Dein Wille geschehe (Predigt)

Die Bitte Jesu „Dein Wille geschehe“ gehört in die Mitte der christlichen Botschaft. Was aber soll sie bedeuten? Wir erkennen Gottes Willen nur, wenn wir uns unseren Mitmenschen  zuwenden und auf ihre Nöte aufmerksam werden.

Liebe Gemeinde,
Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden (Mt 6,10), – diese Vaterunserbitte soll heute im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen. Sie gehört in die Mitte der christlichen Botschaft und ist uns nicht unbekannt. Die meisten von uns haben das Vaterunser schon als Kinder gelernt und wir beten es im gemeinsamen Gottesdienst; es ist von großer ökumenischer, wenn nicht gar von weltweiter Bedeutung. Vielleicht erinnern Sie sich noch, als diese Bitte am 6. September 1997 anlässlich der Totenfeier von Lady Diana erklang und von vermutlich 2,5 Milliarden Menschen auf der ganzen Welt gehört und von vielen mitgesprochen wurde. Nicht nur Christen, auch Juden und Muslime, Hindus und Buddhisten können sehr gut verstehen und nachvollziehen, wovon da die Rede ist. Was aber besagt sie für uns? Was mag diese Bitte bei Betern und Hörern auslösen und was bewirkt sie bei uns, sooft wir sie aussprechen, vielleicht täglich, in Stunden einer schweren Entscheidung, des Abschieds oder des Versagens? Schafft sie in uns Mut und Freiheit oder ermahnt sie uns zu Ergebenheit und Gehorsam?

„Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden!“ Wie sollen wir diese Bitte verstehen? Erinnert sie uns an den Dulder Hiob, der ausrief: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.“? (1,21) Oder denken wir an Hiobs Protest, der seinen Mahnern trotzig und zugleich vertrauensvoll antwortet: „Ich weiß, dass mein Anwalt lebt; ein Vertreter ersteht mir aus dem Staub.“ (19,25) Erinnert uns diese Bitte an das tröstliche Wort des johanneischen Christus: „Es ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, dass ich keinen … zugrunde gehen lasse.“ (Joh 6,39), oder an die verzweifelten Worte Jesu in Gethsemane: „Lass diesen Kelch an mir vorübergehen, doch nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“ (Mt 26,29)? Was denkt die verzweifelte, aus einem Dorf in Darfur verjagte Mutter, die mittellos und bedroht mit ihren hungernden Kindern in einem Camp sitzt und auf den nächsten Tag wartet? Was der gefolterte junge Mann im Gefängnis eines selbstherrlichen Regimes? Wie sollen sie sich verhalten? Was denken wir, wenn wir unseren Alltag unter Gottes Willen stellen? Ist Widerstand angesagt oder Ergebung, Protest oder Resignation? Warum ist es nicht Gottes Wille, dass der Jesus der wunderbaren Brotvermehrung nicht aus Steinen Brot werden lässt und warum antwortet Jesus jetzt, wie wir hörten, da es doch auch schon Hungrige gab, der Mensch lebe nicht nur vom Brot allein? Ist der Vater, dessen Name geheiligt werden und dessen Reich endlich kommen soll, nicht auch der, der seinem eigenen Willen endlich zum Durchbruch verhelfen will?

Wie die Bergpredigt und das ganze Vaterunser insgesamt, so atmet auch diese Bitte apokalyptischen Geist, so als stehe ein Schicksalsereignis bevor. Zeit ist keine mehr zu verlieren. Hier und jetzt geht es um die Zukunft, um das Volk und die ganze Welt und darum, dass das Recht endlich siegt und das Unrecht entlarvt, den Unterdrückten endlich geholfen wird. Das alles hört sich weder nach Ergebung noch nach privaten Vorteilen an, und doch beschränkt sich die Bitte nicht auf ein selbstloses Programm, denn ich darf auch um mein tägliches Brot, um Trost oder, wie Jesus, um den Ausweg aus seiner tödlichen Lage bitten.

So überkreuzen sich in Gottes Willen, sobald wir ihn konkret in unser Leben übersetzen, gleich mehrere Möglichkeiten. Einerseits umfasst er politische Weltgestaltung und Hilfe aus persönlicher Not, andererseits fordert er Widerstand und Ergebung. Und es scheint, als müssten wir selbst darüber entscheiden, wie wir Gottes Willen auslegen wollen. Das aber kann uns in tiefe Verwirrung stürzen: Können wir – bei höchster Einsicht und bei tiefstem Glauben – überhaupt wissen, was in jeder Lage Gottes Willen ist?

