In den vergangenen Tagen erreichten uns gehäuft Meldungen über eine seltsam missionarische Initiative von Atheisten. Nach dem Vorbild von London sollen jetzt auch in deutschen Städten Busse mit dem Slogan fahren: „Es gibt (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott.“ Die Reaktionen sind heftig; die meisten Stadtwerke lehnen die Initiative ab. Viele überzeugt Glaubende hingegen erklären, sie hätten damit keine Probleme.
Einleitung:
Interessant ist weniger der Inhalt der Mitteilung, sondern die Situation, die diese Mitteilung spiegelt. Der Glaube an Gott ist schon lange nicht mehr selbstverständlich, damit aber noch lange nicht ausgestorben. Zugleich ist schon lange unklar, was Glaube an Gott eigentlich bedeutet. In dem Maße nämlich, in dem in unserer Gesellschaft nämlich der Glaube an Gott seine Selbstverständlichkeit verlor, zerbrach unter den Gläubigen der Konsens über ihre eigene Grundüberzeugung und -praxis. Man glaubt auf verschiedene Weise; man konzentriert sich auf einen spezifischen Kern, klammert sich an greifbare Schale oder lässt den Glauben in eine allgemeine Grundhaltung, wenn nicht gar Grundstimmung zerfließen; die Gottesbilder haben ebenfalls ihre Eindeutigkeit verloren. Thomas Rüster charakterisiert dieses Problem als Entflechtung von Christentum und Religion; darauf komme ich später zurück.
Ähnliches gilt für alle Phänomene, die man unter dem Begriff „Atheismus“ zusammenfasst. Mit dem Atheismus etwa eines Richard Dawkins kann ich nicht viel anfangen, weil der von ihm abgelehnte Gott meilenweit von meinem eigenen Gott entfernt ist; sein Atheismus kann geradezu als eine glänzende Säuberung des Gottesbildes von vormodern nativen Elementen gelten. Daneben gibt es einen höchst engagierten, existentiellen Atheismus, der alle Enttäuschungen verarbeitet, die es im Namen von Glaubenden gibt und gegeben hat; man könnte ihn „Protestatheismus“ nennen. Schließlich gibt es einen Atheismus, der vielleicht dem Glauben im spezifischen Sinn gegenübersteht und ihm zugleich sehr verwandt ist. Eine Kirche als Institution kann keine solcher Haltungen eins zu eins repräsentieren. Sie steht nicht für eine faktische Form des Glaubens (oder Unglaubens), sondern für den christlichen Glauben als sozial realisierbarer Norm. Dabei nimmt sie selbst eine bestimmte Gestalt ein. Sie lässt sich nicht problemlos in die Alternative „Christentum – Religion“ einordnen, vielmehr ergreift sie immer schon innerhalb diesem Spannungsfeld eine bestimmte Option.
I. Was sind Religion und Kirche?
Die Pastoralkonstitution „Kirche in der Welt von heute“ (Gaudium en Spes) hat genau dieses Problem thematisiert und gezeigt: Es gibt weder den Glauben an sich, noch eine bestimmte verbindliche Glaubensgestalt. Es gibt auch nicht den christlichen Glauben neben der Religion, sondern es gibt eine religiöse und eine säkulare Seite der einen Münze, die wir christlichen Glauben nennen. Religion ist im elementaren Sinn immer nur eine Eigenschaft, eine hinzukommende Präzisierung und Klarstellung eines Handelns oder Ereignisses.
1.1 Religion
Sachgemäß lassen sich Religionen als kulturelle Erscheinungen bestimmen. Hier seien die wichtigsten aufgezählt. Als kulturelle Erscheinungen ermöglichen sie für ihre Angehörigen in jedem Fall eine geregelte Kommunikation mit bestimmten Redeweisen, Symbolisiereungen und Ritualen. Wie aber wird diese Kommunikation religiös?
– Zum Religiösen gehört immer ein institutionalisierter und kommunizierender Selbstausdruck. Schon daraus folgt unmittelbar, dass Religion immer schon als implizite Religion, als invisible religion beginnt. Andernfalls würde dieser Selbstausdruck von ihren Mitgliedern nicht instinktiv verstanden. Religiösen Symbolen und Handlungen eignet eine tiefe Selbstverständlichkeit, in der die Handelnden (Individuen oder Gemeinschaften) ganz bei sich selbst sind. Es drückt Freude und Trauer aus, Verbundenheit, Erkennen und Anerkennung, Treue oder Sorge, Verpflichtung, vielleicht auch Trennung.
– Dieser Selbstausdruck wird immer in einer zweckfreien, weil sinnbesetzten Darstellung vermittelt. Natürlich wollten die Religionen damit etwas zum Ausdruck bringen, aber das zum Ausdruck Gebrachte an sich bewirkt auf der Ebene sichtbarer Kausalität nichts. Es ruht und wirkt in sich. Es kann berichten, darstellen, große Szenarios entfalten. Diese existieren aber auf der Ebene der Imagination. Sie präsentieren sich theo- oder anthropomorph, als Geister, als naturale oder als dämonische Kräfte. Eine Religion entwickelt mythische Züge. Hier liegt der Grund, weshalb Religionen oft von „der Welt“ reden, sich also zum Gegenüber der Welt erheben und in Gefahr sind, welt-fern zu werden.
– Zugleich hat eine religiöse Handlung oder Kommunikation immer einen deutenden Charakter. Ihre Deutungen beziehen sich – tendenziell oder wirklich – immer auf die gesamte Welt. Gemeint ist die gesamte Welt, die die Handelnden als solche erfahren (und eine weitere, „entscheidende“, „tiefere“, „eigentliche“ Wirklichkeit beziehen. So wird Die Wirklichkeit – wie auch immer – als anders gedeutet und wahrgenommen, in verschiedenen Stufen der unmittelbar empirischen Realität entrückt.
Hier bricht die große Frage auf: Nehmen Menschen – unbewusst oder in freier Interpretation, wider Willen oder in freier Bejahung – den faktischen Gang der Welt als die entscheidende deutende Realität an oder auf, oder setzen sie ihr eine andere Realität entgegen? Die Hauptgefahr aller Religionen sind ihre Ideologien, die Ausgrenzung oder Verherrlichung und die Legitimation oder Verteufelung vitaler, politischer, ökonomischer oder anderer kultureller Mächte (man denke an die Leibnegation der griechischen Philosophie.
