1. Neuer Schock und Beschwichtigung
Der Schock vom 7.7.07 [zur Restitution der alten Liturgie] war noch nicht verdaut, da veröffentlichte die Glaubenskongregation am 10. Juli in Gestalt eines Frage- und Antwortspiels ein seltsam kurzes, aber umso härteres Dokument [zur These, dass die Kirche Christi in der katholischen Kirche „subsistiert“], Es stellt fest, die Kirche Christi existiere allein in der katholischen Kirche und den reformatorischen Glaubensgemeinschaften stehe der Titel einer „Kirche“ nicht zu. So jedenfalls die kurze und von Rom intendierte Zusammenfassung eines kompliziert dargestellten Sachverhalts, der im vorliegenden Text ebenso undurchsichtig bleibt wie im 2000 veröffentlichten Dokument Dominus Iesus. Empfindlicher kann man eine Schwesterkirche nicht verletzen, überheblicher nicht gegen sie auftreten. Später schob man päpstlichem Stil gemäß beschwichtigende Erklärungen nach: In aller Form habe man doch auch den evangelischen Gemeinschaften viele Elemente, die zu einer Kirche gehören, ausdrücklich zuerkannt. Kardinal Kasper versteht die Aufregung nicht, es gehe eben um Kirchen „verschiedenen Typs“. Vor laufenden Kameras erklärte vor der evangelischen Gemeinde in Rom, wir seien dennoch Freunde. Bischof Fürst von Rottenburg erklärte, auch die Gleichsetzung von Kirche und katholischer Kirche werde eingeschränkt, denn die Kirche Christi sei auch in anderen Kirchen gegenwärtig und wirksam. Wenn man solchen Kommentaren folgt, wird das Ganze noch zur Demutsgeste Roms. Dagegen bleibt die schlichte Frage: Sind es also Kirchen oder nicht? Fürst in belehrender Geste: Man müsse die Spannung der beiden Aussagen sehen und aushalten. Das nachträgliche Werben um Wohlwollen wirkt nicht sehr überzeugend, denn jemandem eine Identität und Würde abzusprechen, die ihm wichtig ist, und ihm im selben Atemzug Freundschaft anzubieten, das muss unaufrichtig und herablassend wirken. Menschlich gesehen riecht dieses Verhalten nach Zuckerbrot und Peitsche. Was hier theologisch geschieht, ist schlicht ein Skandal, den die ökumenische Kirchengemeinschaft nicht hinnehmen kann.
Über die Wirkung der Verlautbarung auf andere Kontinente ist hier nicht zu urteilen. Weder die orthodoxen noch die jüngeren Kirchen des 19. und 20. Jahrhunderts lassen sich durch Rom so schnell verunsichern. Doch ist kaum zu übersehen: Die europäischen Kirchen der Reformation reagieren auf römische Äußerungen höchst sensibel. Das ist verständlich. Die kirchenoffiziellen Kontakte haben eine lange Tradition. Theologische Ausbildung und Forschung sind stark vernetzt. Im Alltag leben evangelische und katholische Christen eng zusammen. Zumal für jüngere Menschen sind die Grenzen zwischen beiden Kirchen durchlässig geworden; man denke nur an Ehen und Familien, die schon seit Jahrzehnten einen ökumenischen Lebensstil eingeübt haben und ihn uns vorbildlich vorleben. Vergleichbares gilt für die intensive Zusammenarbeit von Gemeinden im städtischen und im ländlichen Bereich. Für viele Jugendliche, die in interreligiösen Kontexten aufwachsen und es gelernt haben, im Markt der Weltanschauungen auszuwählen, werden innerchristliche Unterschiede ohnehin unerheblich. Kirchen und Gottesdienst, Gebete, Predigten und Lieder haben sich angeglichen. Unkonventionelle Gestaltungen haben die konfessionellen Grenzen eh schon überschritten. In solchen Fällen gerät die Brüskierung anderer Konfessionen auch zur Brüskierung der eigenen christlichen Identität. Denn Rom blockiert auch, was zahllose Katholiken täglich denken und tun. Nicht sie haben sich von Rom getrennt, sondern Rom scheint sich von seiner eigenen Kirche zu trennen, in weltferne Rechthaberei und nostalgische Träume abzudriften.
Bislang hielten sich die Repräsentanten evangelischer Kirchen immer zurück, wenn Rom mal wieder auf seinem Vorrang bestand, den Ablass belebte, ökumenische Gastfreundschaft verbot oder den evangelischen Kirchen die ihnen zustehende Anrede verweigerte. Zum ersten Mal waren jetzt deutlich kritische Stimmen zu hören. Bischof Wolfgang Huber aus Berlin forderte die Christen zwar auf, die ökumenische Zusammenarbeit dennoch voran zu treiben, denn faktisch gebe es zur Ökumene keine Alternative. Aber zu recht kritisierte der Berliner Bischof die römische Äußerung als vertane Chance, als anmaßend und schädlich. Wer Kirche ist, hänge nicht davon ab, ob der Papst und die Glaubenskongregation das bestätigen, sondern hänge ab von der eigenen Treue zum christlichen Glauben und zum Auftrag der Kirche. Recht hat er. Viele Katholiken, die vom kirchlichen und theologischen Handwerk etwas verstehen, stimmen dieser Position vorbehaltlos zu. Wer endlich erklärt diese Skandalgeschichte ihrem Verursacher?
2. Die einzig wahre Kirche?
Für ihren Vorrang vor anderen Kirchen beruft sich die katholische Kirche auf eine lange Tradition, Folge eines 2000-jährigen Machtspiels und Widerspiegelung der Tatsache, dass Rom durch Jahrhunderte eine machtpolitische, danach eine ideologische Monopolstellung einnahm. Kritisch gesehen schrumpft die Tradition des römischen Vorrangs in den ersten Jahrhunderten zu einem dünnen Rinnsal von Zitaten zusammen. Das in der Peterskirche so prachtvoll inszenierte Petrus-Fels-Zitat wurde lange auf das Christusbekenntnis, nicht auf einen Bischofssitz bezogen. Wie dünn die Decke des Primatsbewusstseins war, zeigt die baldige Rivalität zwischen den Patriarchatssitzen von Rom und von Byzanz/Konstantinopel, die spätestens 1054 zum großen Bruch führte. Schon dieses Schisma, inzwischen so alt wir damals die Kirche insgesamt, hätte zur selbstkritischen Besinnung führen müssen. Aber der Provinzialismus geschlossener Kulturräume führte zur gegenteiligen Entwicklung; vom wichtigsten Konkurrenten wurde man nicht mehr behelligt. Zum Menetekel hätte dann der unversöhnliche Ausgang der Reformation werden müssen, denn vor 500 Jahren argumentierte kein machtvoller, um politische Vorteile kämpfender Kirchenführer, sondern ein tiefgläubiger Theologe im Namen der Schrift gegen ein machtvolles, finanziell korrumpiertes System.
