Ein halbes Jahrhundert nach dem 2. Vatikanischen Konzil haben die ökumenischen Beziehungen ihren Glanz verloren. Dennoch steht und fällt mit ihnen die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft. Dabei ist klarzustellen, dass weder die Kirchen noch ihre Ökumene Selbstzweck sind. Sie haben der Gesellschft zu dienen.
I. Ein Problem, das uns überrollt
These 1:
Als gesamtkirchlicher Impuls und als Erneuerungsbewegung hat die innerchristliche Ökumene in Westeuropa und in Nordamerika ihren Höhepunkt überschritten.
Bei Engagierten und bei Fragenden hat sich eine geistliche Erfahrung der Zusammengehörigkeit durchgesetzt und die theologischen Grundlagen sind erarbeitet. Immer mehr werden Widerstände gegen schon lange geforderte Entscheidungen als Maßnahmen reiner Selbstbehauptung erfahren. Sie können sich nicht mehr auf das Zeugnis der Schrift, auf große Stränge christlicher Tradition und auf die wohlverstandenen Zeichen der Zeit berufen.
These 2:
Die in ihrer traditionellen Selbstbehauptung verharrenden Konfessionen werden von den kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Gegenwart überrollt.
Eine christliche Glaubenskultur kann den damit gegebenen Gefahren nur widerstehen, wenn sie selbst in sich überwindet, was die destruktiven Kräfte in diesen Entwicklungen stärkt.
Als Stichworte sind zu nennen:
* die Säkularisierung, in der rein sakral begründete Besitzstände nicht mehr verstanden werden,
* der Postmodernismus, der einschichtig zwingende Argumentationen von widersprechenden Erfahrungen her auflöst,
* der religiöse Pluralismus, der alle religiösen Aussagen und Praktiken der Konkurrenz mit anderen Aussagen und Praktiken aussetzt,
* ein interreligiöser Erfahrungshorizont, vor dem die konfessionellen Differenzen zu minimalen und kulturell bedingten Unterschieden schrumpfen,
* das Entstehen einer diffusen Religiosität, in der sich elementare Lebensfragen artikulieren und die nur von einer neuen Artikulation des Glaubens her aufzugreifen sind.
These 3:
Vor diesem Hintergrund werden die traditionellen konfessionellen Unterschiede nicht mehr als Streit um Wahrheit, sondern als rechthaberischer Provinzialismus wahrgenommen.
Kirchen, die in der Gegenwart überzeugen wollen, können ihre Inspiration nur noch mit einem gemeinsamen, in sich versöhnten und versöhnenden Angebot einbringen. Schauspiele der Rechthaberei, in welcher Form auch immer, widerlegen die Botschaft, für die man werbend angetreten ist.
II. Streitpunkte, deren Lösung überfällig ist
These 4:
Zur Lösung der aktuellen ökumenischen Fragen hat die römisch-katholische Kirche eine Bringschuld einzulösen, bevor sie von den anderen Kirchen ein Angebot erwarten kann.
Natürlich ist die Ökumene auf die Gesprächsbereitschaft und Mitarbeit aller Kirchen angewiesen; keine ist von Rechthaberei einfach freizusprechen. Aber die sakramental verankerte Amts- und Kontinuitätsstruktur der katholischen Kirche verkörpert Ausschließlichkeitsansprüche, denen sich nichtkatholische Christinnen und Christen in Lehre oder Disziplin nur beugen können (Papst-, Bischofs- und Priesteramt, Eucharistieverständnis, Lehramt). Angesichts des neutestamentlichen Zeugnisses wäre Versöhnung unter den gegebenen Umständen ungerechtfertigt und unwürdig (vgl. Dominus Iesus [2000]).
These 5:
Unter den gegebenen Umständen ist die offiziell katholische Theorie und Praxis der Eucharistie in ihren ökumenischen Aspekten nicht mehr nachvollziehbar.
Sie zeugen von einem verrechtlichten und objektivistischen Denken, verdrängen den Kommunikations- und Beziehungscharakter des Sakraments und instrumentalisieren das Gemeinschaftsangebot der Mahlfeier zum Erweis institutionalisierter Einheit. Unter den gegebenen Umständen machen diese Verengungen den unschätzbaren Wert dieses Versöhnungsangebots im Namen Jesu zunichte.
These 6:
Die offiziell katholische Theorie und Praxis des kirchlichen Amtes bedarf einer grundlegenden Revision. Ihre in der Antike gewachsene und im Mittelalter rational begründete Gestalt macht ihre gebotene Einordnung in Auftrag und Selbstverständnis der glaubenden Gemeinschaft in entscheidenden Punkten zunichte.