– Die „Achsenzeit“ (6.-2. Jh. v. Chr., Begriff von K. Jaspers) fügt in viele Religionen den Gedanken des Jenseitigen, der Transzendenz ein. Zum ersten Mal setzt sich der Gedanke durch, dass sich die Macht, der wirklich religiöse, also letztgültige Verehrung zukommt, dem irdischen Zugriff entzieht. Sie ist nur bedingt sichtbar oder prinzipiell unsichtbar. Sie äußert sich nicht oder nur in einem bestimmten Rahmen. Sie kann nicht verzweckt werden. Dadurch erhält auch die Rede von der Macht des Jenseitigen, von Gottes Macht also, eine merkwürdige Brechung, die nie zur Ruhe kommen kann. Macht wird selbst zur Metapher für Macht, wie „Gott“ – so P. Tillich – zum Symbol für Gott wird.
– In diesem Rahmen bildet sich der Gedanke vom Einen Gott (Monotheismus) heraus. Dabei ist bis heute nicht entschieden, ab wann genau dieses „Eins“-Sein numerisch verstanden und/oder metaphorisch überhöht wird. Die Fachleute unterscheiden zwischen einem bloßen „Henotheismus“ und einem voll ausgebildeten „Monotheismus“, ähnlich wie auch die „Drei“ der Trinität der Einheit des göttlichen Wesens nicht widerspricht. Unbestritten ist hingegen die Folgerung: Spätestens im Monotheismus nimmt eine Religion die Welt und die Menschheit als ganze und Eine in den Blick. Dass ausgerechnet der Monotheismus mit seiner enormen Friedens- und Versöhnungspotenz zur Quelle von Gewalt werden kann, ihre Ambivalenz also nicht hinter sich lässt, bedarf keines Beweises.
– Spätestens auf dieser Ebene bilden Religionen selbständige Lehren und Moralen aus. Es entstehen bestimmte Vorstellungen von Offenbarung, vom Weltbeginn und vom Weltende. Jetzt ist die Grundlage dafür gegeben, dass man überhaupt von einer „Religion“ im gängigen aktuellen Wortsinn sprechen kann.
Dieses gestufte Modell macht eine fundamentale Tatsache klar, die Fromme und Atheisten heute gerne vergessen:
– Eine Religion an sich gibt es nicht; sie wird immer von Menschen oder von Gemeinschaften vollzogen. Eine Religion (auch das Christentum) ist nie besser als die Menschen, die ihre Inspirationen umsetzen, sie prägen und in ihrem Namen handeln.
– Solange eine Religion vollzogen wird, lässt sie ihre ambivalenten Grundelemente nie hinter sich: implizite Vorformen und sichtbare Gestalt, Auseinandersetzung mit der Realität und Imagination, deutender und ideologieanfälliger Charakter, Ringen mit und Scheitern an der Transzendenz, Schwanken zwischen Gewalt und Versöhnung. Je differenzierter eine Religion entwickelt ist, umso klarer treten diese Ambivalenzen zutage.
– Deshalb ist auch kein religionsfreies Christentum denkbar. Christentum produziert immer in dem Augenblick Religion, an dem es sein Verhältnis zu Gott und zur Transzendenz zum Ausdruck bringt. Daraus folgt noch nicht, dass neue Formen unmittelbar als religiöse Formen erkennbar sind.
– Religionskritik ist als institutionalisierte Selbstläuterung unverzichtbar. Sie darf aber nicht zur Illusion führen, das Christentum stehe über den Religionen, denn solche Religionskritik ist auch anderen Religionen eigen (Judentum, Islam, Hinduismus Buddhismus)
1.2 Kirche
Was Kirche ist und wie man sie objektiv definieren soll, ist mir alles andere als klar. Ich tröste mich mit dem Hinweis, dass die Kirche sich selbst lange Zeit nicht systematisch definiert hat; Kirchentraktate mit der Frage, was Kirche an und für sich ist, beginnen erst seit dem 12. Jh. Gestalt anzunehmen. Das ist der Zeitpunkt, an dem rechtliche Elemente, strukturelle Regelungen und Fragen der geistlichen Vollmacht überwiegen.
Doch dieser Ansatz ist fragwürdig. Denn ursprünglich versteht sich Kirche also eine Gemeinschaft derjenigen, die an Jesus als ihren Messias glauben, ihm also vertrauensvoll nachfolgen. Erst seit dem Mittelalter wird Kirche als organisatorische Einheit gesehen; in offiziellen römisch-katholischen Kreisen ist das bis heute so geblieben. Diese Kirche hat das Christentum ganz wesentlich zur Religion gemacht, gemeint ist eine machtbesetzte und definitionswillige, obrigkeitlich gestufte Religion. Bis ins 20. Jh. hinein Haben wir Religion in Gestalt der Kirche als eine Macht erfahren, die unsere Kultur weitgehend definierte; sie lieferte für unser Zusammenleben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine grundlegende Ideologie.
Hier setzt nun das Problem ein, das uns seit Beginn der Neuzeit in wachsendem Maße zu schaffen macht: Der christliche Glaube, repräsentiert in den offiziellen christlichen Glaubensinstitutionen („Kirche“ und „Kirchen“), hat seine verfügbare, ideologisch prägende Funktion für unsere Kultur verloren und dieser Prozess des Bedeutungsverlusts hat in unserer Epoche einen Grenzwert des Verschwindens erreicht.
Ich möchte diesen Prozess nicht als Entflechtung von Christentum und Religion definieren. Wo Christentum lebt und sich als solches zeigt und darstellt, ist es per definitionem religiös, weil es auf Selbstexpression, Imagination, umfassende Weltdeutung und auf eine jenseitig umfassende Macht hinweist, weil es also immer die Funktionen der Orientierung, der Selbstexpression und der spirituellen Vertiefung in sich führt. Ich möchte die Säkularisierungsprozesse eher als eine Entwicklung verstehen, in der das Christentum vom dominierenden zum dialogischen Gesprächspartner zurücksinkt. Man kann das auch als einen Prozess der Normalisierung verstehen.
