Die Zwei Gesichter der Religionen

(C) H. Echelmeyer

Im vergangenen Jahrhundert hat man die ethischen und politischen Einflüsse der Religionen auf ihre Kulturen massiv unterschätzt. Seit 2001 gelten die Religionen als unerschöpfliche Quellen von Hass, Fanatismus und kriegerischer Gewalt. Die Zeit der Religionskriege ist zwar vorbei, aber bei vielen Krisenherden der Weltpolitik hängt es nicht zuletzt von religiösen Faktoren ab, wie sie verschärft oder befriedet werden können.

„Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen!“ Dieses programmatische Wort hat Hans Küng Ende der 1980er Jahre formuliert. 1990 erscheint es im kleinen, aber folgenreichen Büchlein „Projekt Weltethos“. In den 1990er Jahren wird es erweitert und den umfassenden Büchern von Hans Küng über Judentum (1992), Christentum (1994) und Islam (2004) vorangestellt. Inzwischen hatte es sich als Grundaussage bewährt und im konkreten weltweiten Kontakt mit Vertretern der Weltreligionen konkrete Gestalt angenommen. Es ruft die Weltreligionen in ihre weltpolitische Verantwortung. Dabei wirkte der 11. September 2011 wie ein Paukenschlag. Jetzt wurde klar: Religionen sind im Weltgeschäft keine weltfern frommen Mahner, sondern ethisch politische Faktoren ersten Ranges. Die Erklärung zum Weltethos, die der Kongress der Weltreligionen 1993 in Chicago verabschiedet hat, hat dieser Erkenntnis vorweggenommen:

Wir Männer und Frauen aus verschiedenen Religionen und Regionen dieser Erde, wenden uns deshalb an alle Menschen, religiöse und nichtreligiöse. Wir wollen unserer gemeinsamen Überzeugung Ausdruck verleihen: Wir alle haben eine Verantwortung für eine bessere Weltordnung.“

Einleitung:
Weltreligionen als Konfliktherde? Das Modell von Huntington

Politisch wurden die Weltreligionen zuvor kaum beachtet, höchstens belächelt, bekämpft oder zur Privatsache deklariert. Bis 1989 galt alle Aufmerksamkeit dem Ost-West-Konflikt. Francis Fukuyama proklamierte 1992 das „Ende der Geschichte“, denn jetzt seien alle ideologischen Systeme überwunden; der Liberalismus und die Demokratie habe endgültig gesiegt. Was sollte jetzt außer einem gleichbleibenden Warenaustausch und wachsendem Wohlstand noch geschehen? Wird nicht die pure Langeweile eintreten? Spätestens im September 2001 wurden wir eines Besseren belehrt. Jetzt schienen die neu aufgebrochenen Konflikte zu zeigen: neue Konflikte bedrohen den Weltfrieden und Religionen bilden ihre Kristallisationskerne. Auch dafür war schon die Theorie formuliert. Nach  Samuel Huntington sollte das 21. Jahrhundert zum Jahrhundert der großen Zivilisationskonflikte werden. Wir gehen einem „Zusammenprall der Kulturen“ (Clash of Civilizations) entgegen. Huntington macht acht große Kulturkreise aus, die konfliktträchtige Beziehungen eingehen. Diese Kulturkreise sind:
(1) sinisch (= China, Vietnam, Korea: Konfuzianismus ein wichtiges Element)
(2) muslimisch
(3) hinduistisch
(4) westlich ( = christlich)
(5) lateinamerikanisch (christlich?)
(6) afrikanisch (?)
(7) orthodox (= christlich?)
(8) japanisch (=shintoistisch/buddhistisch?)

Fünf Merkmale fallen bei dieser Aufzählung auf:
1. Vier von diesen Kulturkreisen werden geographisch umschrieben (westlich, lateinamerikanisch, afrikanisch, japanisch), vier mit einer weltreligiösen Kategorie (sinisch, muslimisch, hinduistisch, orthodox). Huntington hebt hervor, dass diese Kulturkreise jeweils von einer Weltreligion bestimmt sind (vgl. Konfuzianismus, Hinduismus, Islam, Orthodoxie).
2. Zwei der geographisch benannten Kulturkreise sind christlich geprägt (Westen und Lateinamerika).
3. Der Buddhismus spielt keine Rolle.
4. Für Huntington spielen also der chinesische, hinduistische, muslimische und christlich-orthodoxe Kulturkreis ihre weltpolitische Konfliktpotenz voll aus. Dominant sind die Konfliktpotentiale (a) zwischen China und Hinduismus, (b) zwischen Islam und dem Westen.
5. Der Westen, Lateinamerika, Afrika und Japan scheinen eher von ihrer kulturgeographischen Position her bestimmt zu sein. Damit unterläuft Huntington seinen eigenen Ansatz; die politische Geographie nimmt, wie es scheint, die Religionen in ihren Dienst.

Die Analysen der verschiedenen Konfliktmodelle scheinen dem „Westen“ nach wie vor eine Schlüsselposition zuzuordnen. Er ist mächtig und andere Kulturkreise setzen sich von ihm ab. An sich hat das nicht viel mit religiöser Identität zu tun. Natürlich liegt die Kraft dieses Buches im Detail, etwa in seinen Analysen von „Bruchlinienkonflikten“, die sich entlang der Kulturgrenzen entfalten und von „Kernstaatenkonflikten“, die sich innerhalb kulturell komplexer Staaten abspielen. Auch hat Huntington mit der schon längst verifizierten Behauptung recht, dass nach dem Zusammenbruch der ideologisch zentrierenden Ost-West-Linie die Konflikte wieder zerfasern und auf der ganzen Welt aufbrechen.

Aber im Blick auf die neue Rolle der Kultur- bzw. Religionskreise ist der Nutzen von Huntingtons Theorie begrenzt, die schon deshalb, weil der Kernbegriff „Cilizisation“ bzw. „Kultur“ komplex ist. In der Regel definieren wir eine Zivilisation als die gegenseitige Verschränkung von gemeinsamer Geschichte, Kultur, Gewohnheit und Religion. Sicher wird seine Theorie simplifiziert, wenn man in ihr nur noch die eine Botschaft sieht, die lautet: Im 21. Jh. werden die religiös bestimmten Kulturkreise, also die Religionen in ihnen zu Konfliktfaktoren Nummer eins.

Allerdings kann man bei Huntington folgendes lernen und beherzigen: Die Zugehörigkeit zu einem anderen – etwa dem muslimischen, hinduistischen oder sinischen – Religionskreis kann die Übernahme westlicher Identität und Dominanz verhindern. Sie sorgt mit extremer Nachhaltigkeit dafür, dass Bevormundungsversuche zu aggressiver Abwehr führen. Allerdings ist diese Erfahrung nicht neu. Man denke nur an das Scheitern der USA in Vietnam, Russlands in Afghanistan, oder an die aktuellen Konflikte in Afghanistan, im Irak, in Pakistan oder mit der Islamischen Republik Iran. Die politischen Probleme mit dem Iran sind besonders interessant, denn einerseits versteht sich der Iran als theokratischer Staat, begründet seine Identität also unmittelbar auf dem Koran und schiitischer Tradition, andererseits kann man nicht unbedingt behaupten, dass der Westen (die USA und Israel eingeschlossen) aus religiösen Motiven agiert und reagiert. Offensichtlich entsteht die massiv religiöse Orchestrierung dieser Auseinandersetzungen nicht durch primäre Aggression, sondern durch Widerstand und Verweigerung, also durch sekundäre Aggressionen, die im Westen als Folge einer im Kern aggressiven Religion gedeutet. Großenteils lässt sich dadurch das Phänomen des „Islamismus“ als Projektion erklären. In diesem Sinn wäre auch der 11. September Symbol für eine massive sekundäre Aggression, deren Hintergründe im Westen auf den Islam als solchen abgewälzt wurden.

