Die römische Bischofssynode vom 3. bis 28. Oktober 2018 zur Situation der Weltjugend hatte sich viel vorgenommen: Ein dynamisches, für die Kirche zentrales Thema sollte von der wohl einzigen gesamtkirchlichen Institution bearbeitet werden, die es neben einem Konzil gibt. Zur Vorbereitung wurden im Juni 2016 weltweit einschlägige Fragebogen verschickt, im März 2018 fand eine Vorsynode mit jungen Menschen statt, im Juni wurde ein definitives Arbeitspapier (Instrumentum Laboris) unter dem sperrigen Titel Die Jugendlichen, der Glaube und die Berufungsunterscheidung verschickt. An ihm arbeiteten sich schließlich 267 Bischöfe unter Beteiligung von etwa 40 jungen Menschen ab.[1] Das Schlussdokument, mit dem ich mich hier beschäftige, umfasst 167 Nummern auf etwa 60 Seiten. Nach dem bewährten Muster „sehen-interpretieren-handeln“ wird deren Situation beschrieben (Teil 1 [5-57]), aus katholischer Sicht beurteilt (Teil 2 [58-113]), um darauf für die Praxis der Kirche Folgerungen zu ziehen (Teil 3 [114-164]. Die Überschriften zu den drei Teilen sind der Emmausgeschichte entnommen, in der sich dieselbe Struktur entdecken lässt. Ich referiere den Inhalt der drei Teile, um dann einige Gesichtspunkte zur Beurteilung des Dokuments zu entwickeln.[2]
I. „Und er ging mit ihnen“ ‑ Was ist geschehen?
Teil 1 beschreitet einen Weg der wachsenden Konkretisierung. Gemäß dem ersten Kapitel 1/I (Eine hörende Kirche) lebt die Jugend in einer pluralen, sich globalisierenden Welt [10]. Kontinuierlich ändern sich in der Dynamik der jeweiligen Bevölkerung die Kontexte. Sie schöpfen aus verschiedenen Traditionen, bisweilen leben Christen als Minderheit [11]. Schon oft besprochene Probleme kommen hinzu: Marginalisierung von Randgruppen, Diskriminierung von Frauen und zwiespältige Säkularisierungsprozesse [12-14]. Die Kirche versucht, diesen Prozessen durch Bildung und helfendes Engagement sowie mit einer qualifizierten Jugendpastoral gegenzusteuern. Die Pfarreien können für die Jugend zu relevanten Orten werden, den Weg zu einer engagierten Initiation eröffnen [15-19].
Kap. 1/II (Drei Schwerpunkte) greift paradigmatisch drei Sonderprobleme heraus: Digitalisierung, Migration und Missbrauch [21-31]. Offensichtlich sind die Paragraphen über den Missbrauch [29-30] später eingefügt; die Sache wird damit verharmlost. Kap. 1/III (Identität und Beziehungen) geht aus entwicklungspsychologischer Perspektive auf bestimmte Brennpunkte des jugendlichen Alters mit seinen Identitäts- und Beziehungsfragen ein: Familie, Freundschaft, Körperlichkeit, Sexualität, aber auch Jugendarbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und Verwahrlosung sowie Fragen des Leidens [32-44]. Sporadisch wird die moralisch aufklärende und konkret helfende Rolle der Kirche erwähnt [38-40, 42, 44].
Kap. 1/IV (Jung sein heute) wirkt schließlich wie ein Sammelbecken der Gesichtspunkte, die man nicht vergessen wollte. Dazu gehören die soziale Offenheit junger Menschen und ihre Bereitschaft zum sozialen Engagement [46] sowie Schönheit, Musik und Sport [47], nicht zuletzt die Suche junger Menschen nach Spiritualität und Religiosität verschiedenster Art, ihre Begegnung mit Jesus und ihrem Verlangen nach einer lebendigen Liturgie [48-51]. Erfrischend sind die folgenden Ausführungen über „Partizipation und Protagonismus“, die häufig begründete Distanz Jugendlicher von der Kirche, die Dringlichkeit der Gleichberechtigung sowie die Anerkennung von kirchlichen Jugendbewegungen [52-56]: „Junge Menschen wollen, dass Kirche sich durch Authentizität, Vorbildlichkeit, Kompetenz, Mitverantwortung und kulturelle Stärke auszeichnet.“ Sie erwarten eine weniger paternalistische und dialogfähige Kirche [57].
