10 Jahre nach dem legendären Volkskirchenbegehren stellt sich die Frage, was es gebracht hat. Nichts, wenn man die Reaktionen der Kirchenleitung zum Maßstab nimmt. Sehr viel, wenn man sieht, wie lebendigt die Vision einer erneuerten Kirche immer noch ist.
Liebe Freunde,
vor 10 Jahren standen viele von Ihnen auf Marktplätzen und Supermärkten. Sie haben Unterschriften gesammelt für eine bessere Kirche. Konkret war dieses Ideal in fünf Kernforderungen zusammengefasst, die wie in Brenngläsern die Probleme bündeln, die Starrheit ihrer Verhaltensregeln brandmarken und zugleich Auswege zeigen. Solche Auswege wären möglich, weil sie kein großes Programm der Volkserziehung voraussetzen. Sie wären geradezu leicht, weil sie dem Empfinden von ungezählten Menschen entsprechen, die sich ernst mit der christlichen Botschaft auseinandergesetzt haben und zugleich mitten in diesem Leben stehen, das mit Riesenschritten in ein neues, sehr spannendes und sehr gefährdetes Jahrhundert hineingeht. Die Aktion war zugleich realistisch und nüchtern, denn wir alle wussten: Diese neuen Verhaltensregeln ändern uns Menschen nicht. Sie ersetzen nicht unser Engagement und hindern uns nicht vor Fehlern. Aber sie schaffen ein Umfeld, in dem wir auf dem Weg der Nachfolge Christi weitergehen können, ohne an Hindernissen zu straucheln.
Hatte die Aktion Erfolg? Schon das breite Echo war Erfolg genug – aber eben nur für den ersten Augenblick, denn die Kirchenleitungen haben keine von ihnen erfüllt. Man hat sie weiterhin diskriminiert und damit seine eigenen Vorteile verteidigt. Deshalb ist es nicht leicht, heute ein frohes Fest zu feiern. Viele haben ohnehin schon resigniert. Andere sind mit einem resignierten Herzen da. Wieder andere reden von den vergangenen Jahren wie von einer einst schönen Zeit, der leider die Erfüllung versagt blieb.
Doch ist das nur die eine Seite, denn eines hat sich durchgehalten, und damit konnten wir viele Schwestern und Brüder gewinnen. Es ist das Bewusstsein, dass wir und nicht einige Kirchenführer Kirche sind. Wir schließen sie nicht aus, gewiss. Aber sie müssen endlich lernen, wo das Herz der Kirche schlägt. Es schlägt dort, wo Gemeinden und Gruppen im Namen Jesu zusammenkommen, wo sich Menschen im Namen Jesu für eine bessere Zukunft, für Frieden und Versöhnung einsetzen. Deshalb will ich heute, wenn ich über Visionen des Gottesvolkes rede, nicht von einer fernen Zukunft berichten, nicht von hehren Idealen, die doch keine Gemeinde und niemand in ihr erreicht. Diese Visionen gibt es, gewiss, aber wir sollten sie nicht überbeanspruchen. Ich möchte von drei bescheidenen Visionen reden, die auf den ersten Blick wenig bedeuten, die aber die Richtung zu einer christlicheren, einer menschlicheren Zukunft in unserer Kirche weisen. Vergessen wir dabei nicht: Diese Kirche wird nicht für sich selbst sein, sondern immer im Dienst einer Gesellschaft sehen, die von Gewalt, von Friede, von Selbstzerstörung bedroht ist. Ich möchte von der Lernfähigkeit, der Gesprächsfähigkeit und der religiösen Offenheit einer zukünftigen Kirche reden. Ich plädiere, wenn Sie so wollen, für eine junge, eine authentische und eine religiös sensible Kirche.
I. „Innen“ und „Außen“ – eine Diskrepanz
Die Sache, um die es uns geht, ist sicher so alt, wie ich mich erinnern kann und wie sich die Älteren unter ihnen erinnern können, wahrscheinlich schon älter. Ich erkläre es an meiner eigenen Biographie. In den fünfziger Jahren, also schon in meiner Schülerzeit, meinte ich, in der Kirche müsse es endlich vorwärts gehen. Wir wurden jugendbewegt, ließen uns vom Gottesdienst im Zeltlager und dem Fußball spielenden Kaplan begeistern. Das war nicht naiv, denn wir fühlten, dass gegen Starrheit nur neues Leben hilft. Spätestens in den sechziger Jahren fühlte ich mich dann als Teil der Liturgischen Bewegung – genau genommen ihres Spätausläufers, der nach dem Zweiten Weltkrieg den langen vitalen Faden noch einmal aufnahm. Wir lasen eifrig Guardini, setzten uns für eine lebendige Teilnahme im Gottesdienst ein und fochten dafür manchen Strauß aus. In meiner Pfarrei der Diözese Freiburg war einiges schon gut geregelt. Die „deutsche Singmesse“ war mir ebenso bekannt wie die deutsche Vesper und die deutschen Klagelieder des Jeremia in den alljährlichen Karmetten. Gerade sie gehörten zu den bewegendsten Gottesdiensten meiner Kindheit, einfach deshalb, weil ich den dramatischen Inhalt dieser Texte verstand und mich in die Symbolik der erlöschenden Kerzen versetzen konnte.
1.1 Weltjugendtag
In diese Zeit fühlte ich mich vor einigen Wochen während des Weltjugendtags in Köln zurückversetzt. Junge Menschen setzen den Akzent. Wieder wollten sie die Gottesdienste beleben; inzwischen sind kräftigere Rhythmen, wohl auch mehr Kitsch hinzugekommen. Aber im Grunde kam eine Grundspannung hinzu, die ich lange Zeit für überholt hielt. Der Katechismus, der da gelehrt und verteilt wurde, war im Grunde der alte, von exegetischen Erkenntnissen und einem gesellschaftskritischen Bewusstsein unberührt, als wäre seit fünfzig Jahren nichts geschehen. Innerlichkeit war Trumpf, Konservatismus allenthalben zu spüren und gefördert. Eine junge Frau, der ich begegnete, trug die Fahne vom Großherzogtum Baden. In der Kirche der „Jugend 2000“ verehrte man das „Ausgesetzte Allerheiligste“; junge Männer warfen sich im Mittelschiff vor ihm flach auf den Boden. Auch die Bilder des großen Schlussgottesdienstes sprachen eine eindeutige Sprache. „Rückkehr des mittelalterlichen Klerikalismus“ nannte es ein bedeutender evangelischer Theologe, dessen ökumenische Gesinnung unbestreitbar ist. Der eigens errichtete Feldherrnhügel war höher denn je und bot etwa 800 Hierarchen mit herrschaftlicher Mitra umfassenden Raum, so viel, dass sich der Nachfolger Petri nicht in ihre Mitte scharen musste. Dabei wurde doch von ihm gesagt, er stärke seine Brüder. Am Fuße des Hügels riegelte dann ein Kordon von zweitausend Priestern die Standplätze der Jugendlichen nach vorne ab. Wie schon bei der Beerdigung des verstorbenen und bei der Amtseinführung des neuen Papstes war die hierarchische Symbolik, das Auftrumpfen dieser Herrschaftssymbolik, nicht zu überbieten. Offensichtlich hat sich in dieser Kirchenerfahrung, in dieser triumphalen Ästhetik, die ungezählte Menschen bis ins Tiefste prägt, seit damals nichts geändert. Vielleicht haben wir die Liturgische Bewegung zu unkritisch übernommen. Bischofsmitren bedeuteten uns damals viel. Schon 1932 sprach Odo Casel vom „Führerprinzip“, von dem die katholische Liturgie geprägt sei. Ungezählte Katholiken wurden in dieser Erfahrung bestätigt, sooft sie einem Gottesdienst oder einem Pontifikalamt beiwohnten.
Ich beginne mein Referat mit dieser Beobachtung, um deutlich zu machen, dass Religionen – die römisch-katholische Kirche zumal – jahrhundertealte Erfahrungen weitertragen und immer wieder zementieren; wie sollen wir das kritisieren? Die gesamte biblische Tradition ist von einem Gott der Macht und der Hoheit geprägt. Er ist von einem Hofstaat umgeben und wird in der Frömmigkeit mit höfischen Formeln verehrt. Wir reden – das wiederum ist ganz unbiblisch – vom „allmächtigen“ Gott. So verwundert es nicht, dass dieser erhabene Vatergott auf seine Stellvertreter und die Mittler seines Heils ausstrahlt. Angesichts der ungezählten Rückschläge, die wir seit 1965 auf der Suche nach einer geschwisterlichen Kirche erlitten haben meine ich deshalb, dass wir mit der Reform der Kirche nicht früh, nicht tief und nicht radikal genug ansetzen können. Der jesuanische Impuls setzt entschiedener an, als wir lange Zeit meinten.
1.2 Nichts geändert
Wo steht die katholische Kirche Deutschlands zehn Jahre nach Beginn der Kirchen-Volks-Bewegung? Wo steht im Herbst 2005 die Kirche Europas? Dieses Jahr hat genug Anlass gegeben, um darüber nachzudenken. Wir blicken zurück auf den Tod Johannes Pauls II. mit seinem ungeheuren Medienecho und einem emotionalen Hype sondergleichen. Wir blicken zurück auf die Wahl seines Nachfolgers mit der – sagen wir es offen – herben Enttäuschung darüber, dass ausgerechnet er gewählt wurde. Er ist ja genau die Person, die kompromissloser für die autoritäre Politik seines Vorgängers stand als jeder andere. Teils erfreut, teils irritiert wurden wir zu Zeugen des Weltjugendtags in Köln. Er präsentierte uns eine Jugend, die uns in ihrer Mischung von Authentizität und Naivität schlicht ratlos machte. Wir stellen fest, dass wir mit unseren Anliegen so gut wie keinen Erfolg hatten. Das Rad dreht sich weiter und die Älteren, schon länger unter uns Engagierten fragen sich, warum auch die theologische Diskussion in Fragen der Kirchenstruktur seit den 60er Jahren im Grunde nicht weitergekommen ist. Auf der anderen Seite entwickelt sich die Welt weiter. Sie wartet nicht, bis die Kirche ihre Hausaufgaben gemacht und die letzten 50 Jahre auch nur ansatzweise begriffen hat. Neue und bislang unbekannte Probleme türmen sich auf, ohne dass sich die Kirche darauf vorbereitet hätte. Entwicklungen bahnen sich an, auf die eine ganze Menschheit voller Unsicherheit, mit Angst und Bestürzung reagiert. Nachdem viele junge Menschen mit Kirche und Glaubenslehre so gut wie keine Erfahrung mehr haben, erwarten sie von Religion und Religiosität in völlig unkritischer Weise Hilfe, wobei Religion, das christliche Angebot eingeschlossen, zur Marktware geworden ist. Diese jungen Leute kommen in der Regel von außerhalb und erwarten unverbindliche Hilfe. Was für eine Hilfe erwarten sie? Und warum werten die Kirchenleitungen diese neue, höchst zwiespältige religiöse Welle als Erfolg?