Natürlich können sich auch sekundäre Aggressionshaltungen und Aggressionen verselbständigen, und bei solcher Verselbständigung haben Religionen oft genug ein hohes Aggressionspotential entwickelt. Dies lässt sich nicht leugnen und schafft uns große Probleme.
Abstrakt gesehen lässt sich so Einiges rechtfertigen. Reaktive Abwehr und verteidigende Gewalt können u.U. auf mehr Ressourcen der Rechtfertigung zurückgreifen als die primäre Aggression, sich also härter auswirken. Wir kennen die moralischen Figuren der legitimen Notwehr und des legitimen Verteidigungskriegs, auch die moralische Figur des Tyrannenmords. Aber wie weit darf eine solche Reaktion gehen und wann wird sie missbraucht? Selbst die zynischsten Aggressoren spielen mit ihr, um sich vor den Augen der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Der 2. Weltkrieg wurde am 3. September 1939 an der polnischen Grenze mit dem Propagandawort eröffnet „Seit 7 Uhr wird zurückgeschossen“. Auch das Notwehrargument kann missbraucht werden und führt uns in ein Wespennest möglicher akzeptabler, grenzwertiger und unerlaubter Reaktionen.

Im Blick auf die gegenwärtige Weltsituation heißt das:
Zwar hat von den gegenwärtigen kriegerischen Konflikten kaum einer einen religiösen Ursprung. In nahezu allen spielen ethnische, wirtschaftlich-soziale und politische Machtfragen oder spielt die Aufarbeitung früheren Unrechts eine Rolle. Wir leben nicht mehr in der Epoche muslimischer Welteroberung, christlicher Kreuzzüge oder des 30-jähirgen Krieges (1618-1648), der zwischen Spanien und den Niederlanden gar 80 Jahre dauerte Religionen und Europa – wohlgemerkt: aus religiösen Gründen – in eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Erschöpfung trieb. Aber es muss doch auffallen, wie leicht sich Religion und Religiosität dennoch zur Identifikation und Steigerung nichtreligiöser Konflikte instrumentalisieren und zum bis zum maßlosen Fanatismus der Gotteskämpfer steigern lassen. Religionen lassen sich nicht nur für Konflikte (für deren Identifikation, Begründung, Aufheizung) missbrauchen, sondern stellen auch, wie es scheint, ein unerschöpfliches Potential an Reaktionen zur Verfügung: Emotionen, ungezügelte Ekstase und Verbitterung, Entschuldigungsmechanismen und Projektionen, Fanatismus und Intoleranz, Lebensverachtung und Todesproduktion, Scheiterhaufen und Diskriminierung, illusorische Aufbruchsstimmung und unerschütterliche Gewissheit. „Gott will es“ rief der fromme Bernhard von Clairvaux den Kreuzrittern zu und „Gott mit uns“ stand noch auf den Koppelschlössern der deutschen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkriegs.

Deshalb greifen die gängigen Entschuldigungen für Christentum und Islam nicht weit genug. Und es muss einen Grund haben, wenn Religionen im Bewusstsein Vieler gefährliche, konfliktträchtige Einrichtungen sind. „Schafft die Religionen ab, und ihr habt einen der wichtigsten Gewaltherde beiseite geschafft“, so der Zwischenruf von Vielen, die heute die Gewaltverstrickungen im Namen vor allem vom Judentum, Christentum und dem Islam mit ansehen müssen.

Hat Huntington nicht doch recht? Leben seine Analysen, so fragwürdig sie auch sind, nicht aus einer berechtigten Intuition? Zeigt eine Epoche zerbrochener Ideologien nicht deutlicher denn je, dass Religionen den Nährboden für unaufhörliche Konflikte bilden? Bekommt die Losung „Kein Weltfriede ohne Religionsfriede“ vor diesem Hintergrund nicht einen geradezu zynischen Sinn. Viele fügen ja eine negative Anwendung hinzu: „Das Religionen so gewaltbereit sind, ist ein Weltfriede Illusion“. Wie also ist bei dieser Losung an Weltfrieden zu denken, wenn sich Religionsfriede definitionsgemäß nicht einstellen kann? Ist es also nicht naiv, zu meinen, wir könnten die Weltreligionen wie einen Bernhardinerhund so lange zähmen, bis sie zu friedlichen, uns beschützenden Organismen mutiert sind? Oder sind wir mit solchen Überlegungen auf dem Holzweg? Was meinen wir überhaupt mit dem blinden und undeutlichen Wort „Religion“?

 

I. Weltreligionen als kulturelle Systeme

Als Theologe steht es mir nicht zu, die aufgeworfene Thematik geschichtlich, soziologisch oder politologisch zu analysieren. Dennoch muss ich mit allgemeinen Bemerkungen beginnen. Der Begriff „Religion“ ist ja keineswegs eindeutig. Erst in der Aufklärung wurde er herausgearbeitet und mit aufgeklärter Rationalität definiert; seine Neudefinition ist in vollem Gang. Faktisch umfasst das, was wir „Religion“ nennen, ja eine Fülle verschiedenster Erscheinungen – Gefühlen und Intuitionen bis hin zu hellsichtigen Visionen, von institutionskritischer Innerlichkeit bis zu massiver Institutionalisierung, von äußerster Selbstvergessenheit bis hin zu narzisstischer Rechthaberei, von distanzloser Selbstgewissheit bis zum Wissen darum, dass wir höchsten die „Spur der Spur“ (Gianni Vattimo) entdecken können.

Nach unserem gängigen Verständnis durchbrechen Religionen den Raum des Nutz- und Verfügbaren. Sie setzen sich mit Erfahrungen des Jenseitigen auseinander, realisieren eine in sich zwecklose Welt von Erscheinungen, Imaginationen und Spiel. Dabei überschreiten Weltreligionen – im qualitativen Sinn des Worts – die Grenzen partikularer ethnischer, sozialer und kultureller Bedingungen; sie nehmen die condition humaine als solche in den Blick, agieren im Horizont der gesamten Menschheit, des umfassenden Kosmos und von dessen zeitlichen Grenzen. Ich stelle hier nicht die spezifisch theologische Frage, unter welchen Bedingungen eine Religion wahr oder falsch, bewiesen oder falsifizierbar ist. Dazu müssten wir erst herausfinden, was eine jede Religion unter Wahrheit versteht. Hier lautet unsere Frage, warum Religionen – obwohl sie das Beste wollen – so zwiespältig wirken können.

1.1 Kulturelle Systeme

Ich verstehe Religionen hier als kulturelle Systeme, die eng mit ihren Kulturen verwoben sind. Nehmen Sie etwa den Islam in arabischen Ländern, das Christentum in den westlichen Ländern oder das Judentum in Israel. Dabei lasse ich offen, wie genau eine Religion in einer Kultur präsent ist und wirkt. Weich säkularisierte (so wie Deutschland), laizistische (so wie in Frankreich) oder in anderer Weise plurale Länder (so wie Israel) haben dafür verschiedene Modelle entwickelt. Sie regeln das Verhältnis von Religion, Öffentlichkeit und Staat einvernehmlich oder bilden die Quelle ständiger Konflikte. Wann aber wird ein solches kulturelles System „Religion“ genannt? Ich sehe dafür zwei Merkmale, die einander ergänzen. Sie lauten umfassend ganzheitliche Wirklichkeitserfahrung und Vergegenwärtigung des Sakralen.

