Es rumort in Rom. Mitte November 2016 schrieben vier Kardinäle an den Papst einen offenen Brief. Sie stellten ihm vier Fragen zu seinem Schreiben Amoris laetitia. Das war ein außerordentlicher Schritt. Das Echo, das dieses Quartett bei Kritikern und Verteidigern auslöste, hallt immer noch nach. Der Papst reagierte irritiert. Am 23.12.2016 sprach Franziskus von „bösartigen Widerständen“ und davon, dass die Reformverweigerung oft „im Schafspelz“ daherkommt. Am Tag zuvor hatte Kardinal Kasper das Schreiben im Radio Vatikan massiv verteidigt. Daraufhin verschärfte sich die Diskussion. F. Papamanolis, emeritierter Bischof von Syros, Santorini und Kreta sowie mit römischen Verhältnissen vertraut, unterstellte den vier Kardinälen Häresie. Weihbischof Schneider aus dem kirgisischen Tokmok beschrieb solche Reaktionen wiederum als „dumm, naiv, schismatisch, häretisch“. Auch die zustimmende Erklärung der deutschen Bischöfe vom 23.01.2017 besänftigte die Kontroverse nicht. Bei ihr fiel nur auf, dass man der Verlautbarung keinen hohen Rang zumaß. Kein offizielles Hirtenwort war sie wert, sondern nur eine Erklärung, und nicht die Deutsche Bischofskonferenz war ihr Autor, sondern der Ständige Rat, dem eigentlich nur Koordinierungs- sowie Beratungsaufgaben bei kirchenpolitischen und organisatorischen Fragen zukommen. Dieses Gesamtszenario erstaunt. Dürfen nicht auch konservative Kardinäle den Papst kritisch befragen, wie es die Erneuerer seit Jahr und Tag tun? Warum wird mit hohem Pathos zur Unterstützung des Papstes aufgerufen, statt eine sachlich differenzierte Antwort zu formulieren? Selbst Leonardo Boff, der große Papstkritiker der vergangenen Jahrzehnte behauptet, der Papst könne nicht verurteilt werden, das sei die Lehre der Kirche, und will damit Kardinälen jede Papstkritik verbieten.
Was haben die vier Kardinäle getan? Aus ihrer Perspektive, die Rom schließlich seit 150 Jahren teilte, werfen sie schlicht einige Fragen auf, die tatsächlich ungeklärt sind. Man muss diese Fragen ja nicht im „Ja-Nein-Modus“ beantworten, schließlich wird der Papst in keiner Weise erpresst, denn auf alle vier Fragen könnte er mit Differenzierungen reagieren. Etwas anderes würde von Papst Franziskus auch niemand erwarten, der sich die Pflicht zur Unterscheidung inzwischen zum Markenzeichen gemacht hat. Respondeo cum distinctione (ich antworte, indem ich differenziere) hieß schon immer die Zauberformel der jesuitischen Disputationen. „Mit ihrer Art der Seelsorge“, schreibt Th. Seiterich in Publik-Forum, „konnte man das strenge Lehrgebäude stehen lassen und dennoch leben“. Genau das ist der Punkt des Anstoßes. Aus biblischen und dogmatischen Gründen ist das Gebäude in Ehe- und Familienfragen schon seit Jahrzehnten brüchig geworden, was Bischofssynoden und Papst tapfer verschweigen.