Diesen Punkt möchte ich mit Ihnen besprechen. In seiner Kritik an Bischöfen und Papst in den vergangenen Jahren sowie in seiner Bilanz des letzten Pontifikats hat Hans Küng stark auf die Diskrepanz abgehoben, die sich zwischen dem offiziell kirchlichen Verhalten nach außen und dem nach innen ergab:
– nach außen Friedensappelle und Bitte um Vergebung, nach innen Disziplinierung und eine unbarmherzige Sanktionsmentalität;
– nach außen Aufruf zum Frieden und zum Widerstand gegen autoritäre Verhältnisse, nach innen die Zementierung von autoritären Strukturen;
– nach außen die Einforderung der Menschenrechte, nach innen Diskriminierung der Frauen;
– nach außen die Hochschätzung für die Welt und die Güter des Lebens, ein Ja zu den Menschen mit Seele und Leib, nach innen nach wie vor die Diskriminierung der Sexualität, sofern sie der Zeugung von Nachkommen nicht strikt untergeordnet ist;
– nach außen eine neue Gesprächskultur mit Wissenschaftlern und Männern der Politik, nach innen die Verweigerung einer jeden Diskussionskultur, die Überwachung aller, die ein kritisches Wort wagen;
– nach außen ein Papst, der keine Gelegenheit versäumte, die Staaten der ganzen Welt zu besuchen, nach innen eine wachsende Selbstisolierung auf traditionelle Formeln.
Wie war, wie ist eine solch zweigleisige Politik und in diesem Ausmaß möglich und von welchen Motiven wird sie geleitet? Treiben wir keine psychologische Motivforschung; Die Seelengründe der Hierarchen sind relativ uninteressant. Halten wir zunächst die Tatsache selbst fest und konstatieren wir, dass und wie sehr in den vergangenen Jahren Roms Innen- und Außenpolitik immer schärfer auseinander klaffte. Sie hängt vielleicht damit zusammen, dass Rom im Grunde immer noch militärisch und nach Art von Männerbünden denkt. Das Innen und Außen, die Schutzbefohlenen und die potentiellen Feinde sind ja klar unterschieden und nichts ist gefährlicher als innere Kritik. Dort gilt: Wir sind umso effektiver nach außen, als wir nach innen die Reihen schließen. Jede Bedrohung von außen verlangt also wie im Kriegsfall, dass interne Diskussionen aufzuschieben, wenn nicht ganz zu verbieten sind. Von seiner Biographie her ist es verständlich, aber auch ganz offenkundig, wie hart der verstorbene Papst diese Strategie durchgesetzt hat und was die Folgen sind:
– eine durch und durch autoritäre Kirchenstruktur, die demokratische Regelungen als Versuchung ablehnt und eine Gesprächskultur als Gefährdung erfährt;
– ein Bischofskollegium, das keinen Widerspruch wagte, so dass nur ganz wenige allenfalls interne Kritik wagten;
– die Privilegierung von konservativ-autoritären Bischöfen, die oft sogar gegen ihre weniger konservativen Kollegen agierten;
– immer wieder Sanktionen gegen Seelsorger und Seelsorgerinnen, gegen Männer und Frauen im Lehrberuf, sei es an Schule oder Universität, sobald sie nur auf einen Missstand hinwiesen;
– die enge und völlig unflexible Fixierung auf sowie die harte Durchsetzung von einigen Prinzipien, die viel mit der Psychologie einer militärischen Riege und wenig mit dem Evangelium zu tun haben: Zölibat, Ausschluss von Frauen aus kirchlichen Leitungsämtern, Rückfall auf eine sakramentalistische, geradezu magische Sicht dessen, was die Kirche ausmacht;
– die neue Kultivierung einer althergebrachten Selbstgefälligkeit und Rechthaberei, die jedes geschwisterliche Verhalten gegenüber anderen Kirchen ausschließt.
Dafür gibt es viele Gründe, die hier nicht näher zu analysieren sind. Im Rückblick stelle ich nur mit einigem Erschrecken fest, dass die vorherrschende Theologie (jedenfalls die sogenannte systematische Theologie) in den vergangenen Jahrzehnten wenig gelernt oder Mut bewiesen hat. Immer neu hat sie die alten Modelle aufgeputzt und legitimiert. Nicht nur die Theologie, die der frühere Kardinal Josef Ratzinger popagiert und immer wieder erzwungen hat, geht vom Prinzip einer unveränderlichen Wahrheit und Glaubenssprache aus, sondern auch die vielen Ansätze, die die Theologensprache immer wieder in unverständliche Höhen getrieben und damit unverständlich gemacht haben. Der große Impuls der sechziger Jahre, der nach einem Glauben im Kontext dieser Welt suchte, wurde nicht übernommen, weil er zu unerwarteten Entwicklungen führte. Die einen hatten Probleme mit der Befreiungstheologie, die anderen mit therapeutischen Aspekten, die dritten sahen das Abendland überhaupt untergehen und die vierten verwechselten die Glaubenssprache mit einer höheren Theosophie. Je mehr sich aber die Kirchenleitung nur noch nach innen orientierte und die Außenwelt vergaß, umso mehr entstand der Eindruck, dass eine zeitgemäße Theologie nur noch die weltlichen Fragen beackert und den Glauben der Kirche sich selbst überlässt. Es entstand ein höchst gefährlicher Zirkel, den wir endlich durchbrechen müssen.
II. Drei Diagnosen und Visionen
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Kirche ihre Selbstdarstellung perfektioniert. Damit hat sie die Sonderposition noch einmal legitimiert und ideologisiert, in die sie sich seit dem 19. Jahrhundert manövriert hatte. Sie machte aus der Not der Säkularisierung eine wohlgelittene Tugend[1]. Sie erfährt es nicht einmal als Problem, dass sie als eine Organisation erscheint, die eine eigene Kleidung trägt und eigene Regeln entwickelt, eigene Organisationsprinzipien und Verhaltensmuster pflegt, eigene Welturteile und immer noch eine eigene Sprache kultiviert. Anscheinend haben die kleinen Zöpfe, die nach dem II. Vatikanischen Konzil abgeschnitten wurden, unsere Kader nicht befreit und weltoffener gemacht, sondern verunsichert und – wie sie meinen – von ihrer wahren Aufgabe abgelenkt. Schon in der Einleitung zu jenem berühmten Buch „Einführung ins Christentum“ berichtet der damalige Prof. Ratzinger unwillig von jenen modernen Theologen, die meinten, in normalem Zivil gehen zu müssen, als bedeute der Verzicht aufs Kollar und auf einen schwarzen Anzug schon Glaubensverrat. Nun sollten wir das wahre Zeugnis für den Glauben nicht im Gegenzug von solchem Zeichenverzicht abhängig machen, obwohl es schon wichtig ist, dass wir auch die kleinen und unbedeutenden Stolpersteine aus dem Weg räumen. Aber die meisten kleinen und großen Codes und Verhaltensregeln, von denen ich gesprochen habe, werben zugleich für eine vergangene Zeit. Das Kollar signalisiert für viele eben einen Männerbund, die alte Sprache mit ihrer Natursymbolik eine Untergebenheitsgeste. Die alte Kirchenorganisation strahlt Missachtung gegenüber einer demokratischen Gesinnung aus. Die Tatsache, dass Bischöfe nach wie vor unabsetzbar sind, oder dass ein Papst nicht zurücktritt, privilegiert nicht gerade eine geschwisterliche Kirche.
So müssen wir nachdenken, auf welchen Ebenen wir für eine zukunftsfähige Kirche kämpfen sollen. Wir sollten nicht nur unsere Ideale von Geschwisterlichkeit und der Förderung von Menschenrechten, sondern auch eine offene Beziehungsfähigkeit und den Abbau des kirchlichen Standesdenken propagieren. Wir müssen vielmehr zu Spezialisten in Erkennen und Diagnose all jener kleinen Signale werden, die den oft unbeweglichen Koloss und Global Player zementieren. Immerhin geht es um eine Organisation von einer Milliarde von Anhängern. Alle die genannten und viele andere Signale haben ja zunächst mit früheren Jahrhunderten, mit undemokratischen Weltsichten, mit einer versunkenen Kultur, also mit Nostalgie zu tun. Dadurch umgeben wir Gott mit Vergangenheit; Gott und sein Heil werden zu einer Sache der Geschichte, so dass wir uns nur noch mit Überholtem beschäftigen. Dabei haben wir gelernt – und wer stimmt diesem Wort nicht zu –, dass Gott immer ein Gott der Zukunft, dass das Heil immer und definitionsgemäß im Kommen ist.
Lassen wir uns deshalb auf drei diagnostische Felder ein. Sie provozieren Fragen, sind zugleich aber Anlass für drei Visionen – Teilvisionen jedenfalls, die das beleuchten können, was wir von einer zukünftigen Kirche erwarten.
2.1 Eine Jugend, die draußen bleibt? – Für eine lernfähige Kirche
Wie steht es mit diesem Innen und Außen, mit dieser auseinanderklaffenden kirchlichen Innen- und Außenkultur gegenüber einer Generation, die an die Kirchenkultur der älteren Generationen, also des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts keinen Anschluss mehr findet? Es ist nicht nur ein Problem der Kirchenoffiziellen. Das Problem trifft auch uns, da auch wir eine Kirchenkultur pflegen, die jüngere Menschen nicht unbedingt anlockt. Was ist anders geworden? Warum neigen wir im Grunde alle zu dieser Spaltung?