Die umfassende Wirklichkeitserfahrung (Merkmal 1) gibt den Religionen eine oft überbordende, ausufernde Art, in der sie sich ausdrücken und verhalten. Die Themen der Religionen lassen sich ja endlos addieren; sie lassen ungefähr kein Thema unserer Lebenswelt aus. Sie sind von Leidenschaft und Dringlichkeit bestimmt. Es gibt schlechthin nichts, das in einer Religion nicht von Interesse wäre. Die Vergegenwärtigung des Sakralen (Merkmal 2) hingegen bildet das Ziel oder den Hintergrund, auf das hin oder von dem her die Wirklichkeit verstanden, interpretiert und gestaltet wird. Dass dieses Sakrale in den monotheistischen Religionen als das jenseitig Unerreichbare verstanden wird, ist eher Zufall, denn der Gott dieser Religionen in Menschen und Welt zugleich innerlich gegenwärtig. Ganz offensichtlich machen Sakrales und Sakralität es möglich, auch Widersprüchliches oder Unlösbares in einen einzigen Erfahrungsraum hereinzuholen. Dieses Sakrale gehört zum Einheitsband der Religionen wird, gleich ob es eine Gesellschaft integriert oder spaltet. Sakralität ist selbst im Buddhismus zu finden, der die Nennung des Gottesnamens konsequent ablehnt und deshalb von manchen aus dem Kreis der Religionen ausgeschlossen wird.

Wegen dieser beiden Merkmale lebt auch jede Religion in einer doppelten Gefahr der Entfremdung. Die eine Gefahr lautet Weltfremdheit. Wer nämlich alles integriert oder integrieren will, der läuft Gefahr , am Schluss über oder neben allem zu stehen. Denn das Ganze lässt sich als solches weder darstellen noch besprechen. Man baut sich hyperbolische Ersatzwelten. Die andere Gefahr lautet Überheblichkeit. Wer sich nämlich zum Sprachrohr des Jenseitigen und Unaussprechlichen macht, droht am Schluss, die Wirklichkeit mit den eigenen Projektionen zu verwechseln. Man hat die Wahrheit gepachtet und weiß, über das Letztgültige Auskunft zu geben. In diesen Gefahrenzonen werde ich später das religiöse Konflikt- und Gewaltpotential besprechen.

1.2 Sinn und Problem der Institutionalisierung

Wer aber Religionen als kulturelle Systeme beschreibt, produziert sieh ein methodisches Problem. Zugespitzt: Religionen an sich gibt es nicht. Die Rede von „dem“ Islam ist ebenso eine Fiktion wie die Rede von „dem“ Buddhismus oder von „der“ christlichen Religion, erst recht wie die Rede von „dem“ Hinduismus. Zwar kennen die Weltreligionen jeweils eine zentrale Botschaft (eine Erinnerung, einen zentralen Mythos oder ein bestimmtes Geschehen) und – wie sollte es anders sein – deren Einbettung in eine bestimmte primäre Kultur, aus der sie sich nie ganz lösen kann. Sie schöpfen ihre Identität aus einer zentralen Botschaft, so etwa das Christentum aus den Berichten von Jesus Christus oder der Buddhismus aus den Überlieferungen des Buddha. In ihrer jeweiligen Kultur finden diese Grundbotschaften dann ihre konkrete Gestalt. Umgekehrt kommt eine jede Religion aus einer bestimmten Kultur. In Epochen des kulturellen Umbruchs (H. Küng würde von „Paradigmenwechsel“ reden) geraten Religionen deshalb genau in die Atemnot, die wir heute in Europa erleben (wir sprechen von „Säkularisierung“). Dann wird es für eine Religion besonders gefährlich, denn sie kann sich nicht mehr eindeutig darstellen und die Wirklichkeit nicht mehr klar interpretieren, ihren Führungsanspruch nicht mehr einlösen. Sie neigt sie dazu, Konflikte und Gewaltpotentiale zu legitimieren (es ist die Epoche der Fundamentalisten), denn sie ist zu schwach, ihre Versöhnungspotentiale zu mobilisieren. Wir werden noch sehen, warum sie sich aus dieser verzwickten Lage nicht befreien kann.

Ein Grund für diese schwierige Situation liegt wohl darin, dass wir unter „Religion“ in der Regel hochinstitutionalisierte, differenziert organisierte Systeme verstehen. Sie treten innerhalb einer Gesellschaft als selbständige Einheiten auf (was sie nicht sind). Sie erwecken den Eindruck, sich selbst zu steuern und aus sich heraus handlungsfähig zu sein. Herausragende Beispiele dafür sind die Großkirchen, etwa der römische Katholizismus mit seinen 1,28 Milliarden Mitgliedern. Doch stellen diese Organisationen eine extreme gesellschaftliche Objektivierung und Verdinglichung dessen dar, was „Religion“ der Sache nach bedeuten kann. Religionssoziologische Diskussionen spiegeln dieses Problem seit langem: Ist Religiosität nur die Eigenschaft, die ein bestimmtes menschliches Handeln begleitet? Ist „Religion“ also nur die „Musik“, in die ein vorgetragener Text eingebettet wird? Gibt es eine „implizite“ Religion, die sich als solche gar nicht äußert? Gibt es „quasi-“ oder „pseudo“-religiöse Ereignisse (und sei es in Stadien oder Rockkonzerten), zu denen immer schon ein gewisser Grad der Ritualisierung, gemeinschaftliche Ekstase, ein erschüttertes Staunen oder existentielle Betroffenheit gehört? Erst danach, aufbauend auf diesen urmenschlich alltäglichen Fundamenten, kommen explizit religiöse Phänomene in Sicht. Die Skala zwischen Volksbräuchen und Volksfrömmigkeit wird immer gleitend bleiben. Erst nach langen Wegen der Explikation, Reflexion, Symbolisierung und Institutionalisierung, taucht das auf, was wir in der Regel als „Religion“ umschreiben und das dann den großen Sammeleinheiten „Christentum“, „Islam“, „Judentum“, „Buddhismus“, „Hinduismus“, „Taoismus“, „Shintoismus“ u.a. zugeordnet wird.

1.3 Handlungssysteme

Hermeneutisch gesehen haben Religionen als immer die Aufgabe, im Rahmen von Kulturen und Institutionen dar- und auszulegen. Sie sind – auch dort, wo sie handeln – Symbolsysteme. Sie bringen Erfahrungen zum Ausdruck und vollziehen sie nach, begehen sie (etwa die Erfahrungen von Leben und Tod). Sie deuten und legen aus, machen verständlich (etwa schmerzliche Ereignisse), ziehen Folgerungen, kommen zu Forderungen und bisweilen zum Protest (so wie etwa Hiob gegen Gott protestiert). Dabei versuchen sie immer, das Vorgegebene zu hinterfragen und zu überschreiten, den endgültigen Test zu vollziehen; sie thematisieren Transzendenz. Bisweilen formulieren sie etwas, wovon sie wissen, dass es unsagbar bleiben muss (das Geheimnis des Lebens oder „Gott“); sie können deshalb auch kontrafaktisch sein, d.h. der Wirklichkeit Hohn sprechen (man denke an die Auferstehung). Sie versprechen Rettung in rettungslosen Situationen. Sie versuchen, wie Niklas Luhmann es darstellt, „Kontingenz“ zu reduzieren[1], also undurchschaubare Zufälle besprechbar zu machen, ohne diese zu verändern oder wirklich zu bewältigen, aber auch ohne sie zu ignorieren (Hermann Lübbe).