Dieses bunte Tableau der Gesamtbeschreibung fällt recht pauschal aus. Die Existenz der genannten Probleme ist gemeinhin bekannt, doch auf deren konkrete Inhalte, Auswirkungen und die Art, wie die Kirche darauf zu reagieren weiß, wird nicht eingegangen. Gleichwohl zeichnet den gemeinsamen Grundton der Ausführungen ein werbender Gestus für eine Kirche aus, die mit Empathie zuhört und damit einem fundamentalen Bedürfnis der Jugend entspricht [6-8]. Sie nimmt gerne einen pädagogischen Auftrag wahr [15, 16], obwohl mancher Bischof in der Administration zu ersticken droht [17, 19] und über eine administrative Glaubensinstruktion oft nicht hinausgeht. Dabei müsste die engagierte Initiation junger Menschen in den christlichen Glauben zu den Kernaufgaben der Kirche gehören [19].
II. „Da wurden ihre die Augen aufgetan“ ‑ Wie deuten wir die Situation?
Umso interessanter muss für junge Menschen Teil 2 mit seinem Versprechen sein, für die Situation der Jugend eine erste umfassende christliche Interpretation zu liefern. Dieser Teil wird von einem ungebrochen positiven Grundton getragen und beginnt mit einem erstaunlichen, in alter Theologie verwurzelten Selbstbewusstsein. Die Kirche lebt aus einem immer neuen, sich verjüngenden Pfingsten [59-62]. Gemäß 1/II (Das Geschenk der Jugend) vergegenwärtigt sie den bleibend jungen Jesus mit seiner gesunden jugendlichen Unruhe [63-65], vergleichbar dem jungen Lieblingsjünger, der dem Älteren zum Grab vorausläuft und dennoch dessen Vorrang anerkennt [66]. Einige Überlegungen zum Erwachsenwerden und zur Freiheit runden diese metaphorisch geprägte Gedankenfolge ab: Wer erwachsen wird, wächst in die Sendung hinein, die er in seiner Gemeinschaft bzw. in der Kirche übernimmt [68-72]. In ihr findet er eine spezifische, immer in Autorität eingebettete Freiheit, obwohl auch diese zugleich bedroht und erlösungsbedürftig bleibt [73-76]. Damit übernimmt der Text ein harmonisierendes Modell kirchlicher Pastoral, das in den vergangenen 50 Jahren entwickelt wurde.
Kap. 2/II (Das Geheimnis der Berufung [77-90]) führt schließlich zum Kern der Synodenthematik. Wie schon früher angedeutet [66, 70, 71, 75f], setzt die Berufung eine Freiheit voraus, die sich erst auf einem langen Wege verwirklicht [77]. Wohl lässt sich ein jedes Menschenleben verstehen als eine je spezifische, analog höchst unterschiedliche, in diesem Sinn „analoge“ Berufung durch Gott [79]. Sie ist kein vorgefertigtes „Drehbuch“, das ich von außen übernehme und dem ich zu folgen habe [78, 80]. Die Nachfolge Jesu und ein Blick auf Maria spielen noch immer eine zentrale Rolle [81-83]. Schließlich wird das klassische, sakramental orientierte katholische Modell von Berufung und Berufungen entfaltet: das auf Gott ausgerichtete, von verschiedensten Charismen begleitete Leben in der Familie, in einem religiösen Orden oder als Priester [87-89]. Abgesehen von dem hohen Stellenwert, den dieses Kapitel der je persönlichen Freiheit zuerkennt, greift es auf die traditionelle Lehre der kirchlichen Berufungen zurück. Innovative Akzente sind kaum zu erkennen.
