Die Kirchen haben noch nicht begriffen, welch große Chancen ihnen die Säkularisierung der Gesellschaft bietet. Nur ein Christentum, das auf die Weltfragen eingeht, und nur ein Religionsgespräch, das sich um die Überlebensfragen der Welt kümmert, werden gehört und haben Zukunft.
Stadt ohne Gott?
Harvey Cox berichtete in Stadt ohne Gott (1967) von einem Zirkus, der in Brand gerät. Der Zirkusdirektor schickt den Clown in das nächste Dorf, um Hilfe zu holen. Der Clown eilt in das Dorf und ruft um Hilfe. Aber je lauter er ruft, umso mehr lachen die Leute: „Gut machst Du Deine Sache! Ein toller Clown bist Du!“ Der Zirkus aber brennt nieder, weil dem Clown niemand glaubt. Für H. Cox ist die „Stadt ohne Gott“ keine Wunschprojektion, sondern eine Tatsachenbeschreibung. Deshalb setzt er sich dafür ein, dass die Theologie endlich eine zeitgemäße, d.h. für ihn: eine säkulare Sprache findet. Die Menschen haben das Recht, die Wahrheit von Gott in einer zeitgemäßen Form zu finden. Solange eine Kirche ihre Sache in alte Vorstellungen verkleidet und zudem in mittelalterlichen (wenn auch schönen) Gewändern vorträgt, nimmt man sie nicht ernst. Warum? Natürlich weil der Hilfesuchende als Clown daherkommt. Warum hat er sich nicht in normales Zivil gekleidet?
Der junge Joseph Ratzinger, damals Professor in Tübingen, leitet das erste Kapitel seines Buches Einführung ins Christentum (1968) mit dieser Geschichte ein (33-36). Aber er gibt ihr von vornherein eine andere Wendung. Bei Ratzinger haben Christen/Theologen gar keine andere Wahl, als in die Rolle von Clowns zu schlüpfen. Das Missverständnis wird von den Leuten im Dorf verursacht. Anders gesagt: Man nimmt die Rufe in jedem Fall der Clowns wahr; man lacht über ihre Botschaft. Das Dümmste was die Rufer deshalb tun können ist es, so Ratzinger, sich modern einzukleiden.
Vergessen wir nicht, dies geschieht nur zwei Jahre, nachdem man in Rom das große Dokument über die Kirche in der Welt verabschiedet hat. Wir haben es damals schon als Ermutigung zur säkularen Welt gelesen. Ratzinger dagegen dreht in Einführung ins Christentum den Spieß um und schreibt: „Genügt der geistige Kostümwechsel, damit die Menschen freudig herbeilaufen und mithelfen, den Brand zu löschen, von dem der Theologe behauptet, dass es ihn gebe und dass er unser aller Gefahr sei? Ich möchte sagen, dass die tatsächliche abgeschminkte und in modernes Zivil gekleidete Theologie, wie sie vielerorten heute auf den Plant tritt, diese Hoffnung als recht naiv erscheinen lässt. Freilich ist es wahr: wer den Glauben inmitten von Menschen, die im heutigen Leben und Denken stehen, zu sagen versucht, der kann sich wirklich wie ein Clown vorkommen, oder vielleicht noch eher wie jemand, der, aus einem antiken Sarkophag aufgestiegen, in Tracht und Denken der Antike mitten in unsere heutige Welt eingetreten ist und weder sie verstehen kann noch verstanden wird von ihr.“ (35)
Dieselbe Doppeldeutigkeit findet sich schon in der Einleitung zum selben Buch. Dort verweist Ratzinger auf das Märchen vom Hans im Glück, der seinen Besitz für immer weniger eintauscht: den Goldklumpen für ein Pferd, dieses für eine Kuh, die Kuh für eine Gans und diese für einen Schleifstein, den Hans schließlich ins Wasser wirft. Ich meine, man müsse dieses Märchen als eine Gewinngeschichte lesen: Wer Lasten abwirft, und seien sie noch so wertvoll, gewinnt Freiheit. Dieser Hans gewinnt schließlich sein ganzes Glück. Ratzinger liest das Märchen aber als Verlustgeschichte. Denn er denkt an den Glauben als einen verfügbaren Besitz, „den man allzu drückend empfand, stufenweise herunterinterpretiert, immer so wenig, dass nicht Wichtiges verloren schien, und doch immer so viel, dass man bald darauf den nächsten Schritt wagen konnte. Und wird der arme Hans, der Christ, der vertrauensvoll sich von Tausch zu Tausch, von Interpretation zu Interpretation führen ließ, nicht wirklich statt des Goldes, mit dem er begann, nur noch einen Schleifstein in Händen halten, den wegzuwerfen man ihm getrost zuraten darf?“ (27f)
