Schon lange geht die exegetische Forschung davon aus, dass Jesu Botschaft und Lebensprojekt den Rahmen der späteren Kirche weit überschreiten. Deshalb tun die Kirchen und Konfessionen in einer säkularisierten Epoche gut daran, sich neu an diesem vorkirchlichen Jesus zu orientieren. Die hier abgedruckten Thesen dienten als Grundlage für ein Referat in einer Pastoralkonferenz.
I. Respekt vor der Erinnerung Jesu
These I/1: Neuentdeckung Jesu
Die hermeneutisch verantwortete Neuentdeckung Jesu von Nazareth ist für die Kirchen der Moderne das entscheidende Ereignis. Dies gilt für die Theologie, für das Selbstverständnis der Kirche sowie für ihre Praxis.
These I/2: Der Kirche Jesu Christi voraus
Die Evangelien leiten uns dazu an, die Botschaft Jesu als eine Erinnerung und als ein Ereignis zu lesen, das der Kirche Jesu Christi voraus ist. Erst dieser Vorrang macht es ihr möglich, christliche Kirche zu sein und zu bleiben.
These I/3: Verantwortete Lesung
Die Erinnerung an Jesus gewinnt eine aussagekräftige Kontur, indem sie in ihre damalige Geschichte eingeordnet wird. Deshalb ist eine verantwortete Lesung unverzichtbar.
II. Kontexte heutiger Jesusverkündigung
These II/1: Vielfache Aktualisierung
Wer Jesus verstehen will, muss die Jesusberichte in die angemessenen aktuellen Lebensbezüge einordnen. Dazu gehören die Lebensbezüge
– der christlichen Konfessionen/Denominationen,
– der (nichtchristlichen) Religionen sowie
– der Gesellschaft insgesamt.
These II/2: Schlüsselfunktion für Konfessionen
Alle christlichen Konfessionen schreiben Jesus für ihren Glauben und ihr Leben eine umfassende Schlüsselfunktion zu, dennoch kommen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nur in ökumenischer Vorwegnahme können sie behaupten, dass sie alle denselben Christus verehren.
These II/3: Religion unter Religionen
Die christliche Glaubenspraxis lässt sich als Religion definieren, weil sie alle Kriterien einer Religion erfüllt. Diese Herausforderung hat die Kirche Jesu Christi anzunehmen, auch wenn die Erinnerung an Jesus nicht in einer religiösen Botschaft aufgeht. Deshalb ist das Gespräch mit anderen Religionen unverzichtbar.
These II/4: Gesellschaftlich-kulturelle Lebenswelt
Angemessen ausschöpfen lässt sich die Erinnerung Jesu nur in der gesellschaftlich-kulturellen Lebenswelt, in der Christusglaube und Religionen Gestalt gewinnen. Die Erinnerung Jesu transzendiert Religion und Religionen, ohne sie einfach überflüssig zu machen.
These II/5: Implizite Religion?
Religion und Religiosität einer Kultur lassen sich als Explikation und Integration kultureller Codes begreifen, die Sinngebung und Transzendenz thematisieren.
Eine jede Religion hat ihre verdeckten Vorformen und keine Religion kann ohne kulturelle Einbettung leben.
Die implizit religiösen Möglichkeiten der Kommunikation sind weder erkannt noch ausgeschöpft.
These II/6: Religion und Säkularisierung
Säkularisierungsprozesse führen zu tiefgreifenden religiösen Metamorphosen, die auch die religiös-kulturelle Dimension des Christusglaubens berühren.
In dieser Situation muss die Erinnerung Jesu in ihren implizit religiösen und säkularen Anteilen nicht verstummen.
Für die Erinnerung Jesu bedeutet Säkularisierung eine Chance.
III. Wie stellt sich Jesus dar?
These III/1 Der transkirchliche Jesus
Wie die Evangelien zeigen, verkündigte und praktizierte Jesus keine Kirche, sondern Gottes Reich.