Doch die inneren Blockaden gegen dieses Eingeständnis binden die streitenden Parteien zusammen, denn im Subtext der Diskussion treibt das bestgehütete Familiengeheimnis der vergangenen Jahrzehnte sein Unwesen. Sie wollen oder können darüber nicht reden, weil es zu sehr an die innere Statik ihres Glaubens, an den Kern ihrer Identität rührt. Hans Küng hat 2015 in Sieben Päpste, Kapitel 7, darüber geschrieben. Es ist die rigide Fixierung auf ein unfehlbares Glaubenssystem, das keinerlei Korrekturen mehr zulässt. Es geht bei den hochaktuellen Ehe- und Familienfragen darum, dass Rom sich erneut auf ein Ehemodell aus der letzten Jahrtausendwende festlegte und es erneut mit einem bibelfremden Sakramentsmodell kombinierte. Küng rief dazu auf, die Schrift und die Geschichte der Kirche endlich ernstzunehmen, auch wenn es zu einschneidenden Korrekturen in Lehre und Praxis führt. Auf diese Intervention hörte ich mal wieder die eingespielten Reaktionen: „Vergiss es, das ist seit 1970 halt Küngs Steckenpferd“, zugleich aber die bekannte Verlautbarung in schalldichten Räumen: „Daran hält sich ohnehin niemand mehr; wir haben Wichtigeres zu besprechen.“ Wirklich?
Erinnern wir uns an den 18. Dezember 1979. Das große Reinemachen von Johannes Paul II. hatte gerade begonnen und am lästigsten Unruhestifter war ein Exempel zu statuieren. Denn Küng hatte es 1970 zum Jahrhundertjubiläum des Unfehlbarkeitsdogmas gewagt, dazu einige Fragen zu stellen. Man hätte darauf differenziert antworten können, doch beunruhigende Fragen galten in Rom schon damals als ungehörig. Man witterte Majestätsbeleidigung und gab sich in Fachkreisen überlegen: Küng könne weder geschichtlich noch hermeneutisch denken; er habe den inneren Sinn dieses Dogmas überhaupt nicht verstanden. Dabei war es doch gerade Küng, der den oberflächlich bürokratischen Rationalismus und Juridismus Roms hinterfragt hatte. Karl Rahner reagierte gegenüber diesem „liberalen Protestanten“ empört und verschloss sich damit weiteren Diskussionen. Karl Lehmann spielte den überlegen weitsichtigen Denker, der im Entscheidenden vage blieb. Walter Kasper berief sich auf seine „geschichtliche“ Hermeneutik, die schon 150 Jahre alt, also überholt war. Damit hatten die Theologen die Chance überzeugender Antworten vertan. Die Frage wurde nicht vorangebracht, aber die Scharfmacher in der Hierarchie fühlten sich bestätigt. Aus begreiflichen Gründen verstanden sie sich aber ‑ wie die vier Kardinäle heute ‑ als Hüter der Tradition; sie blieben ja nur in ihrer antimodernistisch scholastischen Standardtheologie stecken. Zehn Jahre später, im Dezember 1979, war Roms und der deutschen Bischöfe Geduld endgültig erschöpft und trotz ernster Widerstände aus Deutschland setzte Rom seine Pläne rücksichtslos durch. Bischof Moser, der zunächst auf Seiten Küngs stand, zog den Kürzeren. Er hätte sich weigern können, das Lehrverbot auszusprechen, doch dazu fehlte ihm die Kraft. Aber die Empörung in Deutschland war enorm. Also wurden alle residierenden Bischöfe Deutschlands für den 7. Januar 1980 nach Würzburg zitiert, wo sie ein vorbereitetes Papier zu unterzeichnen hatten. Trotz aller Bedenken, die manche von ihnen hatten, unterzeichneten alle; der Gruppenzwang unter bischöflichen Kollegen war damals schon hinreichend bekannt. Die symbolische Bedeutung dieses Aktes aber war für diese Herren und ihr Identitätsbewusstsein gewaltig. Zugleich unterzeichneten sie ein Kanzelwort, das viele Pfarrer zu verlesen sich weigerten. Doch auch das konnte die Lehr- und Vollzugsherren der römischen Kirche nicht mehr stören. Am 31. 12. 1979 hatte Bischof Moser den Lehrentzug offiziell vollzogen.
