Das niederländische Amtspapier „Kerk en ambt“ – Einige Notizen

Im September 2007 veröffentlichten die nierderländischen Dominikaner das Dokument „Kirche und Amt“ (Kerk en ambt), das viel Aufsehen erregte und von Rom und den Bischöfen umgehend niedergeschlagen wurde (vgl. Offener Brief an Hervé Legrand).

1. Anlass des Papiers

Anlass der niederländischen Papiers „Kirche und Amt“ ist die katastrophale pastorale Situation im Land. Der dramatische Priestermangel führt zum faktischen Zusammenbruch der ordentlichen Seelsorge im Land. Diese Situation ist der deutschen vergleichbar, nur schon weiter vorangeschritten.

Gewiss, viele Gemeinden können mit dieser Situation gut umgehen. In der Regel arbeiten die Laien (Frauen und Männer, wie üblich Frauen in der Mehrheit) recht selbständig und kompetent. Es gelingt ihnen auch, die prekäre gottesdienstliche Situation gut aufzufangen. Zumal die Gottesdienste am Samstag und Sonntag werden stilvoll und mit Phantasie gestaltet. In der Regel hat eine jede Gemeinde ihren Liturgieausschuss, der für jeden Gottesdienst eigens Gebete und Liedgut erarbeitet. Zum Teil geschieht dies zum Unbehagen der Bischöfe, die auf einer strengen Einhaltungen der liturgischen Vorschriften, insbesondere auf der Verwendung der offiziell genehmigten Hochgebete bestehen.

Aber in Sachen Eucharistiefeier der „Kommunionfeiern“, die an deren Stelle gerückt sind, ist in den vergangenen Jahren der bischöfliche Druck auf die Gemeinden gewachsen. Die priesterlosen Gottesdienste werden von offizieller Seite zurückgedrängt. Umgekehrt haben die priesterlosen Gottesdienste an Beliebtheit gewonnen, weil sie nicht der Hetze eine Priesters ausgesetzt sind, auf den innerhalb kürzester Zeit schon der nächste Gottesdienst wartet. Die Bischöfe ihrerseits unterstellt, die „wahre“ Eucharistiefeier genieße keine Hochschätzung mehr, ohne über die Gründe für diesen Stimmungsumschwung nachzudenken. Also lieber kein Sonntagsgottesdienst als einer ohne Priester, wie manche Bischöfe wünschen? Das wäre für viele engagierte Gläubige eine absurde Situation, denn angesichts der konkreten Situation, insbesondere angesichts der vielen einsatzwilligen und -fähigen Frauen und verheirateten Männer, wird der aktuelle Priestermangel von den offiziellen Regeln, nicht vom mangelnden Engagement der Gemeinden verursacht.

Die schwierige Situation lässt sich am folgenden Vorfall illustrieren: Im Frühjahr 2005 erschien im Internet ein offener Brief zur Situation der priesterlosen Gottesdienste. Das Fazit lautete: Wir haben uns mit dieser Situation angefreundet. In der Regel sind die eigenen Gottesdienste besser vorbereitet, überzeugender und spirituell fruchtbarer als die Messen, die nach offiziellen Formularen von einem Priester gelesen werden, der ansonsten mit der Gemeinde keinen Kontakt hat. Daraufhin erhoben Bischöfe ihre mahnende Stimme: Die Gläubigen haben den Fall der Kommuniondienste als Notlage zu verstehen, denn diese Ersatzgottesdienste könnten eine vollgültige Eucharistiefeier in keinem Fall ersetzen. Daraufhin riefen einige Betroffene für die Fastenzeit 2005 eine Zeit der eucharistischen Enthaltung aus. Natürlich fanden die Bischöfe eine solche Reaktion empörend. Sie hatten weder für solche Ironie noch für das dahinter schlummernde Problem einen Sinn.