Vor diesem Hintergrund verstehe ich Kirche also als eine Gemeinschaft von Christinnen und Christen, die wie selbstverständlich ihre christliche Tradition und Inspiration in das Gespräch ihrer eigenen Gesellschaften und Staatswesen einbringen. Dazu gehören ihre ideologischen/religiösen Werte, ihre Menschenbilder, ihre Bilder von Gemeinschaft, ihre Zukunftsvisionen und ethischen Vorschläge zur Weltgestaltung. Dazu gehören auch bestimmte Praktiken und Inspirationen: Liebe bis hin zur Feindesliebe; Bejahung des Andern bis hin zur unbedingten Gewaltfreiheit; ja, zur Freiheit der anderen bis hin zur Übernahme der Verantwortung und Gewährung von Vergebung; Weltbejahung bis hin zum respektvollen Umgang mit der Natur und deren Schutz.
Dabei ist Kirche (an anderen Gemeinschaften vergleichbar) mehr als die Summe christlicher Einzelhandlungen, nämlich ein hochentwickeltes und hochorganisiertes. weltweit agierendes gesellschaftliches System, das auf allen Ebenen gesellschaftlicher, selbst staatlicher Wirklichkeit handlungsfähig ist, dies innerhalb der Institutionen und Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Systeme. Daraus ergeben sich besondere Fragen und Probleme zum Verhältnis von Kirche sowie ihrer Institutionen einerseits und ihren individuellen Angehörigen andererseits. Darauf gehe ich nicht näher ein.
Doch mache ich auf einen anderen Aspekt aufmerksam: Dass Christen dies alles tun, ist an sich selbstverständlich. Natürlich ziehen sie sich Christinnen und Christen nicht in geistige Wüsten und Einsamkeiten zurück. Auch entwickeln sie innerhalb ihrer Gesellschaft nicht nur Mini-Kontrastgesellschaften (die sehr heilsam und heilend sein können), sondern wirken durch ihr je individuelles und durch ihr gemeinsames Handeln auf ihre Gesellschaften ein und treten in einen Austausch mit ihr.
An diesem Punkt treten notwendigerweise ein Perspektivenwechsel und eine Perspektivendoppelung ein. Unvermeidbar ist die Frage: Wie kann ich – über meinen faktischen Einfluss auf eine Gesellschaft hinaus – diese Gesellschaft selbst im Rahmen ihrer eigenen Regeln und Gesetze teilen und wie kann ich dies im Rahmen demokratischer Verhältnisse tun? Das setzt seinerseits voraus, dass ich mich auf die Regeln dieser Gesellschaft einlasse, zu ihren Werten in Beziehung trete, mich mit ihren Ideologien auseinandersetze. Darin spielt die Tradition der Ideologiekritik eine entscheidende Rolle. Entscheidend ist dabei auch die Reflexion auf die eigenen Ideologien, sofern diese aus den eigenen partikularen Interessen entstanden und heute noch wirksam sind.
Dieses Gesetz des gegenseitigen Austauschs gilt in ganz hohem Maße für die christlichen Gemeinschaften, sofern diese Gesellschaften geradezu Kinder der christlichen Tradition bzw. zutiefst in christliche Traditionen und in Auseinandersetzungen mit christlichen Kirchen verwoben sind.
II. Privatisierung von Religion?
Der Begriff der Privatisierung von Religion benennt ein kompliziertes Phänomen, das sich empirisch überprüfen lässt. Er benennt zugleich eine programmatische Aussage, dies entweder mit einer religionskritisch atheistischen oder mit einer aufklärerischen Zielsetzung eingesetzt wurde. Inzwischen hat der Begriff eine komplizierte Debatte ausgelöst. Sie reagiert auf das, was wir in der Regel die Wiederentdeckung von Religion nennen.
Empirisch beschreiben lässt sich die Tatsache, dass Religion in Westeuropa seit Beginn des 19. Jhs. in wachsendem Maße in den Raum des Privaten zurückgedrängt wurde, sich zurückdrängen ließ, sich den Raum des Privaten erobert hat. Drei Facetten des Phänomens sind bedenkenswert.
(1) Religion wurde politisch zurückgedrängt. Ich nenne die Trennung von Kirche und Staat, nachdem sich mit der Religion offensichtlich kein Staat mehr machen ließ. Dass dieser Prozess in verschiedenen Ländern verschiedene Formen angenommen hat, sei nur nebenbei erwähnt. Man vergleiche nur die höchst unterschiedlichen Wege von Frankreich und von Deutschland.
(2) Religion ließ sich zurückdrängen, denn die Religion hatte diesem Prozess nicht viel entgegenzusetzen. Was hier passiert, lässt sich als Prozess innerhalb der Zivilgesellschaft beschreiben. Die Naturwissenschaften, die Staatswissenschaften, die Anthropologie usw. haben von Seiten der Religion und der Kirche keine Inspirationen mehr erfahren (vgl. Evolutionstheorie, Psychologie, Gesellschaftstheorie). Sie konnte mit der beginnenden Differenzierung der Öffentlichkeit nicht Schritt halten.
(3) Schließlich hat sich Religion den Raum des Privaten auch aktiv erobert. Denn dieser Privatisierungsprozess hatte und hat durchaus auch positive Seiten. Religion wurde zur Frage der individuellen und existentiellen Entscheidung, die höchst private, intime, individuelle Wurzeln aktivierte. Diese Privatisierung hat die Kirchen ungeheuer dynamisiert, wurde überdies von den evangelischen Kirchen stark vorangetrieben. Man darf ja nicht vergessen, dass Religion immer schon höchst private Erfahrungen und Lebensdimensionen bearbeitet: Es geht um Ursprung und Ende, um Geburt und Tod, um Schmerz, Versagen und gemeinsame Verbindlichkeit und Schuld und Versprechen. Es geht schließlich um die Frage: Wer bin ich? Insofern schließen in der Religion private und öffentliche Komponenten einander nicht aus.
Der programmatische Charakter des Satzes von der Privatisierung der Religion hat schließlich mit den Verdrängungsprozessen von Seiten der Öffentlichkeit und der staatlichen Macht zu tun. Natürlich ist dieses Programm kritikwürdig. Denn seien zwei ergänzende Bemerkungen gestattet.