Wir kommen aus einer Glaubenskultur, welche die komplizierten, hoch komplexen Inhalte der christlichen Überlieferung nicht mehr einfach wiederzugeben weiß, oder die Vereinfachungen mit einem schlechten Gewissen bezahlt. Ist diese Situation neu? Nein, denn kompliziert waren diese Inhalte immer, aber unsere Großeltern und Eltern gingen noch damit um, indem sie den Katechismus gut lernten und vielleicht nachvollzogen. Aber noch komplexer, d.h. zu einem unentwirrbaren Knäuel wurde diese Tradition für viele dann nach dem II. Vatikanischen Konzil. Denn jetzt prallten zum ersten Mal gegensätzliche Sprachwelten (die wissenschaftliche und die religiöse), gegensätzliche Denkstile (eine agrarische und eine soziologische) und gegensätzliche Präsentationen (eine traditionell liturgische und eine mediale) aufeinander. Vieles wurde vom Kopf auf die Füße gestellt. Wir aber behaupteten Kontinuität, ohne die Tiefe des Umbruchs zu erkennen. Komplex wurde die Lage auch, weil eine einfache Glaubenssprache und wissenschaftliche Reflexionen einander aushebelten. Wem etwa gelang es glaubwürdig, den Sinn der biblischen Schöpfungsgeschichte neben dem Bericht der Evolutionstheorie darzulegen und zu verhindern, dass bei Schülern nur Halbwahrheiten übrig blieben? Wer konnte erklären, dass Gott in allem handelt und dennoch wir alles tun, dass es Wunder gibt, ohne dass Gott einfach interveniert? Wir vollzogen einen Kurswechsel vom Glaubensbekenntnis zur Glaubensgeschichte, von einer spirituellen und durchaus schöpferischen Exegese zu einer historischen Rekonstruktion vergangener Ereignisse, von blanken Theorieelementen („der Mensch hat eine Seele“) zu ihren kulturellen und sozialen Einbettungen („das ist ein platonischer Gedanke“), von der Konfrontation mit dem Übernatürlichen („Gott handelt und lässt zu“) zur Suche nach einer humanen und ethisch begründeten Humanität („Gottes Hände sind unsere Hände“). Gerade die Auflösung von Gnade und Heil in die Güte des menschlichen Alltags führte zur oft verdrängten Frage, was wirklich von Gott komme, was daran noch christlich sei. Was ist noch religiös an der Aussage, Jesus sei unser Freund?
Vor diesem Hintergrund erheben Konservative in unserer Kirche verstärkt den Vorwurf, wir hätten die Dimension des Göttlichen aufgegeben. Von der Gnade sei nur ein wenig Humanität übrig geblieben und vom persönlichen Gott nur ein unaussprechliches Etwas oder eine anonyme Energie. Kommen wahre Humanität, die Fähigkeit zu Gerechtigkeit und Frieden nicht aus einem unbeschädigten, demütigen, der Tradition getreuen Glauben? Sie haben mit dieser schrecklichen Vereinfachung nicht recht, aber sie schwimmen auf der Welle der Verunsicherten, die neu nach der Identität, also einem unbeschädigten Innenraum des Christlichen suchen. Sie erwecken den Eindruck, dieser sei ohne Kontakt mit einer veränderten Umwelt – ohne die „Relevanz“, wie die Fachleute sagen – zu bekommen. Sie leisten genau dem Phänomen Vorschub, das ich oben genannt habe, der wachsenden Kluft zwischen einer Innenwelt, die scheinbar funktioniert, und einer Selbstdarstellung, die ganz andere Prinzipien bevorzugt.
Bringt uns diese Diagnose weiter? Inzwischen ist eine Generation herangewachsen, die unsere christliche Religionspraxis (in welcher Kirche auch immer) nur noch bedingt kennt. Sie hat keine Erfahrungen mehr mit den Folgen einer autoritär gepolten Frömmigkeit und hegt keine Erwartungen mehr in eine Institution, die das ganze Leben umfassen will. Sie denkt nicht mehr an gemeinsame Handlungsfähigkeit und an Kontinuität und lässt sich kaum mehr auf eine bleibende Verbindlichkeit ansprechen. Für eine Generation zuvor galt für die existentiellen Grundentscheidungen des Lebens ja noch immer ein „bis dass der Tod euch scheidet“. Für viele jungen Menschen stellt sich diese Frage nicht mehr. Genauer gesagt, im Überangebot von Unterhaltung und Ablenkung, Wellness und Selbstbeobachtung, von Wissensressourcen und religiöser Sinngebung (auch dies inzwischen ein Element des Marktes) kommen sie überhaupt nicht mehr dazu, diese Frage zu stellen. Damit stellen sie Grundhaltungen wie Verlässlichkeit, Treue und gegenseitige Verantwortung nicht ausdrücklich in Frage, aber diese werden von Situationen abhängig, treten nur von Augenblick zu Augenblick in Kraft. Diese Generation nimmt Religion weder von ihrer Innen- noch von ihrer Außenseite, sondern in ihrem Event-Charakter wahr. Man entdeckt das augenblickliche Ereignis, das Erlebnis, den intensiven Moment, ohne dabei über den kommenden Tag nachzudenken.
Auf den ersten Blick kommt diese Haltung einer religiösen Grundhaltung zugute. Wir hätten das schon von der eschatologischen Hochspannung in der Zeit Jesu lernen können, als man das Reich Gottes unmittelbar im Anbrechen sah: „Gottes Reich ist im Kommen!“ Ganz offensichtlich beginnt authentische religiöse Erfahrung mit dem Außerordentlichen, der Ekstase, der Entflammbarkeit (Röm 12,11), mit Sturm und Feuerfunken (Apg 2,1-4), dem Schrei nach dem Neuen, der in unseren domestizierten Übersetzungen ein „Seufzen“ genannt wird (Röm 8,26), ob es mit dem „ozeanischen Gefühl“ (Freud) derer identisch ist, die sich von einem allgemeinen kosmischen Fluidum getragen wissen, sei dahingestellt. Wer sich nämlich nur ihm überlässt und es dabei belässt, übersieht, dass zu einer tragfähigen Religion und Religiosität auch die Frage nach der Tragfähigkeit, nach der Konfrontation mit Vergehen und Vergänglichkeit, nach den Zeiten des Nicht-Events, der Leere und der Verlockung gehört. Mystische Ekstase steht mit der „Nacht der Seele“ (Johannes vom Kreuz) immer in Korrespondenz. Bei der Fixierung auf den Augenblick des Erlebens bleibt religiöse Erfahrung zudem in einer leeren Hülle stecken, die gegenüber Inhalten, Erinnerungen und Zukunftszielen im Grunde neutral bleibt, so wie manche „Meditationsmusik“ für diejenigen, die nach Inhalten fragen, zum leeren, endlosen, auch ziellosen Geklimper wird. Sie entführt in eine atmosphärisch ungreifbare Welt ohne Beginn und Ende, ohne Dramatik und einen Punkt, an dem sich die Wirklichkeit meines Lebens, einer Gemeinschaft oder der Welt entscheidet.
Diese Event-Kultur bringt die christlichen Kirchen unseres Kulturkreises in eine unerwartete Situation, denn jetzt haben wir es mit einem Zugang zum Religiösen zu tun, der sich als sehr persönliche, als völlig private Sondererfahrung präsentiert und für den dann die entscheidende Frage offen bleibt: Wie wird diese Erfahrung in die große Erinnerung unseres Glaubens, in der traditionellen Institution (die wir christlichen Lebensweg nennen) verankert? Was besagt eine solche Erfahrung für die Begegnung mit einem schenkenden und fordernden Gott, mit der messianischen Hoffnung des Jesus von Nazareth? Wie können wir – aus der Perspektive der christlichen Tradition gesprochen – diese christliche Innenerfahrung des christlichen Glaubens mit dieser exstatischen Außenerfahrung einer neuen Generation in Beziehung setzen? Müssten wir die jungen Menschen nicht ins Gespräch und in die Auseinandersetzung ziehen? Reicht ein Außenverhältnis, in dem die christliche Glaubensverkündigung sich jetzt als Kulisse solcher Ekstase, als die Fortsetzung religiöser Ex- oder Implosion begreift?
Diese Event-Kultur entsteht ja nicht zufällig. Wir müssen sie (ähnlich wie den kirchlichen Fundamentalismus ) zugleich als Reaktion auf eine dramatisch beschleunigte Welt begreifen, als die Suche nach Orientierung, nach Ankerpunkten in einer verunsicherten Zeit; deshalb ist sie für autoritäre Figuren und Institutionen so anfällig. Diese Entwicklung in unserem kulturellen Klima betrifft die Kirchen ganz besonders, denn sie haben eine geradezu symbolische Bedeutung für bleibende Werte und Erinnerungen, die auf zeitlose Dogmen gegründet sind. In diesem Kontrast werden alle schnellen Veränderungen religionsproduktiv[2], weil sie Orientierungssuche und Überschreitungen herausfordern. Genau hier liegt die große Versuchung begründet, junge Menschen anzulocken und sie – wie auch immer – in unsere Innenwelt hineinzuholen, ihnen etwas anzubieten, das sie nur noch von außen erreichen kann. So versuchen wir, die Jugend zu ändern, statt uns nach den Erwartungen zu ändern, die uns bei jungen Menschen begegnen. Unsere Kirchenleitungen sonnen sich im Jubel jugendlicher Mega-Ereignisse und verbuchen dies als Erfolg. Gewiss behält die Jugend so diese Ereignisse in guter Erinnerung (aus welchen Gründen auch immer), aber die Lebenspraxis und ethische Ausrichtung, die innere Struktur und die Weltinterpretation der Organisatorin des Events interessiert sie relativ wenig. Es reicht eben nicht, sich an den Rändern eines unveränderlichen Glaubens freundlich zu zeigen. Es reicht nicht, seinen reichen Schatz an Selbstdarstellung und Symbolen zum Großereignis zu machen. Es bedeutet keine Hilfe, wenn wir unsere Identität festklopfen und nur nach neuen Wegen der Propaganda suchen[3]. Unsere Gemeinden finden nur dann Zukunft, wenn sie sich auf einen offenen, oft mühsamen, in jedem Fall herausfordernden Kontakt mit der jungen Generation einlassen und das Risiko der eigenen Veränderung eingehen. Zwar sind Jugend und Jungsein heute zu einem Wert an sich geworden; darum geht es hier nicht. Die Jugend ist aber die Generation, die unsere Epoche vermutlich am besten begreift, weil die jungen Menschen von ihr unmittelbar geprägt sind und von ihr abhängen. Sie haben die Beweglichkeit, die Offenheit und Anpassungsfähigkeit, die wir eben in unserer eigenen Jugend kannten und oft eingebüßt haben. Sie sind sensibel zugleich für alles, was schnell vorbeigeht und für Haltungen, die auf Dauer überzeugen können, – gerade dann, wenn sie nicht mit dem erdrückenden Anspruch des Zeitlosen daherkommen. So wurden Jungsein und Jugend zum Traum, zur Vision und zur geheimen Hoffnung vieler, die an den schnellen Alterungsprozessen in unserer Kirche verzweifeln. Diesen Traum verwirklichen wir aber nur, wenn wir von jungen Menschen lernen.