Verdrängt werden (neutestamentlich gesprochen) die in der Taufe begründete charismatische Struktur der Gemeinden, die Einbettung der sakralen Funktionen in die Aufgaben und Rollenerwartungen der (durchaus profanen) Gemeindeleitung sowie die Lösung des Leitungsamtes von archaisch patriarchalen Vorstellungen. Insbesondere hat die Berufung auf Jesus, der nur Männer ordiniert habe, in den Quellen keinerlei Anhalt.
These 7:
Der Rechts- und Lehrprimat des Papstamtes hat – zumindest in seiner monologischen und verrechtlichten Form – in Schrift und Tradition keinen Anhalt. Er trägt der ökumenischen Fragestellung keinerlei Rechnung.
Die offiziellen Primatstheorien setzen eine kirchliche Gemeinschaft voraus, die in Lehre, Praxis und rechtlicher Struktur in höchst möglichem Maße vereinheitlicht ist. Prozesse der Einigung sind ebenso wenig vorgesehen wie die Pluralität eines Kirchen- und Heilsverständnisses. Wohl und Wehe der Ökumene liegen faktisch in der Hand eines einzelnen Amtsträgers. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich das Ziel ökumenischer Einigungsprozesse kaum verwirklichen.
III. Veränderte Kirchengestalt
These 8:
Die christliche Ökumene hat die führende Rolle verloren, die sie als gestaltendes Prinzip der Kirche vielleicht inne hatte. Statt zu agieren reagiert sie mehr und mehr auf umfassendere Entwicklungen, die den Anliegen der Ökumene allerdings entgegenkommen.
Zu nennen sind: Demokratisierung auf vielen Ebenen, intensive Beteiligung von „Laien“ an der Aufgabe der Verkündigung, der Diakonie und der Kirchenleitung, eine stark erhöhte Wissens- und Handlungskompetenz vieler Gemeindemitglieder. Diesen Verlagerungen des Schwergewichts entspricht der sogenannte „Priestermangel“ (der nur teilweise durch Zölibatsverpflichtung und Ausschluss von Frauen aus-gelöst wird).
These 9:
Ebenso gestaltprägend sind das massiv erhöhte Problembewusstsein sowie die zwischenkirchliche Kommunikation von christlichen Gemeinden und deren engagierten Mitgliedern. Auch sie zeugen von einem signifikanten ökumenischen Potential, das nicht mehr zur Ruhe kommt. Vor diesem Hintergrund wirken die meisten öku-menischen Konflikte nicht mehr als Leuchtfeuer der Erneuerung, sondern als Reaktion auf einen innerkirchli-chen Immobilismus.
Zu nennen sind: Dauerdiskussionen um Grundsatzfragen (Bedeutung und Praxis der Eucharistie, Mitspracherecht von „Laien“, Ausschluss von Frauen, Rolle von Episkopat und Primat, Respekt vor anderen Kirchen und Randgruppen), regelmäßige Protestaktionen, kritische Gruppierungen (Beispiel: „Wir sind Kirche“).
These 10:
Nicht zu unterschätzen sind die Gestaltänderungen, die man als „Ende der Volkskirche“ umschreiben könnte. Mit dieser Intensivierung kirchlichen Lebens verschwinden die Nachhutgefechte traditioneller Ökumene aus dem Blickfeld.
Dieser Umbruch ist Anlass und Motiv, dass kirchliches, also auch ökumenisches Handeln entschieden unter die neutestamentliche Losung „Reich Gottes“ gestellt wird; Kirchen sind nicht sich selber Ziel, sondern stehen im Dienst einer gerecht zu gestaltenden und nach Sinn fragenden Gesellschaft. Diese Entwicklung wirkt den kirchenzentrierten Tendenzen bisheriger Ökumene entgegen.
These 11:
Noch kaum reflektiert sind Rolle und Einfluss der Medien auf Gestalt und Selbstverständnis der Kirchen. Die modernen audiovisuellen Medien kommen dem katholischen Selbstverständnis und der Art ihrer Selbstdarstellung entgegen. Vermutlich werden dadurch ökumenische Prozesse und Grundhaltungen geschwächt, da die Medien einem unausgesprochenen Triumphalismus Vorschub leisten.