Nach allgemeiner Überzeugung wären die Folgen vermeidbar gewesen, hätte Rom auf die Stimme der Schrift gehört, die auch 500 Jahre später Recht behalten hat. Rationalismus und Romantik des 19. Jahrhunderts haben zu einem weiteren Schritt geführt. Der Gedanke der Tradition wurde zu einer selbständigen Größe substantiviert und der Schrift gegenübergestellt. Jetzt argumentierte man im Namen der Schrift und der Tradition, stilisierte also faktische Entwicklungen zum göttlichen Willen hoch. Zugleich führte rationalistisches Denken die katholische Kirche zu einem kompromisslosen, unüberbietbar autoritären Schritt, der den rechtspolitischen Absolutismus in einen theologischen überführte. Die katholische Kirche, im Papst repräsentiert, hat sich selbst zur unfehlbaren Quelle der Wahrheit erklärt. Das ist, wie wir noch sehen werden, der Argumentationsstil, der sich im letzten Dokument wieder zeigt: Man habe die kirchliche Lehre nicht verändert, denn – nun folgt eine Begründung von typisch römischer Art – zwei Päpste hätten das doch öffentlich erklärt. Gewiss, das sollte nicht die einzig mögliche Betrachtungsweise römisch-katholischen Selbstbewusstseins sein. Aber wir müssen solange auf ihr bestehen, bis sie gesehen und selbstkritisch aufgearbeitet wird. Noch immer ist Rom ihr gegenüber blind und noch immer meint der Papst, Europa tadeln, die Muslime belehren, die Indios zu ihrer Christianisierung beglückwünschen und aller Welt darlegen zu dürfen, was wahre Vernunft bedeutet.
Nein, Christus, nicht die katholische Kirche ist das Licht der Völker, wie das 2. Vatikanische Konzil festgestellt hat. Es fand deshalb soviel Zustimmung, weil die Revision dieser Selbstverliebtheit angesagt war. Was ist daraus geworden? Wir fordern sie nach vierzig Jahren nachdrücklich ein. Wie das persönliche Schrifttum des ehemaligen Professors und Glaubenspräfekten lässt sich auch Rom immer noch von einer subjektiven Hermeneutik der Fülle leiten. Man nährt die naive Vorstellung, nur die katholische Kirche hüte in vollem Umfang alles, was zur Kirche gehört: das Wort, die Sakramente, das Petrusamt, die Nachfolge der Apostel, insbesondere eine Abfolge der Handauflegung, die das Bischofsamt weitergibt. Man rühmt sich einer kontinuierlichen, vom Hl. Geist geleiteten Tradition und erklärt, Rom sei nie vom wahren Glauben abgewichen. Bislang wurden die historischen wie die inhaltlichen Zweifel an dieser Behauptung ebenso verdrängt wie der Anspruch anderer Kirchen oder Konfessionen auf eine vergleichbare Kontinuität. Solange darüber nicht offen gesprochen wird, bleiben diese katholischen Identitätsthesen für die Diskussion ebenso unerheblich wie die kircheninterne Interpretation konziliarer und andere amtlicher Dokumente. Wie aber können wir miteinander ins Gespräch kommen?
3. Was gilt für die katholische Kirche? – Bedeutung der Schrift
Eine Reaktion auf die römische Verlautbarung vom 10. Juli legt nahe, den umstrittenen Konzilstext noch einmal in den Blick zu nehmen, der in der Aussage kulminiert: „Die Kirche Christi subsistiert in der katholischen Kirche.“ Ich werde später darlegen, dass Rom die Tiefenstruktur, also den wahren, den zurückhaltenden Charakter dieses Satzes ebenso wenig wahrnimmt wie die komplizierte, von Brüchen durchzogene Struktur der beiden Abschnitte, zu denen er gehört. Sie enthalten zu viele divergierende Stimmen und die Plattform des erreichten Kompromisses ist zu breit, als dass Rom zu einem so simplen Schluss kommen darf. Wenn Rom sich mit solcher Selbstgewissheit auf einen Konzilstext beruft, dann ist der Wunsch der Vater des Gedankens.
Seien wir zudem realistisch: Seit der west-östlichen Kirchenspaltung von 1054, erst recht seit der Reformation sind die ökumenisch genannten Konzilien (das 2. Vatikanische Konzil eingeschlossen) nicht mehr ökumenisch. Faktisch fielen sie auf das Niveau von Partikularsynoden zurück. Die Hälfte der Christenheit, also die Hälfte geistgeleiteter Einsichtsmöglichkeiten in die Sache Christi ist auf ihnen nicht mehr vertreten. Seitdem diese auf Konsens hin orientierten Gremien einseitig der Regie und dem Urteil des römischen Bischofs unterworfen sind, hat sich das Maß der Inspiration noch weiter ausgedünnt. Auch deshalb ist ihre christliche Glaubwürdigkeit enorm eingeschränkt. Der egozentrische Gedanke der Rückkehrökumene überzeugt auch deshalb nicht, weil alle großen Kirchenspaltungen durch die katholische Kirchenleitung zumindest mitverursacht wurden. Wie kann ein Amtsträger glaubwürdig als Garant kirchlicher Einheit auftreten, wenn sein Amt selbst (wie Paul VI. und Johannes Paul II. offen sagten) zum Hindernis der Einheit geworden ist und in deren Förderung seit Jahrhunderten versagt?
Deshalb ist solch innerkatholische Exegese für eine ökumenische Frage auch nur von bedingtem Interesse. Mit Nachdruck sei daran erinnert: Nach allgemein christlicher Überzeugung ist und bleibt allein die (im Blick auf unsere Gegenwart dargelegte) Schrift die gemeinsame Norm aller Kirchen, die sich auf Jesus Christus berufen. Genau dies wurde vom Konzil mit Nachdruck bestätigt, die von der Schrift als der Seele aller Theologie spricht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen haben katholische Theologen diesen Kern christlicher Wahrheitssuche noch nicht zur Kenntnis genommen. Wer Ökumene ernst nimmt oder ernst zu nehmen behauptet, muss andere Kirchen zwar nicht in allem akzeptieren, geschweige denn ihretwillen die eigene Identität aufgeben. Aber er tut gut daran, sich positiv auf deren Wahrheitssuche und Bemühen um den Willen Gottes einzulassen. Es ist ja durchaus möglich, dass die katholische Kirchenleitung, von der Sorge um die Identität der eigenen Gemeinschaft geleitet, sagt: Ein solches Kirchenverständnis (etwa das lutherische oder das reformierte) will ich für meine Kirche nicht akzeptieren. Vielleicht sieht sie aus Gründen historischer und inhaltlicher Kontinuität gegenüber anderen Kirchen große Vorteile. Das mag sein. Sie hat aber auf Grund ihres eigenen Kirchenbildes kein Recht, ihr Bekenntnis mit einem objektiven Wahrheitsanspruch zu verwechseln, sich also zur objektiven Richterin aufzuspielen. Nie und nimmer kann sie anderen christlichen Gemeinschaften ihr Kirchesein absprechen.