Zum einen: Ganz offensichtlich haben sich die christlichen Kirchen als gesprächunfähige und gesprächsunwillige Machtblöcke in den Gesellschaften des 19. Jh. erwiesen.
Zum andern: dieser Prozess des Machtverlusts hat innerhalb der Kirchen einen wichtigen Prozess der Besinnung und Selbstreinigung in Gang gesetzt: Es ging um die neue, um die neu konzentrierte Frage: Was ist denn christliche Identität unserer Lebenswelt, Lebenspraxis, anspruchsvollen Institutionen?
Denn, wie sich heute zeigt, kann und konnte Religion ja nie einfach verschwinden. Die Privatisierung der Religion, die oft zur Entchristlichung der Gesellschaft führte und heute dramatische Formen annimmt bzw. angenommen hat, hat der überlieferten Religion oft nur ihre Identität nehmen, religiöse Elemente aber nicht verdrängen können. Es entstanden „zivile“ Religionen und parareligiöse Erscheinungen. Gerade sie sind dem ideologischen Druck herrschender Verhältnisse oft hilflos ausgeliefert, denn sie haben den gängigen Verhaltensweisen und Überzeugungen oft nichts Angemessenes entgegenzusetzen. Von der ehemals dominierenden Religion bleiben oft nur Formen, Effekte, Oberflächenphänomene, psychische Paraformen übrig.
Inzwischen gilt die „Privatisierung des Religion“ nicht mehr als tauglicher Begriff, um die gegenwärtige Situation zu beschreiben. Denn
(1) Der Begriff des Privaten verschiebt sich oder löst sich auf.
(2) Die Religionen treten neu an die Öffentlichkeit. Sie melden politische Ansprüche an. Sie tun es teils für sich selbst, teils aber – was noch wichtiger ist – für andere.
(3) Es zeigt sich: Ohne die Frage nach einer letzten gemeinsamen Identität kann eine Gesellschaft nicht miteinander kommunizieren. Zwar ist der Umgang mit dieser Letztidentität schwierig und sperrig, denn das Reden über einen letzten Sinn fällt immer wieder auf ein letztes Bekenntnis, eine letzte Überzeugung zurück.
Dagegen geht die aufgeklärte Rationalität immer wieder an. So zeigt sich in wachsendem Maße eine Polarität zwischen letzter Sinnbegründung und deren kritischer Besprechung. Religionskritik und die Berufung auf transzendente Werte, Gründe oder Instanzen bedingen einander. Dabei lebt dieser Diskurs von den konkreten Religionen, die in einer Gesellschaft gegenwärtig sind. Es fällt auf: Sie vervielfältigen sich in dem Maße, als unsere Gesellschaft komplexer wird und kritisch auf Weltanschauungsansprüche reagiert. Im Rahmen einer demokratischen Kultur können sie sich in die Diskurse einmischen. Sie müssen allerdings damit rechnen, dass sie im Maße ihrer Rationalität ernst genommen, gehört und durch die Stimme konkurrierender Religionen relativiert werden. Wir leben in der Epoche eines veröffentlichten, aber zugleich pluralistischen Diskurses von Religion.
In diesem neuen Rahmen lässt sich das Christentum noch einmal betrachten.
III. Erzählen als spezifisch christliche Kommunikation
Wider die Privatisierung von Religion? Natürlich, muss ich das biblisch-christlicher Perspektive betonen, denn die biblisch-christliche Botschaft ist eine durch und durch politische und öffentliche Angelegenheit. Dabei greife ich gerne auf die Impulse zurück, die wir in den 1960er und 1970er Jahren von der Theologie der Hoffnung, der Befreiungstheologie und der Politischen Theologie gelernt haben.
Der Kern des Gesagten ist schnell zusammengefasst. Er bezieht sich auf den durch und durch öffentlichen Charakter des biblisch-christlichen Glaubens. Die biblisch-christliche Botschaft handelt von Gottes Kommen und der Gestalt seines Reichs, also vom Ziel der Geschichte, die sich mit der Wiederkunft des Messias erfüllen wird. Es ist eine durch und durch zeitliche Botschaft, Zeitansage schlechthin. Es dauerte bis ins 20. Jahrhundert, bis diese spezifische Charakter wiederentdeckt wurde, nachdem ihn griechisches Denken und die Stabilisierungstendenzen der Institution Kirche ruhig gestellt hatten. Sie formten die Botschaft, die durch und durch Ansage, performatives Sprachgeschehen, Beendigung der Warte-Zeit ist, zu einer Mitteilung von Wahrheiten um. Dagegen hatten der Charakter der griechischen Sprache, die Zeitferne der hellenistischen Philosophie und die Funktionalisierung der christlichen Lehre zu einer Staatsideologie die Zeitimpulse stillgestellt.
Erzählung als Wandlung: …
„Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist am Kommen. Kehret um, und glaubt an das Evangelium“. Das ist ein Paukenschlag, der sich von außen aufdrängt, von keinen Kontexten und Bedingungen abhängt, denn er will sie selbst schaffen. Die Frohe Botschaft, der es zu glauben gilt, spricht von der Erfüllung dieser messianischen Zeit, in der die Mühen dieser Zeit abfallen: Gefangene werden befreit, Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt. Ausgerufen wird ein Gnadenjahr, das soziale Lasten abstreift und alle ohne Ausschluss wieder in die Gemeinschaft der Beschenkten aufnimmt. Gewiss, ein jeder Mensch als solcher wird angesprochen: Verfehlungen werden vergeben. Wir haben keinen zürnenden, sondern einen Goitt zu erwarten, der alle in sein Reich aufnimmt. Aber diese individuellen Komponenten der Botschaft sind nur die Innenseite eines hochpolitischen Vorgangs. Hoffnung ist die einzige Haltung, die uns ungehindert begleiten kann. Die Botschaft wird schließlich so sehr von der Hoffnung auf das Heil aller geprägt, dass sie von der Botschaft der Auferstehung allen Fleisches gekrönt wird. So wird die christliche Botschaft zu einer sieghaften, einer rebellischen Botschaft, zu einer Botschaft vorbehaltloser Gerechtigkeit. Kein einziger, sei er lebendig oder tot, wird vergessen.