Die modernen Medien favorisieren die (barocke) Selbstdarstellung, die sich die katholische Kirche in der Zeit der Gegenreformation angeeignet hat. Unter visueller Führung einer herausragenden Person wird eine geschlossene, in sich runde, nach übermenschlichen Regeln funktionierende Gemeinschaft vorgetäuscht; evangelische Kirchen werden in die Ecke gedrängt. So wirkt das Papsttum mit seinen monolithischen Formen als die einzige Institution, die in der Gegenwart Christentum/Religion angemessen präsentieren kann. Zugleich wird die massive innere Schwächung durch äußere Prachtentfaltung überspielt.
IV. Was tun?
These 12:
Der Krise der Ökumene ist nicht in erster Linie mit Protest oder demonstrativen Aktionen zu begegnen. Wichtigster Punkt ist die Entfaltung und Pflege einer ökumenischen Spiritualität. Vor Ort brauchen wir eine Ökumene, die sich aus ihren eigenen geistlichen und zwischenmenschlichen Erfahrungen trägt. Nach aller Erfahrung bringt eine solche Spiritualität Ruhe, Gelassenheit und Zielstrebigkeit in ökumenische Aktivitäten.
Das bedeutet:
– ökumenische Begegnungen in Gruppen zu Gesprächen, Bibellesung, Meditation und Feiern;
– je persönliche Teilnahme an Gottesdiensten anderer Kirchen;
-eigene Vertrautheit mit der Schrift, mit der Denk- und Erfahrungswelt anderer Kirchen;
– Einübung in die Fähigkeit, Vertrautes aufzugeben und Liebgewordenes zu verlieren.
These 13:
Der Krise der Ökumene ist nicht in erster Linie durch Besprechen der Probleme, sondern durch gemeinsames Handeln zu begegnen. Es kann sich über die große Bandbreite von sozialen Aktivitäten und Bildungsangeboten bis hin zu Festen und Gottesdiensten erstrecken. So entstehen vielfältige Erfahrungen, die Mitchristen zu Freunden, konfessionelle Konkurrenten zu Geschwistern im Glauben werden lassen.
In der ökumenischen Praxis vieler Gemeinden und Städte hat sich inzwischen ein reiches Netz sozialer Aktivitäten entwickelt. Oft leiden sie darunter, dass ihnen kein religiöser, sondern „nur“ ein weltliche Status zugeschrieben wird; sie gelten als die Erfüllung von Christenpflicht. Dagegen müssen wir lernen, diesen Aktivitäten selbst eine religiöse Würde zuschreiben: Was Ihr den Geringsten meiner Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan.
These 14:
Die Möglichkeit ökumenischer Gebets-, Meditations- und Wortgottesdienste ist unbestritten. Im Zusammenhang mit vielfältigen Begegnungen (Th. 12 und 13) ist dies der Ort, an dem ein gemeinsames Bewusstsein für das entsteht, was wir gemeinsam als christliche Botschaft sagen und – unter den Zeichen der Zeit – in Worte fassen kön-nen. Davon hat nicht nur die Gemeinschaft als solche, sondern hat jede einzelne Gemeinde und Gemeinschaft einen Nutzen.
Auch in dieser Richtung ist die gängige Trennung zwischen einer sakralen und einer profanen Welt zu überwinden. Die christliche Botschaft wird von einer zutiefst politischen Dimension durchzogen: Sie kümmert sich nicht einfach um Jenseitiges, sondern primär um das Wohl von Mensch, menschlicher Gemeinschaft und der gesamten Menschheit. Jesus spricht von „Reich Gottes“. Mit ihm fasst er seine ganze Botschaft zusammen.
These 15:
In den kritischen Punkten der katholischen Glaubenslehre bleibt uns die Anstrengung eigenen Denkens nicht erspart. Es bestehen gute Gründe, sich auf das zu verlassen, was sich unter ökumenisch engagierten Theologen inzwischen als Konsens herausgestellt hat und wogegen nicht auf argumentatives Wissen, sondern auf Handlungskompetenz verwiesen wird.
In der Regel sind die offiziellen kirchlichen Institutionen noch alten (antiken und mittelalterlichen) Denk- und Sprachmustern verfallen, die sich in der Kultur des 20. Jahrhunderts weitgehend aufgelöst haben. Deshalb ist die Pflicht zu einem verantwortlichen Umdenken der traditionellen Glaubensgehäuse unabdingbar.
Für diese Aufgabe sind die traditionellen ökumenischen Differenzen gute Signalgeber, denn die ökumenischen Differenzen früherer Jahrhunderte haben sich weitgehend aus antiken und mittelalterlichen Denkformen ergeben.