Diese Interpretation Ratzingers scheint mir deshalb geradezu prophetisch, weil er mit diesen beiden Geschichten die spätere Polarisierung der Kirche vorweggenommen hat. Die Geschichte auch der Kirche geht ihren Gang; die Welt geht ihren Weg. Wie aber interpretieren wir sie? Sehen wir in den inner- und außerkirchlichen Entwicklungen Gewinn oder Verlust? Benedikt XVI. scheint nichts als Verlust zu entdecken. Ich versuchte oben zu zeigen, dass wir uns mitten in einer Geschichte des Gewinns und der Erneuerung befinden. Und dennoch gibt es laufend Rückschläge zu verschmerzen. So eindeutig ist es eben nicht, was wir gerne als Gewinn verzeichnen. Hat Ratzinger mit seinen defätistischen Interpretationen nicht doch recht, vielleicht zum Teil recht? Wie kann es sein, dass die Kirchen immer leerer werden, engagierte Weltprojekte (etwa der Mission oder der Entwicklungshilfe) immer weniger werden, dass der Reformimpuls gerade bei jungen Menschen dramatisch abnimmt? Darauf müssen wir trotz allem Optimismus eine Antwort geben. Ich möchte Ihnen folgende Hauptfrage vorlegen:
Werden Christen in der Welt von heute nicht mehr verstanden, wenn/weil sie sich in die Clowns einer vergangenen Zeit verkleiden? Oder werden sie nicht mehr verstanden, wenn/weil man den christlichen Glauben verlacht und nicht mehr verstehen will? Ich glaube, dass niemand von uns eine simple Antwort geben kann. Wenn wir sie hätten, würden wir uns im Streit um ein zukunftsfähiges Christsein leichter tun. Ich möchte die zwiespältige Situation an Hand von vier Gesichtspunkten konkretisieren:
Vier Gesichtspunkte zum Nachdenken
1. Unverdaute Frustrationen und mangelnde Konsequenz
Die junge niederländische Autorin Désanne van Bederode ist, wie sie berichtet, die Tochter eines „mit viel Schmerz und Mühsal ausgetretenen“ Jesuiten. Leidend musste sie als Kind und Jugendliche mit ansehen, dass ihr Vater diesen Karrierebruch nie wirklich verarbeitet hat; die Mutter litt mit und immer wieder jammerten sie über die katastrophalen Entwicklungen in der niederländischen katholischen Kirche. Jetzt hat sie die Nase voll vom hilflosen nachkonziliaren Gejammer. Sie fragt sich, warum die Traumatisierten (ihre Eltern und viele andere) in ihren Schmerz so verliebt sind. Sie verhalten sich wie ein Schmerzgeplagter, der sich weigert, zum Zahnarzt zu gehen. Lieber nimmt der Schmerztabletten. Wo bleibt der Befreiungsschlag, der ihren Eltern endlich einen eigenen, konstruktiven und kreativen Weg für eine neue Zukunft öffnet?
Frau van Bederode hat den kritischen Punkt vieler Reformorientierter in der katholischen Kirche getroffen. Viele von uns lehnen das aktuelle klerikale System ab. Sie haben gute Gründe dafür und leiden persönlich darunter. Dennoch fügen sie sich einem System, das sie als autoritär empfinden und das sie zu Untertanen macht. Sind diese Leidenden nur inkonsequent oder haben sie überzeugende Gründe für ihre Eselsgeduld? Ist es – in den Augen von jüngeren Menschen – nicht die Geduld von Eseln, denen es an Mut zur Konsequenz fehlt oder die gar in diesen Schmerz verliebt sind? Dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass jüngere Menschen sich unserem Projekt einer in Christus befreiten Kirche nicht anschließen. Sie entdecken in uns zu viel Selbstmitleid und zu wenig Freiheit.
2. Scheu vor offener Auseinandersetzung und kontrolliertem Ungehorsam
Inzwischen sind die Zustände in der katholischen Kirche für viele unhaltbar geworden. Wegen des Priestermangels bricht die klassische Seelsorge in Westeuropa zusammen. Die meisten Gründe, die für die umfassenden Strukturreformen vorgetragen werden, sind vorgeschoben. Man reagiert auf den Priestermangel, den man im Grunde nicht beheben will.