2. Art und Zweck des Papiers

Das vorliegende Papier von etwa 15 Seiten DIN A4 (nennen wir es im Folgenden Memorandum) ist von vier erfahrenen Dominikanern verfasst; zwei von ihnen sind Fachleute der Theologie, ehemalige Dozenten. Alle stehen Jahrzehnte lang in der Seelsorge. Sie haben die Situation der niederländischen Gemeinden seit den sechziger Jahren verfolgt, den geradezu explosiven Aufbruch nach dem Konzil, die konservative Wende und wachsende Verhärtung der Kirchenleitung, die systematische Etablierung eines höchst konservativen Episkopats, die Verdrängung der Pastoralreferenten, insbesondere der Pastoralreferentinnen aus dem gemeindlichen Dienst, die Aufhebung von Gemeinden, den Verkauf oder die Umwidmung von Kirchen, die desolate und resignierte Situation der vergangenen Jahre.

Für die Autoren das Papiers ist jetzt eine kritische Grenze erreicht. Bevor das kirchliche Leben noch vollends zusammenbricht, wollen sie die Stimme erheben, den Standort theologisch bestimmen und zu programmatischen Handlungsanweisungen kommen, – man könnte sagen: zu einer Art erstem Nothilfeprogramm. Die Autoren handeln nicht aus eigener Initiative, sondern in Absprache mit ihrem Provinzialoberen und auf Grund eines Beschluss des Provinzialkapitels. Der „Generalmagister“ des Ordens in Rom war, wie glaubwürdig betont wird, über das Vorhaben informiert.

Das Memorandum ist in vier Teile gegliedert. Es beginnt mit einer
(1) Situationsbeschreibung, umreißt dann auf zweieinhalb Seiten
(2) programmatisch ein theologisches Kirchenbild, wie es sich den Autoren auf Grund des 2. Vatikanischen Konzils erschließt.
(3) Dann wird die Programmatik auf weiteren zweieinhalb Seiten auf die Frage der
Eucharistie zugespitzt.
(4) Daraus werden für Vorbedingungen und Aufgabenstellungen von Personen Folgerungen gezogen, die eine Gemeinde leiten und im Sinne der katholischen Kirche der Eucharistie vorstehen.
(5) Ein knappes Plädoyer zur Überwindung der aktuellen Personalkrise in Sachen Gemeindeleitung schließt das Memorandum ab.

Das Memorandum hat also einen stark programmatischen Charakter. Von ihm sind keine detaillierten theologischen Ausführungen zu erwarten. Es setzt vielmehr mit einem empirischen Befund ein. Doch die folgende theologische Deutung der aktuellen Situation gibt dem Memorandum seine Stärke. Warum es so explosiv gewirkt hat, wird noch zu besprechen sein. Aber schon jetzt lässt sich dies vorausschicken: Die Autoren haben gut daran getan, dieses Memorandum sofort allen katholischen Kirchengemeiden der Niederlande zuzuschicken. Genau dies fanden die niederländischen Bischöfe in ihrem Paternalismus unerträglich. Kardinal Simonis, der Metropolit der niederländischen Kirchenprovinz, hat das Memorandum  sofort an römische Instanzen, u.a. an die Glaubenskongregation und an die Kleruskongregation verschickt. Eine Anklage wird also wirksam, bevor er selbst zum Inhalt des Memorandums Stellung genommen hat.

3. Zur Situation: Priestermangel und Eucharistieverfall

Ausgangspunkt der Situationsanalyse ist der Widerspruch zwischen dem offiziellen Standpunkt der Bischöfe und vieler Gemeinden. Wer in einer Diözese den gültigen Sonntagsgottesdienst kompromisslos von der Anzahl gültig geweihten Priester abhängig macht, zwingt den Gemeinden einen Preis auf, den zu zahlen sie nicht bereit sind. Den Gemeinden ist die Gemeinschaft der Feiernden wichtiger als die von Priestern mit offizieller Vollmacht herbeigerufene Gegenwart Christi. Zudem stellt man die Frage, warum die Einsetzungsworte nicht gemeinsam von der Gemeinde gesprochen werden können. Soll es dem Willen Christi wirklich nicht entsprechen, wenn eine Gemeinde vollzieht, was sie in den neutestamentlichen Berichten liest und wozu sie aufgefordert wird?