Danach geschah Erstaunliches: Hans Küngs Name verschwand zwar nicht aus dem Gedächtnis des Kirchenvolkes, der Religionslehrer sowie vieler Männer und Frauen in der Seelsorge, aber in den katholisch-theologischen Fachpublikationen fand er kaum mehr Platz und bis 2013 wurde er in Facharbeiten zu Rechtfertigung, Christologie und anderen Themen praktisch vergessen. Auch das Thema Unfehlbarkeit selbst wurde in eine Schattenexistenz verbannt; bald musste man einschlägige Auseinandersetzungen mit der Lupe suchen. Dass ab 1980 niemand mehr einen Lehrstuhl für Dogmatik oder Fundamentaltheologie erhielt, der auch nur die geringste Unbotmäßigkeit zeigte, war klar. Das hatte für die katholisch theologische Ausbildung seine Auswirkungen. Kurz: In offiziellen Rängen griff bald ein umfassender Verdrängungsprozess, den der Wojtyla-Papst und sein Nachfolger nach Kräften vorantrieben. Man wollte mit der unappetitlichen Angelegenheit nichts mehr zu tun haben und trieb lieber die Ideologie einer autoritär gesteuerten communio (Gemeinschaft) voran. Die Unfehlbarkeit, von Karl Rahner zur Mutter aller Dogmen erklärt, wurde jetzt in Watte gepackt, mit Ausweichmanövern umschifft und dadurch unangreifbar. Umso autoritärer konnte man wieder durchgreifen. Spätestens mit Benedikt XVI. wurde Angst zum Markenzeichen untergeordneter, immer perfekter kontrollierter Amtsträger und bis zu dessen Amtsrücktritt blieb die Tabuisierung der Unfehlbarkeit unerschüttert. Deren Vorkämpfer wie von Balthasar, Brandmüller, Ratzinger, Kasper und Lehmann konnten ihre Ernten einfahren; ihr Kampf für die römische Wahrheit war von Erfolg gekrönt und prägte ihre Lebenswerke.
Das ging gut, bis ein neuer Papst ans Ruder kam und auf Erneuerung drängte. Stellvertretend für andere packt er eines der heißesten Eisen an, die Zulassung von Wiederverheirateten zur Kommunion. Auf der Basis der vorhergehenden Bischofssynoden legt er mit Amoris laetitia eine Lösung vor, die durchaus sympathisch und von Respekt gegenüber den Betroffenen getragen ist. Zu Recht wird sie von den Erneuerern verteidigt (allerdings von Männern mehr als von Frauen, von Heteros mehr als von Homos, von Helfenden mehr als von Betroffenen). Franziskus, schon immer an Barmherzigkeit und am Wohl der Ausgegrenzten interessiert, stützt seine Empathie auf die Schrift und auf den Sinn der christlichen Botschaft, die Heilung, Vergebung und Barmherzigkeit verspricht. Mit Verve und viel Geschick setzt er dieses Anliegen durch, versteckt den entscheidenden Durchbruch aber in einer Fußnote. Die neueste Predigt zum Fest der Erscheinung 2017 bringt seine zutiefst humanen Anliegen zur Geltung.
Doch auch er übersieht oder verdrängt das Familiengeheimnis, das inzwischen mit der römisch-katholischen Identität eine tiefe Symbiose eingegangen ist. In ihren dogmatischen Festlegungen hatte die römische Kirche nun einmal einen anderen, wenn auch hoch problematischen Weg eingeschlagen, den auch die Erneuerer meist relativieren und verdrängen. Auch sie wollen die innere Statik der Kirche nicht in Gefahr bringen. Die Unfehlbarkeitsdefinition von 1870 gehört nun mal zu den zentralen Trägern der Gesamtkonstruktion, auch wenn sie ein Fremdkörper und mit dem älteren Baugerippe nicht kompatibel ist, allen Liebhabern der Schrift ein schlechtes Gewissen bereitet und die Ziele der Barmherzigkeit sehr kompliziert macht. Spätestens seit 1980 wurde die Kirchenideologie auf eine Linie des Rechthabens fixiert und in gewissem Sinn sakralisiert. Zur Tabuisierung des Problems hatte man ja einen Sündenbock gefunden, der über die Klinge sprang. Einer für alle; René Girard lässt grüßen. Unter diesen Umständen wird eine Selbstkorrektur nahezu unmöglich.