Zugleicht gibt es inzwischen hinreichend theologische Überlegungen, ernstzunehmende Dokumente und Veröffentlichungen (von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart), die klarlegen: Das Recht einer Gemeinde auf eine regelmäßige Eucharistiefeier bricht den von der Hierarchie verschuldeten Priestermangel. Man hebt das Zölibatsgesetz nicht auf und lässt – schlimmer noch – Frauen nicht zur Ordination zu. Die Konsequenzen sind eindeutig. Nicht im Regel-, aber im Ausnahmefall kann eine Gemeinde die Eucharistie ohne Mitwirkung eines rechtmäßig ordinierten Priesters feiern. Überdies wächst die Zahl der ordinierten Frauen (und Bischöfinnen). Doch in den Gemeinden kommt es nur selten zu einem kontrollierten Ungehorsam. Wenn es zu ihm kommt, wird nicht offen über ihn gesprochen. Was sind die Gründe für diese enorme Zurückhaltung?
Der Fall „Recht auf Eucharistie“ ist nur ein Beispiel für viele eklatante Fälle, die eine offene Auseinandersetzung und einen kontrollierten Ungehorsam erfordern. Kontrolliert nenne ich einen solchen Ungehorsam, wenn er wohl reflektiert, gemeinsam besprochen, durch Schrift und theologische Argumente gerechtfertigt ist. Anders gesagt: Zur Pflicht wird ein solcher Ungehorsam, wenn er nur aufdeckt, dass die Kirchenleitungen gegenüber der christlichen Botschaft ungehorsam sein. Ich meine: Nur solche Akte des Ungehorsams zeigen, dass es uns mit der Erneuerung der Kirche wirklich ernst ist. Man muss die Öffentlichkeit nicht suchen, aber man sollte sie nicht scheuen. Sonst bleibt über allen unseren Versuchen der Verdacht einer Unglaubwürdigkeit bestehen, die niemanden anzieht.
3. Umgang mit einer neuen Jugendkultur
Dass unsere Kultur im Umbruch ist, ist inzwischen ein Gemeinplatz, aber niemand zieht daraus Konsequenzen. Befragen wir Fachleute: Bei jungen Menschen (in vollem Durchbruch seit dem Jahrgang 1992) gilt nicht mehr die Logik der Wortes, sondern die Logik des Bildes; wir sprechen vom iconic turn. Schon in früheren Jahren (etwa Jahrgang 1980) gilt nicht mehr die institutionelle Festlegung und Bindung, sondern das Ereignis oder Event, aus dem diese Generation religiöse Inspirationen zieht. Wir klagen darüber, dass junge Menschen nicht mehr an unseren Standardgottesdiensten teilnehmen, aber zu (überlangen und sehr teuren) Rockkonzerten gehen. Überdies bedauern wir, dass neben Taizé auch die Weltjugendtage von Erfolg gekrönt sind. Übrigens gibt es an vielen Orten erfolgreiche Gottesdienste für Jugendliche. Aber diese Gottesdienste widersprechen nicht nur dem klassischen Kanon christlicher Liturgie, sondern enttäuschen auch unsere ästhetischen und theologischen Erwartungen.
Ich meine, dass wir an diesem Punkt gründlich umlernen müssen. Die Frage lautet: Haben junge Menschen nicht das Recht, ihre eigenen Vorstellungen von Frömmigkeit und Gottesdienst zu entwickeln? Vielleicht verurteilen wir zu schnell als konservativ, was einfach einer anderen Denk- und Vorstellungsweise entspricht. Können Jugendliche in unseren Gemeindegottesdiensten hinreichend zu Wort kommen und gibt es Gottesdienste, zu denen sie ihren eigenen Zugang finden? Es ist Zeit, dass die Jugendkultur in unseren Gemeinden akzeptiert, jedenfalls – in Akzeptanz und Kritik – ernstgenommen wird.
4. Spielt die Welt in unseren Gemeinden eine Rolle?
Seit über 150 Jahren hat die Theologie gegen die Einebnung des Glaubens in weltimmanente Dimensionen gekämpft. Vor etwa 50 Jahren wurde die anthropologische Wende proklamiert: Die Frage nach Gott sollte als Frage nach dem Menschen interpretiert werden. Das Vorhaben hatte nur teilweise Erfolg, denn wir haben die Menschen als abstrakte Einzelne, vielleicht noch als Familienverband aus dem Rest der Gesellschaft herausoperiert, in jeder Einzelexistenz also deren religiöse Tiefe gesucht (in Tagungen, Exerzitien, Selbsterfahrungsgruppen). Den anderen Religionen und Kulturen oder der Gesellschaft mit all ihrer Dynamik haben sich nur Fachleute zugewandt. So ist etwa die Befreiungstheologie zwar sehr geachtet, aber sie blieb etwas für Lateinamerika und ist bei uns nicht angekommen. Mit dieser Beschränkung auf das Individuum konnten wir den alten religiösen Raum retten, mussten aber zusehen, wie uns die Welt wirklich davonläuft. Spielt sie in unseren Gottesdiensten, in unserer Spiritualität, in unseren Predigten wirklich eine Rolle?
