Christen, Muslime und der eine Gott

Noach als Prophet unserer gemeinsamen Friedensarbeit
Einige Grundgedanken zum Bedenken und zur Diskussion

1. Die Menschheit – eine Familie Gottes

Die drei prophetischen Religionen Judentum, Christentum und Islam glauben ausdrücklich nicht nur an den Einen, sondern auch an denselben Gott, gleich ob wir ihn Allah, Jahwe oder den Gott Jesu Christi nennen. Verglichen mit den anderen Weltreligionen ist diese gegenseitige Verwandtschaft einzigartig. Mit ihr war immer schon die Überzeugung verbunden, dass alle Menschen in all ihrer Verschiedenheit zur einen Familie Gottes gehören. Daraus erwachsen ein Gottvertrauen und eine Weltverantwortung, die uns allen gemeinsam und die für alle umfassend sind. Niemand kann sich von ihr dispensieren und niemand kann sie auf bestimmte Rassen, Nationen oder Menschengruppen einschränken. Wir sind verantwortlich für die gesamte Schöpfung.

2. Die prekäre Situation aller Menschen

Trotz ihres grenzenlosen Gottvertrauens („Islam“ = Hingabe an Gott) zeichnen Bibel und der Koran zugleich ein realistisches Bild von der höchst prekären und verletzlichen Situation der Menschen. Schon mitten im paradiesischen Zustand lauert eine Verführung, die in eine Situation der Mühsal und der Katastrophen führt. Diese prekäre Situation umfasst wiederum alle Menschen. Ob wir Muslime, Christen, Andersgläubige sind oder keiner Religion angehören, die Bedingungen, die Chancen und Bedrohungen unseres Menschseins sind umfassender und reichen viel tiefer als eine einzelne, immer begrenzte Religion mitbestimmen kann. Keine Religion holt die universalen Bedingungen von Gottes Schöpfung ein. Deshalb sind wir alle dazu aufgerufen, Gottes Stimme gemeinsam in der Welt und in unserer Gegenwart zu hören, bevor wir sie christlich, muslimisch oder anders interpretierten. Die Arroganz der Religionen hat immer dadurch begonnen, dass sie den konkreten Menschen mit den Sehnsüchten und Nöten seines Alltags verachtet haben.

3. Noach – eine neue Menschheit von Gottes Gnaden

Wir Christen haben eine Geschichte und eine archaische Figur vernachlässigt, die das universale Grundproblem der Menschen vor Gott scharf zum Ausdruck bringt. Gemeint ist die Flutgeschichte (altertümlich oft „Sintflut“ genannt) bzw. die Geschichte ihres Helden Noach/Nūh ihrem Helden. Für Bibel und Koran repräsentiert die tödliche Überschwemmung aller Lebensräume kein Problem von Kreationismus oder Evolution, sondern das katastrophale Versagen einer Menschheit, die keine Zukunft mehr verdient hat. Sie hat ihre Chance verspielt und Gott beschließt ihre Vernichtung. Genau besehen ist das eine furchtbare Geschichte, in der Gott selbst alle späteren Theodizeefragen vorwegnimmt. Für Gott lautet die Frage nicht: Wie kann Gott das alles zulassen? Sie lautet: Mit welchem Recht soll diese Menschheit weiterleben? Im Jahr 2014 gedenken wir des Ersten Weltkriegs (vor 100 Jahren begonnen), des Zweiten Weltkriegs (vor 75 Jahren begonnen), des Falls der Mauer (vor 15 Jahren). Die Frage, mit welchem Recht die Menschheit weiterlebt, wird selten gestellt. Gott ertränkt die Menschheit und ermöglicht mit Noach und seiner Familie einen Neubeginn. Noach ist für die Frage des geschichtlichen Neubeginns so wichtig wie Adam für die Fragen des archaischen Urbeginns. Er ist der neue Stammvater der Menschheit, in dem sich Gottes Gnade und unser Versagen dramatisch abbildet.