Die Zukunft ihrerseits wird so radikal und ohne Behinderung gedacht, dass sie als gegenwärtig erscheint, jedenfalls in der Gegenwart schon wirk. Dass Gott gegenwärtig ist, widerspricht griechischem Denken. Biblisches Denken dagegen setzt sich damit auseinander. Franz Rosenzweig schreibt:
„Die Schechina, das Niederlassen und Wohnen Gottes unter den Menschen, ursprünglich auf der Bundeslade und im Tempel auf dem Zion, kann als eine Selbstunterscheidung Gottes vorgestellt werden. Gott verschränkt sich nicht nur, um Menschen Freiheit einzuräumen; er unterscheidet sich von sich selbst, um auf ihren Irrfahrten bei ihnen zu sein. Den die Himmel der Himmel nicht zu fassen vermögen, wohnt bei seinem Volk und geht mit seinem Volk ins Exil. Jedes Schema-Israel-Bekenntnis bekennt darum nicht nur den einen Gott, sondern „vereinigt“ auch Gott und bringt seine Schechina aus der Fremde heim zu dem Ewigen.“
Es ist für die Situation des christlichen Glaubens in unserer Kultur bezeichnend, dass zur Wiederentdeckung dieser Spuren religionskritische, wenn nicht gar atheistische Philosophien beigetragen haben. Ich nenne die Kritische Theorie der Frankfurter Schüfe (Adorno. Horkheimer, Benjamin). Sie haben auf die radikale Andersheit des wirklich Wahren und auf die ideologische Verdorbenheit unseres Denkens hingewiesen. Ich nenne die Philosophie der Hoffnung von Ernst Bloch. Ich nenne schließlich die Befreiungstheologie, die das politische Denken wieder in das christliche Theologische Denken hineingetragen hat. Letztere hat den religiösen Charakter nie geleugnet. Sie hat aber dies deutlich gemacht: Die christliche Botschaft überragt ihren unverzichtbaren religiösen Charakter im aktuell gebräuchlichen Wortsinn. Sie zeigt, dass die christliche Botschaft ihre Wurzeln in einer widerständigen Lebenspraxis, in der Solidarität mit den Verlorenen und Entrechteten, gerade nicht in der Zustimmung zu den Etablierten hat.
Sie gibt damit einen Hinweis auf die vor-religiöse Sinnfrage, die gerade in einer säkularisierten und pluralistischen Gesellschaft gestellt ist Wenn das Christentum im Raum der Öffentlichkeit eine biblisch-christliche Botschaft sein will, muss sie sich auf diese ihre Identität besinnen, indem sie sich von ihren ideologischen Verfälschungen entflechten lässt. Zu diesen Verfälschungen gehören nicht nur ihre Verflechtungen in vielfältige Interessen (sozialer, ökonomischer, kultureller Art), sondern auch in fundamentale Verblendungen, die damit gegeben sind. Zu ihnen gehören: ihr illusorisches Überlegenheitsbewusstsein, ihre Selbstüberhebung über die Zeit sowie ihre vermeintliche Geistigkeit, die alle irdisch-materiellen Dimensionen überwindet. Genau sie macht uns ja für politische, intellektuelle und ökonomische Ideologisierungen so anfällig.
Haben wir damit eine spezifisch christliche Eigenschaft von Religion und Religiosität berührt? Ich bin da nicht so sicher. Ich vermute, dass wir damit schon die Identität von mindestens drei Religionen berührt haben: von Judentum, Christentum und Islam. Ich bin mir nicht sicher, ob wir nicht auch den Buddhismus in dieser Weise interpretieren sollen oder können.
So stellt sich die Frage: Wo können oder wo sollen wir denn die spezifische Eigenart des Christentums, des Judentums, des Islam (und der anderen Religionen) … finden? Wir haben oben allgemein von der Eigenart der Lebensform „Religion“ gesprochen und verschiedene Eigenschaften erwähnt, u.a. auf ihre Funktion des Selbstausdrucks, der Orientierung und der spirituellen Vertiefung gesprochen. Eine zentrale Eigenschaft haben wir bislang ausgeblendet. Religionssoziologen weisen auf Folgendes hin: Bei jeder Selbstverständigung einer Gesellschaft, Kultur oder Gemeinschaft (geschehe dies nun säkular oder religiös) laufen alle Linien auf eine Ursprungsbestimmung hin: Wo kommen wir her? Aus welchem Ursprung können wir unsere Identität bestimmen? Alle Identitäten, die in einer Gesellschaft miteinander konkurrieren, verständigen sich über „kollektive Erinnerungsarbeit“ (K. Eder).
An diesen Gesichtspunkt setzt die Frage nach der spezifisch christlichen Identität mühelos an. Das Christentum ist – übrigens über alle konfessionellen und denominationalen Grenzen hinweg – wie selbstverständlich über den Weg seiner kollektiven Erinnerungsarbeit gekennzeichnet. Es identifiziert sich durch die Erinnerung an Botschaft, Taten, Geschick, Leben, Tod und neues Leben des Jesus von Nazareth. In dieser Erinnerung enthüllt sich was Messianität und Hoffnung auf Gottes Reich bedeutet. So gesehen ist christliche Identitätsarbeit Arbeit am Evangelium, konkreter: an den Evangelien.
An diesem Akt des Erzählens wird der Fragenkomplex von Privatisierung und Öffentlichkeit, individueller und politischer Dimension der christlichen Botschaft noch einmal deutlich. Dieses Erzählens teilt alle Eigenschaften des elementaren Grundaktes der Narrativität: Wer erzählt, ruft Vergangenes in die Gegenwart. Zeitliche Grenzen werden nicht überschritten, indem Zeitlosigkeit behauptet wird (wie in der Lehre oder im dogmatischen System). Zeitliche Grenzen werden überschritten, indem das Vergangene hier und jetzt, unter den gegenwärtigen Umständen und in diese Umstände hinein, rekonstruiert werden (Lyotard würde von De-Konstruktion sprechen).