Die größte Versuchung der Kirchen ist es, Jesus als ihren Christus distanzlos zu vereinnahmen.
These III/2: Der säkulare Jesus
Die jesuanische Verkündigung von Gottes Reich trägt ausgesprochen säkulare Züge; Gottes- und Heilsbezüge werden säkular expliziert.
Diese Säkularität der jesuanischen Erinnerung wurde in hohem Maße durch Verinnerlichung und Verjenseitigung verdrängt.
These III/3: Der solidarische Jesus
Mehr denn je bildet Jesu solidarische Lebenspraxis das entscheidende Medium und Kriterium für seine Botschaft, sofern sie sich ‑ ausdrücklich oder nur intentional ‑ in die Botschaft seiner Anhängerinnen und Anhänger hinein übersetzt.
Sie durchbricht alle innerkirchlichen, allgemein religiösen und säkularen Grenzen, die das Zusammenleben faktisch bestimmen.
These III/4: Die visionäre Botschaft Jesu
Die Erinnerung Jesu lebt aus der jüdisch-prophetischen Vision einer in konkreter Gerechtigkeit versöhnten Menschheit.
Der humane Kern dieser Vision ist in allen Weltreligionen wirksam.
IV. Kirchliches Bekenntnis und Handeln
These IV/1: Rückkehr zur paulinischen Freiheit
Die kritisch-befreiende Zukunftsvision Jesu lässt sich von kirchlichen, religiösen oder kulturellen Grenzen nicht aufhalten. Christliche Kirchen können sich neu auf diese befreiende Kraft einlassen, die sich aus ihrer Jesusnachfolge ergibt.
These IV/2: Rückkehr zur prophetischen Weltdynamik
Im Gefolge von Paulus, Augustinus und Reformation sind die Kirchen des Westens von einer religiösen und jenseitigen Erlösungsdynamik geprägt; sie überdeckt die konkrete jesuanische Weltdynamik, die das Reich Gottes hier und jetzt, nicht in einer jenseitigen Zukunft sucht.
Deshalb sind unsere Erlösungsvorstellungen von Gottes Zorn, Opfer, Sühne und Rechtfertigung zu entmythisieren und neu auf die aktuelle Wirklichkeit von Mensch und Welt hin zu entschlüsseln.
These IV/3: Geschwisterliches Verhältnis zu den Weltreligionen
Nichtchristliche Religionen sind in Europa präsenter denn je. Auf religiöser Ebene ist deshalb eine geschwisterliche Ebene des gegenseitigen Austauschs zu entwickeln.
Mit Erfolg kann dies als Frage nach gemeinsamen Werten und in einer gemeinsamen gesellschaftlichen Verantwortung geschehen.
Ein fruchtbares Modell dafür bietet das Projekt Weltethos.
These IV/4: Einordnung in die zivile Gesellschaft
Im Rahmen der Säkularisierung haben die Religionen ihre kulturelle Leitfunktion weitgehend verloren. Jetzt haben sie sich auf der Ebene des säkularen Zusammenlebens, d.h. auf Grund konkreter Funktionen vor Ort zu bewähren.
Das führt zu einer Neuorientierung auf den Gebieten des solidarischen Handelns, der verständlichen Kommunikation und einer glaubwürdigen Selbstdarstellung.
Dabei ist auf die implizite Religiosität zahlloser Sprachelemente, Weisen der Begegnung und ritualisierten Verhaltens zu achten, die dem humanen Apriori aller Weltreligionen entspricht.
Schluss: Gottes allgegenwärtiges Geheimnis
Aller Glaube ist getragen vom Vertrauen in ein letztes allgegenwärtiges Geheimnis, das aller Wirklichkeit, insbesondere der Begegnung und Gemeinschaft von Menschen Sinn verleiht.
Dieses Geheimnis hat tausend Namen, ist dennoch unnennbar und wird von Christen in DEM erkannt, den Jesus seinen Vater nannte.