Dies zeigt sich noch stärker in Kap. 2/III (Der Auftrag zu begleiten, [91-103]). Jetzt wird die Kirche als eine Institution präsentiert, die junge Menschen spirituell und professionell zu „begleiten“ vermag. Patriarchal klingende Begriffe wie Belehrung und Führung werden vermieden, nur einmal ist hier von der „mütterlichen“ Aufgabe der Kirche die Rede. [91; vgl. jedoch 83, 112, 138]. Dagegen wird der Gedanke der Begleitung in der eucharistischen Tischgemeinschaft verankert [92], auf eine Vielzahl von Personen bezogen [93], auf die Übernahme eigener Verantwortung ausgedehnt [94] und in eine geeignete Umgebung eingebettet [96]. Diese Begleitung muss in Gemeinschaft und ganzheitlich geschehen sowie eine permanente Weiterbildung einschließen [100]. Kurz, in diesem Kapitel ist das Bemühen sichtbar, die spirituelle und professionelle Sorge für junge Menschen von innen her zu erneuern und auf zeitgemäß solide Beine zu stellen.
Kap. 2/IV (Die Kirche als Umfeld, um zu unterscheiden [104-113]) beschäftigt sich abschließend mit dem sperrigen Begriff der Unterscheidung (klassisch: der Unterscheidung der Geister), der im Titel der Synode auftaucht und in der Geschichte von Askese, Spiritualität und Mystik eine umfassende Vorgeschichte aufweist. Wichtig sind die hier vorgelegten Klärungen für einen Umgang mit Jugendlichen. Zusammenfasssend ergeben sich für mich drei Elemente, die im einschlägigen Kapitel, aber auch im gesamten Text immer wieder angesprochen werden: die Entdeckung der je persönlichen Berufung, die freie Entscheidung für diesen Ruf, sowie deren konkrete Ausgestaltung im jeweils eigenen Lebensweg. Diese Unterscheidung beginnt mit einer göttlichen Initiative und für Christen verleiht ihr die Nachfolge Jesu den entscheidenden Sinnhorizont [81]. Rein formal lässt sie sich zugleich als Ruf zu Heiligkeit [84] und als Charisma [85] verstehen. Diesem Konzept verleiht das vorliegende Kapitel einige aktualisierende Akzente: Der Prozess der Unterscheidung vollzieht sich im Raum der Kirche. Konkret bedeutet dies u.a.: im Klima des Vertrauens, der Freiheit und des ständigen Vergleichs [105], in einer Entscheidung des Herzens, d.h. des je persönlichen Gewissens [106-108] sowie durch die ständige Überprüfung des alltäglichen Lebens [113]. In diesem Kapitel können sich Jugendliche erkennen.
III. „Noch in derselben Stunde brachen sie auf“ ‑ Von der Erkenntnis zur Praxis
Obwohl der zweite Teil stark dem traditionellen Modell römisch-katholischer Spiritualität verhaftet bleibt, mögen einige Erneuerungstendenzen erkennbar sein. Umso spannender ist die Frage, ob und wie sie im dritten Teil zum Tragen kommen. Er ruft die Kirche (wohl nicht nur die Jugend) dazu auf, sich ohne Zaudern und ohne Angst auf den Weg zu machen [114]. Die einleitenden Paragraphen strahlen einen geradezu unbändigen Schwung aus. Das Bild von einer jungen Kirche wird wiederholt und mit Maria Magdalena, der „Ikone“ der Auferstehung und „Apostelin der Apostel“ verbunden [115]. Diese Kirche handelt nicht für die Jugend, sondern mit ihr und lebt aus der Sehnsucht, alle jungen Menschen zu erreichen. Die Kirche muss, so im sympathischen begrifflichen Überschwang, zu einer spirituellen, pastoralen und missionarischen Bekehrung finden [115-118].