Leider haben sich im offiziellen Verhalten der römisch-katholischen Kirche die Innen- und die Außenperspektiven gespalten; davon habe ich oben gesprochen; im vergangenen Jahr war es mit scharfen Konturen zu beobachten. Die Hoffnung der katholischen Kirche auf eine enthusiastische, tanzende und jubelnde Papa-, Giovanni- und Benedetto-Jugend wird leider weiterhin gefördert. Von einem religiösen Frühling ist die Rede, von einem Aufwind der Kirche, von Kircheneintritten und von Anmeldungen in Priesterseminaren. Ich fürchte, dass dieser Wind nicht lange anhält; die Wellen der Entchristlichung hält niemand auf. Es sind ferner die Falschen, die da kommen und sich engagieren möchten. Es sind nicht diejenigen, die ihr Kirchenengagement erprobt haben und vor Jahren um eines besseren Christentums willen gegangen sind. Es sind solche, die alte Werte und überholte Ideale suchen.
Leider wird auch darüber nicht geredet. Wir fordern deshalb eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Erscheinung und mit der Frage, was die jugendlichen Gruppierungen (auch sie sind unterschiedlich) nun wirklich erwarten, was wir von ihnen in Fragen der Kirchenerneuerung gerade nicht erwarten können. Unsere Kirchenleitungen haben die Chancen dieser Begegnung noch nicht erkannt. Noch immer meint man, die konkreten Inhalte des Glaubens seien unveränderlich, für jeden Menschen selbstverständlich. Deshalb müssen auch Kirchenführungen lernen, was die Kirche in unserer Epoche schon längst weiß, dass der christliche Glaube stetig veränderlich ist und veränderlich sein muss. Wer fertige Lieferungen weitergibt, verfälscht deren Inhalt. Eine Kirche der abgepackten Inhalte würde übersehen, was die wirklichen Alternativen unserer Jugend sind. Entweder sie belässt es bei großen Events, ohne weitere Konsequenzen zu ziehen, oder sie will früher oder später wissen, was ihnen auf Dauer und in gelebten Widerständen Halt gibt.
So möchte ich den sympathischen Charakter, die Freundlichkeit, oft auch die Sanftheit und den guten Willen derer nicht verkennen, die wir bei jungen Menschen oft spüren, eben auch bei den 800.000 Besucherinnen und Besuchern des Weltjugendtags in Köln. Ich preise ihre Kreativität und ihre Lebensfreude. Probleme bereitet mir aber die Kurzschlüssigkeit, mit der man den Jubel dieser Jugend als Bestätigung von Kirche und kirchlichem Glauben aufnimmt. Diese Jugend kommt von außen und ich fürchte, dass der weitaus größere Teil dieser Jugend draußen bleibt. Ich will ihnen ihre Menschlichkeit nicht absprechen, ebenso wenig ihre Religiosität, schon gar nicht ihre Fähigkeit, sich in Gemeinschaften der Freude, der Begegnung und des Vertrauens einzufügen. Aber noch einmal, sie bleiben im Außenraum dessen stehen, was kirchliche Identität, was das tägliche Ringen um Geschwisterlichkeit, um Solidarität, um versöhnende Konfliktlösungen in der Nachfolge Jesu bedeutet. Wir können nicht erwarten, dass man die innere Identität des Christseins aus der Relevanz ableitet, die man im Augenblicksereignis eines kirchlichen Treffens erkennt.
Dabei ist ganz offenkundig, dass die Frömmigkeit der Jugend nicht nur zur Kenntnis genommen und genossen, sondern zugleich gesteuert wird. Offenkundig war etwa die Privilegierung konservativer Jugendgruppen in Köln (seien es Schönstadt, Jugend 2000, neues Katechumenat oder „juventutem meam“); kirchenkritische Gruppen wurden in evangelische Kirchenräume abgedrängt. Opus Dei stand Pate für das Treffen des Papstes mit jungen Priesteramtskandidaten. Das Glaubensbuch, das während der Kölner Tage zu Zehntausenden in mehreren Sprachen verteilt wurde, bot traditionellste Kost in einer Glaubenssprache, die einen vormodernen Kirchenstil bestätigt. Kardinal Meisner jubelte, die Zeit der progressiven Theologen sei endgültig abgelaufen (und er meinte die Zeit kirchlicher Reformen gleich mit). Im Grunde hat man auf die Jugend nicht gehört. Man bot ihr keine Zeit, zu sich zu kommen und sich Meinungen zu bilden. Der Aufruf des Papstes in seiner offiziellen Abschlusspredigt endete mit dem Aufruf, die Nächsten zu lieben und sonntags in die Kirche zu gehen. Kommet herein, die ihr draußen steht und die ihr von uns lernen könnt.
Ich bin zutiefst davon überzeugt: Solche Lockrufe an unsere Jugend höhlen die Glaubenssubstanz unserer Kirche und die tiefreichende Herausforderung des christlichen Handelns von innen her aus. Die Verkündigung wird zur Massenveranstaltung und Selbstbestätigung verunstaltet. Man versammelt 800.000 und täuscht damit eine Gesamtüberzeugung vor, die mit dem christlichen Jubel derer, die im Geiste Gottes „seufzen“, nicht viel zu tun hat. 10.000 Jugendliche hätten für ein wirklich geistliches Ereignis völlig gereicht. Ein Gespür für dieses Problem hatte schon vor über 30 Jahren (der während der Kölner Tage ermordete) Roger Schutz entwickelt. Er, der eigentliche Erfinder internationaler Jugendtage, rief 1973 das erste „Konzil der Jugend“ aus, wollte aber angesichts der ersten Erfolge einen beginnenden Massentourismus vermeiden. Deshalb sorgte er dafür, dass die Jugend nicht an einem Ort zu immer größeren Massenaufläufen zusammen kam. 1982 kündigte er einen Jahre dauernden „Pilgerweg des Vertrauens“ an[4]. An den jährlichen Zusammenkünften beteiligten und beteiligen sich dann immer noch Zehntausende von Jugendlichen. Aber sie versammeln sich dezentral, an überschaubaren Orten. Sie treten einen sehr einfachen Gang durch die Welt an, weil christliches Lebensverständnis nicht im exstatischen Gang, nicht hinter nationalen Fahnen (wie in Köln zu beobachten), sondern im gemeinsamen Gehen, im individuellen Gespräch und angesichts der Probleme der Welt entsteht. Die Qualität der Gemeinschaft lässt sich dann nicht mehr steigern. Nicht beim Jubel um einen Feldherrnhügel, sondern auf dem Weg einer Gemeinschaft lassen sich Glaube, Kommunikation und Solidarität wirklich einüben. Nur auf diesem Weg öffnen sich jungen Menschen die Tore nach innen. Dass sich diese Tore erst allmählich öffnen können, das ist m.E. allgemeine Überzeugung.
An diesem Punkt knüpft meine Vision für ein verjüngtes, für ein im Herzen und im Geist junges Gottesvolk an. Es ist keine Gemeinschaft, die die Freude und den Jubel fürchtet, gewiss nicht. Es ist auch keine Gemeinschaft, die sich vor dem offenen Bekenntnis und vor klaren Zukunftsbildern scheut. Vielmehr ist es eine Gemeinschaft, die auf einem gemeinsamen Weg, ohne Rücksicht auf Alter und Vermögen den Berg der Freude erklimmt. Denn auch dieser Berg will erklommen sein. Es geht um eine neue und verjüngte Identität, die nicht vorschnell auf Relevanz, Bedeutung und einen guten Eindruck schielt. Diese erneuerte Identität sucht und liebt den Erfolg, kümmert sich aber ohne Erfolgszwang und ohne Erfolgspräsentation um die Sache selbst. Es gibt diese engagierte Jugend, die sich um die Sache selber kümmert; es gab sie auch in Köln. Dass man sie gesucht und dargestellt hat, nur das möchte ich bezweifeln.
Müssen wir die junge Generation bei ihre Neuentdeckung religiöser Erfahrungen also mit beißendem Moralismus und mit unseren alten Verpflichtungserwartungen empfangen? Sollen wir ihnen unsere unerschwinglichen Bedingungen vorlegen? Nein, aber wir können sie dazu einladen, dass sie mit uns, vielleicht getrennt von uns, einen Weg geht, der – unabhängig vom Bekenntnis zu Jesus – die Sache der Menschen gerade auf steinigen und risikoreichen Wegstrecken verfolgt. Genau genommen ist diese Sache größer und immer auch umfassender, als das, was eine Kirche konkret und an einem bestimmten Ort tun kann. Aber vergessen wir nicht, dass es, Gott sei Dank, nie gelungen ist, die Grenzen der institutionellen Kirche überzeugend festzulegen. Die Kirche hat immer offene Grenzen. Zäune sind vom Übel, weil sie ihre Identität in jeder Zeit neu suchen muss; gerade deshalb kann sie Innen und Außen nicht so trennen, wie es im Augenblick in offiziellen Kreisen geschieht. Ich sehe eine Kirche, die genau aus diesem Grunde nicht Jugend im Megastil anlockt, sondern die selbst jung und dadurch bei der Jugend ist; die nicht bei der Jugend ankommen will, sondern Jugend bei sich ankommen lässt. Letzteres ist weitaus schwieriger und geschieht nicht in Großveranstaltungen, sondern vor Ort. Es wird möglich, sobald wir Kontakte und nicht Kontakterfolge, sobald wir Geschwisterlichkeit und nicht einfach das Pathos der Menschenrechtskataloge einüben.
Das ist eine wirkliche Vision. Kirche kann jung sein. Sie kann neu lernen, neu träumen und Zukunft entdecken. Wenn auf solchen Entdeckungsreisen dann wirklicher Jubel ausbricht, dann mögen wir auch den Spott derer akzeptieren, die sagen: „Sie sind voll süßen Weines.“ Dann können wir nämlich in aller Ruhe und wirklich prophetisch antworten „Eure Söhne und Töchter weissagen und die jungen Menschen schauen in die Zukunft, eure Alten träumen … Und ich werde Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf der Erde“ (vgl. Apg 2,13-19). Solche Zeichen werden nicht von außen herbeigerufen und nach außen präsentiert, sondern von innen her die Identität unserer Kirche neu bestimmen.