So werden schon in der Wortwahl Kompromisse geschlossen, die das Problem undurchdringlich machen. Die verwendeten Begriffe lauten „Eucharistiefeier“, Kommunionfeier“, „Wochenendfeier“, „Agapefeier“, „Notfeier“. Je nach Situation und persönlichem Urteil werden die verschieden angewandt. Insgesamt verschwimmen ihre Bedeutungen. Diese Begriffe verdecken oder demaskieren bewusst das Problem. Oft agiert man am Rande dessen, was formell zugestanden wird. Der Not gehorchend, geht man nicht mit allen Lösungen offen um. Immer mehr Pfarreien suchen ihre eigenen Lösungen; zur Not werden etwa konsekrierte mit nicht-konsekrierten Hostien vermischt. Desgleichen werden eigene Hochgebete formuliert. Wo man kann, versteckt man sich vor der Bistumsleitung; das Papier spricht von einem „Eiertanz“, der bisweilen aufgeführt wird. Manchmal werden zur Finanzierung gemeindlicher Angelegenheiten eigene Stiftungen gegründet, um bischöfliche Angelegenheiten nicht mitfinanzieren zu müssen. „Bisweilen gleicht die Kirche dann mehr einer zurückhaltenden Widerstandsorganisation als einer von oben beseelten Glaubensgemeinschaft.“

Im Grunde wünschen die Gemeinden, sich ihre eigenen Gemeindeleiterinnen oder Gemeindeleiter wählen zu können, die dann vom Bischof bestätigt werden. Zahlen über den dramatischen Rückgang von vollgültigen Eucharistiefeiern sind ebenso unwiderlegbar wie die Hilflosigkeit der Bischöfe, gegen zu steuern. Nur wer sich die Augen vor der Gesamtlage verschließt, kann noch von einer hoffnungsvollen Zukunft sprechen.

4. Zum Verständnis von Kirche und Eucharistie

Vor diesem dramatischen Hintergrund der Selbstauflösung ist also eine Neubesinnung auf Kirche und Eucharistie dringend nötig. Dabei ist es kein Zufall, dass das Papier seine Neuorientierung aus dem Kirchenbild des 2. Vatikanischen Konzils schöpft, das in den vergangenen 30 Jahren systematisch zurückgedrängt, ja geradezu verdrängt wurde.  Mehr und mehr ist vom „Mysterium“ der Kirche die Rede. Dabei wird das Kirchenbild sakralisiert, allein vom Gedanken des Sakraments her bestimmt und wieder zur Sache von Klerus und Hierarchie.

Dagegen erinnern die Autoren an die dramatischen Ereignisse des Konzils, in denen die Kirche nach langen Auseinandersetzungen vom Volk Gottes her verstanden wurde. Ziel der Kirchengemeinschaft sei „Volk selbst und das Heil des Volkes”. Die Hierarchie sei „als Mittel auf dieses Ziel ausgerichtet“. Die Gabe der Leitung war ursprünglich eine der vielen verschiedenen Gaben („Charismen“), die alle ihre eigene Würde haben. Damit ist auch das Bild der Kirche als einer Pyramide zu relativieren: Die Bischöfe stehen oben und die Priester – als die „Geweihten“ –  in jedem Fall unangreifbar über der Gemeinde. Es kann nicht so sein, dass die Priesterweihe zwischen Gläubigen und Klerus einen wesenhaften, für immer bleibenden Unterschied (ein „unauslöschliches Merkmal“) konstituiert.