Auch im Folgenden werden kräftige Wegmarken gesetzt (3/I, Die missionarische Solidarität der Kirche [119-127]): Die Kirche geht mit der Jugend einen synodalen und partizipativen Weg [119-124], in missionarischer Absicht hin zu den Grenzen der Welt [125-127]; dabei werden Synodalität und Partizipation zu Schlüsselworten: „Die Verwirklichung einer Synodalkirche ist eine unverzichtbare Voraussetzung für eine neue missionarische Energie, die das gesamte Volk Gottes einbezieht.“ [118][3]
Diese Synodalität wird zum Thema von Kap. III/1 (Die missionarische Synodalität der Kirche [119-127]). Sie bezieht die jungen Menschen als Co-Protagonisten mit ein [119], dies in einem hörbereiten [122] Dialog zwischen den Generationen [120], der alle Altersstufen, Geschlechter, Kulturen und Horizonte zusammenführt [121]. Die Hochachtung vor den Charismen vermeidet den Klerikalismus, an dessen Stelle die Mitverantwortung aller tritt [123], die auch zu einem rechten Verständnis von Autorität führt [124]. Dies alles sind Qualitäten, die zugleich zu einer missionarischen Kirche führen und die letztlich fähig sind, an die Peripherien der Welt zu gehen und den „doppelten Schrei der Armen und der Erde“ (Laudato si‘, Nr. 49) zu hören. [127]
Aus diesen Grundsätzen heraus ist der höchst vielfältige kirchliche Alltag zu gestalten (Kap 3/II (Im Alltag gemeinsam unterwegs sein [128-143]). Er lebt nicht von der Delegation, sondern vom Engagement [128], er kann die Pfarrgemeinden in ihren neuen Herausforderungen von Globalisierung, Digitalisierung und Mobilität erneuern [129] und zwischen den Menschen eine neue Transparenz ermöglichen [130]. Die kirchlichen Gemeinschaften, in denen so viele Gesichter präsent sind, müssen gegenseitige Harmonie [131] und einen Zugang zu zivilen Institutionen finden [132]. Dieses Handeln wird sich vertiefen in Kerygma und Katechese sowie in einer gut gestalteten Liturgie (Eucharistie, Versöhnung, Gebet) [133]. Schließlich wird diese Erneuerung zu einer großherzigen Diakonie [137]. Alle diese Visionen führen schließlich zu einer fruchtbaren Jugendpastoral, die die vielfältigen Aktivitäten koordiniert und integriert [138-143].
Kap 3/III (Ein erneuerter missionarischer Schwung [144-156] fasst unter der Perspektive der Synodalität [144] diesen „erneuerten missionarischen Schwung“ zunächst systematisierend in einigen Stichworten zusammen. Offensichtlich wurde auch diese Passage erst später eingefügt. Doch jetzt endlich ist der Text, wie es scheint, in der konkreten Kirchenwirklichkeit angekommen. Die Stichworte lauten:
– eine Digitalisierung, die zum Vehikel der Verkündigung werden muss [145f],
– das Phänomen der Migration, die uns dazu inspirieren soll, Mauern niederzureißen, Brücken zu bauen und den Menschenhandel einzudämmen (147],
– die Rolle der Frauen, die im Sinne einer synodalen Kirche endlich zu stärken ist [148],
– eine unverkrampfte Integration von Sexualität und Körperlichkeit [149f],
– ein integrativer Umgang mit Homosexualität [150b],
– der Einsatz für die sozial Entmündigten und Arbeitslosen [151f],
– ein angemessener und transparenter Umgang mit kirchlichem Eigentum [153],
– ein ökologisches Engagement im Sinne von Laudato si‘,
– schließlich die Weckung eines interkulturellen, interreligiösen und ökumenischen Bewusstseins [155f].
Ein letztes Kapitel (3/IV: Ganzheitliche Ausbildung [157-163]) bietet, ebenfalls in inventarisierender Absicht, einen breiten Überblick von Schulen und Universitäten [158], über spezielle Bildungs- und Ausbildungsinstitutionen [159-161] bis hin zu den klassischen Vorbereitungen auf Ehe [162] und Priestertum [163], deren Neukonzeption bisweilen sinnvoll ist [164]. Ob und unter welchen Bedingungen diese Pläne wieder zu bürokratischen Umgestaltungen verflacht werden, sei in diesem Zusammenhang dahingestellt.
IV. Anfragen an das Schlussdokument
4.1. Hoffnungsvolle Ansätze
Mit diesem Dokument will die Bischofssynode eine Wende in der kirchlichen Jugendpastoral einleiten. Sie stellt die Tugend des Hörens und des gemeinsamen Weges in den Mittelpunkt und definiert die Kirche als eine synodale und partizipative Gemeinschaft, die – wie schon gesagt – junge Menschen in ihren Kontexten ernstnimmt und mit ihnen geht, statt für sie zu handeln [116]. Diese programmatische Absicht klingt glaubwürdig. An vielen Stellen schlägt die neue, den Menschen zugewandte Sprache von Papst Franziskus durch. Zudem sind die Jugendlichen von heute die Erwachsenen von morgen. Deshalb setzt die hoffnungsstarke, risikobereite und „protagonistische“ Jugend heute schon Maßstäbe, an denen die Kirche von morgen gemessen wird. Die Stärke dieser Passagen ist vorbehaltlos anzuerkennen. Die einschlägigen Stellen wurden hinreichend hervorgehoben.
