheiligt, weil sie im Handeln (nicht durch eine Position) der Sache Gottes dienen. In diesem Sinn spricht das NT mit großem Nachdruck vom Allgemeinen bzw. Gemeinsamen Priestertum. Faktisch hebt dieser Gedanke das besondere Amtspriestertum auf. Insofern hat eine christliche Kirche priesterlos zu sein. Das bedeutet nicht, dass sie keine Gemeindeleitung nötig hätte. Die Frage ist also nicht, ob und wie wir Priester bekommen, sondern wie wir unsere Gemeindeleitungen auswählen und (stilvoll, d.h. mit einem angemessenen Ritus, etwa der Handauflegung) ins Amt einführen. Urkirchlich gesehen sind es nämlich die Gemeindeleiter (Männer oder Frauen), denen der Vorsitz im Gemeindegottesdienst zusteht, nicht die Priester, die das prinzipielle Recht zur Gemeindeleitung hätten.

4.2 Erste Monopole: Taufe und Eucharistie

Natürlich gilt auch hier soziologische Nüchternheit. Jede Gemeinschaft braucht Identitätszeichen, die man in einer Religion mit Signalen des Sakralen umgibt. Das sind die Taufe und die Eucharistie. Genau diese Zeichen aber heben uns nicht aus Gemeinschaften heraus, sondern fügen uns in deren Gemeinschaft, in deren „heiliges Handeln“ ein. Es geht also immer um gemeinschaftliche Vollzüge.

Dabei ist nicht zu vergessen: Heiligkeit ist kein spezifisch religiöser Begriff. Er ist noch intensiver im Bereich politischer Macht zu Hause. Die Frage lautet also nicht: Ist etwas heilig oder nicht, sondern: Ist Heiligkeit das Signal erhabener Machtentfaltung (und schrecklicher Machausübung) oder das Signal z. B. der gemeinschaftlichen Nachfolge Jesu?

4.3 Mystischer und wirklicher Leib Christi

Eine epochale Wende erfährt die Erfahrung von Heiligkeit erst im 2. Jahrtausend. Symptomatisch dafür ist der Abendmahlstreit des 11. Jahrhunderts, in dem über die reale Gegenwart Christi im Sakrament diskutiert wird. Zuvor war die eucharistische Gegenwart Christi immer als „mystisch“ umschrieben; es ging also um keine materielle, massiv dingliche Gegenwart (worauf die Reformation später hingewiesen hat). Jetzt wird diese Gegenwart als real und als wirklich umschrieben. In dieser Linie liegen im 13. Jahrhundert die Einführung und der ungeheure Aufschwung des Fronleichnamsfestes, das man später antireformatorisch instrumentalisierte. Man will – ähnlich wie im Reliquienkult – etwas sehen, orten und anfassen können; das Heilige wird dinglich. Noch wichtiger scheint mir die Kehrseite dieser Bewegung zum Sakrament als Sache. Die Kirche, mit Paulus immer als (realer) „Leib Christi“ verstanden, wird jetzt – so noch der heutige Sprachgebrauch – zum „mystischen Leib“ herabgestuft; Kirche wird zum mystischen Leib. Mit der Verdinglichung des Sakraments wird der Priester nun endgültig zum Sachwalter des Heiligen. Nachdem alle kirchlichen Ämter [von nichtssagenden Ausnahmen abgesehen] die Priesterweihe voraussetzen, sind alle kirchlichen Ämter tabuisiert. Als Heils-Elite hat man die Wissens-Führungs-Elite endgültig unangreifbar, über alles Menschliche erhaben gemacht. Vielerorts ist der Priester immer noch mit der Aura des unangreifbar Heiligen umgeben.

4.4 Anleihen von politischer Macht

Wie schon gesagt, ist Heiligkeit immer mit Machterfahrung verbunden und umgekehrt. Diese Missbrauchsgefahr ist erkannt, aber noch heute scheut sich das gegenwärtige (katholische) Kirchensystem keineswegs vor der Inanspruchnahme massiver Einflussnahmen auf Gemeinden und auf die Öffentlichkeit; dies in Deutschland mehr als in anderen Ländern (Stichwort: hinkende Trennung von Kirche und Staat). Diese Interessen spielen mit, wenn Hierarchen die Hochschätzung priesterlich-sakramentaler Würden einfordern. Deshalb ist eine massive Kritik an der (katholischen) Qualität des Heiligen notwendig.