Dagegen greift das Memorandum auf den paulinischen Begriff vom Leib zurück. Die Kirche in eine Ganzheit, in die sich auch die Ämter der Leitung einzuordnen haben. Konkret gesagt: „Solange das hierarchische Kirchenmodell weiterhin dominiert, gibt es keinen Raum für Menschen, die wir heute pastorale Mitarbeiter/innen oder Helfer/innen nennen, denn von einer als Pyramide verstandenen Kirche aus kann man sie nur mit Argwohn betrachten. Man fürchtet, neben dem ‚gültig geweihten Priester’ könne ein ‚Parallelklerus’ entstehen.“ Erst im neuen Modell wird die Mitarbeit von „Laien“ zur wirklich positiven Herausforderung.

Vor diesem Hintergrund wird es wieder möglich, die Eucharistie umfassend als „Danksagung“ zu begreifen. Für die Autoren rückt der Gedanke des Teilens in die Mitte. „Zugleich wird darum gebetet, dass uns Gottes erschaffende und befreiende Kraft weiterträgt, inspiriert, dass sie uns Flügel verleiht, durch uns auch der Welt zugute kommt. Beim Teilen von Brot und Wein kommen in der Eucharistie Beten und Handeln zusammen“. So wird deutlich, dass das ganze Leben ein Teilen mit den andern ist und dass das Geheimnis Jesu in diesem Teilen seines Lebens besteht. In diesem Sinn wird das Brot gebrochen und wird die ganze Welt zum Thema dieser zentralen Feier.

Aus diesem Grund ist nicht zu verstehen, warum Rom – nach Ausweis verschiedener jüngerer Dokumente – in der Betonung des Mahlcharakters eine Bedrohung des Opfercharakters sieht. Wo der Gedanke des Teilens in den Mittelpunkt rückt, braucht es keine stufenweise Vermittlung der Gnaden von oben nach unten. Jesus selbst ist in unserer Mitte.

5. Sinn und Aufgabe des Leitungsamtes bzw. des Amtes des/der Vorstehers/in

Das Memorandum erklärt dieses Amt für unverzichtbar, verweist aber auf die sehr verschiedenen Formen, die dieses Amt im Lauf der Geschichte erhalten hat. Es ordnet den Zölibat in seine historische Entwicklung ein und zeigt die wachsende Klerikalisierung der Kirche. Aus der vernünftigen Frage „Wer kann eine Gemeinschaft leiten“ wurde die fragwürdige Frage „Wer darf die Leitung innehaben?“. So aber werden die Gläubigen werden zum Objekt[!] der Seelsorge; die Gemeinde wird auf eine liturgische Gemeinschaft reduziert.

Hinzu kommt die Sprache der Wirklichkeit in unseren Gemeinden. Das Modell des zölibatären, mit Weihevollmacht ausgestatteten Priesters zerfällt. „Im Augenblick sind in vielen Pfarreien Männer und Frauen in ergreifender und inspirierender Weise als aktuelle Schrittmacher/innen und Inspirator/innen, als evangelische Identifikationsfiguren aktiv.“ Sie sind theologisch ausgebildet und fähig, eine Gemeinde zu repräsentieren und zu leiten. Warum kann man sie nicht „ordinieren“, also in diesen Aufgabenkreis „einordnen“? Sie müssten allerdings vier Kriterien erfüllen. Wegen der Bedeutung dieser Kriterien seine sie hier vollständig zitiert:

* Vorsteher/innen von örtlichen Gottesdiensten müssen vom Glauben tief durchdrungen sein. Dabei macht es keinen Unterschied ob es Männer oder Frauen, Homos oder Heteros, Verheiratete oder Unverheiratete sind. Entscheidend ist eine ansteckende Glaubenshaltung.
* Vorsteher/innen müssen ferner sachkundig sein, d. h. im Umgang mit den Hl. Schriften und dem Material der christlichen Traditionen das notwendige Know-how besitzen, das sie zum Predigen befähigt.
* Vorsteher/innen sollten von der örtlichen Gemeinschaft auch auf ihre liturgische Kreativität hin beurteilt werden.
* Für Vorsteher/innen ist es schließlich wichtig, dass sie über ein gutes und flexibles Organisationstalent verfügen, damit für die mögliche Kontinuität im Geschehen der Gemeinschaft gesorgt ist.