Dazu bietet der Bericht von den Emmausjüngern als Rahmenerzählung des gesamten Reports eine glückliche Anleitung. Auf ihrem Weg nach Emmaus berichten die Jünger einander von den vergangenen Ereignissen (Teil 1 [5]). Dann gesellt sich Jesus zu ihnen, der ihnen die Ereignisse deutet (Teil 2 [58]). Schließlich machen sie sich umgehend auf den Weg zurück zu den in Jerusalem versammelten Jüngern (Teil 3 [114]). Damit werden vor allem dem letzten Teil zwei wichtige Signale mitgegeben: Die Arbeit muss ohne Zögern beginnen und sie beginnt im Zeichen der Auferstehung und der Gemeinschaft. Die Kirche muss im Dialog zwischen den Generationen ihre synodale Gestalt gewinnen und junge Menschen müssen sich aktiv daran beteiligen [119-123]. Zugleich hat dieser Prozess missionarisch zu geschehen: Jede Selbstbezogenheit ist zu überwinden [125].
Dieser doppelte Grundimpuls von Synodalität und missionarischer Ausrichtung gibt den Pfarreien ihre Erneuerungslinie vor, damit die Kirche für junge Leute zu einem Zuhause wird [138]. Dies ist aber nur möglich, wenn die Pastoral ihrer Tendenz zur inneren Zersplitterung entgeht, sie also ihre Aufgaben zu einer vielfältigen Harmonie integriert [142]. Ihren missionarischen Elan wird sie in den früher genannten Problemzonen erhalten, also bei den genannten Fragen von Digitalisierung, Migration, Frau in der Kirche, Sexualität, Wirtschaft und Arbeit, Interkulturalität und Interreligiosität sowie des ökumenischen Dialogs [144-156].
In Sachen Migration wird ein konkretes Engagement ebenso spürbar wie bei der Auseinandersetzung mit Fragen der Körperlichkeit und Sexualität [37]. Den Hinweis auf die sozial Deklassierten nimmt man angesichts der vielfältigen Anstöße des Papstes dem Dokument ab und erfreulich ist das Vertrauen, mit dem das Dokument auf die Aktivitäten der Jugend setzt [156]. In ökologischen Fragen kann es sich glaubwürdig auf Laudato si‘ berufen [154].
4.2 Mangelnde Konsequenz und Selbstkritik
Allerdings haben die Organisatoren des Projekts ihre Aufgabe auf allen drei ihrer besprochenen Ebenen (Wirklichkeitsbeschreibung, Sachbeurteilung und neue Programmatik) überschätzt, und das hätte man schon auf der letzten Bischofssynode lernen können. Notwendigerweise bleiben die Wirklichkeitsbeschreibungen von Teil 1 abstrakt und plakativ. Neue, für die Jugend relevante Kontexte werden im Grunde nur aufgezählt, nie wirklich analysiert, gegeneinander abgewogen oder selbstkritisch ausgewertet, was zur Entschärfung und Harmonisierung der Probleme führt.
Das lässt sich schon am ersten beschreibenden Paragraphen [10] illustrieren. Dort wird erklärt, die Jugend lebe heute in einer „pluralen Welt“ und die erfahrenen Unterschiede beeinflussten ihre konkrete Erfahrung zutiefst. Das eröffnet eine spannende Perspektive und die Leser sind hellwach, denn sie wissen: In dieser wachsenden Pluralisierung der Kulturen, unseres Wissens und unserer Sprachen werden auch unsere christlich religiöse Praxis, Erfahrung und Sprache so sehr aufgesplittert, dass auch die innerkirchliche Kommunikation schweren Schaden leidet. Dadurch ist die Kirche selbst in ihren Grundlagen getroffen, wenn nicht gar beschädigt. Wenn sie sich treu bleiben und den im Schlussdokument genannten Idealen entsprechen will, muss sie sich also ändern; sie muss sich auch in Kernfragen von den jungen Menschen belehren lassen. Doch an diese Problemlinie reichen die Ausführungen nicht heran; offensichtlich sind sich die Redaktoren ihrer Sache zu sicher. Deshalb leiten die folgenden Paragraphen unvermittelt zu den wohlbekannten kulturellen und sozialen Brüchen über, die die Kirche schon länger im Blick hat. Das wirklich bedrohliche Potential der Pluralisierung bleibt abgeblendet.