Daraus ergeben sich für die Ökumene wichtige Konsequenzen, die in zahllosen ökumenischen Schriften ausgearbeitet, von vielen Kommissionen bestätigt und zumal von evangelischen Kirchen akzeptiert sind. Entsprechende Literatur dazu ist allenthalben zu finden. Das Wichtigste sei hier kurz zusammengefasst:
* Die Vielfalt der Bilder und Konzepte von Kirche- und Christsein ist legitim, für die Fülle der Wahrheit notwendig und noch heute zu fördern; kirchliche Einheit ist nicht auf juristische Unterordnung zu reduzieren, sondern als Gespräch zwischen und als Anerkennung von solcher Vielfalt zu verstehen. Der Gedanke der Rückkehrökumene ist nicht nur ungeschichtlich, sondern unbiblisch. Er verkennt die konkrete gesamtchristliche Situation, die schon im Übergang des christlichen Glaubens in den hellenistischen Kulturraum paradigmatisch vorgezeichnet ist.
* Die neutestamentliche Frage nach der Gegenwart der Kirche quantifiziert und berechnet nicht. Sie legt die Kirchlichkeit nicht in Einzelelemente auseinander, sondern ergibt sich aus grundlegenden, nicht addierbaren Kriterien. Grundsätzlich ergibt sich Kirchesein (ekklhsia) aus Gottes Zusage an diejenigen, die sich glaubwürdig als Gemeinschaft des Glaubens verstehen. Kirche lebt aus dem Bewusstsein, dass alle Glaubenden von Gott berufen sind und dass Gottes Ruf dem Glauben vorausgeht. Deshalb sind die Grenzen der Kirchen immer offen.
* Wer sich deshalb dem offenen Charakter ökumenischer Gespräche verweigert oder solche Gespräche bewusst nach theologie- oder machtpolitischen Präferenzen steuert, verletzt die Grundvoraussetzung einer ökumenischen Haltung und Tat. Zu fruchtbaren ökumenischen Gesprächen und Begegnungen gehört auch eine offene kircheninterne Diskussion, die sich nach den Gesetzten einer werteorientierten Demokratie vollzieht.
* Es ist unbestritten: Die meisten unserer ökumenischen Fragen würden in urchristlicher Zeit Ratlosigkeit, Kopfschütteln oder Entsetzen hervorrufen, sind mit Bibeltexten also nicht direkt zu beantworten. Damit sind weder die Gegenwart noch die Zeit des Beginns ins Unrecht gesetzt. Wir müssen aber lernen, mit den tiefgreifenden historischen, kulturellen und lebenspraktischen Veränderungen von zwei Jahrtausenden sorgsam umzugehen. Jeder Anspruch der besseren Kompetenz und jeder Anschein des Selbstverständlichen schadet. Ökumene zwischen den Kirchen hat nur Sinn, wenn sich Kirchen ihren internen Diskussionen stellen. Das Neue Testament bietet viele Beispiele einer leidenschaftlichen Auseinandersetzung um die Sache selbst.
* Gemäß einem breiten exegetischen Konsens kennt das Neue Testament verschiedene, miteinander vernetzte Wege ins Amt der Gemeindeleitung: Nachvollzug einer jesuanischen Erinnerung (Abendmahlsbericht), charismatischer Neuaufbruch (Initiative zur Gemeindegründung), Berufung durch die Gemeinde (Antwort auf ein Bedürfnis) und Handauflegung (institutionelle Regelung im Sinne öffentlicher Legitimation). Vor diesem Hintergrund steht der katholischen Kirche nicht das Recht zu, den evangelischen Kirchen eine gültige Amtsausübung, eine gültige Gottesdienstfeier oder den Mangel wesentlicher Elemente von Kirchlichkeit abzusprechen.
Wer diese Zusammenhänge bedenkt und für die eigene kirchliche Situation konkretisiert, wird über die römische Erklärung nach wie vor enttäuscht und um das ökumenische Gespräch besorgt sein. Sie ist aber kein Grund, an der christlichen Identität, Legitimität und kirchlichen Würde der eigenen Glaubensgemeinschaft zu zweifeln. Dies gilt auch für katholische Christinnen und Christen, insbesondere für Frauen und Männer im pastoralen Dienst. Um dieses Bewusstsein zu stärken, ist ein allgemeiner, biblisch begründeter und vor der Gegenwart verantworteter Widerspruch gegenüber Rom unverzichtbar. Die Frage richtet sich insbesondere an diejenigen Bischöfe, von deren Enttäuschung über die vorliegende Erklärung man weiß, die aber keinen Widerspruch wagen. Erinnert sei daran, dass schon Paulus dem Petrus ins Angesicht widersprach und dass nach langer kirchenrechtlicher Tradition es Recht und Pflicht der Bischöfe ist, nach Maßgabe ihres Gewissens Widerspruch einzulegen (H. J. Guth, Ius remonstrandi. Das Remonstrationsrecht des Diözesanbischofs im kanonischen Recht, Freiburg 1999).
4. Der Stellenwert von Sakrament und Sakramentalität
Für den unbefangenen Blick enthält die römische Entscheidung ein zusätzliches willkürliches Element: Warum wird ausgerechnet den Kirchen der Reformation, nicht aber den orthodoxen Kirchen die Würde einer Kirche abgesprochen? Wie wir sehen werden, gibt es dafür in den Konzilstexten keine Grundlage, aber sie wird aus der evangelisch-katholischen Differenz der vergangenen 450 Jahre verständlich. Seit der Reformation wurde die evangelisch-katholische Differenz zunehmen in der Polarität von Wort und Sakrament verankert. Unbestritten hat Luther auf einen höchst unbiblischen, magisch ausgelegten und finanziell ausgebeuteten Sakramentalismus reagiert. Seine Kritik, die in den Ablassthesen einen öffentlichkeitswirksamen Ausdruck fand, erschütterte die Grundlagen der katholischen Kirche, weil die Sakramentsidee unmittelbar die Vollmacht der Bischöfe berührte. Gott sei Dank wurden Bedeutung und Gültigkeit der Taufe nur am Rande in die Diskussion mit einbezogen. Umso intensiver rückte die Frage der Eucharistie ins Zentrum der Debatte. Evangelischerseits mühte man sich um eine biblisch inspirierte Neuinterpretation des Abendmahls; katholischerseits beharrte man auf der objektivistischen Erklärung des Spätmittelalters, das auf der Idee der substantiellen „Wandlung“ von Brot und Wein in den Leib und das Blut Jesu Christi bestand. Die Wandlungsvollmacht ist Bischof und Priestern gegeben, deren sakral unberührbarer Status damit verfestigt. In ihrem theologischen Konservatismus und aus ureigenem Machtinteresse reagierte und reagiert die katholische Kirche durch Verweigerung. So hat sich weithin die Überzeugung durchgesetzt, nur Katholiken „besäßen“ das Sakrament der Eucharistie wirklich, genau das mache die Fülle katholischer Kirchlichkeit aus.