Gewiss, wir kennen die Untergrenzen, die wir im Namen Gottes und im Namen des Menschen nie unterschreiten können. Sie sind unteilbar, zutiefst menschlich und für unser Zusammenleben unverzichtbar. Im Grunde stimmen die großen Religionen darin überein. Das sind die Ablehnung (1) von Gewalt und der Bedrohung menschlichen Lebens, (2) von Diebstahl und der Aufkündigung mitmenschlicher Gerechtigkeit, (3) von Lüge bis hin zu lebensbedrohender Manipulation, (4) von der Untreue, die bis ins Fleisch gehen kann, und der Aufkündigung mitmenschlicher Solidarität zwischen den Stärkeren und den Schwachen. Darüber gibt es keine Diskussion. Aber damit fängt Gottes Wille ja erst an. Wie kann darüber hinaus unser positives Handeln aussehen, welche Visionen können uns beflügeln und nach welchen Modellen sollen wir unsere Beziehungen, Gemeinschaften und die Welt gestalten? Mit Erschrecken, manches Mal geradezu mit Verzweiflung merken wir in aussichtslosen und in undeutlichen Situationen, wie wenig wir die Antworten dann von Gottes Willen ableiten können. Das macht uns bescheiden. Nur zu gerne legen wir, die wir uns Glaubende nennen, in Gottes Willen hinein, was wir selber möchten. Recht leichtfertig wird dann der Himmel zum Maß genommen, weil wir vom Himmel so unsere eigenen Vorstellungen haben. Gottes Wille wird dann zur Leerformel, die Bitte um seine Erfüllung zur rechthaberischen Banalität. Was kann uns davor schützen?

Vielleicht mögen Sie antworten: übertreiben wir nicht. Die Eltern oder die Manager, die Politiker oder die Wissenschaftler, die heute noch über Gottes Willen nachdenken, sind weder naiv noch banal. Aber auch sie, so mein Einwurf, sind nicht dagegen gefeit, dass sie sich fügen, wo sie Widerstand leisten sollten, und dass sie zu widerstehen suchen, wo Ergebung angesagt ist. Unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik ist voll von solchen schwer entscheidbaren Fällen. Gewiss, wir möchten nicht banal sein, aber täglich neu müssen wir unsere Banalität überwinden. Denn täglich werden wir stärker oder schwächer, verengt oder erweitert sich unser Horizont, täglich wandeln sich die Bedingungen, täglich ändern sich die Stufen der Dringlichkeit. Damit wächst und ändert sich auch Gottes konkreter Wille an uns.

Deshalb erfordert Gottes Wille von uns eine Wachsamkeit und Sensibilität, die konkrete Situationen immer neu beobachtet, sich etwa an der Goldenen Regel ausrichtet, denn sie fordert mich dazu auf, mich jeden Tag erneut in die Situation derer zu setzen, die mein Handeln ertragen müssen, also einen Perspektivenwechsel zu vollziehen. Es geht darum zu helfen, zu stärken, das geknickte Rohr nicht zu brechen (Jes 42,3). Ich muss lernen, mich im Nächsten zu spiegeln, das Ich mit dem Du zu vertauschen, den Anderen anzunehmen. Die Weite dieses Horizonts ist unverzichtbar. Aber sie hat eine Kehrseite, und vielleicht kommt erst jetzt die Frage des Glaubens ins Spiel. Unsere Bereitschaft und unsere Suche nach dem Guten stehen ja nicht in Frage. Wie weit aber reicht unsere Kraft, das Gute zu tun? Woher kommen die vielen Zusammenbrüche, woher die Resignation und Verbitterung, der wir täglich begegnen? Warum geraten unendlich viele, die aufrecht begonnen hatten, unmerklich aus der Spur, warum landen sie (und wir) immer neu im Nebel einer Orientierungslosigkeit, die heute von jedem Presseorgan beklagt wird? Es ist nicht die Moral an sich, die uns so schwer fällt. Es sind die Umstände, die sie so erschweren. Ein gelebter Glaube, so meine Überzeugung, kann dieser Orientierungslosigkeit in mehrfacher Weise aufhelfen:

* Gottes Wille, um den wir bitten, ist uns gemeinsam aufgetragen. Wir leben keine Moral von Individualisten, sondern eine Moral von Brüdern und Schwestern. Gewiss, immer wieder muss es Vorkämpfer und Propheten geben, aber schlussendlich können wir Gottes Willen nur im Gespräch und im gegenseitigen Einverständnis aufspüren und umsetzen. Erst dieses Einverständnis macht Gottes uns anvertrauten Willen stark und wir tun gut daran, ihn nicht nur im christlichen Gespräch, sondern mehr und mehr auch im Gespräch zwischen den Religionen zu einer gemeinsamen Vision zu erweitern.