Der Religionswissenschaftler Clifford Geertz beschreibt Religionen als
(a) Symbolsysteme, die in den Menschen
(b) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen, Überzeugungen und Motivationen schaffen, indem sie
(c) Vorstellungen (Imaginationen und Utopien) einer allgemeinen Sinn- und Seinsordnung formulieren und
(d) diesen Vorstellungen eine solche Definitionsmacht zusprechen, dass
(e) die Stimmungen, Überzeugungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit entsprechen.[2]

Gerade den Weltreligionen scheint diese umfassende Interpretations- und Definitionsmacht in besonderer Weise zu gelingen. Sie unterwerfen weder die interpretierte Wirklichkeit (Menschheit, Welt, Kosmos) weiteren Bedingungen, noch liefern sie die glaubenden Menschen zwanghaften Wahrheiten aus. Deshalb Arbeitet Geertz – entgegen meinen Warnungen vor Weltfremdheit und Weltüberheblichkeit – auf den starken Realismus der Religionen hin. Weltreligiöser Glaube vollzieht sich immer in höchster Unmittelbarkeit zur Wirklichkeit selbst. Oft entdecken Glaubende in der Wirklichkeit ihre eigene Überzeugung. Genau das aber deutet ebenfalls auf die signalisierten Gefahren. Diese Unmittelbarkeit, die eine reflexive Gesellschaft in besonderer Weise erfährt, mach Religionen nämlich auch blind für ein unausweichliches (hermeneutisches) Problem: Motivationen, Überzeugungen und Deutungen, die aller Reflexivität vorauseilen, stehen ja nie in sich allein. Sie nehmen vielmehr vorgeprägte Redeweisen, Vorstellungswelten und Überzeugungsstücke ihrer Umwelt auf. Die Psychologie verweist auf die Welten, die in unserem Unbewussten immer schon zu Hause sind[3]. Deshalb reproduzieren Glaubende oft die gängigen common-sense-Deutungen (Geertz), die in einer Kultur zu Hause sind (denken sie an das Kopftuchgebot in muslimischen Bevölkerungen). Damit sind wahre Deutungen und Überzeugungen nicht ausgeschlossen, aber auch diese Wahrheit re-präsentiert, re-agiert und re-flektiert. Sie bleibt in Kontexten eingeschlossen, die immer wieder aufgebrochen werden und dennoch unhintergehbar sind.

Schließlich sind es konkrete Handlungssysteme und Praxen, die solche Vorstellungen, Deutungen, Denk- und Symbolwelten einschließen, tragen und erproben; denken Sie an die Nachfolge Jesu. Das Geheimnis einer gelingenden Religion besteht ja darin, dass die Gläubigen das, was sie glauben, auch als Wahrheit leben können. Religionen sind also umfassende Handlungssysteme im doppelten Sinn. Zum einen umfassen Religionen das Handeln von Menschen, zum andern bestimmt menschliches Handeln diese Religion, weshalb auch keine Religion besser sein kann, als ihre Anhänger es sind. Doch möchte ich auch hier nüchtern bleiben. Denn wie alle lebenden Systeme bilden auch Religionen im Idealfall ein Fließgleichgewicht mit einer dynamischen Stabilität. Aber auch solche Gleichgewichte können sich über Nacht ändern; sie sind also nie garantiert. Auch die ideale Religion bleibt deshalb ambivalent.

1.4 Gewaltpotentiale allgegenwärtig

Ich wollte mit diesem dynamischen Bild von Religionen zeigen, dass Religionen auch die Erfahrungen von Gewalt und Zerstörung nicht ausklammern können. Darum soll es im Folgenden gehen. Konflikt- und Gewaltpotentiale werden Für Religionen mindestens zum vierfachen Problem.
– Weil es den Weltreligionen um die Wirklichkeit im Ganzen geht, können sie die faktischen Probleme von Konflikt und Gewalt nicht ausklammern. Konflikte und Gewalt sind für eine dynamische Religion immer schon ein Thema, das sie durchleben muss.
– Weil Weltreligionen (als Symbolsysteme verstanden) die Wirklichkeit immer neu zu durchbrechen und zu definieren versuchen, üben sie sich auch in ihrer Definitionsmacht zum (neuen) Umgang mit Konflikt und Gewalt. Das schafft in sich schon wieder Konflikte und Gewalt.
– Wenn Religionen Erfolg haben, sich institutionalisieren und schließlich organisieren, dann produzieren sie notwendigerweise eine neue Qualität von Konflikt und Gewalt. Das ist ihr bleibendes, aber unvermeidliches Problem. Sie sind und bleiben kulturelle, höchst menschliche Systeme. Sie bleiben den Gesetzen aller kulturellen Systeme unterworfen und können ihre Ziele nur unter den Bedingungen dieser Welt erreichen.
– Wenn eine Religion zudem den entschiedenen Willen bekundet, das Böse zu überwinden, dann muss sie sich konkret mir ihm auseinandersetzen. Wie haben es sozusagen mit einer homöopathischen Infektion zu tun, und niemand garantiert, dass sie erfolgreich zu Ende geht.

II. Religionen – Biotope der Grenzerfahrung

Vielleicht kann eine Metapher das von mir Gemeinte verdeutlichen. Religion ist, wie schon gesagt, kein abgrenzbarer Subsektor unserer Kultur, sondern eine bestimmte Wahrnehmung der Gesamtheit. Der Prozess Religion stellt sich für mich nicht als Lehr-, Moral- oder Kult-, auch nicht als Sinnsystem dar. Ich vergleiche diesen Prozess angemessener mit einem Humus oder einem Biotop, in dem besonders zarte, vielleicht exotische Pflanzen wachsen können. Die Ausdrucksformen von Transzendenz bilden sich heran und wachsen, am liebsten neben den Alltagspflanzen. Je mehr dieses Biotop zu einer Baumschule oder einem regulierten Gewächshaus umgebaut wird, umso gefährlicher wird es für deren Inhalt. In diesem Biotop geht es chaotisch zu. Ich nenne drei Gesichtspunkte:
– Religionen bieten oft widersprüchliche Vorschläge und Lösungen,
– ihre Texte und Traditionen werden oft verschieden interpretiert,
– sie steigern die Extreme, die ohnehin vorhanden sind.

2.1 Widersprüche

Nach gängiger westlicher Vorstellung sind die nicht-christlichen Religionen (z.B. die Götter- und Dämonenwelt des Hinduismus) voller Widersprüche, haarsträubender Paradoxien und unsinniger Zumutungen. Davon nehmen wir dann das Christentum aus, dessen ausgeklügelte Theologien von Augustinus bis Bonaventura, von Thomas v. Aquin bis Karl Barth alles wohl geordnet haben. Ich habe da meine Zweifel. Weder der Satz von der „Schöpfung aus dem Nichts“ ist philosophisch haltbar noch hat man sich bis heute darüber geeinigt, was eigentlich mit Freiheit gemeint ist. Der Missionsbefehl ist mit dem Toleranzgebot nicht ausgeglichen, ebenso wenig Jesu unbestrittene Gleichachtung von Frauen mit dem „unfehlbaren“ Ordinationsverbot im Haus von Josef Ratzinger.

Nicht alles, was nach unserem Urteil früher falsch gelaufen ist, war einfach Hochmut und Uneinsichtigkeit. Nein, wer im Mittelalter jemanden vom Leben zum Tode brachte, brachte ihn zugleich Gott näher. Bei näherer Betrachtung sind selbst die Gewaltfreiheit Jesu und der Urkirche nicht so selbstverständlich.