Unter den Einfluss des 2. Vatikanischen Konzils wurde diese Polarität entschärft, von ihren biblischen und anthropologischen Gründen her verstanden und immer weniger als trennender konfessioneller Gegensatz gesehen. Auch katholischerseits wurde die Kirche unter das Leitwort des „Volkes Gottes“ gestellt. Es hat sich gezeigt, dass „Wort“ und „Sakrament“ unverzichtbare Aspekte der einen Verkündigung und Gegenwart Christi sind. So steht gemäß breitem theologischem Konsens auch der eucharistischen Gastfreundschaft nichts mehr im Wege. Die gegenseitige volle Anerkennung von Abendmahl bzw. Eucharistie sowie der kirchlichen Leitungsfunktionen bedarf nur noch der Stützung und Absicherung durch formale Absprachen und Erklärungen. Wie bekannt, kommt dabei den anglikanischen Kirchen eine wichtige Vermittlerrolle zu.
Doch stellen sich dieser Entwicklung unerwartete Widerstände entgegen. Spätestens seit 1985, einer damals gehaltenen Bischofssynode, drängt Rom den Gedanken des Gottesvolkes mit seinem Akzent auf Wortverkündigung, innerkirchliche Kommunikation und das Priestertum aller Gläubigen zurück. Man redet jetzt vom „Mysterium Kirche“, erinnert somit an die vorkonziliare Leitformel vom „mystischen Leib Christi“ und begreift sie zunehmend von einer hochkirchlich verstandenen Eucharistie und dem sakramentalen Bischofsamt her. Die Aufwertung des Tridentinischen Ritus ist für diesen unbiblischen Sinneswandel ein wichtiges Symptom. Der Papst, der sich selbst einmal als Platoniker bezeichnete, beruft sich zudem auf die Alte Kirche, in der die Eucharistie den zentralen Stellenwert einnimmt. Diese vom Bischof geleitete Eucharistie setzt das himmlische Jerusalem gegenwärtig, vertritt die eine ganze Menschheit umfassende „Kirche seit Abel“ und präsentiert eine staatlich legitimierte Reichskirche, deren Lehrgesetze reichsgesetzlich stabilisiert und in spiritueller, oft „mystisch“ genannter Sprache untermauert sind. Ratzinger sprach von der „nüchternen Trunkenheit“ des Tridentinischen Ritus und meinte wohl die Liturgie, wie er sie als Jugendlicher und als Student in seiner Heimat, später in Freising und in München erlebte.
Solche Nostalgie verbindet sich in Deutschland seit einigen Jahren mit dem Konservatismus einer neuen, sich bürgerlich nennenden Elite, die den wirtschaftlichen Fortschritt zwar genießt, aber vieles vergessen möchte, was politisch und kulturell seit 1968 geschah. In der Liturgie sucht sie keine Gemeinschaft des Gebets und des Erinnerns, keine Auseinandersetzung mit den biblischen Schriften, sondern (wie neuerlich wieder zitiert) „Freiheit für Selbstbeschäftigung und einen Spielraum für Phantasie, bis hin zu persönlichkeits-, gruppen- und kulturspezifischen Interpretationen des heiligen Geschehens“ (Lorenzer). Dies alles konnte sich früher hinter der „Ikonostase der lateinischen Kultsprache“ entfalten (Deckers).
An solche Erfahrungswerte denken die Verteidiger des aktuellen römischen Konzepts, wenn sie der katholischen Kirche die Fülle des Sakramentalen und den evangelischen Kirchen die Qualität von Kirche absprechen. Sie bilden sich ein, in einem bischöflich vollzogenen Messopfer sei Christus besser und wirklicher gegenwärtig als im protestantisch verkündeten Wort und im bescheiden gefeierten Abendmahl einer evangelischen Kirche. Angesichts dessen ist, wie wir aus der Schrift wissen und in den ökumenischen Gesprächen seit vierzig Jahren gelernt haben, diese Vorstellung nichts weniger als peinlich, theologisch unverantwortlich, vom Provinzialismus selbstbezogener Kirchenkreise irregeleitet. Die fundamentalen Grundregeln eines gegenseitigen ökumenischen Umgangs werden verletzt. Als katholischer Theologe kann man sich dafür bei evangelischen Freunden nur entschuldigen. Eine Entscheidung, die so fundamental gegen die Grundregeln ökumenischen Umgangs und gegen Grundelemente eines biblischen Kirchenverständnisses verstößt, kann keinerlei Anspruch auf innerkirchliche Verbindlichkeit erheben.
5. Nichts Neues? – ein Blick aufs Konzil
Strenggenommen ist für das kirchliche Gespräch damit das Nötige gesagt. Doch ist für die innerkirchliche Diskussion die Debatte natürlich weiterzuführen. Eine Entscheidung, die die Gemüter von engagierten Katholiken erregte, ist gefallen. Kirchliche Insider haben sogleich darauf hingewiesen, dass hier nichts Neues gesagt sei. Formalistisch gesehen haben sie recht, denn dieselben Thesen hat der damalige Präfekt der Glaubenskongregation schon im unseligen Dokument Dominus Iesus ausgeführt. Aber der Widerspruch war im Jahr 2000 nicht unerheblich und selbst in der katholischen Kirche unseres Jahrhunderts lässt sich ein altes Prinzip katholischer Wahrheitsfindung nicht verdrängen: Jeder lehramtliche Beschluss hat sich in der „Rezeption“, also in der Übernahme des Beschlusses durch die Gläubigen zu bewähren. Dass dies nicht gelungen ist, gibt Rom wider Willen zu, sonst hätte die Glaubenskongregation nicht noch einmal die Stimme erhoben. Für die neue Verlautbarung sind zwei Bemerkungen hinzuzufügen.