4.5 Neuansatz im II. Vaticanum?

Vor diesem Hintergrund ist die konziliare Neuentdeckung des Gottesvolkes und des Gemeinsamen Priestertums (Kapitel II der Kirchenkonstitution) von höchster Bedeutung. Allerdings erlaubten die Machverhältnisse auf dem Konzil keine konsequente Regelung. In Kapitel III wird über die Hierarchie geredet, als sei Kapitel II nicht geschrieben, und ohne allen exegetischen Anhalt wird zwischen dem „besonderen“ und dem „gemeinsamen“ Priestertum erneut ein Unterschied „nicht nur im Grade, sondern im Wesen“ konstatiert. Man kann eine solche Aussage vom Inhalt her als eine Nullaussage ignorieren (worin der Unterschied liegt, wird nicht gesagt), doch als Differenzansage bleibt sie höchst wirkungsvoll.

 

4.6 Zusammenfassend:

Mit der Selbststilisierung einer Sondergruppe zur Wissens-, Führungs- und Heils-Elite in einem, hat sie sich zugleich über die „einfachen“ Kirchenmitglieder erhoben und diese zur Restgruppe degradiert. Allem Anschein nach ist diese erlesene Gruppe auf Grund ihrer Selbstprivilegierung, Selbstisolierung und Kirchenferne unfähig geworden, sich selbst und die Kirchengemeinschaft zu reformieren. Der Restgruppe der Gläubigen bleibt somit nur übrig, sich auf ihre Qualitäten im Sinne des Neuen Testaments zu besinnen und die Reformen selbst in die Hand zu nehmen. Denn die bedrohliche Krise der katholischen Kirche ist ihre große Chance: aus folgenden Gründen stehen dafür die Zeichen gut.

V. Krise und Chance

5.1 Enormer Einbruch à Neubegründung

Die aktuelle Krise ist nicht einfach auf das Versagen der nachkonziliaren Kirchenleitungen zurückzuführen. Sie ist in erster Linie den herrschenden Strukturen und Ideologien geschuldet, die im Zeitraum von vielen Jahrhunderten entwickelt wurden. Kurz gesagt: Die katholische Kirche ist immer noch einem mittelalterlichen Paradigma (H. Küng) verhaftet, das in den vergangenen Jahrzehnten endgültig zusammenbrach. Diese Entwicklung ist ernst zu nehmen, denn sie geht Hand in Hand mit einem massiven, bislang unerhörten Umbruch in der abendländischen Kultur. Auch ohne die aktuelle Sonderkrise täten wir gut daran, endlich wieder vornizänische Zeiten (Konzil von Nizäa, 325) und biblische Verhältnisse in Erinnerungen zu rufen, um aus ihnen zu lernen. Anders bleiben wir gegenüber dem unabwendbaren Glaubensverlust hilflos.

5.2 Geschichte realisieren à Hellenismus

Unabhängig von den Kirchenverhältnissen ist neu zu lernen: Biblische Wahrheit und Wahrheit im Sinne der Nachfolge können nicht mehr – gut hellenistisch – in unbewegliche/überzeitliche Kategorien eingemauert und durch sie sichergestellt werden. Ideologiekritisch ist anzumerken: Ein solches Wahrheitskonzept hat schon immer Herrschaftsinstanzen und –instrumente stabilisiert. Zudem ist dieser Grundansatz mit dem biblisch prophetischen Ansatz der christlichen Botschaft unvereinbar. Wahrheit ist immer relational, von ihren Wirkungen und Rückwirkungen abhängig. Dies zu erkennen, bedeutet für die christliche Lebenspraxis eine ungeheure Chance.

5.3 Ausschluss der Getauften

Dass es irgendwann zur Degradierung der Getauften zu „Laien“ kam, ist für heutige Verhältnisse geradezu unbegreiflich. Offensichtlich war es Folge der „Volkskirche“. In ihr war es normal, also eine Konvention, getauft zu sein. Sie hatte mit Bekehrung, prophetischem Eifer oder einem religiösen Engagement nichts mehr zu tun, vielleicht Folge der Säuglingstaufe als bürgerlichem Ritual. Wer sich als Christ profilieren wollte, musste dies durch herausragende Aktivitäten und besondere Positionen in der Kirche (im Klerus oder Ordensstand) erweisen.