Hinzu kommt, dass die Antworten im Laufe der Epochen wechselten, weil eben Grundvorstellungen zum Gottes-, Menschen- oder Gesellschaftsbild wechselten. Nicht jeder kann darüber glücklich sein, dass Pater Pio gar am 16. Juni 2002 in Rom heiliggesprochen wurde. Sogar Ratzinger habe, wie man sagt, damals zur Seligsprechung die Heilige Stadt verlassen. Und was soll man zum Opus Dei sagen, das doch nur die Jesuitendisziplin aus den fünfziger Jahren übernommen hat. Die Texte des Zweiten Vaticanum entpuppen sich immer mehr als eine Fundgrube für das, was man schlechte Kompromisse nennen kann; in DOMINUS IESUS hat man uns mal wieder eine Kostprobe davon um die Ohren gehauen.

Religiöse Tradition steckt voll von Widersprüchen und Eindeutigkeit entsteht nur durch unsere konkrete Praxis, d.h.: tägliche Entscheidung. Sind solche Religionen also gut oder schlecht? Genau genommen: sie sind weder das eine noch das andere. Es hängt von uns ab, auf welche Traditionen wir uns stützen und welche Konsequenzen wir daraus ziehen.

2.2 Offene Interpretationen

Religiöse Texte sind geradezu definitionsgemäß mehrdeutig. Wer religiöse Texte verstehen will, muss sein/ihr eigenes Engagement einbringen, muss sie mit seiner/ihrer zeitgemäßen Situation konfrontieren. Wie bei der Erzählung auch anderer Erinnerungen ist Wiederholung geradezu ausgeschlossen. Mit dieser Situation ist das Christentum täglich konfrontiert. Erinnern Sie sich selbst daran, wie Sie die Gestalt des Hiob vor dreißig Jahren auslegten und wie Sie ihn heute verstehen. Der Übergang vom Dulder zum Rebell ist geradezu selbstverständlich.

Ich erinnere mich an ein Interview mit Kardinal Ottaviani, der zu Beginn der sechziger Jahre (also vor dem Zweiten Vaticanum) noch erhobenen Hauptes – und mit Recht – erklärte, im Neuen Testament stehe nichts von Menschenrechten. Erinnern Sie sich an den tiefen Wandel der Begriffe „Freiheit“ und „Befreiung“, die wir in der Befreiungstheologie neu gelernt haben.
Ein jüdischer Kollege wies mich vor einigen Wochen darauf hin, dass die Bedeutung eines jeden Textes vom Leser bestimmt wird. Gib, so seine gewagte Behauptung, einem moralisch gesonnenen Leser von heute (Jude oder Christ) einen biblischen Text, der zu Gewalt aufruft [etwa aus der Davidsgeschichte oder aus den Psalmen], und er wird darin einen Aufruf zu Gewaltlosigkeit und Versöhnung lesen. Gib aber einem unmoralischen oder primitiven Leser das Hohelied der Liebe oder den Bericht von Jesu Leiden und Tod in die Hand, und er wird – unter ständiger Berufung auf diese Texte – daraus Aufrufe zu Gewalt produzieren. Wegen ihrer Widersprüchlichkeit und wegen der Interpretationsvollmacht der Leser können die biblischen Religionen also (ähnlich wie der Koran) zur Gewaltlegitimation oder zum Gewaltverbot herangezogen werden.
Dafür ließen sich zahllose interessante Beispiele suchen. Gestern fand ich in einem Zeitungsbericht über die Todesstrafe in China folgendes: Wie bekannt, ist die Todesstrafe in China noch gang und gäbe. Je nach politischer Situation überziehen Hinrichtungswellen das Land. Oft genug wird darauf hingewiesen, gerade auf Grund der religiösen Kultur Chinas dürften wir dieses Land nicht mit unseren Maßstäben messen. Zur Zeit aber erhebt sich gegen die Todesstrafe (in jedem Fall gegen seine exzessive Anwendung) starker Widerstand. Wie aber wird dagegen argumentiert? Nicht von christlichen oder von westlichen aufgeklärten Standards her, sondern mit religiösen Texten der eigenen Tradition. Es gibt also auch dies, und es lässt sich voraussehen, dass die chinesischen Weisheitsströme der Religion in einigen Jahren als Bollwerke gegen die Todesstrafe herangezogen werden[4].

2.3 Steigerung in die Extreme (das Spiel mit dem Feuer)

Kann man aus dieser Widersprüchlichkeit und Mehrdeutigkeit schließen, religiöse Erfahrungen und Symbolisierungen seien ebenso widersprüchlich wie die Wirklichkeit selbst? Vieles spricht dafür: Wir kennen in der Bibel Weisheits- und Gebets-, Rache- und Machttexte, Texte der Zärtlichkeit und der donnernden Prophetie, Texte beschämender Unterdrückungserfahrung und Texte voller Dominanz- und Herrschaftsphantasien. Beileibe nicht jeder Text erreicht die spirituelle Höhe der Lieder vom Gottesknecht und selbst die Passionsberichte können zur Rache aufrufen, waren es doch die „Gottesmörder“, die Epoche um Epoche dafür büßen mussten, weil das Sein Blut über sie herabgerufen wurde.

Man mag die genannten Probleme Alltagsprobleme nennen, denn sie sind in jedem Text und in jeder Textinterpretation zu finden. Das wirklich religiöse Problem entsteht gerade dadurch, dass diese Texte eine letzte Geltung beanspruchen. Sie stehen im Rang göttlicher Inspiration, göttlicher Offenbarung, eines unumstößlichen Gottesworts. In allen Religionen – wenn auch auf verschiedene Weise – wird diesen Texten eine Endgültigkeit zugesprochen, die sich nicht mehr steigern lässt. Das steigert deren Aussagekraft und die Reaktionen darauf ins Extreme. Freude wird zur Ekstase, Ärger zur Wut und zum Fanatismus, Handlungsanweisungen werden gnadenlos ausgeführt, wie wir am Fundamentalismus unserer Tage sehen.
Für mich ist das nun der entscheidende Punkt, an dem ausdrückliche Religion ihre Wirkung entfaltet.
– Während die Biotope der Grenzerfahrungen eine zwiespältige Wirklichkeit widerspiegeln und besprechen, besprechbar machen,
– arbeitet das Scheinwerferlicht ausdrücklicher Religionen – insbesondere der Weltreligionen – die Gegensätze, den Zwiespalt zwischen einem radikalen Ja und einem radikalen Nein zu Mensch und Wirklichkeit endgültig heraus.

Das ist eine kulturell oft langwierige, aber unverzichtbare Arbeit. In den Weltreligionen geht es um unbedingtes Vertrauen (z.B. gegenüber Gott), um eine vorbehaltlose Bejahung der Humanität, d.h. auch um eine ungeschmälerte Ablehnung von Hochmut, Rache oder Aggression. Zu sich kommen jetzt (1) das Ja zum Leben, (2) die Leidenschaft für Gerechtigkeit, (3) der Wille zur Wahrhaftigkeit und (4) die Unbedingtheit gegenseitiger Treue, diese vier fundamentalen Prinzipien, die in allen Weltreligionen zu Hause sind.

An diesem Punkt sind zwei letzte kritische Rückfragen zu stellen.