2.2 Eine Öffentlichkeit, die verführt werden soll? – Für eine authentische Kirche
Die schleichende Deformation unserer Kirche zeigt sich noch an einem anderen Punkt. Er bedeutet für die Identität unserer Kirche eine neue und ebenso große Gefahr. Vielleicht rede ich zu früh von einer Deformation. Vielleicht haben wir es nur mit ersten missglückten Schritten gegenüber einem Phänomen zu tun, das frühere Generationen noch nicht, wenigstens noch nicht in diesem Ausmaß kannten. Dabei beziehe ich mich in erster Linie auf unseren Kulturkreis. Ich meine das Phänomen der Öffentlichkeit und der öffentlichen Meinung, das Phänomen einer Medienwelt, die sich inzwischen zu einer eigenen technischen, gesellschaftlichen und kulturellen Macht verselbständigt hat, dies in seiner Zeit, die aus der Erfahrung einer unberechenbaren Zukunft, verlorener Werte und wankender Orientierungen lebt.
Da gibt es zum Beginn des 21. Jahrhunderts eine öffentliche Meinung und in ihr eine Kirche, die sich nach Zeiten langen Abstiegs wieder im Aufwind fühlt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war vom Erwachen der Kirche in den Seelen der Menschen die Rede; scheint sich dieses Erwachen jetzt endlich im öffentlichen Bewusstsein zu bestätigen? Ich persönlich glaube nicht, dass dies unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit entspricht. Aber was bedeutet noch das Wort „Wirklichkeit“ in einer Epoche, die zum Teil ihrer Selbstdarstellung wurde und die dabei ist, in ihrem medialen Bewusstsein aufzugehen? Schafft die Aufmerksamkeit der Medien also ein religiöses Erwachen, das die kirchlichen Probleme des vergangenen Jahrhunderts löst und verschwinden lässt? Bei genauerem Zusehen erweist sich dieser Öffentlichkeits- und Medienerfolg als ein Öffentlichkeits- und Medienproblem. Lange Zeit bedeuteten „Öffentlichkeit“ und „Medienwelt“ für die Kirchen ein Trauma; man fühlte sich ständig missverstanden und hielt sich von einer oberflächlichen Presse fern. Andererseits wussten gerade die Konservativen schon seit dem 19. Jahrhundert die Möglichkeiten der Presse zu nutzen. Man ging selbst in die Offensive, baute ein kirchliches Pressewesen auf und versuchte nach außen Einfluss zu gewinnen. Dagegen ist nicht viel zu sagen.
Wo man jedoch nicht auf die Gegenliebe der Öffentlichkeit stieß oder feststellte, dass die Kritiker der Hierarchie Gehör fanden, versuchte man, die Selbstdarstellung zu verbessern. Man hat das Medienecho nicht als Spiegel der eigenen Situation begriffen, sondern ging davon aus, dass sich die Selbstdarstellung bessern müsse. So wurden die Innenprobleme der Kirche bald auf die medialen Außenprobleme projiziert. Hans Küng bildet dafür den klassischen Fall. Küng verschaffte sich dadurch Gehör, dass er Kritik und Reformvorschläge verständlich vortrug, die Bischöfe dagegen denunzierten ihn als oberflächlich und erklärten ihn zum schrecklichen Vereinfacher. Nach dem Urteil eines Kollegen benutzte der die öffentliche Meinung als Brechstange. Wer in der Biografie von Kardinal Lehmann[5] die Seiten zum Missioentzug von Hans Küng am Jahresende 1979 liest, sieht das Problem geschildert und erfährt vom Triumph, den Lehmann empfindet, weil er nach eigenem Urteil für die Hierarchie etwas ganz Wichtiges erreichte: Endlich, so Lehmann, sei es gelungen, Küngs Einfluss auf die Presse zu brechen und einen Gegeneinfluss aufzubauen. Man hat beinahe den Eindruck, ohne Mitarbeit der Medien habe die Missio nicht entzogen werden können. So hat die Kirchenleitung (Kardinal Höffner in Deutschland, der Papst in Rom, Professor Lehmann als Stratege) die für den Missioentzug entscheidenden Wochen als Kampf um die Macht der Medien begriffen. Die Relevanz der Kirche inkarnierte sich jetzt in ihrer Mediengestaltung. Dass Johannes Paul II. daran intensiv mitarbeitete, erstaunt nicht. Die Medien sind seitdem das Kraftfeld, in dem sich die Außenseite der Kirche verkörpert. Je mehr Identitäts- und Relevanzfragen also auseinander klaffen, umso mehr werden die Medien als Instrument begriffen, mit dem die Bischöfe und Rom umgehen und das sie einsetzen können, um ihre Ziele zu erreichen.
Dabei müssten die Folgerungen doch in eine andere Richtung zielen. Auf einer ersten, primären Ebene – so würde ein unbefangener Beobachter sagen – sind die Medien ja nur die Verstärker dessen, was wir in der Kirche sehen und hören können. Auf einer zweiten Ebene können sie eine neue religiöse Wirklichkeit schaffen, wenn es z.B. einen Fernsehgottesdienst gibt, an dem jetzt ungleich mehr Menschen teilnehmen können. Ob und inwieweit eine Mahlfeier mit Millionen von Zuschauern noch wirklich die Mahlfeier der Anwesenden bleibt, sei hier nicht näher diskutiert. Umgekehrt können die Medien auch eine mikroskopische Präzision entfalten, die Frömmigkeit erhöht oder Zerstreuung entlarvt. Sie zeigen ja in höchster Genauigkeit unsere Körpersprache, jede Regung der Gesichtsmuskeln, jede Unruhe in der Hand, jedes Beben in der Stimme. Deshalb bedeuten die Medien auf diesen Ebenen eine hohe Herausforderung an unsere Authentizität, an die Übereinstimmung von Außen und Innen, an unsere leibgewordene Ehrlichkeit und an den Mut, auch Unsicherheit und Schwächen zu zeigen. Wer auf diesen Ebenen vor den Medien bestehen will, muss aufrichtig, klar, eindeutig und ohne Falsch sein. Jeder Versuch, die Medien zu instrumentalisieren, wird früher oder später von selbst entlarvt.
Hier setzen aber Gegenstrategien an. Man kann versuchen, die eigenen Gefahren und Schwächen zu überspielen. Der Effekt des Schauspiels tritt ein. Ein Schauspieler kann in Rollen schlüpfen. Liturgie, ohnehin auf die Darstellung des Heiligen bedacht, verändert sich dann vom vollzogenen zum gespielten Spiel; die Grenze zwischen beiden ist kaum zu erkennen. Auf einer weiteren Eben aber beginnt ein Umkehreffekt. Die Medien haben keine nur untergeordnete, nur verstärkende Funktion mehr, sondern nehmen das Heft in die Hand. Sie produzieren ihre eigenen Effekte mit Licht, Ton und Glanz, mit Tempo, mit kleinen und bald mit großen Täuschungen. Man konnte die allmählichen Veränderungen auf nationaler Ebene verfolgen. Aus der Eucharistie, gemäß eigenem Verständnis eine Mahlgemeinschaft unter Freunden und Gleichgesinnten, wurde zur Massenveranstaltung, bisweilen zur Machtdemonstration im Stadion. Selbst Kelche und Hostien mussten sich an größere, fernsehtaugliche Maßstäbe gewöhnen. Aus päpstlichen Zusammenkünften, als geistliche Ereignisse gedacht, wurden Massenaufläufe auf Großflächen mit vorprogrammierten Überwältigungsstrategien. Ekstase, Jubel und Heldenverehrung funktionierten bald wie von selbst. Die Frage der Authentizität, der Ehrlichkeit in Körpersprache und Verhalten waren aber verdrängt.
Das geistliche Problem eines erfolgreichen Umgangs mit den Medien ist deshalb in der Tatsache zu suchen, dass sich die Kirche unmerklich an Wünsche und Erwartungen der Medien anpasst. Es treffen sich ja zwei Sphären, die von Hause aus nun wirklich nicht füreinander bestimmt sind. Das ist einerseits der Gottesdienst mit seinen nach innen gewendeten Dimensionen, in denen sich die Identität unseres Glaubens ausspricht. Das ist andererseits die Mediendynamik, die Oberflächen produziert, indem sie alles nach außen wendet und eine Relevanz präsentiert, die sich erst noch erweisen muss. Oder sind sie doch füreinander bestimmt? Ist eine Kirche der Sakramente und der Symbole, der großen Liturgien und farbigen Gewänder, der großen archaischen Darstellungskunst nicht eben doch für Medien bestimmt? Nicht ohne Grund schwärmen erfolgreiche Moderatoren des deutschen Fernsehens noch immer von ihrer Ministrantenzeit, seien es Harald Schmidt, Thomas Gottschalk oder der altgediente Alfred Biolek. Aber je mehr sich die beiden Reiche aufeinander einspielen, umso mehr überschneiden sie sich, treffen sie einander und lernen voneinander – sei es bei der sonntäglichen Fernsehmesse, dem jährlichen Kirchentag oder den großen Papstreisen der vergangenen Jahre. Die Symbolkraft eines Auftritts erreicht durch den Zugriff der Fernsehkamera unerwartete Ausmaße. Man denke an die Kniefälle des Papstes beim Betreten eines neuen Landes, seinen geschwungenen Spazierstock auf der letzten Polenreise, den Ostergruß in 63 Sprachen. Selbst bei seinem Leiden in den letzten Jahren haben sich ursprüngliche Wirklichkeit und dargestellter Aussagewille in unseliger Weise vermischt.