Erstens hat der Grad der Schärfe und Härte zugenommen. Unter vielen Punkten des damaligen Dokuments greift Rom ausgerechnet einen Punkt heraus, der nicht nur für sich einen Vorrang beansprucht, sondern den andern auch eine Würde abspricht. Damals stand die These noch im Zusammenhang ausführlicher Darlegungen, die theologisch zwar nicht haltbar waren, aber im Zusammenhang diskutiert werden konnten. Jetzt vollzieht sich ein merkwürdiger Rückfall in die reaktionär antimodernistische Epoche der vorigen Jahrhundertwende, als Offizium und Bibelkommission sich aus ihrer Perspektive so komplizierte Fragen drechselten, dass ihre Antworten nur noch „negative“ oder „affirmative“ [„ja“ oder „nein“] lauteten. Immerhin sind dieses Mal die Fragen kurz, aber sie bleiben höchst suggestiv. Wenn jetzt schon gefragt wird: „Hat das Zweite Vatikanische Konzil die vorhergehende Lehre über die Kirche geändert?“, oder: „Warum schreiben die Texte des Konzils und des nachfolgenden Lehramts den Gemeinschaften, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, den Titel ‚Kirche’ nicht zu?“ dann braucht man die Antwort überhaupt nicht zu lesen. So fragt nur, wer die Antwort schon kennt. Theologisches Nachdenken wird wieder auf kirchentreue Reflexe und auf Hammerschläge kondensiert. Der Diskurs gerät zum geschlossenen Wahrheitsbeweis, der seine Voraussetzungen unterschlägt. Das Dokument könnte ja noch viel kürzer sein. Es hätte auch genügt, fünf nackte Thesen in die Welt zu setzen, denn sie sind in jedem Fall zu akzeptieren.
Zweitens hat sich wieder mal ein scholastischer, völlig unhistorischer und hermeneutisch unreflektierter Wahrheitsbegriff eingestellt. Das zeigt die erste Frage: „Hat das Zweite Vatikanische Konzil die vorhergehende Lehre über die Kirche verändert?“ Natürlich lautet die katholische, immer auf Kontinuität bedachte Antwort „nein“. Man hätte ja auch fragen können: „Was hat das Lehramt seit dem 2. Vatikanischen Konzil gelernt?“, oder: „Wie haben sich die Beziehungen zu anderen Kirchen geändert?“ Unterschlagen werden die Kontexte und Vorfragen, die für eine Weiterführung solch sensibler Fragen selbstverständlich sein müssten. Was meint hier denn der Begriff Lehre? Wann gilt sie als verändert? Wie verhält sie sich zu den wechselnden Kontexten in Raum und Zeit? Damit verrät das Dokument schon in Frage eins, dass es unhistorisch denkt und hermeneutisches Nachdenken, gar eine Korrektur der eigenen Position verbietet. Gegen diese fatale Entwicklung ist alles aufzubieten.
Die Motivation solchen Vorgehens ist nicht unbekannt. Zu Grunde liegt Roms neu erhobener Anspruch auf die Definition und Feststellung von Begrifflichkeit, Fragestellungen und Wahrheit. So schreibt es nicht nur Denkergebnisse, sondern das Denken selbst vor. Man will Fragen beherrschbar machen, störende Unklarheiten beseitigen, trotz offenkundigen Widerspruchs endlich wieder für intellektuelle Ruhe sorgen. Nicht ohne Grund spricht ein verunsichertes, von einer Krisenhermeneutik geleitetes Lehramt wieder von Verwirrung und Zweifel. Es übersieht dabei, dass eine neue Offenheit engagierte Katholiken gerade nicht verunsichert oder verwirrt, sondern deren Identität und Sinnerfahrung stärkt. Es spricht weiterhin von der „authentischen Bedeutung“ einiger Lehramtsbegriffe und sieht nicht, dass deren Bedeutung nicht vom römischen Lehramt, sondern von der Schrift, einer langen Tradition und einem verständigungsfähigen Sprachgebrauch zwischen den Kirchen abhängt. Dieses Lehramt gibt sich immer noch der Illusion hin, Rom könne aus sich heraus Begriffsdefinitionen festlegen, wie es dereinst den Gregorianischen Kalender verfügt hat.
Gestützt wird dieser Wille zur Macht des Denkens von einem metaphysischen, statisch orientierten und geschichtslos agierenden Wahrheitsbegriff, der einem staats- und kulturtragenden Kirchensystem immer schon zugute kam, dessen Ziel immer schon die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung war. Wer imperiale Gewänder trägt, muss das Denken ruhigstellen, zum Auswendiglernen domestizieren und die Untertanen auf ein „Das war schon immer so!“ einschwören, das dann als heilige und unverrückbare Tradition hochstilisiert und sanktioniert wird. Ohne diese Hintergründe ist kaum zu verstehen, was sich in Rom Jahrzehnte nach den Konzil vollzieht, seitdem Joseph Ratzinger als Glaubenspräfekt die Strippen der Glaubenstheorie neu gezogen hat.
Aber wie so oft überschätzt Rom, wie ich gleich zeigen möchte, seinen Zugriff auf die Geschichte, seine eigene Kompetenz und seinen logischen Scharfsinn. Es bemerkt nicht, wie es mit einer solchen Aktion das Schisma zwischen unten und oben verfestigt und verschärft, seine Glaubwürdigkeit zum Schaden der Gesamtkirche noch weiter aushöhlt. Es verliert im Augenblick seine Gestaltungskompetenz gerade dort, wo die offizielle Seelsorge sinnenfällig zusammenbricht. Dafür zeugt dieses Dokument.
Prüfen wir kurz, wie dieses Dokument mit der Geschichte der Thematik umgeht. Zu Frage eins stellt das Dokument fest, an der überlieferten Lehre habe sich nichts geändert. Es begründet diese Behauptung mit Aussagen von Johannes XXIII. und Paul VI., die in der stolzen Behauptung kulminieren: „Was Christus gewollt hat, wollen auch wir.“ Aber solche Aussagen haben einen Absichts-, vielleicht einen Interpretations-, aber keinen Begründungscharakter. Strukturell unterscheidet sich dieser Beweis nicht von der Widerlegung der Evolutionstheorie durch den türkischen Gelehrten Adnan Oktar, der sagt: Wenn es eine Evolution gäbe, stünde davon etwas im Koran. Also gebe es sie nicht. Die päpstliche Überzeugung ist zwar zu loben, ob sie aber stimmt, steht auf einem anderen Blatt. Als Interpretation könnte die Behauptung höchstens einen weiteren Gedankengang eröffnen. Zur dritten Möglichkeit bleibt nur die Feststellung, dass nichts begründet, die Frage also nicht beantwortet ist. Wie erläuterungsbedürftig ein solcher Kontinuitätsanspruch ist, zeigen die folgenden Bemerkungen: Jetzt sei offen als Lehre zum Ausdruck gebracht, was früher bloß in der Praxis des Lebens enthalten war. Darüber hätte man gerne mehr gehört, denn zum einen lässt sich eine Praxis nie einfach in eine Lehre überführen, zum andern hat die frühere Praxis schon immer erhebliche Zweifel geweckt. Ferner sagt das Dokument: Was bis jetzt Gegenstand des Nachdenkens war, sei jetzt in einer sicher formulierten Lehre dargelegt. Auch diese Behauptung führt zu mehr Fragen als sie beantwortet. Ganz offensichtlich hat man der Lehre Gedanken hinzugefügt, die früher umstritten waren; sonst wäre der ganze Aufwand nicht nötig. Solche Beweisführung ist also kein Meisterstück überzeugender Logik.