6. Was ist konkret zu tun?

Wer so weit gelesen hat, kann vielleicht nicht erkennen, warum Rom und die Bischöfe sich so vehement gegen diese Papier wehren. Die Gedanken sind ja nicht unbekannt. Müsste darüber nicht zu reden sein? Warum darf die Kirche eines Landes angesichts ihrer Situation die Bischöfe nicht mit Nachdruck auffordern, dass sie endlich engagierte und fähige Gläubige – „Männer und Frauen, Verheiratete und Unverheiratete, Homos und Heteros“ – ordiniert? Realismus ist geboten; Rom wird wohl nicht über Nacht den Kurz wechseln. Andererseits können diese Frage nicht überhört werden. Dieses Memorandum  rückt weder die Eucharistie aus der Mitte katholischen Glaubenslebens, noch will es das umstrittene Amt abschaffen, ebensowenig erklärt es die bischöfliche Ordination für überflüssig. Aber das Memorandum mach auch klar, dass der Grund für die gegenwärtige Misere bei den Bischöfen und dem römischen Regime, nicht bei den Gemeinden liegt. Was also geschieht, wenn die Bischöfe – wie leider zu erwarten – auf das Memorandum nicht eingehen? Das heißt: Was ist zu tun, wenn die Gemeinden Kandidaten an den vorgelegten Kriterien prüfen auswählen und dem Bischof zur Ordination vorschlagen, der Bischof alle Vorschläge ablehnt, also die Situation weiterhin in seinem Sinne bockiert?

Nehmen wir also an, geeignete Kandidaten werden vorgeschlagen, der Bischof aber, der selbst keinen Amtsträger anbieten kann. Lässt die Gemeinden trotz deren Angebote im Reden stehen. Was soll dann geschehen? Sollen die Gemeinden dann stille halten und an ihrem eigenen Ruin weiterarbeiten? Erst jetzt, am Schluss, finden wir die Aussage, die für die Bischöfe und für Rom zum Stein des Anstoßes wurde:

Sollte ein Bischof diese Weihe oder Ordination mit Argumenten verweigern, die mit dem Wesen der Eucharistie nichts zu tun haben, dann dürfen die Pfarreien darauf vertrauen, dass sie dennoch echt und wahrhaftig Eucharistie feiern, wenn sie unter Gebet Brot und Wein teilen.

Wenn also aus Gründen, die die Gemeinde nicht zu verantworten hat, und die sie unter den gegebenen Umständen nicht ändern kann, keine gültige Eucharistie mehr gefeiert werden kann, dann fällt die Aufgabe der sakramentalen Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu, an das Teilen seines Lebens, auf die Gemeinde selbst zurück. Sie ist nicht mutwillig, wenn sie jetzt um des Auftrags Jesu willen initiativ wird. Das Memorandum hat sehr sorgfältig und vorsichtig formuliert. Es vermeidet Kategorien des Rechts oder der Dogmatik. Es setzt sich nicht mit Fragen der Vollmacht oder der Gültigkeit auseinander. Es spricht nur vom Vertrauen darauf,, dass sie „echt und wahrhaftig“ Eucharistie feiern, – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

7. Ein reaktionärer Bescheid

Beim Bekanntwerden des Papiers war das öffentliche Aufsehen enorm. Alle Gemeinden wurden ja informiert und viele sahen jetzt endlich wieder einmal einen offenen, klaren und für sie akzeptablen Vorschlag zur Lösung der Probleme. Die Autoren waren nicht naiv gewesen. Sie wussten, dass die offiziellen Instanzen sich mit aller Kraft gegen dieses Ansinnen stellen würden. Aber alles sah gut aus: Es gab Stellungnahmen in der Presse, natürlich auch Gegenwind von konservativer katholischer Seite. Nicht alle Gemeinden stimmten der Richtung des Memorandums zu, aber eine Diskussion bahnte sich an, wie man sie seit Jahren nicht mehr erlebte.