Johannes Paul II., der geniale Meister medialer Inszenierung bis wenige Tage vor seinem Tod, hat für die katholische Kirche eine neue Ära eröffnet, die eine bis dahin ungekannte Möglichkeit bot. Er war der Meister der medialer Selbstdarstellung, aber nach Hegels Modell von Herr und Knecht wurde seine Kirche zu deren Opfer. Zwar erschien die Kirche ab jetzt in makelloser Pracht. Hunderte von Bischöfen und die Kardinäle trugen Gewänder und Mitren vom selben Schnitt und derselben Farbe (wie man sagt, meist in Asien gefertigt). Regisseure des Heiligen bekamen Hochkonjunktur. Keine Altarform, keine Thronhöhe, kein Blumenschmuck blieb jetzt dem Zufall überlassen. Kardinalseinführungen und päpstliche Weltreisen wurden zur +Gelegenheit überwältigender Prachtentfaltung; Überwältigungsstrategien wurden bewusst eingeführt. Eine perfekte Großmacht zeigte sich in imperialer Attitüde und im Prunk einer Organisation, die sich einfach glanzvoll findet. Bei seiner Amtseinführung erinnerte der neue Papst geradezu an die Ikone eines Pharao. Der Tod und die Beerdigungsriten Johannes Pauls II. zeigten den Umfang dieser Definitionsmacht auch über die Emotionen. Es ist eine Definitionsmacht, die sich Rom inzwischen ungeschmälert zugeeignet hat. Eine Hysterie der Trauer überzog die Welt (jedenfalls Polen und Westeuropa), dem Tod Dianas vergleichbar. Dass Rom dabei mehr zu bieten hatte als das gescheiterte Leben einer Prinzessin, sei dabei nicht vergessen. Aber auch jetzt waren es schließlich die Medien, die das Maß der Erschütterung bestimmten und nach Belieben zu steigern wussten.
Schon lange zuvor hatte sich das Zusammenspiel von Medien und hierarchischer Selbstdarstellung perfektioniert. Wer Macher und wer Abgebildeter, was Inszenierung und was Inhalt war, ließ sich kaum noch auseinanderhalten; widerständige Botschaften waren jedenfalls verschwunden. In Deutschland waren es ausgerechnet die Privatsender, die sich diese Stimmung nicht ohne Eigennutz aneigneten. Sie riefen dazu auf, nach Rom zu pilgern. Sie bauten die ungeheure Stimmung und die exotische Erwartungshaltung auf, die zur plötzlichen Megareise nach Rom führte – wohlgemerkt von jungen Leuten, die sich das nebenbei leisten konnten. Bei der Amtseinführung Benedikts XVI. wurde – in ersten Signalen wenigstens – deutlich, dass das Ritual seinen Hauptdarsteller einholte und allmählich überholt. Seine freundliche Erscheinung in Köln konnte diesen Umschlag nicht mehr wettmachen. Jetzt hatte einer seine Rolle zu spielen. Das schien nicht mehr schwer zu sein, denn bis zur letzten Geste schien alles festzuliegen. Jubel war dabei leicht zu erreichen und von inhaltlichen Aussagen völlig abgelöst.
Was aber soll da kritikwürdig sein? Für die Selbstpräsentation sind Innen und Außen keine verderblichen, sondern unverzichtbare Kategorien, denn religiöse Ereignisse haben ihre symbolische Ausstrahlung. Die Frage ist nur, ob und wie intensiv dieses Innen und dieses Außen aufeinander bezogen sind, welche Werte sich dabei vermitteln. Ich meine, dass die kirchliche Medienpräsenz die Innendimension des christlichen Glaubens mehr verbirgt als eröffnet. Eine Einbahnstraße wird initiiert; die Selbstverständlichkeit und Authentizität der Selbstdarstellung wird überdeckt, von wahrer Innerlichkeit und Selbstvergessenheit keine Spur. Zugleich zeigt diese Medienpräsentation ein herrschaftliches Gesellschafts-, ein hierarchisches Gottesbild. Frauen verschwinden im Hintergrund. Sexualität und alles, was darauf hindeutet, ist als Thema ausgespart. Das Gottesvolk dient nur als Geräuschkulisse und als Masse. Sein Jubel für Menschen wird zur Frömmigkeit deklariert. Ein Männerbund verfügt über Wort, Szenenpräsenz und Wahrheit. Sogar die Riege der Gesalbten, die sich doch mindestens seit ihrer Bischofsweihe gleich sind, zelebrieren Überordnung und Abhängigkeit in Zwischentönen gestaffelten Violett und Zinnoberrot, vom Weiß dessen überstrahlt, der behauptet, aller Diener zu sein. Wer in Köln zudem Meisners Begrüßungsworte an den Papst hörte (ein Bruder sei er, der seine Brüder stärkt; Lk 22,32), sieht sich enttäuscht. Sogar auf jenem Hügel, auf dem sie alle versammelt waren, stand er allein, einsam, auch ohne brüderliche Gemeinschaft. Das, was da inszeniert wird, kann kaum die Botschaft der Geschwisterlichkeit sein.
So klaffen das Innen des engagierten Kirchenvolkes und das Außen offizieller Selbstdarstellung mehr denn je auseinander. Gewiss können wir in unserer Medienwelt auf die Außendimension nicht verzichten, auch wenn sie alles vergrößert und in seinen Details ausleuchtet. Umso wichtiger ist es, dass die offizielle Kirche damit aufhört, diese Außendimension nicht permanent zu steuern und zu manipulieren und zu übersehen, dass sie gerade dadurch gesteuert und manipuliert wird. Alles kommt darauf an, dass Gottes Volk in den Medien unverstellt, ungeschönt, eben authentisch gegenwärtig ist. So wünsche ich mir eine Kirche, die den moralischen Auftrag und die Kunst des Unverstellten neu lernt. Wir brauchen eine neue Sensibilität für das, was wir zu sagen haben, eine neue Direktheit für unsere Botschaft, den Mut auch, Schwächen und Fehler gelten zu lassen. Es gibt in der klassischen Kirchenlehre des Altertums (der Benedikt XVI. anhängt) einen durch und durch platonischen Satz. Er lautet, die Kirche, die es unsichtbar seit Abel gibt, könne selbst keinen Fehler machen; sie sei in keinem Fall sündig. Nur einzelne Mitglieder der Kirche seien zur Sünde fähig. Das führt dazu, dass sich unsere Kirche offiziell immer als fehlerfrei, als nicht sündig, als nicht schuldig bekennen darf und muss. Die Medien präsentieren aber keine himmlische Idee, sondern deren irdischen Widerschein. Ich wünsche mir, dass wir diesen Widerschein des Menschlichen nach außen vermitteln und öffnen und als Kirchenwirklichkeit akzeptieren. Uns interessiert nicht das himmlische Kirchenideal, sondern die menschliche Gemeinschaft.
Im II. Vatikanischen Konzil wird die Kirche dazu aufgerufen, zum „Licht der Welt“ zu werden. Sie wird es nur, wenn und indem sie sich selbst in dieses Licht hinein begibt und den Mut hat, in voller Authentizität in diesem Licht zu erscheinen, Deshalb zielt meine Vision auf eine Kirche, die sich zu ihrer Menschlichkeit bekennt. Auch auf den Bildschirmen muss sie endlich authentisch werden, zu sich selbst kommen, mit sich eins werden, statt sich in eine autoritäre Innenwelt und in eine freundlich glänzende Oberfläche zu spalten. Sie muss also allen Narzissmus ablegen, in den sie geraten ist. In diesem Sinne müssen wir endlich beginnen, die wahre Herausforderung der Medien für die Kirche zu erkennen. Vor diesem Hintergrund besagt die Losung „wir sind Kirche“: Wir leben und stehen zu dem, was wir sagen; wir sagen und zeigen nach außen, was und wer wir sind. Statt instrumentalisierter Propaganda versuchen wir eine unverstellte, eine offene Selbstkundgabe. Epiphanie – das war schließlich das Fest, das man in Köln feiern wollte – heißt nicht „Erscheinung“ von Kirche und Hierarchie, sondern Erscheinung des göttlichen Wortes in seiner ganzen Menschlichkeit. Das ist in der christlichen Erinnerung ein hohes Gut. Erschienen ist damit „die Güte und die Menschenfreundlichkeit [die philanthroppia!] Gottes“ (Tit 3,4). Sie braucht sich nicht trickreich aufzuputzen, sondern wirkt durch sich selbst. Gewiss, nach Ostern hat diese Güte ihren strahlenden Glanz. Zuvor aber müssen wir uns dem vorösterlich schmerzlichen, oft unansehnlichen Schauspiel des Scheiterns stellen. Jesu Kreuz hat zum Spott geführt; die erste Kreuzigungsdarstellung der Geschichte macht ihn zum Esel. Hatte er nichts Besseres zu bieten? Die Frage kann nur eine Gemeinschaft beantworten, die nur das sein und zeigen will, was sie wirklich ist.
2.3 Religionen, die zweitrangig bleiben? – Für eine religiös offene Kirche
In aller Kürze nenne ich noch einen dritten Punkt, in dem die Kirche Neuland betreten und noch keine ausreichende Erfahrung gesammelt hat. Er betrifft das Verhältnis zu den nicht-christlichen Religionen. Ich spreche auch hier von einem Neuland, weil die Kirche durch die Jahrhunderte hin zu den nicht-christlichen Religionen im Grunde kein Verhältnis erarbeitet hat. Eine positive Ausnahme bildet das Judentum, das spätestens nach den grausamen Erfahrungen der Schoa wieder entdeckt und meistens angemessen gewürdigt wird. Wir können es nicht anders, wenn wir die Schriften Israels auch nur im Ansatz ernst nehmen wollen. Eine negative Ausnahme bildet der Islam, der uns durch das ganze Mittelalter hindurch als polemische Folie zur Abwehr von Unglaube und Ketzerei diente. Ohne ihn ist die gegenwärtige, immer noch auf Satzwahrheiten fixierte Glaubenslehre der katholischen Kirche (Inquisition und Häresieangst eingeschlossen) nicht zu denken. Die christliche Tradition ist immer noch von einem Perfektionismus des Heils geprägt. Als einzige Religion behauptet das Christentum, wir seien schon erlöst, während die anderen auf die Erlösung warten. Sogar der kluge K. Rahner analysiert den Islam noch als eine vor-christliche Religion.
Diesem Perfektionismus entspringen Gefühle der Überlegenheit und Ausschließlichkeit, die noch nicht ausgerottet sind[6]. Man mag über die inhaltlichen Begründungen streiten und zu differenzierten Ergebnissen kommen. Klar aber ist, dass all die Überlegenheits- und Ausschließlichkeitsgesten der katholischen Kirche auch von einem Provinzialismus des Unwissens getragen waren. Wir Christen, Kinder der westlichen, in allem überlegenen und imperialistischen Kultur, lebten in einem nichtssagenden, deshalb destruktiven Solipsismus. Mit dem II. Vatikanischen Konzil hat sich diese Situation nach innen schon grundlegend verändert. Wenigstens ansatzweise hat man den anderen Religionen seinen theologischen Respekt gezollt. Mit wachsender Globalisierung können wir deren Existenz und Bedeutung auch im politischen und alltäglichen Umgang nicht mehr ignorieren. Wir begegnen ihnen heute in jeder Kleinstadt und in jedem Betrieb. Möglicherweise haben unsere Kinder Muslime, Buddhisten oder Hindus zu Freunden.