Nicht genügend kann beachtet werden, was dieser Prozess der Rekonstruktion bedeutet: Er vollzieht sich im Dreieck von erzählter Geschichte, Erzähler und Hörer. In diesem Dreieck entsteht immer ein Prozess der Neuinterpretation, der sich nicht mehr objektivieren, festlegen, bestimmen lässt. Der vorliegende Text ist nur scheinbar eindeutig; er verlangt nach Auslegung. Der Erzähler bildet zwischen Text und Hörer eine Zwischenstufe. Er will vielleicht Neues sagen, bindet sich aber mit dem Text seines Gedächtnisses in den Ursprung zurück. Die Hörer schließlich stehen frei im Rahmen ihre neuen, anderen, empirisch gegebenen Lebenswelt, ihrer Biographie, ihrer Projektionen.
Ich kann nicht festlegen, was sie verstehen müssen, wie sie es zu verstehen haben. Ihr neues Verstehen ist reine Faktizität, eine Konkretion von zuvor Unausgesprochene, Erwartetem Befürchtetem, vielleicht Ersehntem. Ähnlich wie in der Geschichtsschreibung kann nie die Frage sein: Was muss ich jetzt schreiben, sagen, verstehen? Zwingen im Sinne physischer Kausalität kann mich ohnehin niemand. Es ist hingegen die Frage: Wie kann, wie darf ich etwas verstehen, neu aussagen, neu aufschreiben? Der Ursprung zwingt mit nicht, sondern gibt mir die Erlaubnis zu neuem Verstehen. Er schafft also Freiheit zu meiner individuellen und kollektiven Identität. Steht am Ende eines solchen Hören und Verstehens blanker Unsinn, interessenbezogene Ideologie, die reine Beliebigkeit? Nichts kann ich ausschließen, und deshalb tun kollektive Systeme (die Kirchen etwa) gut daran, diese Verstehensprozesse durch selbstkritische Reflexion zu begleiten. Dennoch steht im Kern solcher Erinnerungsprozesse eine andere Erfahrung. Es ist die Erfahrung: diese Jesusberichte, diese „gefährlichen Erinnerungen“ ans Jesu Tod und Auferstehung tragen in sich die ideologiekritische, die wahrheits- und freiheitsorientierte Potenz zum Beginn von Gottes Reich, zum Heil. Es ist eine Potenz, die die Grenzen und Interessen einer Kirche prinzipiell übersteigt, die die Welt und die gesamte Menschheit zum Thema hat. Diese Erfahrung heißt in der Tradition der Kirchen Vertrauen auf den Heiligen Geist.
Christen berichten ihre – vom Ursprung her inspirierte – Erfahrung mit der Botschaft vom Reich Gottes. Dieses Erzählen an sich hat öffentliche Relevanz. Wer erzählt, braucht sich nicht vor missionarischer Aktivität zu fürchten. Denn Berichten verhält sich immer quer zum Beweisen und zum Überreden. Erzähler lassen andere an ihrer eigenen Wahrheit teilnehmen, nicht mehr oder weniger.
Kirche in der Welt hingegen hat sich ständig darauf zu überprüfen, ob ihre Lebensform konkretisierte Nacherzählung, also Nachfolge Jesu ist. Dieser Nachfolge hat es nie um Christen, um Fromme oder um Gerechte als solche zu gehen, sondern um die von Gott geliebten Menschen. Deshalb hat sie sich nur um sich selbst zu kümmern. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass ihre öffentliche Funktion nicht in die Irre geht, solange sie sich dieser Herausforderung der Nachfolge nicht verschließt.
Christentum bietet Gottes Wahrheit nie als Zwang oder Zeichen überlegener Macht an. Die Botschaft vom allmächtigen Gott (im gängigen Sinn des Worts) scheint mir keine christliche Botschaft zu sein. Vom allmächtigen Gott habe ich in der Schrift noch nie gelesen. Die Botschaft vom solidarischen, um alle und um alles besorgten Gott hingegen schließt die Frage nach Gottes Macht nicht aus. Als fragende und als Kommunikation ermöglichende Theologie scheint mir die Natürliche Theologie deshalb unverzichtbar. Wie nämlich kommt das Gespräch zwischen Christentum und Gesellschaft, das Gespräch mit anderen Religionen in Gang und was ist deren Ziel?
IV. Weltethos als Weg in die Zukunft
Die Säkularisierung vor allem westeuropäischer Staaten kann kulturgeschichtlich als Unikum gelten und ganz gewiss hat das Christentum selbst dazu die Vorbedingungen geschaffen. Wie vor allem Benedikt XVI. immer wieder betont, stand an der Wiege des Christentums bei seinem Auszug aus dem Judentum eine Philosophie, die man als Aufklärung, das heißt als Kritik der mythischen griechischen Religionssysteme gelten kann. Ich lasse hier die Frage offen, ob die Nachteile langfristig die Vorteile dieses Prozesses überwogen haben. Fakt ist, dass die neuzeitliche Religionskritik angesichts neuer gesellschaftlicher Verhältnisse eine breite intellektuelle Überzeugungskraft und bald auch eine politische Durchschlagskraft erhielt, die dem großen Machtanspruch der Kirche widerstand.
In dieser Situation hat das Christentum des Westens seine Lektion gelernt. Es ist die lange Leiter von den Höhen einer besserwissenden kulturellen Leitinstitution herabgestiegen zu einer gewiss anspruchsvollen und respektablen, doch jetzt gesprächsfähigen Schwesterinstitution, um nicht mehr zu missionieren und zu belehren, sondern um sich im Namen der Vernunft auf einen gemeinsamen Weg der Suche nach Wahrheit, Zukunft und Heil zu machen. Alle damit geschaffenen Probleme sind nicht ausgestanden. Die Frage des Pluralismus steht noch als schwerer Granitblock zwischen den beteiligten Institutionen, die von den Träumen einer alleinseligmachenden Kirche noch nicht abließen.
Inzwischen zeigt sich, dass wir damit nur ein Zwischenstadium betreten haben. Es sind nicht nur die Institutionen von Wissenschaften, Philosophie und Lebenspraxis, die einen neuen Diskurs eingeleitet haben (und zu einem neuen Respekt von Religion geführt haben), sondern es sind auch andere Religionen, die inzwischen die offene Weltbühne betreten haben, sodass sich intensive Gespräche audrängen. Diese Gespräche entwickeln sich auf verschiedenen Ebenen. Zu ihnen gehört natürlich der königliche Weg, der zugleich auch der mühsamste ist. Es ist die Auseinandersetzung um die Wahrheit.