4. Noach – für die ganze Menschheit bleibende Warnung

Die biblische Noach-Geschichte (Gen 6-10) und die Noach-Erinnerungen des Koran (in 26 von 114 Suren erwähnt; besonders in Suren 54, 71, 11 u.a.) zeichnen Noach/Nūh als Bußprediger, sozialkritischen Warner und Künder der Endzeit; als apokalyptische Figur, auch als Künder einer neuen Menschheitsfamilie, nachdem die alten Familien getrennt wurden. Er tritt öffentlich auf, wird aber von den Menschen verlacht; dennoch kommt die tödliche Katastrophe als Gottes Gericht. Die Menschheit soll also Gottes Zeichen nie verachten, denn diese kritische Situation wiederholt sich; Noachs Schicksal und Rolle wiederholte sich in Muhammad selbst. Wir Christen haben vergessen, dass sich vergleichbare Töne im 2. Petrusbrief (3,5-7) finden; erneut steht uns das damalige Geschick bevor: „Der jetzige Himmel aber und die jetzige Erde sind durch dasselbe Wort für das Feuer aufgespart worden: Sie werden bewahrt bis zum Tag des Gerichts, an dem die Gottlosen [erneut] zugrunde gehen.“ Dabei arbeitet K.-J. Kuschel nachdrücklich heraus: Noach ist ein „Prophet des Islam [= Gottvertrauens] vor dem Islam]. Nach biblischer Konzeption ist er ein Prophet von Abrahams Glauben vor dem jüdischen und christlichen Glauben. Ich füge hinzu: Heute gilt seine Geschichte von Katastrophe und Rettung als Paradigma für die aktuelle universale Menschheitssituation auch außerhalb von Judentum, Christentum und Islam. Es geht nie einfach um die Wahrheit der monotheistischen und anderer Religionen. Zur Debatte steht in diesen archaischen Geschichten die Sache Gottes, die immer die gesamte Menschheit betrifft und für sie gilt. Die Noachgeschichte ist, richtig verstanden, eine Geschichte aus unserer Zeit.

Exkurs:
Eine Zusammenfassung von K.-J. Kuschel (Juden, Christen, Muslime, S. 302f)

  • Nach biblischer (alttestamentlicher und neutestamentlicher) sowie koranischer Überlieferung wird unter erinnerndem Rückgriff auf die Noach-Geschichte eine Situation der Entscheidung evoziert: eine Entscheidung zwischen Glauben und Unglauben, Gottvertrauen und Gottverachtung, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Sittlichkeit und Unsittlichkeit.
  • Nach biblischer und koranischer Überlieferung wird den Adressaten unter Verweis auf Noach eine Situation der Sorglosigkeit und falschen Sicherheit vor Augen geführt: eine Situation völliger Verblendung, welche die Wachsamkeit für Gottes Zeichen erstickt.
  • Nach biblischer und koranischer Überlieferung werden die Adressaten unter Heranziehung des Noach-Beispiels mit dem Gericht Gottes konfrontiert: Tod und Strafe für die Gottesverächter und sozial Rücksichtslosen! Rettung für die Gottgläubigen und gerecht Handelnden! So wie Gott der Schöpfer der Welt und des Menschen ist, so ist er auch der Richter menschlicher Taten und Untaten.
  • Nach biblischer und koranischer Überlieferung will Gott nicht nur den Erhalt der Menschheit, sondern auch ihre geistig-moralische Erneuerung. Von Anfang an hat er der Menschheit Grundgebote der Sittlichkeit übermittelt und ihnen damit Maßstäbe für gottgemäßes Leben anvertraut. Niemand kann sich mit Unwissenheit entschuldigen. Gottlosigkeit verliert ihren Alibicharakter.

5. Noachidischer Bund – universales Ethos?

Die Flutgeschichte hat Konsequenzen, denn sie endet mit dem noachidischen oder Noachbund (Gen 91,1-17, neben dem Abraham- und Sinaibund dem ersten der drei Bundesschlüsse). Gemeinhin wird er als Vorbereitung der kommenden Bundesschlüsse gesehen. Doch die umgekehrte Perspektive ist ebenso wichtig, denn der Noachbund hat seine Bedeutung behalten. Monotheistisch gesehen ist er für das Verhältnis Gottes zur universalen Menschheit wichtiger denn je. Warum ist die Zahl der Gebote – gemessen an der Tora – auf ein Minimum reduziert? Die evolutionslogische Antwort ist klar: Im Verlauf der Geschichte wurde Gebot um Gebot differenziert und addiert, für neue Situationen ausgeweitet. Aber für Israel, das – Gott sei Dank – immer wieder in Minderheitssituationen geriet, musste sich der Frage stellen: „Wie gehe ich mit den Fremden, den nicht-Juden, mit Menschen anderer Kulturen und anderen Glaubens um?“ Wie kann ich mit ihnen friedlich zusammenleben?

Nicht nur zur praktischen, sondern auch zur theologischen Bewältigung dieser Frage gibt der noachidische Bund Anlass für eine jahrhundertelange Entwicklung. Praktisch ergeben sich für das Zusammenleben mit Nichtjuden neben dem Gebot der Rechtspflege sechs Verbote: Götzendienst, Gotteslästerung, Unzucht, Blutvergießen, Raub, Genuss eines Glieds vom lebendigen Tier. Theologisch gilt die Überzeugung: Diese Regelungen gehen jeder speziell religiösen Regelung – also der jüdischen, christlichen oder muslimischen – voraus („Tora vor der Tora“). Implizit aber werden auch die Fremden als Glieder der Menschheitsfamilie akzeptiert, die in Gott ihren Ursprung hat. Die Vielfalt und das friedliche Zusammenleben der Kulturen, Religionen, Menschen ist Gottes Schöpferwille. Die so umgrenzte Toleranz hat eine religiöse Legitimität. Gott bleibt ein Gott der gesamten Menschheit, alle Menschen sind Gottes Ebenbild.