These 16:
Gemäß den Erfahrungen und Zielvorstellungen vor allem der Reformatorischen Kirchen sollte das Ziel aktueller Ökumene nicht als institutionelle oder organisatorische Einigung oder gar Einheit, sondern als Beziehung und ständiger Prozess, d.h. als eine gegenseitige und kooperationswillige Anerkennung begriffen werden, die an kulturell und organisatorisch gewachsenen Unterschieden keinen Anstoß nimmt.
Weitgehend hat sich die Formel der „versöhnten Verschiedenheit“ durchgesetzt. Sie ist nicht unumstritten, weil sie sich als Einheitsdruck instrumentalisieren lässt. Sie lässt aber das Grundprinzip erkennen, dass die Andersheit und Fremdheit der Anderen Existenzrecht behält. So gesehen bildet eine ökumenische Haltung vor, was im Umgang aller Menschen miteinander geschehen sollte.
These 17:
Die gleichberechtigt gemeinsame Feier offizieller Gemeindegottesdienste bzw. Eucharistiefeiern (unter doppeltem oder mehrfachem Vorsitz) bleibt ein sensibler Punkt. Bei besonderen Anlässen sollte sie möglich sein, doch sollte man Gemeinden dabei nicht überfordern.
Diesem Vorschlag widerspricht nicht die unleugbare Tatsache, daass sich die Begründungen für konfessionell getrennte Gottesdienste schon seit geraumer Zeit in Staub aufgelöst haben. Zur Diskussion stehen also keine strengen Gewissensfragen (was darf ich als Katholik/in tun und was ist mir aus christlichen Gründen untersagt?), sondern pragmatische Regelungen, die auf Stimmungen und Gewohnheiten von konkreten Gemeinschaften Rücksicht nehmen.
These 18:
Anderes gilt für die eucharistische „Gastfreundschaft“, bei der eine Gemeinde ihre Schwestergemeinde bzw. deren Mitglieder einlädt. Nach Ausweis vieler Untersuchungen und offizieller Kommissionsberichte ist eine solche Gastfreundschaft verantwortbar, in vielen Fällen pastoral sogar geboten. Dies gilt ohne Zweifel für das Ersuchen, das Angebot und die Annahme einer solchen Gastfreundschaft von Seiten katholischer Gemeinden einerseits und andererseits reformatorischer, christkatholischer, orthodoxer und anglikanischer Gemeinden.
Aus Gründen der Klugheit sind die Unterscheidungen zwischen einer faktischen oder ausdrücklichen, einer rundum bekannten und einer bewusst veröffentlichten, einer konkret vollzogenen und einer bewusst legitimierten Gastfreundschaft von Bedeutung. Normalerweise ist eine Regelung vorzuziehen, die die Gastfreundschaft ermöglicht und nicht belastet.
These 19:
Oft haben katholische Seelsorgerinnen und Seelsorger den Mittelweg zu finden zwischen einem klugen Pragmatismus und grundsätzlich verantworteten Entscheidungen. Einerseits sollten wir das Mögliche klug, aber konsequent ausschöpfen. Andererseits ist es für Gesundheit und Seele gefährlich, sich in die Rolle von Einzelkämpferin und Einzelkämpfer drängen zu lassen.
Angesichts der oft sensiblen Situation christlicher Gemeinden, in der Bewahrende und Fortschrittliche oft hart um ihre Ideale und Vorstellungen ringen, hilft nur eine Kultur des intensiven Gesprächs. Umso schlimmer ist es, wenn Kirchenleitungen autoritär in solche Diskussionen eingreifen, statt der Kultur einer repressionsfreien Kommunikation Raum zu geben. Die meisten Kirchenleitungen sind sich der destruktiven Wirkungen ihres autoritären Verhaltens immer nicht bewusst.
Schluss
These 20:
Die Kirchen bedürfen der ökumenischen Öffnung für ihr eigenes Überleben. Wir sollten also nicht den geistlichen Gewinn übersehen, der uns eine ökumenische Gesinnung bringt. Die Kirchen bedürfen zugleich der ständigen Erinnerung daran, dass sie in ihrer Ökumene kein Selbstzweck sind. Deshalb ist es wichtig, ökumenische Aktivitäten in wachsendem Maße in soziales Engagement, in interreligiöse Begegnungen und in einen weltweiten Horizont einzubetten.
(Thesen zu einem Vortrag vom 12.09.2007)