Nach meiner Überzeugung, hat dieser Weg schon wichtige Ergebnisse erzielt. Die Religionen erkennen gegenseitig an, dass sie alle um die Wahrheit Gottes, um die Wahrheit des Menschen und um die Zukunft der Welt bemüht sind. Sie wissen, dass wir Größen wie „Gott“, „Sinn“, „Wahrheit“, „Menschheit“ und „Menschlichkeit“ nicht funktionalisieren können. Es gibt in jedem Fall ein Geheimnis, das uns alle umfasst. Darauf gehe ich hier nicht näher ein.
Ich komme zurück zum Rahmenthema dieses Textes: Kirche und Welt, Kirche in der Welt, wider die Privatisierung der Religion. Ich stelle noch einmal die Frage: Wie sollen sich die christlichen Kirchen im Zeichen ihrer Herkunft zu unserer religiös pluralen Welt mit ihren Prozessen der Globalisierung äußern? Wie sollen sie sich angesichts ihrer zentralen Botschaft verhalten, die lautet: „Das Reich Gottes ist gekommen. Bekehret Euch!“?
Noch nie in ihrer Geschichte war das Christentum so direkt, so unausweichlich, so massiv mit der globalen Weltsituation konfrontiert. In den vergangenen 50 Jahren haben die westlichen Kirchen – Gott sei Dank – selbstkritisch und offen reagiert. In keiner anderen deutschen Bevölkerungsgruppe begegnen wir einem so wachen weltpolitischen Bewusstsein wie in christlichen Gemeinden. Die gemeinsamen und die individuellen Initiativen der Hilfe und der Solidarität mit Menschen in Lateinamerika, Afrika und Asien sind enorm. Bislang bestand jedoch ein Problem: in der Regel findet keine Kooperation mit vor Ort anwesenden anderen Religionen statt. Dafür gibt es viele Gründe und nicht alle liegen in unserer Macht. Aber das Bewusstsein interreligiöser Kooperation im Blick auf die Weltsituation ist noch gering.
Arbeit im Sinne des Reiches Gottes: Was liegt da näher als eine möglichst konkrete Kooperation im Blick auf eine gemeinsame Weltzukunft, die sich – ökonomisch, finanziell, politisch – intern immer mehr verschränkt und die immer mehr auf die Alternative hinläuft: gemeinsamer Untergang oder gemeinsamer Friede! Die Christenheit umfasst ca. 2 Milliarden, die katholische Kirche allein 1,3 Milliarden Menschen. Diesem global player fiele eigentlich die Aufgabe zu, im Sinne einer versöhnten Menschheitszukunft zu arbeiten, Dialoge und Kooperationen zu initiieren.
Vor diesem Hintergrund komme ich zum Schluss auf das Projekt Weltethos zu sprechen, das sich als Einzelinitiative zu einem Projekt begreift, das von Religionen als solchen initiiert und vorangetrieben werden müsste. Ich mache dazu drei Bemerkungen:
(1) Das Projekt sieht von internen Auseinandersetzung zu inhaltlichen Aussagen, zu ihrem Gottes- Menschen- und Weltverständnis ab. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“ Orthopraxis kann Orthodoxie nicht ersetzen, sie aber falsifizieren, ins Unrecht setzen. Deshalb hat es Sinn, die Gemeinsamkeiten über die Frage einer gemeinsamen Zukunftsgestalt von Welt und Menschheit anzupacken. Formal gesehen versteht sich das Projekt nicht als theologisches oder als religiöses, sondern als praktisches, zutiefst humanes Projekt. Formal gesehen sind Religion und die Frage nach der Weltsituation entflochten. Dadurch sind die Religionen nicht aus dem Spiel. Aus dem Spiel ist aber die Ursprungsfrage ihrer je eigenen Identität. Vom Christentum habe ich gesagt: Kein gelebtes Christentum ist ohne eine religiöse Komponente denkbar, aber Christentum überschreitet seine religiöse Dimension um ein Vieles. Das gilt auch von den anderen Religionen und gelegentlich denken auch sie über die Entflechtung von Religion und eigener Identität nach.
Kurzum: Die Religionen werden von ihre ethischen Dimension angesprochen. Das Religionen eo ipso immer Lebenspraxis und Lebenswelt sind, geht es um deren Ethos. Die neue Qualität dieses Ansatzes ist von der christlichen Theologie noch kaum zur Kenntnis genommen, in vielen Reaktionen nicht einmal verstanden. Anlässlich dieses Mangels frage ich mich: Hat man überhaupt verstanden, was Reich Gottes bedeutet? Die erste Frage des Projekts Weltethos lautete schlicht und einfach: Wie können wir mit gemeinsamen Kräften (und im Wissen um unsere weltpolitischen Rollen) die Menschheit dem Frieden und ihrer Versöhnung näher bringen? Reicht Gottes wird als Zukunft einer versöhnten Menschheit thematisiert.
(2) Schon ein erster (wenn auch intensiver) Versuch eines praxisbezogenen Gespräch hat zu einem erstaunlichen, bislang nicht ernsthaft bezweifelten Ergebnis geführt: In ihrem durch Jahrhunderte entwickelten, angestrebten, mit Gottes Willen erhofften und vielfach gelebten Ethos zeigen sich im Blick auf die globale Menschheitsfrage einige erstaunlich einfache, selbstverständliche, in sich rationale Grundregeln, die nicht nur Christen wohlbekannt sind und naheliegen:
Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, das Vertrauen und die Sexualität der Mitmenschen nicht missbrauchen. Positiv und im Blick auf unser globales Zusammenleben formuliert: Wir erstreben eine Kultur des Respekts vor dem Leben, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und Fairness, der gegenseitigen Treue.