Dabei muss es doch auffallen, welchen Erfolg die Versuche haben, interreligiöse oder weltethische Fragen und Religion miteinander zu verbinden (vgl. nur das von Hans Küng initiierte „Projekt Weltethos“). Ich stelle deshalb folgende Thesen zur Diskussion. Sie sollen einige zentrale Punkte des Vortrags hervorheben und besprechbar machen.
Thesen zur Diskussion:
These 1:
Nicht das Christentum verändert die Zukunft, sondern die Zukunft verändert die Christen.
Diese These spricht wohl für sich selbst. Schon lange sind die Zeiten vorbei, da die Kirche als „Mutter und Lehrmeisterin“ auftreten und der Welt sagen konnte, wie sie sich zu verhalten hat. Wir selbst, so christlich und so fromm wir auch sein mögen, sind ein Teil dieser Welt und tragen deren Veränderungen in uns. Das Christentum ist also in einem Prozess ständigen Umlernens begriffen. Was lernen wir von der Welt?
These 2:
Die christliche Gemeinde wird sich von unten und als Dienstleisterin neu organisieren.
Diese These setzt zwei Akzente: Christliche Gemeinden müssen sich von unten her neu organisieren, wenn sie sachgemäß mit der Welt umgehen wollen. Kirche ist für die Menschen da und Menschen erwarten von den Gemeinden – vor Ort und im Weltmaßstab – Hilfe. Deshalb schlage ich vor, dass sich die christliche Gemeinde die Frage stellt, was die Menschen von uns erwarten können. Es geht um geistliche und materielle Hilfe und Solidarität. Deshalb spreche ich von der Gemeinde als Dienstleisterin. Damit werden Gemeinden und Kirchen nicht auf Dienstleistungen reduziert (um mit J.B. Metz zu sprechen: Neben der Politik ist die Mystik unverzichtbar), aber sie werden einem Kriterium unterstellt, das unsere konkreten Schwächen entlarvt und unsere wahre Kreativität stimuliert.
These 3:
Neue Kennzeichen werden sein: Spiritualität und Interreligiosität.
Diese These weist darauf hin, dass sich in unseren Gemeinden die Frage der Spiritualität neben der Dienstleistung eine zentrale Stelle erobern muss. Sie ihrerseits ist heute nicht ohne interreligiöse Begegnungen denkbar.
These 4:
Diese Kennzeichen zwingen uns dazu, die traditionellen Grenzen aufzulösen; das Christentum schafft keine Institutionen mehr, sondern Impulse.
Diese These überspitzt einen Akzent, um das dahinterliegende Problem zu verdeutlichen: Es sollen keine Institutionen abgeschafft werden, aber die Kirche ist überorganisiert und überinstitutionalisiert. Deshalb sollten ihre institutionellen Aspekte im Augenblick eher relativiert werden. Die Welt (Jugendliche zumal) schaut auf uns, damit wir ihr mit Impulsen und Inspirationen aufhelfen. Die Polarität von Institution und Ereignis war schon immer ein Thema. Wenn eine Gemeinde nicht mehr zum Ereignis wird, sich in ihr also nichts mehr ereignet, wird sie vor Langeweile sterben.
These fünf:
Eine globalisierte Welt schafft säkulare Religionen. Die Frage wird sein: Wie können wir säkular sprechen von Gott, seinem Heil und einer versöhnten Menschheit?
Diese These richtet die Aufmerksamkeit auf ein Phänomen, das ich als neu erfahre. Lange Zeit hat sich die Welt säkularisiert, also zunehmend aus der Obhut von Kirche und Religion befreit. Dies geschah oft im Streit, in harter Kritik und in gegenseitiger Ablehnung. Inzwischen ist viel von der Wiederentdeckung der Religion die Rede. Ich sehe darin keine Rückkehr zu alten Verhältnissen, sondern zur Entdeckung der säkularen Welt, dass sie aus religiösen Impulsen Vorteile, Hilfe, manche Orientierung gewinnen kann. Dieser „Rück-Entdeckung“ muss aber auch eine freundliche Reaktion von Seiten der Kirchen und Religionen folgen. Es geht darum, dass wir es lernen, unsere religiöse Botschaft in säkularen Worten und vor einem weltweiten Horizont zu formulieren. Es geht um Gott als dem Ursprung der gesamten Menschheit, um die Versöhnung aller Menschen, um ein Glück, das alle Dimensionen des Menschlichen einbezieht.