Die erste weist darauf hin: Zwischen den Extremen von Liebe und Hass, Gerechtigkeit und Rechtlosigkeit, Wahrhaftigkeit und Lüge, Treue und Treulosigkeit ist keine Versöhnung mehr möglich, Eure Rede sei Ja Ja, oder Nein Nein! Genau in dieser Kompromisslosigkeit liegt eine letzte apokalyptische Gefahr: Meist schaffen Religionen keine Gewalt, weil sie böse sind, sondern weil sie das Böse ausrotten wollen. Man denke an die Psychologie des Zeugnisses und des Bekenntnisses, in denen Begeisterung in Fanatismus umschlagen kann. Weltreligionen können nicht deshalb gnadenlos sein, weil sie Gottes Güte nicht kennen; sondern weil sie dieser Gnade in großer Dringlichkeit endlich zum Durchbruch verhelfen wollten. Man denke an den linken Flügel der Reformation und an fundamentalistische Strömungen der Gegenwart, seien sie christlichen, muslimischen oder hinduistischen Ursprungs. Man denke auch an die großen Visionen von Erlösung und Verdammung. Aus diesem Grund ist die Goldene Regel, das große Prinzip der Humanität, unverzichtbar. Sie sorgen dafür, dass sich die großen Prinzipien nicht verselbständigen, sondern in die große Vision einer versöhnten Menschheit eingebunden bleiben.

Die zweite Rückfrage weist auf Folgendes hin: Religionen – insbesondere Weltreligionen – können die Identität von Menschen, Gemeinschaften, ganzen Kulturkreisen zutiefst bestimmen. Deshalb lassen sich Menschen durch die Verlustangst ihrer Identität immer neu motivieren. Religionen werden missbrauchbar. Im Gegensatz dazu ist es unbestritten, dass an der Basis von keinem der gegenwärtigen großen und bekannten Konflikte ein Religionskonflikt oder religiöse Probleme stehen[5]. Der jüdisch-palästinensische Streit hat als ein Streit um Land begonnen und spätere terroristische Ideologien haben sich zu Beginn nie auf religiöse Motive berufen. Ähnliches gilt für die Al-Qaida. Gleiches ist von Tschetschenien, vom ehemaligen Jugoslawien und von den Auseinandersetzungen in Indonesien zu sagen. Erwiesenermaßen spielen die Religionen in den aktuellen blutigen Auseinandersetzungen keine initiierende Rolle[6]. Etwas ganz anderes ist die Tatsache, dass die Religionen in dem Augenblick ins Spiel kommen, an dem die Meinungsführer dieser politischen Bewegungen das Volk auf ihre Seite ziehen wollen. An diesem Punkt haben alle Religionen noch einen Lernprozess vor sich. Vermutlich kommt er in dem Maße voran, in dem sich die Religionen neu ihrer weltpolitischen Funktion bewusst werden. Wir müssen lernen; Religionen produzieren zwar Identität, Stabilität und Gewissheit. Das ist gut so, aber sie alle leben auch aus der Erfahrung, dass kein Weizenkorn Frucht bringt, wenn es nicht zuvor stirbt. Diese tiefe Paradoxie eines guten Lebens können Institutionen nur schwer begreifen.

III. Religion – Antwort auf die Zukunft?

Die bisherigen Ergebnisse sind nicht ermutigend. Religion – als unsystematisch sprießendes Biotop – zeigt den Zwiespalt der Wirklichkeit und Gesellschaft, sie überlässt es den Menschen, ihre Symbole und Erinnerungen gemäß ihren Erfahrungen zu verschärfen und sie arbeitet – als alles erleuchtender Scheinwerfer – diese Widersprüche bis hin zu unlösbaren Gegensätzen heraus. Religion macht Menschen nicht einfach gut, nicht einfach böse, sie treibt aber die Alternativen und die weltpolitischen Folgen ihres Handelns auf die Spitze, macht uns gut oder böse. Lebendige Religionen domestizieren, besänftigen also nicht, sondern sie heizen das Feuer an, um Klarheit zu schaffen. Sollten wir auf Religionen nicht doch lieber verzichten? Sollten wir sie nicht mit Sicherheitszäunen umgeben, sobald sie ihr Haupt erheben? Ist es nicht Sache der Vernunft, die Religionen (gemäß dem Programm der Aufklärung) auf ihre Rationalität zu überprüfen?

Nein, es muss sie nach wie vor geben, und dafür gibt es gute Gründe. Hier setzt das ‚Projektweltethos einer sich globalisierenden Welt ein. Religionen bilden im Blick auf die gesamte Welt eine unverzichtbare Potenz des Friedens. Es geht nicht darum, dass Religionen gegen die Welt agieren, sondern dass sie die Welt als selbstverständliche Partner in ihre Prozesse der Reflexion, der Reife und der ständigen Neuorientierung aufnehmen.

3.1 Religionen verstehen

Religionen sind, wie ich zeigte, keine fertigen Gebilde, sondern immer in Veränderung; sie sind nur als Fließgleichgewichte, als Prozesse zu verstehen. Letztlich sind „Religionen“ weder Rezepte noch ethische oder kultische Handlungsanweisungen, obwohl sie sich gerne so präsentieren. Ihre Erinnerungen und kollektiven Erfahrungen sind immer neu zu deuten, und zu diesen Deutungen haben sich die Anhänger einer Religion immer neu zu verhalten. Religionen und die in ihnen gesammelte Lebensweisheit (von Moses bis Jesus, von Jesaja bis Paulus, von den Psalmen bis zur Geheimen Offenbarung) stehen uns zur Verfügung. Es ist an uns, unsere „Religion“ täglich neu im Lichte unserer Weltsituation zu verstehen.

Diesen Stoff immer neu zu verstehen heißt, ihn sich immer neu anzueignen. Die Haupttugend religiöser Menschen (im Christentum und außerhalb) sind nicht Demut und eine gehorsame Repetition, sondern Eigenständigkeit, schöpferische Kraft und ein Enthusiasmus, der die notwendigen Verstehens- und Handlungswege immer neu geht. Nachfolge mein kein „Hinterhergehen“, sondern die Erkundung des eigenen Weges im Geiste der Vorgängers im Glauben.

Wenn wir gegenüber Gott gehorsam werden wollen, müssen wir Partner, freie Täter der religiösen Erinnerung werden.

3.2 Fähigkeit zur Weltsicht

In dieser partnerschaftlichen Sicht kann sich der entscheidende Sinn der Weltreligionen zeigen. Zwar nehmen Weltreligionen alle banale Wirklichkeit der Welt in sich auf; das ist ihre Last, die sie tragen und die sie oft in schwerfällige Prozesse der Reifung zwingt. Aber ihr entscheidendes Angebot und ihre befreiende Herausforderung liegt in ihrem universalen Horizont; sie schlagen uns – wenn auch gewaltlos – alle vorschnelle, selbstgenügsame Besänftigung aus der Hand. Christlich gesprochen: es geht werde um ein frommes Leben noch um Kirchen, sondern um Gottes Reich, das hier und jetzt beginnt. Gerade die Grenzen und Probleme, das Scheitern und das, was zum Verzweifeln ist, die Ängste und die Visionen, die großen Hoffnungen der Menschheit und ihre fürchterlichen Selbstbedrohungen kommen unverstellt ans Licht; man lese nur die Bergpredigt oder die Propheten. Genau deshalb ist des gut, die Bibel, den Koran, heilige Schriften des Ostens zu lesen. Wir sollen lernen, dass man in dieser Welt wütend werden kann und dass Arroganz unerträglich ist, dass Betrug das Zusammenleben zerstört und dass die Menschheit immer neu nach lebensförderlichen Normen suchen muss.