* Sind aber Gottes Wille und Jesu Verheißung vom Gottesreich keine Utopie? Ja, menschlich gesprochen ist Jesus gescheitert, aber gerade durch dieses Scheitern hat er im Kreis der ihm folgenden Frauen und Männer eine unzerstörbare Gewissheit hinterlassen. In ihrer Nachfolge können wir ohne Vorbehalte darauf vertrauen, dass sich Gottes Wille gerade in seinem Scheitern als wahr erweisen wird. Dies kann unsere Überzeugungen vor jeder Instrumentalisierung und demonstrativen Selbstbestätigung, vor jeder Erfolgsabhängigkeit bewahren. Gerade dies können wir an der Versuchungsgeschichte Jesu in der Wüste lernen. Er muss keinen Beweis seiner göttlichen Macht liefern; dieser Beweis liegt in der Sache selbst.

* Zugleich bringt diese Vaterunserbitte, die zugleich aus der Verborgenheit dieses Reiches lebt, eine wichtige und sehr realistische Nuance: Jesus kann und wird sich nicht siegreich von den Zinnen des Tempels stürzen, denn hier und jetzt lässt sich Gottes Wille nie ganz, sondern immer nur unter Menschen, in Spuren und im Vorausgriff erfüllen. Wir leben in einer Welt, die ihren Idealen immer hinterher hinkt, und wir wissen: Die Gegenwart wird nie die Zeit der offenkundigen Erfüllung sein. Gottes Wille kann sich hier und jetzt nie ganz erfüllen. Dieser Realismus des Glaubens, der um eine noch größere Erfüllung weiß, macht uns zurückhaltend und behütet uns davor, notfalls zu resignieren oder vor dem Satan die Knie zu beugen.

* Deshalb ist es wichtig, dass uns unser Vertrauen auf Gott zugleich aus der Falle unseres eigenen Versagens rettet. Versagensangst und Schuldgefühle haben die gesamte Neuzeit geprägt, obwohl schon Martin Luther darauf eine gültige Antwort gegeben hatte. Ein jedes Versagen bringt Selbstzweifel und moralische Verhärtung, es sei denn, wir wissen um unsere Schuld, können das Risiko des Versagens sehenden Auges auf uns nehmen. Dieser Will ist kein Drohmittel und kein Weg zu göttlicher Sanktion im Falle seiner Missachtung Es gibt Vergebung, Versöhnung und eine Rechtfertigung, die – trotz allen Engagements – eben nicht von unseren Taten abhängt.

Gemeinsamkeit in der Suche nach Gottes Wille, Gewissheit um Gottes Zukunft, bescheidener Realismus im Geschäft unseres Alltags und die Zusage von Gottes Vergebung, das sind die Wege, die uns auf die Spur von Gottes Willen führen. Und doch wird unser Wille zur Weltgestaltung in einer eigenartigen Schwebe bleiben. Niemand enthebt uns der Pflicht, die Welt zu gestalten, zu verändern. Gegen die um sich greifende Fremdenangst ist ebenso Widerstand geboten wie gegen die Fiskalisierung und die wachsende Gewaltbereitschaft in unserer Gesellschaft. Und dennoch: Im Glauben an Gott und im Vertrauen auf seine rettende Hand wissen wir, dass wir die Welt nicht zu ihren Idealen zwingen können, in einer demokratischen Gesellschaft, auf die wir alle setzen, weniger denn je. Deshalb stehen die letzten Schriften von Friedrich Bonhoeffer unter dem wunderbaren, schon genannten Titel: „Widerstand und Ergebung“. Diese Schwebe zwischen den beiden Polen bewahrt uns davor, dass unsere Ergebung zur kurzsichtigen Resignation und unser Widerstand zu einem destruktiven Verhalten wird.

Und dennoch, liebe Gemeinde, geht es ums Ganze. Gottes Wille kann von uns unser letztes Engagement und eine letzte Selbstlosigkeit verlangen. Und diese ist nirgendwo besser zu lernen als in der Nachfolge dessen, den wir als Messias und Gottessohn verehren dürfen. So ist das Gebet: „Herr, Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“, heute wichtiger denn  je.
Amen

(Predigt vom 17.02.2008)

 

Hermann Häring