Unklar bleiben auch die vier (in Fußnote 4 zitierten), während der Konzilsarbeit eingereichten und offiziell beantworteten Interventionen. Bezeichnenderweise beklagen ja alle vier Interventionen, dass die einfache Identifikation der Kirche Christi mit der katholischen Kirche aufgeweicht sei; dafür muss es ja einen Grund geben. Wie sich zeigen lässt, tragen diese Archivstücke zur Klärung aber nichts bei.
Die erste Intervention meint, im Vorwort der Konstitution werde auch die katholische Kirche in die Reihe der (defizitären) kirchlichen Gemeinschaften eingeordnet. Antwort: Die genannte Passage rede nur vom Faktum; später werde klar erklärt, „allein die katholische Kirche sei die wahre Kirche Christi“. Diese Aussage ist in der Kirchenkonstitution nirgendwo zu finden; wir kommen später darauf zurück.
Die zweite Intervention fordert, die Römisch[!]-katholische Kirche müsse zur einzig wahren erklärt werden; unter Strafe des Heilsverlusts müssten alle Menschen danach streben[!], sie kennenzulernen und in sie einzutreten. Ungenau ist die Antwort, der Gesamttext bringe das Erforderliche (oder: das Geforderte; was ist im Text gemeint?) hinreichend zum Ausdruck, denn von dieser Strebenspflicht ist später keine Rede. Auch dieser Hinweis bringt keinen Erkenntnisgewinn.
Die dritte Intervention fordert eine deutlichere Aussage dazu, dass allein die Römisch-katholische Kirche die wahre Kirche sei. Geantwortet wird formal und ohne inhaltliche Präzisierung, der kritisierte Text setze die Lehre der Kirchenkonstitution voraus. Genau um sie aber sollte es doch gehen.
Die vierte Intervention fordert, es müsse nicht nur von der Einheit der Kirche, sondern auch von deren Einzigkeit die Rede sein. Die Antwort zutreffend: Die Rede sei in 8,1 und 8,2 von der „einzigen Herde Gottes“ sowie von der „einen und einzigen Kirche Gottes“. Haben wir damit aber festen Boden unter den Füßen? Darauf wird zurückzukommen sein.
Die unter Frage zwei zitierten Textstücke klingen in sich überzeugend und unterstreichen den von Rom beanspruchten Anspruch der Alleinvertretung: Die von Christus gestiftete Kirche, die wir im Credo als die „eine, heilige, katholische und apostolische“ bekennen und die der Bischof von Rom leitet, subsistiert in der katholischen Kirche (Lumen Gentium Nr. 8/2). Wenn die Aussagen aber so einfach sind, warum verläuft die Diskussion über ihn schon seit vierzig Jahren so kompliziert? Die Antwort lautet: Nur bei oberflächlichem Blick ist der ursprüngliche Text einfach. Genauer besehen ist er höchst kompliziert. Darauf ist näher einzugehen.
Dieser Stelle des ersten Kapitels (nennen wir sie kurz: LuGe 8/2) gehen sehr schöne Passagen über das „Geheimnis“ der Kirche (so der Titel) voraus. Die Kirche, so das Konzilsdokument, ist Zeichen der innersten Vereinigung mit Gott ist wie für die Einheit der ganzen Menschheit (Nr. 1). Diese Kirche zeichnet sich schon mit dem Beginn der Menschheit ab. Zum Schluss werden „alle Gerechten von Adam an … in der allumfassenden Kirche beim Vater versammelt werden“ (Nr. 2). Schon aus empirischen Gründen muss diese universale Menschheitsgemeinschaft den recht begrenzten Rahmen der Römisch-katholischen Kirche überschreiten. Ganz überempirisch wird die Kirche dann als „das im Mysterium schon gegenwärtige Reich Christi verstanden“ und in der Eucharistie dargestellt (Nr. 3); der Geist führt sie in alle Wahrheit ein (Nr. 4). Die komplexe Wirklichkeit dieses umfassenden Geschehens namens Kirche wird dann in vielen biblischen Bildern umschrieben: als Schafstall, Pflanzung und Acker Gottes, als Bauwerk, Familie und Tempel, als Oberes Jerusalem, Mutter und Braut, als Christi Leib (Nr. 5-7). Immer steht Christus als Quelle und Zielpunkt der Kirche auch dort im Mittelpunkt, wo strukturelle Elemente dieser Gemeinschaft angedeutet werden.
An diesem Punkt und bevor der rote Faden des Gesamtdokuments mit dem Bild vom Volk Gottes wieder aufgegriffen wird, bricht der darstellende Diskurs ab. Die Nummer 8 wird mit der Frage eingeführt: Wie stellt sich diese Kirche auf Erden konkret dar? Die Antworten sind traditionell und Insidern bekannt, aber nicht sehr durchsichtig. Als „geheimnisvoller“[?] Leib sei die Kirche zugleich „sichtbare Versammlung“ und „geistliche Gemeinschaft“, „irdische“ und zugleich „mit himmlischen Gaben beschenkte“ Kirche. Von einer „komplexen Wirklichkeit“ ist die Rede, vom Zusammenwachsen eines „menschlichen und eines göttlichen Elements“. Wer dem Text mit einigem Wohlwollen folgt und wer weiß, dass hier keine Analyse, sondern ein vielschichtiges Selbstverständnis vorgelegt wird, kommt zu dem Schluss: Eine umfassende, im Grunde universale Geschichte und Kulturen übergreifende Wirklichkeit bricht in die irdische Wirklichkeit und zeigt sich – notwendigerweise gebrochen und begrenzt – als konkrete Gemeinschaft. Aber der universale und überempirische Überschuss, von dem her Kirche ursprünglich beschrieben wurde, wird in der begrenzten Gemeinschaft natürlich nicht aufgesogen.
In diesen Gedankengang, dem auch andere Kirchen noch folgen könnten, bricht nun ein anderer Horizont ein, der den ersten buchstäblich überlagert und verdrängt. Die Rede ist nämlich nicht einfach vom „mystischen Leib“, sondern (im Anschluss an Pius XII. und nicht ganz absichtslos) von der „mit hierarchischen Organen ausgestatteten Gesellschaft und[!] dem geheimnisvollen Leib Christi“. Meinen sie dasselbe, real Verschiedenes, wenn auch nicht Getrenntes, oder zwei Dimensionen der einen Gemeinschaft? Das bleibt unklar und der Text beginnt zu stolpern, vergleicht diese Doppelung – in einer etwas gezwungenen Analogie – mit der göttlichen und menschlichen Natur Christi. Die Anschlüsse und Übergänge werden schwierig. Bei aller Unklarheit ist er aber so gehalten, dass ihn beharrende und fortschrittliche Kräfte der Konzilsgesellschaft gleichermaßen akzeptieren können.