Genau an diesem Punkt kommen auch die Unterschiede der Weltreligionen zum Tragen. Es wäre nicht richtig zu sagen, das Christentum sei die Religion der Nächstenliebe, das Judentum die Religion der Gerechtigkeit, der Islam die Religion des gottgefälligen Friedens und der Buddhismus die Religion der unbedingten Selbstauslöschung oder des Mitleids mit den Tieren. Die monotheistischen Religionen haben viel vom Versuch zu erzählen, die Welt zu verändern, die östlichen Religionen vielleicht mehr von den Versuchen, deren Relativität und Schein zu durchschauen. Alle Grunderfahrungen sind wohl in allen Weltreligionen anwesend. So gibt es auch im Hinduismus und im Buddhismus einen leidenschaftlichen Einsatz für soziale Gerechtigkeit, aber die einen können den anderen sagen: vergesst die Armen, oder vergesst die Ergebung, vergesst den Sinn des Leidens und vergesst eure politische Leidenschaft nicht. In diesem Rahmen hat das Christentum gewiss eine große und prägende Geschichte des Scheiterns und des Vergebens von Unrecht zu berichten. Es weiß inzwischen und nach schmerzlichen Erfahrungen auch, dass Jesu Tod nicht zur Diskriminierung eines ganzen Volkes führen darf. Übrigens müsste Auschwitz inzwischen in die große und prägende Erfahrung des Christentums eingegangen sein. Nein, es geht in erster Linie nicht um Alternativen, auch nicht um ein „Besser“ oder „Schlechter“. Es geht um die schlichte Frage, welche Erfahrungen eine religiöse Tradition ins Weltgespräch einzubringen hat. Normative Folgerungen ergeben sich daraus aus der je neuen Übersetzung in die Gegenwart selbst.

3.3 Freiheit zu positiver Entscheidung

Worin besteht nun der große Sinn weltreligiöser Traditionen und weltreligiöser Weltentdeckung? Religionen müssen mit dem Feuer spielen, , wie ich sagte, also den Mut zum Risiko aufbringen. Sie müssen sich mit den anstehenden Fragen intellektuell, emotional, lebenspraktisch auseinandersetzen. Die Weltreligionen haben in vielem gegensätzliche Erfahrungen zu berichten und fordern deshalb selbst eine Entscheidung. Nur diese umfassende und vorbehaltlose, nur diese leidenschaftliche und lebenspraktische Auseinandersetzung, nur dieses harte und kompromisslose Suchen schafft – in mühsamen Wachstumsprozessen – die Freiheit zur positiven Entscheidung.

Religionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich selbst in eine jede Forderung, in eine jede Anklage und in einen jeden Handlungsauftrag einschließen. Hier liegt der Grund für in enormen Erziehungs- Bildungs- und Stabilitätsleistungen der Weltreligionen. In den vergangenen Jahren ist viel von „Spiritualität“ die Rede, also von inneren Prozessen des Wachstums und der Erkenntnis, von tiefgreifenden Erfahrungen mit „Gott“. Für Weltreligionen ist die Unterscheidung von Privatheit und Politik, von Individuum und Gesellschaft sekundär. Nur so erschließt sich ihr Gedanke gottgeschenkter Freiheit. Bei Paulus spielt die „Freiheit der Kinder Gottes“ eine Schlüsselrolle. Er hat sie für sich selbst in einem höchst schmerzhaften Prozess erobert. Er fand die Kraft, seine eigenen religiösen Wurzeln radikal umzuinterpretieren, also von der Tora der jüdischen Tradition weitgehend Abstand zu nehmen. Für ihn bedeutete das keinen Abschied vom Judentum, sondern ein tieferes und zeitgemäßes Eindringen in dessen eigentliche Bedeutung. Weil die Religionen zu solchen Wegen breiter Erfahrungen und offener Auseinandersetzung anleiten, machen sie den Abschied vom Bösen möglich.

IV. Weltethos kann gelingen

Es gibt glückliche Fällen, in denen sich die Versöhnungsarbeit und Friedenspotenz von Religionen vor den Augen der Weltöffentlichkeit erwiesen hat. Ich nenne die mir bekannten Beispiele:
* Man denke an die hinduistisch motivierte frühe indische Nationalbewegung, die muslimisch pakistanischen Soldiers of God, an die christlich motivierte amerikanische Bürgerrechtsbewegung sowie die buddhistisch tibetanische Befreiungsbewegung, personifiziert in den Personen Mahatma Gandhi, Khan Abdul Ghaffar Khan, Martin Luther King und Dalai Lama. Sie alle kennzeichnet eine Kombination von gesellschaftspolitischen Forderungen und streng gewaltlosen Proteststrategien. Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihr Engagement mit dem Leben bezahlt.
* Erfolgreich war das Engagement der katholischen Kirche auf den Philippinen (1986), die Mitte der 1980er Jahre maßgeblich an der »Peoples Power Revolution« gegen das Marcos-Regime beteiligt war und dafür sorgte, dass der Diktator nach gefälschten Wahlen und gegen den Willen der amerikanischen Regierung das Land verlassen musste.
* Über Nelson Mandela (den späteren Staatspräsidenten) und Desmond Tutu (den Vorsitzenden des South African Council of Churches in Südafrika) wurde schon gesprochen, deren gewaltfreier Protest gegen das Apartheidsregime Erfolg hatte und die – so die breite Überzeugung – das Land Ende der 1980er Jahre vor dem Abgleiten in einen blutigen Bürgerkrieg bewahrten.
* Zu nennen sind prominente Bischöfe der katholischen Kirchen Süd- und Mittelamerikas. In den dramatischen 1970er und 1980er Jahren haben sie den zivilen, ebenfalls gewaltfreien Widerstand gegen Militärdiktaturen unterstützt oder initiiert. Man denke an Dom Helder Camara von Recife, Dom Evaristo Arns von Sâo Paulo, Oscar Romero von El Salvador (1980 ermordet), an viele Laien, Ordensleute und Priester. Sie haben – bis hinein in die Gegenwart – die massiven Menschenrechtsverletzungen, Folterungen, andere Folgen des Staatsterrors öffentlich beklagt und dafür mit ihrem Leben bezahlt.
* Religiöse Gemeinschaften und deren Führer spielten bei zu Friedensschlüssen und Friedenskonsolidierungen oftmals eine wichtige Rolle. Zu nennen sind die katholische Laienorganisation Sant’Egidio (Rom) im Bürgerkrieg von Mozambique (1990), der Lutherische Weltbund in Guatemala (seit 1983), kambodschanische Mönche in den 1990er Jahren, die Friedensmärsche organisierten, zur Teilnahme an Wahlen und zur Demilitarisierung der Gesellschaft ermunterten und dadurch zur Stabilisierung des Landes beitrugen.

Aber genau sie haben bei diesen Aktionen – aus religiösen Motiven und mit den Möglichkeiten einer Religion – gesellschaftspolitisch gedacht und politisch gewirkt. Sie haben gezeigt, dass Versöhnung ein umfassendes Beziehungsgeschehen ist, deshalb nie fertig, immer wieder von vorn beginnend und immer zugleich mit Selbstversöhnung verbunden, gekoppelt mit der Versöhnung mit der eigenen Familie und Gemeinschaft, immer auch schon ein Geschehen mit politischen Implikationen. Deshalb haben wir mit all den Hinweisen nur einen kleinen Zipfel angerührt und Dimensionen benannt, die sich zugleich selbst im Wege stehen.