Dieselbe Inkonsequenz zeigt sich beim Thema Digitalisierung [21-24]. Auch sie wird im ersten Paragraphen ernst genommen. Das Bild ersetzt das Hören und verändert so unsere Wahrnehmung; sie dringt in uns ein. Sie bleibt, wie Benedikt XVI. sagt, nicht einfach eine parallele oder rein virtuelle Welt, sondern wird „Teil der täglichen Lebenswelt“. Auch hier wird über die Folgen dieser Umwälzung nicht nachgedacht, sondern erneut wird die Frage in den Folgetexten zu einem pädagogischen oder moralischen Problem entschärft.
Vergleichbare Fragen tauchen immer wieder auf, zum Beispiel
– beim verführerischen Begriff der Begleitung, der im Schlussdokument eine zentrale Rolle spielt. Er taucht 48mal auf; von Bildung und Ausbildung ist 43mal die Rede. Den Buchstaben nach wird dadurch der Begriff der Autorität verdrängt, der Sache nach aber bekräftigt. Denn die Bischöfe sind es, die die Jugend begleiten und deren Begleitung organisieren. Es sind genau diejenigen in der katholischen Kirche, die kraft dogmatischer Festlegung ein undemokratisches Lehr-, Priester- und Hirtenamt in ihrer Hand vereinen. Und ebenso klar ist, dass die Bischöfe kraft ihres Amtes nie als die Lernenden auftreten werden. Warum wird dieser Hintergrund nicht problematisiert?
– bei den Metaphern, die die Kirche zur Mutter (und Lehrerin) machen, [83, 112, 138] und ihr eine ewige Jugend zusprechen [60], die den Vorteil einer jungen Generation wieder ausgleicht. Welche spezifische Erfahrung soll ein junger Mensch einbringen, wenn die Kirche (von ihren Bischöfen repräsentiert) erklärt, sie sei ebenfalls jung?
– bei der Schlüsselrolle, die den Sakramenten zuerkannt wird [19, 51, 61, 92, 98, 105, 108, 110, 128, 135, 161]. Eucharistie und Beichte erscheinen als die zentralen Mittel, als das stets gegenwärtige Milieu, auf das Jugendliche immer zurückgreifen können. Dabei verschwendet das Dokument keine Zeile auf die Frage, wie Jugendliche diese Sakramente in neuen und bislang unbekannten Kontexten verstehen und vollziehen können.
– bei den zahlreichen Vorschlägen, die die kirchliche Bürokratie nur noch verstärken. Wiederholt geht es um Qualifikationen, die Verbesserung von Institutionen und Kursen [138-143, 157-164] oder die neue Institution von „Begleitungen“, die doch wieder zur kritisierten „Logik der Delegation“ führen müssen [19, 128].
– bei der konsequenten Entschärfung einer jeden Selbstkritik, auf die schon wiederholt hingewiesen wurde. Die notwendige Selbstkritik oder fällige Korrekturen in der Lehre werden ignoriert oder nur verschämt angedeutet, so etwa zum Missbrauch von Kindern [29, 31, 102, 166].
In ihrer Gesamtheit zeigen diese Phänomene, dass die Synode die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer jugendgemäßen Erneuerung noch nicht konsequent ins Auge gefasst hat. Man möchte erneuern, fürchtet aber den angemahnten spirituellen, pastoralen und missionarischen Weg der erneuernden Umkehr [4, 20, 44, 116, 118, 121, 123, 134, 139, 148, 151]. Prinzipiell bleiben alle Vorschläge im Rahmen der Verbesserung des schon Bestehenden. Man erfährt nicht, was nach dem Urteil der Hierarchie bislang falsch gelaufen ist. Also ist der Horizont für eine Neuorientierung noch nicht erarbeitet.