Wie gehen wir damit um? Dass diese Entwicklung in der Kirchenleitung große Ängste weckt, ist zwar verständlich, aber nicht hinnehmbar. Das von Kardinal Ratzinger unterzeichnete Dokument der Glaubenskongregation DOMINUS IESUS (2000) gibt für diese Ängste ein eindrückliches Zeugnis. Wie weithin bekannt, führten sie dazu, dass Kardinal Ratzinger sogar den evangelischen Kirchen der Ehrentitel einer „Kirche“ absprach[7]. Ich nenne das einen Skandal, denn therapeutische Besserungsvorschläge stehen mir nicht zu. Diesen Sprachregelungen nachzugeben wäre aber höchst gefährlich, denn inzwischen stehen sie stellvertretend für die Verdrängung aller Themen, die wir in der Kirche gern auf die Seite schieben. Wir suchen inneren Frieden und verschweigen deshalb Fragen, die uns ferner sind als unser Hemd. In Wirklichkeit aber gehören sie zum Zentrum unserer Identität.
An diesem Punkt verschränken sich die Frage nach der Lernfähigkeit, der Authentizität und der bedingungslosen Offenheit gegenüber den Religionen, die viele als Konkurrenz erfahren. In der Regel herrscht eine Strategie der kontrollierten Annäherung vor, die inhaltliche Fragen ausklammert und sich auf eine formale Toleranz zurückzieht.
Wie verhält sich Rom? Gewiss hat Johannes Paul II. für eine interreligiöse Zukunft wichtige Zeichen gesetzt. Er hat Dialog gesucht und angestoßen. Die Einladung zum gemeinsamen Gebet verschiedener Religionen in Assisi im Oktober 1986 wurde von vielen als großer Durchbruch gefeiert. Doch müssen einige Bemerkungen erlaubt sein.
Zunächst ist zu bedauern, dass römische Instanzen gerne und konsequent die vielfältigen Vorgeschichten verschweigen, die für ein solches Treffen den Boden bereiteten. Ich denke an die vielen Theologinnen, Theologen und theologischen Publikationen, die über unser Verhältnis zu anderen Religionen nachgedacht, Vorurteile beseitigt und Dialoge eröffnet haben.
Dann möchte ich nachdrücklich dem Eindruck widerstehen, als habe Rom solche Begegnungen erst möglich gemacht. Solche Begegnungen, Gespräche und Auseinandersetzungen auf verschiedensten Ebenen werden tagaus, tagein von christlichen Gruppen schon praktiziert und – oft gegen den Widerstand der eigenen Kirchenleitungen –vorangetrieben. Auch die interreligiöse Kirchenwirklichkeit hat unten zu einer Zeit begonnen, als man sich oben noch dagegen sperrte.
Drittens wundert mich die Ängstlichkeit, mit der man das erste Treffen von 1986 umgab und weitere Treffen umgibt. Zwar kam man in Assisi zusammen, aber man hat getrennt gebetet. Dadurch hätte sich die Symbolik beinahe ins Gegenteil verkehrt, zur Aussage nämlich, dass gemeinsames Gebet unmöglich ist. Diese Ängstlichkeit setzte sich bei späteren Treffen fort. Noch im Jahr 2002 betont Kardinal Kasper mit großem Nachdruck, es gebe kein „interreligiöses Gebet“, man wolle keinem „Synkretismus“ Vorschub leisten, deshalb müssten die Gebete in „getrennten Räumen“ stattfinden.
Viertens hat sich Rom bei diesen Treffen immer wieder als die „führende“ Religion in Szene gesetzt und bestärkt. Ich erinnere an die Bilder von Assisi, die durch die Welt gingen und das Ereignis dokumentierten. Vor gedeckt rotem Hintergrund zeigen sie nur allzu deutlich, wer unter den Anwesenden der Würdigste war, obwohl man doch Geschwisterlichkeit demonstrierte. Der Papst, der sich zum Anwalt des Austauschs machte, thronte zwischen den anderen. Trotz gegensätzlicher Freundlichkeit wird Vorrang vollzogen. Selbst in diesem Augenblick gegenseitigen Verstehens hat man einen Kontrast zwischen freundlicher Botschaft und distanzierendem Medium und Botschaft geschaffen. Ich meine deshalb, dass unsere Kirche noch immer von geheimen, unausgesprochenen, aber mächtigen Vorurteilen zum eigenen Vorrang geprägt ist. Vom Gott aller Menschen, von der Erlösung aller in Gott, von der Hoffnung auf die Wallfahrt aller Völker zum Himmlischen Jerusalem ist da wenig zu spüren.
An diesen Punkt knüpft meine Vision von einer religiös offenen Kirche an. Gottes Volk kennt keine Grenzen. Zu ihm gehören alle Menschen guten Willens, erst recht all diejenigen, die sich – in welcher Form auch immer – auf eine letzte Wirklichkeit einlassen, die wir „Gott“, die Juden, Christen und Muslime zusammen „den Einen Gott“ („Jahwe“, „Gott Jesu Christi“ oder „Allah“) nennen. In einer schon klassischen Umschreibung des zweiten Parlaments der Weltreligionen in Chicago (1993) heißt es: „Wir … religiöse und spirituell orientierte Menschen, die ihr Leben auf eine Letzte Wirklichkeit gründen und aus ihr in Vertrauen, in Gebet oder Meditation, in Wort oder Schweigen spirituelle Kraft und Hoffnung schöpfen, haben eine ganz besondere Verpflichtung für das Wohl der gesamten Menschheit, aber wir vertrauen darauf, dass uns die uralte Weisheit unserer Religionen Wege auch für die Zukunft zu weisen vermag.“[8] Das ist eine nüchterne Selbstbeschreibung, in deren Zentrum nicht die je eigene Identität, sondern der gemeinsame Horizont steht. Er lautet: Einsatz für eine versöhnte Menschheit und eine bewohnbare Erde. Vor diesem Hintergrund verschwindet die Angst vor dem Synkretismus, lassen sich sogar Buddhisten mit ins Boot holen, die sich in tiefer Ehrfurcht weigern, von „Gott“ auch nur zu reden. Meine Vision ist vor diesem Hintergrund nicht ein neues Gottesbild, sondern eine neue Zukunftshoffnung, die uns über die Mauern der eigenen Kirche hinaus zu einen vermag[9]. So muss sich unser Umgang mit anderen Religionen in der konkreten Alltagspraxis als wahr erweisen.
Heute ist nicht der Ort, über Sinn und Grenzen einzelner Religionen zu urteilen. Weiter führt uns, Christinnen und Christen, schon die Erinnerung an Jesus von Nazaret, der offensichtlich auch nicht in den Kategorien von institutionalisierten Religionen dachte. Einerseits wollte er wie selbstverständlich Jude sein und bleiben. Andererseits hat der die Grenzen selbst seiner eigenen Religion wie selbstverständlich erweitert – aber doch nicht so, dass wir daraus die Ungültigkeit seiner eigenen Religion ableiten könnten. Ihn hat ein neues Handeln in einer neuen Epoche im Sinne des Menschen interessiert, dem er sogar uralte liturgische Regeln unterordnete (Mk 2,27). Natürlich können und müssen wir das Christentum in die Liste der eigenständigen Weltreligionen aufnehmen, phänomenologische und historische Gründe lassen daran keinen Zweifel. Aber genau genommen wollte und will der christliche Glaube (also die Erinnerungslinie an Jesu Botschaft und Leben, besiegelt in Tod und Auferstehung) keine neue Religion hervorbringen. Von Kirchengründung im strengen Sinn kann keine Rede sein. Im strengen Sinn will der christliche Glaube der Liste der ehrwürdigen Institutionen (wie Judentum, Buddhismus oder die Weisheitsströme Chinas) keinen neuen Namen hinzufügen. Jesus hat nur der prophetischen Tradition des Judentums einen lebenspraktischen Radikalismus hinzugefügt. Dieser Radikalismus besagt allerdings, dass sich – vor Gott und den Menschen – selbst die Lebenshingabe für andere Menschen lohnt. Es geht um einen Gottesglauben, der sich in der Leidenschaft für die Menschen bewährt[10].
Wenn es letztlich aber auf diesen Lebensradikalismus ankommt – einen Radikalismus, der in jeder Epoche seine neuen Formen und Selbstprüfungen finden muss, dann kann sich die Nachfolge Christi nie und nimmer vorbehaltlos zum eigenen religiös institutionalisierten System verdichten. Die Grenzen der Kirche sind prinzipiell offen, entscheidender Impuls dieses Lebens ist das, was E. Schillebeeckx die immer paradoxe „Kontrasterfahrung“ nennt. „Kontrasterfahrungen“ sind Erfahrungen des radikal anderen, einer unreduzierbaren Alterität. Es sind die ständigen Erfahrungen gerade dessen, was uns weder in den Kram, noch in unsere wohlgeordneten Lebensverständnisse passt. Für Schillebeeckx kann Heilserfahrung nur in einem solchen Rahmen in Gang kommen. Das könnte unsere dritte Vision sein, auf die es mir heute ankommt. Es ist die Vision einer wirklich offenen Kirche. Die kirchlichen Grenzen und Absprachen können und dürfen sich in keiner Weise als Grenzen für unseren Kontakt und Austausch, für unseren Einsatz für andere Menschen auswirken. Christus, der Messias, sagt am Ende der Geheimen Offenbarung: „Siehe, ich mache alles Neu!“ Diese Verheißung setzt unsere Bereitschaft zur Offenheit voraus. Deshalb ist für mich diese Lebensradikalität, von der ich gesprochen habe, zugleich auch die Vision der Visionen, die uns als Gottesvolk heute weiterführen kann.