Der entscheidende neue Absatz (8/2) beginnt jetzt mit den Worten: „Dies[?] ist die einzige Kirche Christi …“. Was ist jetzt – nach dem Bruch von Gesamtduktus und Atmosphäre – mit „der einzigen Kirche Christi“ gemeint: Die konkrete oder die im Credo bekannte Gemeinschaft, die doch in der konkreten nicht aufgeht? Natürlich kann man den eingetretenen Spuren und einer Symbolwelt folgen, in der jeder der formulierten Sätze seine festgelegte Bedeutung hat. Aber deren Abfolge schafft Unklarheit. Bis jetzt ist für den unbefangenen Leser – für nichtkatholische Leser erst recht – noch nichts weggenommen von jener immer existierenden Heilsgemeinschaft, die spätestens seit Augustinus unsichtbare Kirche genannt wird. Alle Christen haben an ihr teil und die meisten halten an ihr fest, ohne sie einschichtig für sich allein zu beanspruchen, denn genau in dieser Vielfalt bleibt diese Kirche einzig, verwirklicht sie sich als einzige immer in sichtbaren Gemeinschaften, so wie die eine Wahrheit in vielfältiger Weise ausgesprochen, die eine Liebe vielfach praktiziert werden kann und muss. Natürlich denken dabei viele um katholische Heilspriorität bangende Konzilsbischöfe (vom Text, gar von der Schrift nicht zwingend gedeckt) an ihre eigene Kirche, deren Bischöfe sie sind. Deshalb begrüßen sie den gleich folgenden Satz, diese Kirche zu weiden sei dem Petrus übertragen. Aber halt! So eindeutig ist auch diese Aussage nicht. U.a. kann man in ihr einen Indikativ oder einen Imperativ erkennen; ebenso wenig geklärt ist das Verhältnis zwischen Petrus und dem römischen Bischof der späteren katholischen Kirche.
In solchen Unklarheiten liegt schon das Problem des angezielten Kompromisses beschlossen, denn Vergleichbares gilt für die Apostel. Als „Säule und Feste der Wahrheit“ erscheint dann dem zitierten Schriftwort entsprechend wieder die Kirche in ihrer umfassenden Bedeutung, gerade nicht als Römisch-katholische Kirche, so also, wie sie die Menschheit von Adam an umspannt.
Umso unmotivierter taucht jetzt der heißdiskutierte Satz auf: „Diese Kirche existiert [subsistiert, ist verwirklicht] in der katholischen Kirche.“ Hier rächte sich die Unklarheit der vorhergehenden Gedankenführung. Denn wenn man sich der Polarität von unsichtbarer und sichtbarer Kirche erinnert, fügt der Text sich nahtlos an die Nr. 7 an, die den besprochenen Brüchen vorangeht. Ist der Absatz 8/1 später eingefügt? Entgegen der römischen Behauptung zeigt sich im zitierten Satz etwas Neues, denn er bricht die alte Identitätsformel zwischen Kirche Christi und der katholischen Kirche auf. In jedem Fall lässt sich nicht mehr behaupten, die katholische Kirche sei die wahre Kirche Christi. Eine erste offizielle deutsche Übersetzung sagt. Die Kirche Christi habe „ihre konkrete Existenzform“ in der katholischen Kirche. Schon das ist tendenziös. Sie müsste wenigstens lauten, die Kirche Christi habe „eine konkrete Existenzform“. Konkrete Vielfalt ist gerade nicht ausgeschlossen, sonst hätte da stehen müssen „unice subsistit“.
Oft folgen Texte nicht einer abstrakten Logik, sondern der Dramatik ihres Denkens oder den Grenzen eines formulierbaren Konsenses. Diese Grenzen, die hier zu einer Aussageverweigerung führen, sind offenkundig. Die Identifikation mit der katholischen Kirche war nicht durchzusetzen, ebenso wenig das Zugeständnis, dass Christi Kirche auch in anderen Kirchen existiert. Man vermeidet eine Leugnung also ebenso wie ein Zugeständnis und weicht stattdessen auf eine andere Argumentationsebene aus. In einem Bruch mit der bisherigen Gedankenführung spricht man überhaupt nicht mehr von Kirche, sondern konzediert, „dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind“. Ökumenisch ist diese Aussage zwar wertvoll, aber unzureichend, denn auf die Frage kirchlicher Existenz wird eine Antwort verweigert.
Der Aspekt von den Elementen der Heiligung und der Wahrheit wurde von denjenigen Kräften eingefügt, die für den ökumenischen Gedanken eine Bresche schlagen wollten. So nimmt ihn auch das Ökumenismusdekret auf. Es gibt konkreter zu erkennen, dass „viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können: das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe, und andere innere Gaben des Geistes und sichtbare Elemente“. Wie wenig ausgegoren dieser Gedanke damals war, zeigt ich kurz darauf, wo den getrennten Kirchen und Gemeinschaften im Geheimnis des Heils zwar „Bedeutung und Gewicht“ zuerkannt, aber der Zutritt zur „ganzen Fülle“ des Heils abgesprochen wird. Wieder wird eine prinzipielle Argumentation durch eine quantitative abgelöst und wieder gelingt es nicht, über den Schatten der Egozentrik zu springen, so als hätten sich nur die anderen Kirchen von der katholischen getrennt.
Gewiss, diese Mängel sind nicht wegzudiskutieren; in ihrem Prioritätsanspruch hat die katholische Kirche ihre Kontinuität bewahrt. Bleibt den evangelischen Kirchen also das Recht verwehrt, sich Kirche zu nennen? Auch hier weichen die Texte aus. Das Ökumenismusdekret sprich stereotyp von „Kirchen und Gemeinschaften“. Die Überzeugung, dass alle christlichen Gemeinschaften Kirche seien, ließ sich nicht durchsetzen. Aber ebenso entschieden ist den Texten zu entnehmen, dass keiner einzigen Gemeinschaft dieser Titel entzogen wurde. So sehr man also der vorgelegten Interpretation widersprechen will, so ist an einem Punkt kein Widerspruch begründbar. Das Konzil gibt keinerlei Recht, einer Gemeinschaft Titel und Qualität einer Kirche zu entziehen.
6. Wie konsistent ist die aktuelle römische Position?
Abschließend sei noch einmal die Konsistenz der römischen Position in den Blick genommen. Logisch mag sie sich unangreifbar geben, denn sie blickt auf ein altes und vielfach durchdachtes Arsenal von Argumenten und Gedankengängen zurück. Sie wird aber dort fruchtlos, wo sie einseitig zur Selbstbestätigung eingesetzt wird. Mehr noch, im Augenblick fällt die Verteidigung katholischer Vorrechte mit der Verteidigung bischöflicher und päpstlicher Vorrechte zusammen. Das wirkt nicht sehr glaubwürdig. Was ist das Problem?