4.3 Widersprüche
Diese Unentschiedenheit und mangelnde Konsequenz zeigt sich an vielen weiteren Stellen, so bei der Gestalt der Pfarreien [18, 129] oder dem hochkomplexen Problem des Klerikalismus, das sich nicht einfach psychologisierend als Verlangen nach Dominanz, Mangel an Dialog und Transparenz abtun lässt [30, vgl. 123, 163], bei einer verfehlten Sexuallehre [38f, 150], der Frage nach einer kirchendistanzierten Jugend [51, 53], bei der Ideologieanfälligkeit von Spiritualität [49, 104] und der schreienden Diskriminierung von Frauen [55, 97, 148], beim Vergleich der Jugend Jesu mit der gegenwärtigen Jugend [60, 63f], beim partizipativen[!] Umgang mit den Charismen [85], bei der Rolle der Kirche in Gewissensfragen [109] oder der Verurteilung der Homosexualität [150]. In den großen und wichtigen Passagen zu einer synodalen und mitverantwortlichen Kirche [1, 118, 121-124, 128 u. ö.] steckt ein hohes Erneuerungspotential. Sie bleiben aber graue Theorie, solange grundlegende Strukturelemente der hierarchisch verfassten Kirche nicht revidiert werden.
So lauten die Grundmängel des Dokuments: plakativ harmonisierende Situationsbeschreibungen in Welt und Kirche (Teil 1), eine unkritisch selbstbewusste Kirchenpräsentation (Teil 2) und Innovationsmangel für ein pastorales Jugendprogramm (Teil 3). Diese Defizite bedingen einander. Will man das erste Defizit beheben, hat die Weltbeschreibung nicht aus zentral kirchlicher Perspektive zu geschehen, sondern jeweils vor Ort, also mit vielen dezentralen Einzelbeschreibungen. Dann müssten die Einzelresultate aufeinander bezogen und in einem gründlichen Austausch in gemeinsame Übereinstimmungen oder nicht zu lösende Widersprüche überführt werden. Diese vergleichende Arbeit würde wohl viele Jahre beanspruchen.
Auch müsste eine wirklich kritische Kircheninterpretation mit universalem Anspruch erst darauf hören, wie die Teilkirchen selbst ihre unterschiedlichen Kontexte deuten; genau das wird im Dokument ja an mindestens 15 Stellen verlangt [6-10, 36, 38, 44 u.ö.]. Dasselbe gilt für ein innovatives Reformprogramm. Zu Recht wird, wie gesagt, eine synodale Kirche gefordert, um dem Druck der Gewohnheit, der Uniformität und einer neuen Bürokratisierung zu widerstehen, die sich gegen Ende des Dokuments immer mehr durchsetzt [138-143; 157-164]. An diesem Punkt zeigt sich am deutlichsten der bleibende innere Widerspruch von Ideal und konkretem Vollzug. Durch den wiederholten Widerspruch zwischen wünschenswerten Hochzielen und einer die Tradition eingezwängten Praxis demonstriert das Dokument sein eigenes Scheitern.
Eine synodale Kirchengemeinschaft will sich in einer monokratischen Kirchenstruktur realisieren. Dieses Kardinalproblem harrt seiner Auflösung. Vielleicht wird diese Kernfrage auch durch den Geburtsfehler verdeckt, der die Institution der Bischofssynode belastet. Streng genommen ist es kein synodales Organ, das von unten her die Vielfalt einer Weltkirche spiegelt. Es ist ein päpstliches Organ; der Papst allein nimmt die Rechte der Einberufung, der Tagesordnung und der Protokollausfertigung wahr. Er bestimmt letztlich, wer zu den Sitzungen ‑ mit oder ohne Stimmrecht ‑ eingeladen wird. Dass Papst Franziskus für eine möglichst synodale Atmosphäre sorgt und den Teilnehmern viele Freiräume gestattet, sei dankbar anerkannt. Man sollte aber nicht vergessen, dass kein einziger junger Mensch über auch nur einen Paragraphen abstimmen konnte. Wenn teilnehmende Bischöfe später erklärten, wie erfrischend ihr Kontakt mit jungen Menschen gewesen sei, gehört das zur Romantik dieser älteren Herren.