Wir müssen – um der Weltversöhnung willen – die Frage stellen, wie Versöhnung hier und jetzt nicht nur ausgedacht, beschrieben oder analysiert werden, sondern wie sie wirklich beginnen kann. Kann sie dadurch beginnen, dass wir mit unseren Worten über bestehende, in Selbstgerechtigkeit verkrustete Situationen hinausgreifen? Gewährt uns die Sprache vielleicht die Möglichkeit (sogar die einzige Möglichkeit), dem Gefängnis der vergangenheitsbestimmten Gegenwart zu entfliehen und auf eine erhoffte Zukunft vorauszugreifen? Gehört es nicht zum Geheimnis gerade der monotheistischen Religionen, dass sie das Spiel von Phantasie und Wort vorantreiben, um dadurch die Bindungen an Raum, Zeit und Geschichte zu durchbrechen? Es könnte sich also lohnen, einen Blick auf die Frage zu werfen, was Sprache mit uns tun, was sie erhellen und wie sie uns weiterbringen kann.

Schluss: Lebensfördernde Menschlichkeit

Religiöse Traditionen stehen unserem Verstehen und unserem Urteilen zur Verfügung. Auch im Rahmen der Weltreligionen sind ständig neue Entscheidungen gefordert und diese Entscheidungen sind von uns zu fällen, denn unsere persönliche, gemeinschaftliche und weltpolitische Gegenwart wiederholt werde eine vergangene Situation, noch ist sie wiederholbar. Sie ist von mir, von uns, von der Menschheit zu lösen. So bleibt eine letzte Frage: Wenn ich hier und jetzt angesichts einer neuen Weltsituation in aller Freiheit zu einer neuen Lebenspraxis kommen muss, woher nehme ich mir diese Entscheidungen das Maß und die Kriterien? Können sie mir garantieren, dass meine Religion das Gute fördert, dass sie nicht aus Macht- oder Geltungssucht, aus Konservatismus oder Besserwisserei ins Böse abgleitet?

Ich kann hier nicht mit einem zweiten Referat beginnen. Ich verwiese zum Schluss nur auf drei nachdenkenswerte Phänomene.

(1) Vorrangig im christlichen Kulturraum hat sich im Lauf der vergangenen Jahrhunderte der durchaus säkulare Begriff der Menschlichkeit herausgebildet. Er ist von der christlichen Tradition weithin gedeckt, obwohl sich der Humanitätsgedanke auf weite Strecken hin gegen den Widerstand der Kirchen herausgebildet hat. Ich vermute deshalb, dass in der christlichen Tradition ein unbemerkter Grundstrom wirksam ist, der ein solches Wertebewusstsein gebildet hat. Es ist Sache der Kirchen, gegebenenfalls die anstehende Nacharbeit zu leisten. Unsere Kirchen brauchen also Kritiker, die sie an ihre eigene Tradition erinnern.

(2) Im „Projekt Weltethos“ hat sich herausgestellt, dass sich viele Religionen in vier allgemeinen Grundregeln treffen, die als Baustein eine künftigen Weltordnung gelten könnten. Es geht – auf der Basis der Goldenen Regel – (a) um eine Kultur des Lebens und Lebensschutzes, (b) um eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit, (c) um eine Kultur der manipulationsfreien Wahrhaftigkeit und (d) um eine Kultur zwischenmenschlicher Partnerschaft [zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern, Jungen und Alten, Gesunden und Kranken].
In diesen elementaren Punkten können sich die Religionen mühelos treffen. Es kommt allerdings darauf an, dass sie diese Basiswerte angesichts der gegenwärtigen Weltsituation neu durchformulieren und zu aktuellen Prinzipien ausmodellieren. So zeigen wohl alle Religionen zusammen Wege zum Guten auf. Sie haben einander beim Wort zu nehmen; ohne interreligiösen Dialog gibt es keinen wirksamen Fortschritt,

(3) Die besondere Konstellation der westlich säkularisierten Kultur hat dazu geführt, dass sich die Werte von Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Treue, Friede und Humanität auch in nicht-religiösen Gewändern präsentieren. Das ist gut so, denn die innersten Intentionen der Religionen sind zutiefst menschlich, „weltlich“, säkular; an dieser säkularen Menschlichkeit sind sie zu messen. Faktisch können Religionen – ohne Exklusivansprüche – Moralagenturen der Welt und Erzieher der Menschheit bleiben, wenn sie sich
* den Normen der Humanität stellen,
* für deren spirituelle Verinnerlichung und visionäre Darstellung sorgen,
* ihre Leidenschaft von der Versuchung zur Gewalt fernhalten und
* sich selbst nicht mit ihrem Ziel eine versöhnten Menschheit verwechseln.

Bleibt also nicht doch noch die Alternative einer säkularen, religionsfreien Menschheit? Wer die Komplexität von Religionen (wie oben angedeutet) und deren Verankerung in menschliches Leben und menschliche Kultur verstanden hat, wird diese Frage als absurd verwerden. Wir schaffen auch die Liebe nicht ab, weil sie so viele Schmerzen verursacht. Würden wir heute die Religionen ausrotten, würden morgen neue entstehen. Die einzige Alternative für unsere Gegenwart lautet: Arbeit mit und an den Religionen, damit sie endlich die Herausforderungen entdecken, die ihnen heute gestellt sind. Wir dürfen nicht zulassen, dass sie sich in dieser enorm gefährdeten Zeit in ihre Schneckenhäuser zurückziehen und meinen, gepflegte Selbstbestätigung helfe ihnen weiter. Neun, damit würde sie ihren Auftrag und ihre enormen Potenzen zu Frieden und Versöhnung verraten.

 

Anmerkungen

[1] N. Luhmann, Funktion der Religion, Frankfurt 1982.

[2] Im Blick auf meine Fragestellung habe ich die Definition von Geertz nicht exakt übernommen. Interessierten Leserinnen und Lesern soll der genauer Text nicht vorenthalten sein: „. .. ein Symbolsystem, das darauf zielt, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.“ (Ch. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt 1983, 44-95.

[3] Einer der großen Entdecker der Unbewussten in seiner Bedeutung für die Religion ist C.G. Jung. In den vergangenen Jahren hat sich E. Drewermann als höchst erfolgreicher Verteidiger einer psychologischen Glaubensauslegung erwiesen.

[4] Ausführlicher DOSSIER-Bericht von Georg Blume (Unter Mitarbeit von Kristin Kupfer), Der Kampf gegen den Genickschuss, in: DIE ZEIT, Nr. 23 (29. Mai 2002), S. 11-13 Berichtet wird u.a. von einem Anwalt, namens Li, der als Vorkämpfer gegen de Todesstrafe auftritt; er stelle seinen Beruf in den Dienst seiner Überzeugung: „Man darf beim Gehen keine Ameise zertreten. Diese Haltung meiner Vorfahren hat mich geprägt“. Damit, so der Bericht, begründe er seine Haltung zur Todesstrafe auf traditionell konfuzianische Art. Ferner wird auf Konfuzius verwiesen: „Wenn gute Männer 100 Jahre lang ein Land regieren, dann wird man mit Verbrechen fertig, ohne die Todesstrafe zu benötigen.“ Ein anderes Mal sage Konfuzius: „Warum müsst ihr töten, wenn Ihr regiert? Wenn Ihr zeigt, dass Ihr das Gute wollt, dann wird auch das Volk gut.“

[5] Das hat der Tübinger Politologie Volkes Rittberger zusammen mit Andreas Hasenclever in seinen Untersuchungen deutlich herausgearbeitet: Does Religion Make a Difference? Theoretical Approaches to the Impact of Faith on Political Conflict, in: Millenium: Journal of International Studies, 2000, Vol. 29, No. 3, S. 641-674.

[6] Differenzierter scheint im Augenblick die Situation in Irland zu sein, aber auch dort sind die politischen und sozialen Faktoren von eminenter Bedeutung.

(Vortrag vom 08.03.2012)