Man kann darüber diskutieren, inwieweit diese Grundregeln als Codes, Standards, Normen oder als Werte zu verstehen sind. Die Begriffe überschneiden sich und sind in den ersten Grundsatzdokumenten mit Absicht so übergreifend formuliert. Letztlich (und ohne andere Anwendungen auszuschließen) sind sie natürlich als Werte zu verstehen und auszulegen. Werte sind es deshalb, weil sie – aus religiöser Perspektive gesehen – von den Menschen internalisierte, ihre Herzen bewegenden Richtwerte sind, die ihr weiteres Handeln in kreativer Weise gestalten und je nach Situation modifizieren.
Werte auch deshalb, weil deren hermeneutischer Charakter folgendes klar macht: diese relativ reduzierten, abstrakten, wenn auch von den Religionen her gestützten Formulierungen gelten hier vom Standpunkt der bedrohten Weltsituation aus. Ausgeschlossen wird nicht, das verschiedenste Kulturen und Situationen dieser Werte in endloser Weise modifizieren können. Im Blick auf die Letztfragen der Weltsituation schrumpfen all diese Vielfalten von Werten auf die einfachen Alternativen zusammen. Will ich getötet oder respektiert werden? Will ich gerecht behandelt werden oder an Elend zugrunde gehen? Will ich, dass man mich belügt oder ehrlich behandelt? Erwarte ich von geliebten und zutiefst mir verbundenen Menschen Treue oder bedarf es keiner Verbindlichkeit?
(3) Als Klammer, die diese vier Regeln zusammenfasst und deren Auslegung steuert, ist die (ebenfalls religionsuniversale) Goldene Regel, der zufolge ein jeder Mensch menschlich zu behandeln ist. Es geht – in westlich-philosophischer Terminologie ausgedrückt – um die Würde des Menschen. Die zentrale Stellung dieser Regel könnte noch einmal eine Grundsatzdiskussion zur Frage auslösen: Welche religiöse Relevanz kommt dem (formal nicht-religiösen) Projekt Weltethos zu? Ich drehe hier die Fragestellung um, indem ich behaupte. In den Weltreligionen berühren sich zutiefst religiöse und zutiefst weltliche Fragestellung in der Frage: Wer ist der Mensch, was steht dem Menschen zu und wofür trägt er Verantwortung? Diese Frage zeigt den Schnittpunkt von Religion und Glaube, von religiösen Systemen und Welt, von Glaube und Rationalität. Genau das ist die Stärke des Gedankens vom „Reich Gottes“. In ihm kommen Gott und Menschheit zur innersten Berührung. Insofern interpretiere ich das Projekt des Weltethos als Annäherung die Frage nach Gottes Reich.
(4) Kirche in der Welt kann unter den gegebenen weltpolitischen Umständen – ohne Ausschluss anderer Antworten – nur lauten: Kirche in Kommunikation und in Kooperation mit den anderen Weltreligionen im Einsatz für die Zukunft einer gewaltfreien und versöhnten, einer gerechten und fairen Menschheit, in der Treue und Solidarität herrschen. Hinzuzufügen ist: Vermutlich wird diese Vision nur wirksam, wenn die Religionen mit ihren spezifischen Kompetenzen an dieser Vision arbeiten. Was sind diese Kompetenzen. Ich kann sie hier am Ende dieses Referats nur stichwortartig aufzählen:
– ein universaler Blick auf die gesamte Welt und Menschheit als Gottes Schöpfung,
– ein dringlicher und zeitbewusster Blick, der hier und jetzt zu beginnen weiß,
– eine Grundhaltung, die alle Gedanken und Projektionen als selbstverbindliche Handlungen versteht,
– eine Haltung des Überschusses die – auf Grund religiöser „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ (Joas) – die ethischen Ziele nicht an eine Haltung der Selbstverrechnung und des eigenen Nutzens koppelt,
– ein Bewusstsein der Unbedingtheit, die sich aus einem definitiven Vertrauen auf Gott als der letzten Instanz allen Seins begreift.
Schluss
In einer Zeit der großen Beliebigkeit und Indifferenz legt Thomas Rüster großes Gewicht auf die Selbstunterscheidung des christlichen von anderen Religionen sowie von einer „natürlichen Theologie“. Dieser Appell hat seine guten Gründe, wird m.E. aber missverständlich ausgelegt. Die christliche Selbstunterscheidung und Selbstabgrenzung kann nur dialektisch verstanden werden als Gegenpol, den ich nenne: radikale Offenheit gegenüber Menschen und Menschlichem, gegenüber anderen Religionen und eine natürlichen Theologie. Denn Ziel der christlichen Botschaft ist die Gegenwart und die Verwirklichung von Gottes Reich als einem Reich der Freiheit, einem Reich der Menschlichkeit, einer Zukunft der versöhnten Menschheit.
Die Ideologieanfälligkeit von Religionen, säkularen Weltanschauungen und Christentum ist dabei unbestritten. Eine besondere Rolle spielt in der Gegenwart die Allgegenwart der Ökonomie, die die Beziehungen der Menschen grundlegend bestimmt. Unbestritten ist aber auch, dass die Kraft zur Ideologiekritik in der Wahrheitsfähigkeit des Menschen selbst begründet ist. Eine erfahrungsferne und erfahrungsfeindlich Ideologiekritik ist ein hölzernes Eisen, denn nur Erfahrung ermöglicht unmittelbare Wahrnehmung der Wirklichkeit. Religionen haben in langen Prozessen menschlicher Selbsterfahrung die Menschheitsorientierungen geklärt und im Blick auf Transzendenzerfahrungen differenziert.
Deshalb ist das Motto eine „Kirche in der Welt“ eines erstrebenswertes Motto, dessen Erfolg aber sein Ziel unterminierten kann. Denn je erfolgreicher die Kirche in der Vergangenheit in ihrer Welt war, umso mehr ließ sie sich von diesem Erfolg korrumpieren. Diese Gefahr ist alles andere als ausgeräumt. Schützen kann sie nur eine partizipative Kirchenordnung die in größtmöglicher Weise garantiert, dass die Glaubens- und Lebenserfahrungen aller Christen/Katholiken in die innerkirchliche Öffentlichkeit eingehen und deren Glaubensbewusstsein bestimmen. In jedem Fall ist die gegenwärtige Kirchenordnung unfähig, gegenüber den Herausforderungen einer globalisierten Weltzukunft zu bestehen.