6. Christentum und Islam – Nutznießer und Erben(?) dieser Toleranz

Beim Übergang des Christentums in den hellenistischen Kulturraum findet das noachidische Denken seine Anwendung: Nach Apg 15,28f erklärt Jakobus: „Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen, euch keine weitere Last aufzuerlegen als diese notwendigen Dinge: Götzenopferfleisch, Blut, Ersticktes und Unzucht zu meiden. Wenn ihr euch davor hütet, handelt ihr richtig. Lebt wohl!“. Diese innere Freiheit gegenüber den vielen Geboten der Tora war nicht einfach das Verdienst einer neu gewonnenen christlichen Freiheit, sondern die Folge einer innerjüdischen Toleranz, die Gottes Willen auch im Fremden entdeckte und somit dem Dekalog eine kulturübergreifende Auslegung gab.

Vergleichbares gilt für den Islam. Er griff ebenfalls auf diese innere Freiheit zurück, ohne seine Kontinuität mit den biblischen Traditionen zu leugnen. Die Achtung des Koran vor den „Menschen der Schrift“ bleibt ungebrochen, so wie auch er die noachidische Religion vor der Religion vorbehaltlos anerkennt. Auf allen Nachkommen Noachs liegt Gottes Segen: „Friede über Noach in aller Welt!“ (Sure 37,79).

Selbstkritisch ist zu fragen, wie oft und wie selbstgerecht die monotheistischen Religionen gegen diese von ihrem Gott verfügte Toleranz und Friedensbereitschaft verstoßen.

7. Christen, Muslime, die Menschheit und der Eine Gott

Angesichts der gegenwärtigen Weltsituation haben wir unser moralisches Bewusstsein theologisch zu erneuern und praktisch auf die katastrophale Weltlage auszurichten. Aus biblischer, christlicher und koranischer Perspektive ist die Situation des Noach hochaktuell. Sie geht dem Judentum, dem Christentum und dem Islam prinzipiell voraus, denn nicht der Fortbestand einzelner Religionen, sondern die Zukunft der gesamten, von Gott gewollten Menschheitsfamilie ist bedroht. Die monotheistischen Religionen müssten die ersten sein, die um der Menschheitszukunft willen kooperieren und diese Zusammenarbeit als Willen Gottes begreifen.

Konkret heißt das: Es ist ihre gottgewollte Pflicht, im Geist einer noachidischen Friedensordnung alle weltethischen Bemühungen zu stärken. Dazu gehören im Sinne der Goldenen Regel: eine zeitgemäße Kultur der Gewaltlosigkeit, der Solidarität, der Toleranz und der unbedingten Gleichberechtigung, der Aufbau von globalen und rechtsverbindlichen politischen Strukturen.

8. Kinder Noachs in einer globalisierten Epoche

Wohlgemerkt, diese Verpflichtungen entstehen nicht nur aus dem Nutzen eines wachsenden Wohlstandes oder einer wachsenden Sicherheit, sondern aus dem Wissen, dass es nicht einen Gott der Juden, Muslime oder Christen gibt. Es kann nur einen Gott aller Menschen geben, der das Heil aller Menschen bedingungslos anbietet und dessen Durchsetzung von uns, die sich „Gläubige“ nennen, bedingungslos erwartet. Gemeinsam sind wir Kinder Noachs. Und gemeinsam wird uns zugemutet, dass wir eine neue prophetische Leistung vollbringen, der Welt nämlich zu sagen, wie es um sie steht (wie es im Augenblick Papst Franziskus tut).

Im Hebräerbrief (11,7) steht: „Aufgrund des Glaubens wurde Noach das offenbart, was noch nicht sichtbar war, und er baute in frommem Gehorsam eine Arche zur Rettung seiner Familie; durch seinen Glauben sprach er der Welt das Urteil und wurde Erbe der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt.“ Den so aktuellen Bundesschluss mit Noach besiegelte Gott mit dem Regenbogen (Gen 11,13f): „Meinen Bogen setze ich in die Wolken; er soll das Bundeszeichen sein zwischen mir und der Erde. Balle ich Wolken über der Erde zusammen, und erscheint der Bogen in den Wolken, dann gedenke ich des Bundes, der besteht zwischen mir und euch und allen Lebewesen.“ Der Bogen, in frühen Zeiten Symbol des Krieges, ist damit genauso außer Kraft gesetzt wie das Symbol des Schwertes, das zur Pflugschar umgeschmiedet wird. Das alles ist Grund genug, uns zur gemeinsamen Friedensarbeit auf den Weg zu machen

Literatur, auf die ich mich vor allem beziehe:

Karl-Josef Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007. Dritter Teil: Noach oder: Gottes zweite Chance für die Schöpfung (S. 234-332)

Jürgen Ebach, Noach. Die Geschichte eines Überlebenden, Leipzig 2001

(Vorgetragen am 30.12. 2013)