4.4 Den Herzschlag der Jugend begleiten?
Wie grundlegend das Verhältnis mancher Bischöfe zu Jugendlichen noch zu justieren ist, zeigt Absatz 4 aus dem Text, den der deutschsprachige Arbeitskreis (circulus minor) am Ende der zweiten Synodenwoche verabschiedete. Dort heißt es: „Wir lernen mit den Jugendlichen die Weise, sie zu begleiten. Wir wollen ihren Herzschlag lernen und darin Mithörende sein für den leisen Impuls Gottes für ihr Leben.“ Die Bischöfe wollen also ihre „Deutungskompetenz“ mit den Jugendlichen zusammen lernen. Zugleich bringen sie ihre „längere Lebenserfahrung“ ins Spiel; so können sie „unterscheiden helfen“.
Doch in Wirklichkeit geht es ihnen nicht um ihr höheres Alter (man wird nicht Bischof, weil man älter ist), sondern um ihre amtliche Lehrkompetenz, die sie nicht in Frage stellen möchten. Vor diesem Hintergrund konstruiert der Text ein magisches Dreieck von Gottes Geist, jungen Menschen und deren innerem Herzschlag. Die Bischöfe schwingen sich, wie der Text sagt, zu „Hermeneuten“ (= Deutern) und „Mäeuten“ (= Geburtshelfern) des göttlichen Lebens in den jugendlichen Herzen auf. Zugegeben, die Bischöfe wollen diese Aufgabe zusammen mit den jungen Menschen erfüllen, doch letztlich setzen sie prinzipiell die Kompetenz voraus, die inneren Regungen des jugendlichen Lebens zu deuten. Dabei käme doch alles darauf an, dass die Jugendlichen selbst ihren gottgewollten Weg finden.
Für mich verweist diese Rollenzuschreibung auf ein althergebrachtes paternalistisches Autoritätsverständnis der Priester, Lehrer und Hirten, das jeden vermeintlich gleichrangigen Dialog bestimmt und ihm seine Symmetrie raubt. Dies ist umso erstaunlicher, als das Dokument, wie gesagt, der Kunst und dem Charisma des Zuhörens sowie der Rolle der gegenseitigen Freiheit eine besondere Bedeutung zuerkennt. An nicht weniger als an 66 Stellen ist von der Würde, der Freiheit und dieser Kunst des Zuhörens die Rede. „Eine Synodalkirche ist eine Kirche des Zuhörens, dies im Bewusstsein, dass Zuhören ‚mehr ist als Hören‘.“ [122]. Ich fürchte, dass die deutschsprachigen Bischöfe diese Botschaft nicht verstanden haben. Sie suggerieren eine Nähe zu den jungen Menschen und eine Kongenialität zu ihren Herzen, die geradezu übergriffig wirkt. Auf diese Weise werden sie nicht im Stande sein, die oft unerwarteten und rauen, aber auch überraschenden erneuernden Botschaften unserer jungen Menschen zu begreifen. Vielleicht sollten in Zukunft Mütter und wirkliche Väter dieses zentrale Kirchenamt übernehmen.
Anmerkungen
[1] Der gesamte Gang und Ablauf der Vorbereitung wird vom BDKJ in www.bdkj.de/themen/jugendsynode/ dokumentiert.
[2] Der vorliegende Text ist als erste Lese-, Studien- und Beurteilungshilfe des Schlussdokuments gedacht. Die zahlreichen Stellenangaben [offizielle Textnummern] sollen den kontinuierlichen Rückgriff auf den Bezugstext erleichtern.
[3] Zitat aus dem Beitrag der Internationalen Theologischen Kommission vom 2. März 2018 zur Synodalität im Leben und in der Sendung der Kirche, Nr. 9.
Redaktioneller Hinweis
Der Text wurde am 12.02.2019 sprachlich mit der offiziellen deutschen Übersetzung koordiniert, die erst später erschienen ist. Ursprünglich wurde der Beitrag an Hand des italienischen Originals verfasst.