Die königliche Wahrheit von Christen (Christkönigsfest 25.11.2007)
1925 wurde das Christkönigsfest als eine triumphale Feier der Weltherrschaft Christi eingeführt. Inzwischen hat auch die katholische Kirche gelernt: Es geht nicht um keine Herrschaftsansprüche, sondern um die Wahrheit der Verlorenen, die auf Gerechtigkeit hoffen.
Freundinnen und Freunde,
Schwestern und Brüder im Glauben!
Seit 1970 wird das Christkönigsfest am letzten Sonntag im Kirchenjahr, also als Ausblick auf das Ende der Zeiten gefeiert. Das Fest selbst wurde eingeführt als Erinnerung an das Konzil von Nizäa (325) mit seiner Erklärung, Jesus sei „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“. Mit unseren triumphalen Festerinnerungen vom vergangenen Jahrhundert passt das nicht recht zusammen. Man phantasierte von einer geistigen Weltherrschaft, die sich in mächtigen Bauwerken symbolisierte: Sacré Coeur in Paris, Sagrad Cor in Barcelona, die auftrumpfende Christusstatue von Rio de Janeiro. Die Botschaft im Gründungsjahr des Festes (1925) lautete ja: Nachdem die großen Königsthrone gefallen sind, gilt allein noch die Königskrone Christi. Auf der Website der Piusbrüder können wir heute noch lesen: „Für die Staaten …aber wird die alljährliche Feier dieses Festes eine Mahnung sein …Sie wird in ihnen stets den Gedanken an jenes Jüngste Gericht wach halten: In ihm wird Christus, der aus dem öffentlichen Leben verbannt … wurde, solch schmähliche Misshandlung mit unerbittlicher Strenge rächen.“ (Zitat aus der Gründungsenzyklika von 1925). Der hintergründige Fundamentalismus dieses Textes, sein Populismus und die Entmündigung aller Freiheit sind nicht zu überhören.
Dagegen steht die irritierende Perikope aus dem Johannesevangelium: Pilatus, der Repräsentant kaiserlicher Macht, fragt Jesus: „Bist du der König der Juden?“ Jesus vermutet eine Denunziation: „Haben es dir andere über mich gesagt?“, um dann zu erklären, sein Reich sei „nicht von dieser Welt“. Von welcher Welt aber dann? Davon hören wir nichts. Wie wir aber wissen, baut Johannes öfters Rätselworte in sein Evangelium ein. Er will zeigen: Eigentlich haben wir nichts begriffen. Das gilt auch für diesen Königstitel.
Die Antwort des Evangeliums verläuft in vier Stufen.
(1) „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“
Für uns schmeckt dieser Satz nach Weltflucht, für Johannes beinhaltet er Weltkritik. „Welt“ meint für ihn den Raum des römischen Imperiums, dessen Machtkonstellationen mit allem, was dazugehört: Betrug und Korruption, Gewalt, Krieg, Mord und Totschlag. Jesus – darum geht es – ist nicht in dieser Gesellschaft und nicht in ihren etablierten Kreisen zu Hause. Wenn ihn jemand schon König nennt, dann muss klar sein, wofür und wie er kämpft. Er verlässt sich auf sein Wort, auf Gemeinschaft und den Einsatz für die Verlorenen.
Wer also von Christus dem König spricht, kann daraus keinerlei gesellschaftliche, politische oder kulturelle Einflussrechte ableiten. Dieser Titel formuliert keine logisch stringente Aussage, sondern verfremdet das gängige Königsbild; er soll zum Nachdenken verführen. Genau dies wird von allen übersehen, die fallende Monarchien beerben, kirchlichen Einfluss stabilisieren und so einen Prozess der Selbsterhöhung fortsetzen wollen. Noch immer gibt es Kirchenführer die meinen, im Namen Christi könnten sie die Welt dominieren. Das Johannesevangelium würde ihnen sagen: Kapiert habt ihr nichts. Setzt euch nicht für Christus, sondern für seine Sache ein. Dennoch sagt Jesus:
(2) „Ja, ich bin ein König“
Wir müssen also keine verzweifelten Konsequenzen ziehen, indem wir das Christentum zur frommen Privatsache entschärfen. Wir brauchen uns nicht zu verkriechen. Denn es ist auch für Christen keine Schande, Ansprüche zu erheben und auf ihren Ansichten zu bestehen, wenn sie denn vernünftig und begründbar, human sind. Mehr denn je hat Jesus von Nazaret der Menschheit etwas zu sagen, und allemal lohnt sich der Versuch, den Gang der Geschichte in seinem Sinne zu beeinflussen. Wir Christen sind keine Defätisten. Auch die Vertreter anderer Weltreligionen haben zu Defätismus keinen Grund. Das Projekt Weltethos etwa versucht, alles das stark zu machen, was die Religionen der Menschheit zu sagen haben, und das ist nicht wenig. Umso größer ist die Enttäuschung vieler, die das Gefühl haben, dass Religionen nur sich selbst verkünden. So bleibt zu fragen: Welchen Führungsanspruch kann denn Jesus heute in einer säkularisierten, weltanschaulich pluralen Gesellschaft erheben? Mit welchem Recht sollten wir heute noch vom Königtum Christi sprechen, so als hätte das Christentum seine Definitionshoheit über die Welt nicht schon lange verloren? Jesus antwortet:
(3) „Dazu bin ich in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege“
In dieser dramatischen Erzähleinheit steigt also die Spannung: Ein König, nicht von dieser Welt und dennoch mit königlichem Anspruch in ihr! Was soll denn an Anspruch noch übrig bleiben, wenn es um keine Interessenpolitik und keinen weltpolitischen Lenkungsanspruch geht? Jesus, so die Antwort des Evangeliums, ist „dazu geboren … für die Wahrheit Zeugnis abzulegen“.