Was also ist das Problem? Eigentlich müsste der große Barmherzigkeitsappell des Papstes das unbarmherzige System der römischen Kirche sprengen. Es wird aber nur gelindert und umso mehr bestätigt, sein unangenehmes Antlitz geglättet und etwas erträglicher gemacht. Franziskus scheint diesen inneren Widerspruch nicht zu sehen. Deshalb bleiben sie auch erhalten: die unhaltbare Interpretation der Schrift in Sachen Unauflöslichkeit, die zutiefst juridisierte und verkirchlichte Sakramentenlehre sowie das offizielle, nahezu erfahrungsfreie Modell von der Ehe. Solange diese Fehlentwicklungen nicht korrigiert werden, bleiben die Fragen der vier Kardinäle ohne Antwort.
Aus ihrer Anfrage wäre schlicht zu folgern, der Papst müsse ihnen und dem Kirchenvolk klaren Wein einschenken. Er sollte erklären, wie er es mit dem altehrwürdigen Rechthaberkonzept seiner Vorgänger hält. Wie sollten diese Herren ein Glaubensverständnis aufgeben, für das sie sich ein Leben lang verkämpft haben? Deshalb sollte der Papst die inneren, von ihm verursachten Probleme offen thematisieren und uns angstfrei erklären, was er daran zu korrigieren gedenkt. Langfristig gesehen wäre das segensreicher als das ständige Balancieren mit einer unklaren Schriftinterpretation. Franziskus hat in vielen Aussagen seine beiden Vorgänger schnell hinter sich gelassen und in breiten Kreisen eine vorbehaltlose Zustimmung gefunden. Doch wird auch dies Episode bleiben, wenn er zu der unangenehmen Schlüsselfrage weiterhin nicht Stellung bezieht. Bis jetzt gibt Rom Gas, ohne die verrosteten Bremsen des Antimodernismus auszutauschen; der Relevanzverlust der römischen Kirche ist jetzt schon erschreckend genug. Familiengeheimnisse haben eben ihren Preis, und der kann tödlich sein.
Welch ein Befreiungsschlag also, wenn der Papst erklärte: Die aktuelle Sakramentenlehre von Ehe und Eucharistie führt weder die Botschaft Jesu noch biblische Impulse unverfälscht weiter. Wir alle erhoffen Barmherzigkeit, wenn wir Anderen Unrecht zugefügt haben und zur Wiedergutmachung bereit sind. Aber den Wiederverheirateten, oft Opfer ihrer Situation, die von der Kommunion ausgeschlossen sind, ist in erster Linie nicht Barmherzigkeit, sondern Gerechtigkeit im Sinne des Respekts vor ihrer eigenen Würde anzubieten. Schon Matthäus gesteht für bestimmte Fälle eine Scheidung zu (Mt 5,32) und nach Paulus sollen im Falle tiefgehender Differenzen „der Bruder oder die Schwester …nicht wie ein Sklave gebunden sein; zu einem Leben in Freiheit hat Gott euch berufen.“ (1 Kor 7,15). Bis jetzt ist Papst Franziskus zu dieser Konsequenz nicht vorgedrungen. Daran leiden nicht nur viele unserer wiederverheirateten Glaubensgeschwister, sondern auch alle, die sich wünschen, dass die Schrift endlich zur Seele des Glaubens wird. Gerade lese ich bei Christian Kreiß, Luther habe den Wucherern die Sakramente verweigert. Darüber nachzudenken wäre viel wichtiger, wenn man der Eucharistie heute die gebotene Hochachtung bezeugen will.
(© Hermann Häring, 05.02.2017)
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IKvu-Newsletter vom 17.03.2017,
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