Der Kardinal von Utrecht schickte, wie schon gesagt, den Text an römische Behörden, die unmittelbar aktiv wurden. Die Autoren waren Dominikaner, also wurde der „Generalmagister“ (= der Generalobere) des Ordens in Rom mobilisiert. Er reagierte unerwartet unwirsch und gab zwei interne Gutachten in Auftrag, die von Mitbrüdern aus dem Dominikanerorden verfasst wurden (vermutlich war er sehr schnell unter schweren Druck geraten). Eines der beiden Gutachten, das schärfere nämlich, sollte jetzt eine entscheidende Rolle spielen. Vermittlungen begannen. In Rom wurden Besuche abgestattet, doch Roms Entschluss lag fest. Der Generalmagister machte sich das genannte Gutachten vorbehaltlos zu eigen. Es musste vom niederländischen Provinzialat an alle Adressen verschickt werden, die das Memorandum selbst erhalten hatten. Die Dominikaner der Provinz waren in eine besonders schwierige Lage gedrängt. Sie bekamen von ihrer römischen Ordensleitung Redeverbot, mussten geplante Symposien absagen. Die Diskussion sollte totgeschwiegen werden.

Ein allseits bekanntes Memorandum ließ sich allerdings nicht mehr totschweigen. Einige Tagungen wurden organisiert und eine neue Website entstand. Sie ist inzwischen zum Sammelbecken zahlloser kritischer Beiträge geworden. Dennoch ist die Enttäuschung groß. Wie immer versandete die Debatte nach einigen Monaten. Herrscht wieder Ruhe? Ruhe ja, aber eben nicht wie vorher. Ich weiß jedenfalls von einigen, die ich kenne, welche Lehre sie aus der Auseinandersetzung gezogen haben. Ihnen wurde in der Diskussion klar: Mit Rom zu diskutieren hat keinen Zweck, also spare man sich die Energie. Aber außerhalb der offiziellen römischen Linie gibt es noch andere, theologisch verantwortete Wege, mit dem Problem umzugehen. Jetzt können sie ohne schlechtes Gewissen handeln, denn das Memorandum gibt ihnen einen Denk- und Argumentationsrahmen, eine biblische Begründung und neu das Modell des 2. Vatikanischen Konzils in die Hand. Das bedeutet für sie eine enorme Erleichterung; ein innerer Zwang ist abgefallen. Im übrigen hat in den Niederlanden der Brauch einer Eucharistiefeier ohne Priester und ohne andere AgentInnen am Altar gute Tradition, dies sicher seit den siebziger Jahren. Man hatte dies natürlich nie an die große Glocke gehängt. Aber auch Bischöfe wussten es, ohne darüber zu reden.