Wahrheit lautet das Schlüsselwort, und hier liegt die große Wende dieser kurzen Geschichte. Sie wiederholt sich in den Evangelien unzählige Male und wird seit Jahrhunderten doch immer wieder übersehen. Die Evangelien, ein bis zwei Generationen nach den Paulusbriefen entstanden, vertreten ja ein polemisches Interesse. Wir kennen die Lust etwa des Paulus zu großen Überlegungen und hohen Titeln (Jesus ist der Herr, der neue Adam, das Haupt). Gegen diese Einseitigkeit erheben die Evangelien Einspruch. Sie rufen uns auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie berichten mit großer Nüchternheit und Einfachheit über Worte und Taten, Auseinandersetzungen und feindselige Reaktionen, über das schwere Schicksal, das Jesus nicht zum triumphalen König, sondern zum Scheiternden gestempelt hat.
Genau dies ist auch der Klärungsbedarf unserer Gegenwart. Den Wahrheitskern Jesu enthüllen wir nicht mit dem Königslob oder mit elitärem Triumph, sondern mit konkreten Erinnerungen an seine Überzeugungen, Haltungen und Werte. Zur Debatte steht Jesu Sensibilität für das Verlorene, nicht das Angebot eines Gurus. Sein Königtum ist in seinen Gleichnissen, nicht in Titeln zu finden. In den erzählenden Fresken und Fenstern kleiner mittelalterlicher Kirchen ist heute mehr zu finden als in den Spekulationen, die das Konzil von Nizäa ausgelöst hat.
Johannes nennt Jesus – wie paradox – erst im Augenblick seiner Schmach einen König; sein Königtum vollzieht sich in dieser Misere und Erfolglosigkeit. In dieser Spannung bringt Johannes das zutiefst verstörende Erzählpotential evangelischer Erinnerungen zur Geltung. Erst wenn wir uns in die innersten Motive Jesu, in seine Menschennähe verstricken lassen, erst dann, wenn wir uns von unseren Königsphantasien entfernt haben, kann uns diese Botschaft klar werden. Sein Königtum stellt unsere Herrschafts- und Geltungshoffnungen auf den Kopf.
Meist spüren wir nicht mehr, wie weit unser offizielles Christusbild von diesem realen Jesusbild entfernt ist. Deshalb könnte der gegenwärtige Verfall aller Katechismuswahrheiten dazu führen, dass wir unsere Christusbilder re-konstruieren und fragen, was sie wirklich bedeuten sollen. Ohne eine tiefe Verunsicherung finden wir zu ihnen keinen neuen Zugang. Werden wir also hörfähig; Johannes lässt Jesus sagen:
(4) „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“
Auch dies sind rätselhafte Worte: Was heißt es, Jesu Stimme neu zu hören? So kompliziert ist das nicht. Schauen wir einfach, wie Kinder in Geschichten aufgehen können. Genauso könnten wir Teil evangelischer Erinnerungen werden, auch Teil dieser abgründigen Um-Interpretation vom Königtum zum Verachtetsein, Teil auch von der ungeheuren Wirkung, die von diesen Erinnerungen ausgehen kann. Sie beschreiben ja nicht, sondern sie handeln, – erhellen und entlarven, unterscheiden die Geister. Sie intervenieren prophetisch und decken Missstände auf. Für Christen muss diese Stimme, die aufhorchen lässt und Situationen verändert, selbstverständlich sein.
Christen sind keine Heroen, sondern nur Stimme dieser Wahrheit. Sachgemäße Kirchenkritik oder Gesellschaftskritik etwa sind heute keine heroische Tugend. Klaus Mertes ging noch ein Stück weiter, als er kürzlich fragte: „Was ist los bei uns im Land, wenn das Selbstverständliche gepriesen werden muss? Und was ist los in der katholischen Kirche, wenn [konstruktive Kritik] Nestbeschmutzung genannt wird?“ Ich füge hinzu: Was ist los in einer Kirche, in der man einen Gesprächsprozess verfügen muss, der dann doch wieder mit vielen Zäunen umgeben wird? Was ist umgekehrt los in einer Kirche, in der ein offenes Wort der Kritik schon als Heldentat gilt? Gilt der Freimut von Christen und von Katholiken nicht mehr als Selbstverständlichkeit?
Nicht, dass die Ehrlichen unter uns triumphal Christus verkünden, ist unser Ziel, sondern dass die Christen unter uns die Wahrheit erkennen und in Wahrhaftigkeit verwirklichen. Denn die Wahrheit der Verlorenen – in diesem Sinn die Wahrheit Jesu – ist eine königliche Sache, die weltweite Geltung verdient. Ihr sollten wir uns verschreiben.
- November 2012