Die Schwierigkeit des aktuellen ökumenischen Gesprächs liegt nicht in der Tatsache, dass eine Kirche ihre Position vertritt, um ein Gespräch zu eröffnen und dann zu einem Konsens zu kommen, es liegt in der Tatsache, dass die katholische Kirche formal ökumenische Gespräche führt, inhaltlich aber einen Alleinvertretungsanspruch über die Wahrheit erhebt. Anderen Kirchen spricht sie den Kirchenstatus ab. Damit schließt sie diese aus dem Gespräch aus, verwehrt ihnen prinzipiell die Legitimität ihrer Sicht der Dinge. Wer anderen von vornherein die Würde der Kirche, also einer legitimen und vollgültigen kirchlichen Gemeinschaft abspricht, soll auch nicht so tun, als begebe er sich ins ökumenische Gespräch. Freundlichkeit kann auch zur Unaufrichtigkeit entarten. Beim gegenwärtigen Papst war diese Inkonsequenz schon mehrfach mit Händen zu greifen.
Ein Zusatzproblem ergibt sich aus einem unklaren Kirchenbegriff, den – wie schon gesagt – offizielle Stellen im ökumenischen Gespräch verwenden. Von den Bruchlinien des Schlüsseltextes in der Kirchenkonstitution war ausführlich die Rede. Man mag dies einem Text zugestehen, der mitten in einer Zeit des Neuaufbruchs und Übergangs entstanden ist. Solche Texte kann man nicht einfach repetieren, denn inzwischen stand zur Klärung hinreichend Zeit zur Verfügung. Folgende Gesichtspunkte sind zu nennen:
* Da besteht zunächst ein transzendent normativer und ein faktisch empirischer Kirchenbegriff. Transzendent normativ ist der Kirchenbegriff, der in neutestamentlichen Schriften durchgängig als ekklhsia auftaucht, der eine Würde und einen Anspruch verleiht. Er steht in der Tradition des hebräischen kahal (von Gott gerufenes Volk) und lebt von der Würde der Berufung und Heilszusage durch Gott. Dieser Begriff wurde in der Tradition aufgenommen; er ist in den Glaubensbekenntnissen sowie in wichtigen Selbstaussagen der Kirchen zu finden. Dieser Kirchenbegriff kennt nur ein Ja oder ein Nein. Man ist in diesem Sinn Kirche oder man ist es nicht, denn Gott teilt keine bedingten oder halben Verheißungen zu. Wenn nun die Konzilstexte von „Elementen der Heiligung und der Wahrheit“ sprechen, dann wollen sie den Rahmen eines normativen Redens zwar nicht verlassen, denn es geht um Sakramente, zentrale Glaubenslehren, kirchliche Strukturen und wichtige disziplinäre Regelungen. Dennoch richten sie den Blick jetzt auf die konkrete, empirisch verifizierbare, in Quantitäten aufgesplitterte Wirklichkeit, über die man jetzt befinden will. Wer vor diesem neuen Hintergrund her die Frage stellt: Wann und von welchem Augenblick an verlässt eine Gemeinschaft den Stand bloßer Gemeinschaft und wann rückt sie in den höheren Stand einer Kirche ein?, – der gerät in unlösbare Schwierigkeiten und verrät nur sein unangemessenes, nämlich institutionell versteinertes Kirchenbild. Wer für die kirchliche Identität also empirisch verifizierbare Kriterien bereitstellen und diese seiner eigenen Kirchenwirklichkeit entnehmen will, kann nicht zugleich über die Frage verfügen, ob und inwieweit Gott auch einer anderen Gemeinschaft die Zusagen des Heils gegeben hat. Dafür ist die Messlatte des eigenen Konstrukts allemal zu klein.
Wir haben gesehen, wie sehr die konziliaren Texte von der Polarität zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche bestimmt sind. Für die aktuelle Debatte ist diese Polarität gefährlich, weil sie unklar und missverständlich und missbrauchbar ist. Man verwendet den Gesichtspunkt, um sich in göttlicher Würde und Berufung zu sonnen. Sobald man die Bedeutung der (eigenen) Kirche erhöhen, vertiefen oder in den göttlichen Heilsplan einordnen möchte, greift man auf die unsichtbare, uns alle umfassende, von tieferen Gesetzen geleitete Kirche zurück. Es ist die Kirche, zu der man sich bekennt. Keine Passage ist zu finden, der aus dieser sichtbaren Kirche eine Begrenzung ableitet, den Gedanken etwa, dass wir nicht über Gottes Heilswillen verfügen können, dass Christus selbst um Abendmahl einlädt, wie Bittende also nicht einfach ausschließen dürfen. Aber auf die sichtbare Kirche wird zurückgegriffen, sobald es gilt, eigene Privilegien herauszuarbeiten, Ansprüche festzulegen und zu legitimieren, die Erwartungen der anderen abzuwehren. Von einem selbstkritischen Bewusstsein sind solche Argumentationen unbeleckt.
Überdies sind der Konfigurationsmöglichkeiten viele: Existiert die Kirche Christi in der (katholischen) Kirche, die (katholische) Kirche nicht eher in der Kirche Christi, die Kirche Christi allein in der katholischen, allein die (katholische) Kirche in der Christi? Wie existieren (in möglichen Varianten) die orthodoxen Kirchen in der Kirche Christi, da sie doch Kirchen sind? Wie genau existieren evangelische Kirchen in der Kirche Christi, das sie doch auch über Elemente der Heiligung und Wahrheit verfügen? W. Kasper spricht von einem anderen „Kirchentyp“. Wie soll man denn das verstehen, da die biblischen Vorstellungen von Kirchen doch relativ eindeutig sind?
Es zeigt sich: Dieses Subsistenzmodell, zur Öffnung, nicht aber zur Lösung eines Problems eingeführt, eignet sich nicht als Sprachbasis zur gegenseitigen Verständigung. Für sein eigenes Denken wird der Papst es vermutlich nicht aufgeben. Er ist zutiefst einer platonischen Metaphysik verhaftet, die im Grunde ungeschichtlich und nicht unbedingt biblisch denkt. Vermutlich ist dieser Platonismus für die Stabilisierung institutioneller Interessen zwar sehr hilfreich, nicht aber förderlich für ein ökumenisches Gespräch, das noch mehr zu lösen hat als die katholisch-evangelischen Beziehungen. Dass dieser globale Horizont ökumenischer Beziehungen in Roms Klarstellungen völlig ausgeschaltet ist, nimmt ihnen auch ihre globale Bedeutung. Denn angesichts der Weltsituation mit ihren macht-, sozial- und kulturpolitischen und interreligiösen Fragen können sich Christen diesen Kleinkrieg nicht mehr erlauben. Auch Katholiken sollten ihn im Namen des Heils übergehen, das Christus uns allen gerade dann zugesagt hat, wenn wir mit ihm eins sind.
(In gekürzter Form erschienen in: Pipeline 43/2007, Nr. 3, 15. Dez. 2007. 20-26)