8. Eine reaktionäre Reaktion

Ich persönlich habe am meisten aus dem genannten Gegengutachten gelernt. Es stammt vom französischen Theologen Hervé Legrand aus Paris. Einiges fällt dem Leser bei der Lektüre auf:
– Legrand behandelt seine niederländischen Mitbrüder wie unwissende Dilettanten. Im Gegensatz zu ihm selber hätten sie, so Legrands explizite Behauptung, in Sachen Ekklesiologie keine akademisch begründete Sachkenntnis. I. ü. müssten sie sich erst mal fragen lassen, ob ihr Standpunkt überhaupt noch kirchlich oder nicht eher häretisch sei. Dass Mitbrüder desselben Ordens so verletzend miteinander umgehen können, hätte ich nicht gedacht.
– Legrand versucht, das Memorandum zunächst mit stilistischen, taktischen und soziologischen Kriterien zu entkräften. Das tut er seinerseits höchst dilettantisch und in völliger Unkenntnis der Diskussionslage in der niederländischen Kirche. So wird etwa behauptet, das Memorandum rede negativ und anonymisierend von den Bischöfen; es polarisiere. Es fordere eine Ablehnung seitens der Bischöfe geradezu heraus; der Sache werde damit nicht gedient. Ich kann den Willen zur Polarisierung und die Missachtung der Bischöfe in keiner Weise entdecken. Im Gegenteil, seit Jahren wurde die Problematik nicht mehr so offen angesprochen und gesprächsfähig gemacht.
– Legrand setzt seinerseits eine absolut konforme, auf die gängige Praxis fixierte, autoritär argumentierende Theologie voraus. Er beruft sich auf die vom offiziellen katholischen Lehramt legitimierte „Tradition“ (auch Traditionen werden gemacht, wie wir wissen). Nach Legrand ist das Nichtkatholische und Häretische schnell und einfach definiert: Unkatholisch ist, was Rom bislang nicht akzeptiert hat. Gemäß dieser Position bewegt sich das Memorandum am Rande der Häresie. Legrand kennt also keinerlei Nuancierung, zieht weder die Schrift noch historische Entwicklungen als relativierende oder erweiternde Gesichtspunkte heran. Vor allem übersieht er die Frage, die das niederländische Autorenteam umgetrieben hat: Was tun, wenn es die Bischöfe selber sind, die einen regelmäßigen Besuch der Eucharistiefeier unmöglich machen? Ist es nicht vernünftig, für diesen Notfall auf den elementaren Ausgangspunkt selbst zurückzufallen, von dem her sich ein kirchlicher Gottesdienst überhaupt definieren lässt? Ich meine die gemeinsame und gemeinsame vollzogene Feier des Volkes Gottes. Mangelnde Kirchlichkeit kann man dieser Lösung wirklich nicht unterstellen, da sie aus Gründen vorenthaltener Kirchlichkeit geschieht.

Ich habe aus dieser Reaktion der französischen Dominkaners nur gelernt, wie unflexibel, verengt, geradezu reaktionär Rom und die ihm gemäße Theologie heute handelt. Das war, das ist die große Enttäuschung vieler katholischer Frauen und Männer, die in den Niederlanden ein offenes und zukunftsfähiges Christsein versuchen. Ihnen ist wieder einmal klar geworden, dass mit der herrschenden, von Rom aus protegierten Theologie kein Weg in die Zukunft möglich ist. Ein großer Teil von diesen Enttäuschten zieht allerdings den einzig möglichen Schluss: in Auseinandersetzung mit der Schrift, mit den Impulsen des 2. Vatikanischen Konzils und im intensiven gegenseitigen Gespräch gehen sie ihren eigenen Weg weiter. Solange die römische Eiszeit werden sie sich warm anziehen. Vom Geist Gottes selbst fühlen sie sich nicht enttäuscht. Im Gegenteil, er zwingt sie dazu, ein wirklich mündiges am Beginn dieses Jahrhunderts einzuüben.

Schluss

Wieder einmal haben die Bischöfe eine Chance verstreichen lassen. Sie hätten ja hinreichend Spielraum gehabt, um zu vermitteln. Sie hätten die Zölibatsregeln lockern, das Ordinationsverbot für Frauen aufheben oder sich in Rom wenigstens als Anwälte der niederländischen Probleme erweisen können. So bleibt wieder einmal ein Problem ungelöst. Es ist damit zu rechnen, dass die Gemeinden der Niederlande ihre eigenen Lösungen zu suchen, so wie das übrigens seit Jahrzehnten schon auch in anderen Ländern geschieht. Rom zwingt seine erwachsen gewordenen Kinder immer nachdrücklicher dazu, sich im Namen Jesu im wohlüberlegten und wachsenden kirchlichen Ungehorsam zu üben. Damit bewahrheitet sich einmal wieder die bei Kanonisten wohlbekannte Wahrheit: In der Kirche beginnt jede Erneuerung mit einer Sünde.