III. Visionen heute?
Wir feiern heute, liebe Freundinnen und Freunde, einen Tag des Rückblicks und der Besinnung. Es ist deshalb ein Tag, an dem wir uns auch der Enttäuschungen erinnern, von denen nach vielen Jahren der Ernüchterung auch diese zehn Jahre erfüllt gewesen sind. Es waren Enttäuschungen in unserer Kirche und Enttäuschungen, die durch unser Engagement in ihr und für sie entstanden sind. Viele von uns wurden nicht als unkirchlich diskriminiert, weil sie sich von ihrer Kirche abwendeten, sondern weil sie sich in ihr engagierten. Dabei gibt es keinerlei Grund, von den Forderungen der vergangenen Jahre abzurücken; diese Hartnäckigkeit spricht nicht gegen uns, höchsten gegen diejenigen, die sich zu einem Gespräch über diese – biblisch gedeckten und menschlich drängenden – Erwartungen immer noch nicht bereit gefunden haben. Wenn es in den vergangenen Wochen auch erstaunliche Zeichen der Gesprächsbereitschaft gegeben hat, so können wir über deren Erfolge noch nicht urteilen, denn auch sie, die Gesprächsbereiten, werden wir nur an ihren Früchten erkennen und messen können. Wir werden auch daran festhalten müssen, dass wir über Bezeugungen guten Willens hinaus auf institutionelle Festlegungen und auf kontinuierliche Regelungen bestehen. Wir suchen das Heil nicht in institutioneller Reform. Aber wir verweigern uns Regelungen, die eine christlich verantwortete Lebensgestaltung verhindern. Nicht wir verfallen damit einem verhärteten Juridismus, sondern diejenigen, die sich selbstverständlichen rechtlichen Regelungen verweigern.
Dabei wissen wir, dass ständiger Kampf und die Erfahrung ständiger Verweigerung zermürben und verhärten können, dass Erfolglosigkeit einer Sache die Freude nimmt. In vielen Ländern ist die katholische Kirche deshalb lahm und regungslos geworden. Die Kritiker sind ausgewandert und Resignation hat sich breit gemacht. Insgesamt wurden wir handlungsunfähig, weil auch die Ressourcen und Strategien des Konservativen versagen. Theologische Fakultäten trocknen aus, Seelsorgestrukturen brechen zusammen. Die einzige theologische Fakultät Europas mit stark steigenden Studentenzahlen, meine eigene Fakultät in Nijmegen, soll auf bischöflichen Druck hin geschlossen oder wenigstens in eine andere überführt werden. Wie sollte man da nicht verbittert und verärgert reagieren? Doch gibt es Grund und Motive genug, um dieser Gefahr zu widerstehen. Auch Enttäuschungen lassen sich in positive Energien zurückverwandeln und in neue, jetzt realistischere Visionen ummünzen. So lautet die Frage: Aus welchen Quellen leben wir? Welche Modelle und Bilder, welche identitätsrelevanten Anstöße können unsere Schatten wegnehmen, den Weg neu erleuchten?
Ich habe meine Gedanken mit der Polarität von „Innen“ und „Außen“ eröffnet und zu zeigen versucht, dass diese beiden Dimensionen in unserer Kirche weit auseinander klaffen. Ich habe an drei Beispielen gezeigt, wie katastrophal dieser Bruch zwischen beiden Dimensionen geworden ist. Das wahre Werben um die Jugend, das wahre Gespräch mit ihr wird nicht mehr gesucht, sondern durch Megaveranstaltungen ersetzt. Die Medien schaffen ein Bild des Perfektionismus, dem alle Authentizität abgeht. Man will die Medien als Instrument, nicht mehr als Ort der neuen Transparenz. Schließlich ist der Durchbruch für ein interreligiöses Gespräch immer noch nicht erreicht. Provinzialismus und ein Überlegenheitsdünkel sind noch keineswegs überwunden.
Warum nenne ich dieses Beispiele. Gewiss, es sind nicht mehr als Beispiele, die wir durch andere ergänzen könnten. Aber sie rühren an drei Grundpfeiler der christlichen Identität: an die Erneuerung im Geist, an die Kraft kompromissloser Authentizität und an die Demut einer Überzeugung, die sich gerne an anderen messen lässt. Drei Grundpfeiler sind es, die für mich in drei Visionen münden. Es ist die Vision
(1) … einer wirklich erneuerbaren, einer täglich erneuerungsbereiten Kirche, die unsere Jugend nicht belehren, sondern von ihr lernen will;
(2) … einer authentischen Kirche, die sich der Kamera der Wahrheit ausliefert und weder mit Schminke noch mit Verdrängung reagiert;
(3) … einer offenen Kirche, die sich für das Wohl andere einsetzt und nicht am scheinbaren Vorteil des eigenen Konzepts hängt.
Erneuerungswillige Jugend, risikofreudige Authentizität und vorbehaltlose Offenheit sind drei Tugenden, die uns in einer Epoche des rasenden Wandels, der schonungslosen Öffentlichkeit und der weltweiten Religionskonkurrenz weiterbringen können. Mit allen drei betreten wir Neuland, fordern wir uns selbst heraus, dürfen wir uns aber auch des Geistes Gottes sicher sein.
Niemand von uns erwartet, dass über Nacht ein neuer Frühling der Erneuerung und einer erneuerten Welt aufbricht. Vor einigen Monaten habe ich mich intensiv mit Moses und Aaron beschäftigt; Schönbergs Oper „Moses und Aron“ war dazu der Anlass. Dabei zeigt Schönberg eine interessante, für uns wichtige Dialektik. Moses, das ist für Schönberg der strenge Gottsucher, der Jahwe in den Tiefen des Undenkbaren, des Unsagbaren, in den Tiefen der vierzig Tage in der Wüste findet. Das Volk blieb aber ausgeschlossen. Sie sahen nichts, hörten nichts, sollten nur warten. Es war Aaron, der sich ihrer annahm. Er sah ihre Not und bot ihnen ein Fest, in dem sie die Gegenwart Gottes erfahren konnten: im Tanz, im Jubel, im Glanz des Goldenen Kalbes. Aarons Tat war gut gemeint, vielleicht genial, und doch endete gerade sein Weg im Chaos der Selbstzerstörung und der Selbstvergöttlichung. Ich schlage mich weder auf die Seite des Moses noch auf die Seite Aarons. Beide haben Recht und Unrecht zugleich, wenn sie auf ihren jeweiligen Bruder nicht hören. Am heutigen Tag sei aber darauf hingewiesen, dass die vorschnellen und vermeintlichen Erfolge zum langfristigen Desaster werden können. Welche Wege wir auch gehen, wir werden aufeinander hören müssen. Wir werden in einer neuen Zeit und unter neuen Umständen zu lernen haben, in neuer Weise wirklich und aus eigener Überzeugung Kirche, also eine Weggemeinschaft von Schwestern und Brüdern zu sein.
(Vortrag vom 08.10.2005)
Anmerkungen
[1] Zur aktuellen Säkularisierungsdebatte: H. Joas, Braucht der Mensch Religion? Freiburg 2004. Gemäß einem wachsenden Konsens der Fachleute ist die Säkularisierung in erster Linie ein europäisches Phänomen. Ursächlich hängt sie also nicht unmittelbar mit der Verwissenschaftlichung und Industrialisierung unserer Gesellschaft zusammen, wie M. Weber mit seiner These von der Entzauberung unserer Gesellschaft meint. Gewiss, auch die Fortschritte der Natur- und Sozialwissenschaften haben unser Weltbild tiefgreifend verändert. Aber die Rolle der christlichen Religion in ihren verkirchlichten Formen erlitt in Europa einen so tiefen Einbruch, weil sie in bestimmte Milieus eingebunden und von ihnen geprägt war. Die wichtigsten Stichworte lauten: Bürgertum, Bildungsbürgertum und Arbeiterschaft. Zugleich ist die Gesamtentwicklung der katholischen Kirche in ihrer römischen Gestalt ein Indiz dafür, dass diese in erster Linie noch auf Europa bezogen ist. Der gegenwärtige Papst sieht in der europäischen Antike (also in der „Alten Kirche“) mit ihrer platonischen Prägung immer noch die normative Grundgestalt christlichen Glaubens. Zusammen mit seinem Vorgänger sind die monokratisch-römischen Grundtendenzen immer noch ungebrochen. Wer der hier genannten These folgt, muss allerdings neben der These von der Säkularisierung noch eine zweite Theorie einführen, die den Umbruch beschreibt, der durch die Industrialisierung in ihren weltweiten Dimensionen verursacht wird. Diese These ist noch nicht entwickelt.
[2] Siehe: H.- J. Höhn, Gegen-Mythen. Religionsproduktive Tendenzen der Gegenwart, Freiburg 31996. Der Begriff „religionsproduktiv“ ist zwar zum Modewort geworden, aber doch erhellend. Ein erster Blick nach Google zeigt, wem alles der Begriff zugeordnet wird: dem Ästhetischen, der Gesellschaft und der Großstadt, der Moderne und der Postmoderne, der Popmusik, der Katastrophe und dem Säkularismus, ja sogar dem Internet selbst. Nur die Kirchen scheinen nicht mehr religionsproduktiv zu sein, oder grundsätzlicher gesagt: Neue Religiosität entsteht auf Kosten des Christentums.
[3] Man sollte nicht vergessen, dass der Begriff der Propaganda (des zu verbreitenden Glaubens) dem katholischen Sprachschatz entstammt.
[4] Einen interessanten Vergleich zwischen Weltjugendtag und der Initiative von Roger Schutz zieht B. Maurer, Kein Wunder! War der Weltjugendtag wirklich ein großes katholisches Manifest? Eine protestantische Kritik am „Wunder von Köln“, in: Publik-Forum Nr 18/2005, S. 60f.
[5] D. Deckers, Der Kardinal, Karl Lehmann. Eine Biographie, Düsseldorf 2002.
[6] Allerdings sollten wir nicht vergessen, dass diese Haltung in den ehemaligen sogenannten Missionsländern überwunden ist. Diejenigen, die ehemals als Missionare ausgezogen sind, um den Ungläubigen die Wahrheit zu verkünden, haben ungleich mehr gelernt, als manchem Römer lieb sein kann.
[7] Bei aller äußeren Freundlichkeit hat Benedikt XVI. in Köln gegenüber den evangelischen Kirchen diese skandalöse Sprachregelung aufrecht erhalten.
[8] Zitiert nach H. Küng und K.J. Kuschel (Hg.), Erklärung zum Weltethos. Die Deklaration des Parlaments der Weltreligionen, München 21996, S. 21.
[9] Der weltweite Erfolg des von H. Küng entwickelten „Projekt Weltethos“ zeigt, dass dieses neue Denken von gemeinsamen und höchst praktischen Zielen her einem tiefen Menschheitsbedürfnis entspricht, von dem die aktuellen Globalisierungsprozesse begleitet sind.
[10] Wichtig ist deshalb – sozusagen als komplementäre Ergänzung zum Projekt Weltethos – das Programm der „Compassion“ von J.B. Metz. Vgl. J.B. Metz (Hg.), Compassion – Weltprogramm des Christentums: soziale Verantwortung lernen, Freiburg 2000.