Diese Epoche der Volkskirche ist aber abgelaufen. Heute in einer Gemeinde engagiert zu sein, schon das ist Zeichen von entschlossenem Christsein. Deshalb verändern die engagierten „Laien“ in der Kirche schon seit Jahrzehnten das Kirchenbild radikal, ohne dass dies jemand bemerkt. Der aktuelle Priestermangel ist ja nicht einfach auf die Zölibatspflicht zurückzuführen, sondern intensiver noch auf die Erfahrung: Für ein besonderes christlich-kirchliches Engagement muss man nicht Priester (oder Ordensperson) sein. Manche fügen sogar hinzu: Gerade wegen der hochprivilegierten Position der Kleriker ist deren Christsein mit besonderen Gefahren belastet, die auf sich zu nehmen die Nachfolge Jesu nicht gebietet. So gesehen ist die dreifach abgesicherte Monopolposition der Kleriker jetzt schon von innen her entmächtigt. Wenn die aktuelle Entwicklung weitergeht, werden sie als Frühstücksdirektoren ohne relevante Funktionen enden. Die Zukunft innerhalb der römisch-katholischen Kirche gehört den Laien.

5.4 Autorität und Legitimität?

Diese Entwicklung zeigt jetzt schon erste Auswirkungen. Wie sich zeigt, reichen die formalen Autoritätsansprüche nicht mehr aus, um das Volk bei der Stange zu halten. In den Auseinandersetzungen werden inhaltliche Argumente und Kriterien verlangt. Je mehr man sich an die alten Regeln der Partizipation und Synodalität (sagen wir: der Demokratie) erinnert, umso mehr werden von den Kirchenleitungen inhaltliche Rechtfertigungen verlangt. Zudem ist in Anschlag zu bringen: Keine Absicherungen durch ein Corpsbewusstein mit all seinem intransparenten und autoritären Gehabe, kein Amt ohne Wahl wird in Zukunft überzeugen. Gegenüber den selbstbewussten Amtsträgern ist folgende Frage ständig zu wiederholen: Mit welchem Recht und mit welcher Legitimation, Herr Bischof, nehmen Sie dieses Amt in Anspruch? Haben wir überhaupt legitime Bischöfe, einen legitimen Papst?

5.5 Rechte, Kompetenzen, Würde

Dieses neue Bewusstsein muss in einem neuen Rechtsfundament seinen Niederschlag finden. Für ein Kirchliches Grundgesetz ist Vorarbeit geleistet (inzwischen hat Rom sieben Vorentwürfe abgewiesen). Es hat aufzubauen auf einem modernen Rechtsbewusstsein, das die Menschenrechte voraussetzt und bestätigt. Daraus ergibt sich ein Rechtssystem, in dem zunächst die (gleichen und wirksam zu schützenden) Rechte aller zu regeln, und alle Ämter als Dienste an der Gemeinschaft zu gestalten sind. Damit wird der spezifisch religiöse bzw. christliche Charakter einer kirchlichen Gemeinschaft nicht vernachlässigt, sondern zeitgemäß zur Geltung gebracht.

5.6 Eigenverantwortlich handeln

Gebot der Stunde ist es, dass die Mitglieder der Kirche (ihrer Gemeinden und anderer Gemeinschaften) lernen, eigenverantwortlich zu handeln. Dies ist der christlichen Botschaft angemessen, denn alle Würde und alle (innerlich bindende) Verpflichtung geht aus von den Getauften und ihrem gemeinsamen Projekt einer zeitgemäßen Nachfolge. Entscheidend für besondere Verantwortungen und Funktionen sind die Bereitschaft der Betroffenen und deren Kompetenz. Auch über die Prüfung solcher Kompetenzen haben die Gemeinden/Gemeinschaften zu entscheiden. Für die Übergangszeit, d.h. für die Zeit der offiziellen, umfassenden und autoritär noch aufgezwungenen Blockaden sind – zum Wohle der Gesamtkirche! – offene Kritik und ein kalkulierter Ungehorsam unverzichtbar.

5.7 Entklerikalisierung unverzichtbar

Spätestens seit 1965 hat die Kaste der Kleriker mit ihrer oben beschriebenen Selbstprivilegierung ihr Daseinsrecht verloren. Dafür sprechen massive biblische, zeitgeschichtliche, soziologische, kurz: innerkirchliche Gründe. Die Folge wird kein Zusammenbruch der Kirche, sondern der Weg in eine verheißungsvolle Zukunft sein. Aus kulturellen Gründen wird er schwierig genug bleiben, aber aus menschlichen Gründen wird die Kirche zugleich gefragter sein denn je.

(Vortrag vom 02.09.2012)