Materialien zur Arbeit und drei abschließende Thesen
Charles Taylor schreibt:
Mit den vorliegenden Überlegungen plädiere ich für eine Revision und Öffnung des »Säkularismus«-Konzepts. Wenn die Demokratie den Herausforderungen unserer Zeit gewachsen sein soll, darf sie die säkularistische Ordnung nicht länger als Bollwerk gegen die Religion verstehen, sondern muss sie weiterentwickeln im Sinne der drei grundlegenden Zielsetzungen, die ich oben skizziert habe.
Wir müssen uns von einigen /27/ geheiligten Traditionen verabschieden und unsere institutionellen Arrangements neu gestalten, so dass sie zwischen den verschiedenen Weltanschauungen ein Höchstmaß an Freiheit und Gleichheit garantieren.
„Wir müssen uns anpassen an das, was Gott von uns will.“ (Kard. Müller am 1. Mai 2014 in Marktl am Inn)
1. Säkularisierung kein Schreckgespenst
Säkularisierung gilt für Christinnen auf der ganzen Welt als ein Schreckgespenst, das Glauben und Religion, aber auch die weltanschauliche und moralische Stabilität einer Kultur ruiniert. Dieser Auffassung ist zu widersprechen. Säkularisierung ist Inbegriff und Zusammenfassung für einen „Paradigmenwechsel“, d.h. für schwer überschaubare, weil tiefgreifende Metamorphosen einer Religion. Sie werden von gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen ausgelöst. Da die betroffenen Religionen selbst ein Teil dieser Gesellschaften sind, handelt es sich um einen vielschichtigen und lebendigen, nicht objektivierbaren Prozess.
2. Umfang der Metamorphosen
Die Metamorphosen einer Säkularisierung betreffen die Inhalte und die praktische Realisierung einer Religion, deren Sprache und Ästhetik, die Gottesdienstformen und das existentielle Engagement, das religiöse Ethos und religiöse Konventionen. Insbesondere gerät das Verhältnis zwischen religiösen und nicht-religiösen existentiellen Vollzügen in Fluss.
Solche Veränderungen sind nur bedingt vorhersehbar und betreffen immer auch das Selbstverständnis einer Person. Deshalb erzeugen sie Ängste, Gefühle des Deutungs- und Orientierungsmangels; diese Glaubensveränderung wird u.U. als Glaubensverlust erfahren und ist – je nach vorausgesetzter objektivierender Definition – Glaubensverlust.
3. Ein ideologisch anfälliger Begriff
Begriff und Analyse einer „Säkularisierung“ haben immer schon ideologische Anteile. Denn in Säkularisierungsprozessen verschieben sich nicht nur Quantität und Zielsetzung der genannten religiösen Strukturelemente; es verändert sich auch deren gegenseitige Wertung. Das lässt sich gut beobachten am Deutungs- und Bedeutungswandel herausragender Dimensionen von überlieferten Religionsformen. Ich nenne
– die Ritualisierung und Sakralität bestimmter Vollzüge,
– die Wahrheitsfunktion bestimmter Erinnerungen, Symbole und Definitionen,
– den Umgang mit normativen Texten und Traditionen,
– die innere Ordnungsstruktur religiöser Gemeinschaften,
– den Autoritätsanspruch bestimmter Institutionen.
Was die Kritiker der Säkularisierung als Verlust zentraler Werte beklagen, begrüßen deren Befürworter als Überwindung religiöser Hemmnisse und Öffnung zu einer erneuerten, befreienden religiösen+ Religiosität. Was Erstere für zentral und unbedingt schützenswert halten, erscheint Letzteren als sekundär, wenn nicht gar verwerflich. Das führt zu inneren Polarisierungen.
4. Asymmetrien zwischen Erwartungen und Leistungen
Sobald sich diese Wertungsunterschiede und Polarisierungen ungleichgewichtig auf verschiedene Gruppierungen verteilen, entstehen störende, bisweilen destruktive Asymmetrien zwischen Erwartungen und Leistungen, Verstehensimpulsen und Glaubenslehren, Gesprächs- und Unterwerfungshaltungen. Solche Asymmetrien können den grundlegenden Zugang zu Fragen und Funktion von Glauben und Religion verstellen. Man fragt sich, was überhaupt der Sinn von Religion ist. In diesem Fall spreche ich von Säkularisierung in zweiter Potenz.
Beispiele:
– Menschen treten nicht mehr aus der Kirche aus, weil sie sich (vielleicht unbewusst und in Folge fortschreitender Modernisierung) von ihr entfremdet haben, sondern sie sind ausdrücklich verärgert; sie fühlen nicht mehr ernstgenommen, vor den Kopf gestoßen oder zu Unrecht getadelt. Man denke an die offizielle katholische Sexualmoral oder an die offizielle Situation von Geschiedenen, die nach ernster Gewissensprüfung wiederverheiratet sind.
– Junge Menschen verabschieden sich nicht von der Kirche, weil sie mit der biblischen Schöpfungsgeschichte nichts mehr anfangen können, sondern weil kirchliche Instanzen zwischen biblischen und naturwissenschaftlich-anthropologischen Botschaften einen offensiven Gegensatz erzeugen, sich also als die Besserwissenden aufdrängen.
5. Polarisierungen zwischen Institution und Basis
Zum Schaden der Kirchen verlaufen die Polarisierungen zwischen Kritikern und Befürwortern nicht (mehr) dynamisch und in verstehensorientierter Diskussion, sondern statisch und zunehmend in der Repetition verhärteter Argumente. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass sich Kritiker und Befürworter in bestimmten polaren Gruppen eingenistet haben. Dazu gehören die Polarität zwischen Institution und Basis, zwischen politisch Konservativen und Progressiven, zwischen Wertkonservativen und Wertekritikern. Zudem liegt es in der Logik der Sache, dass sich die kirchenleitenden Institutionen als die Verteidiger der Tradition und damit eines traditionellen Religionsverständnisses verstehen. Zu Recht nämlich sind diese Institutionen Verteidiger der „Objektivität“ (im soziologischen Sinn der Wortes). Problematisch ist, dass sie in der aktuellen Konstellation eine zeitlose und eine subjektlose, weil metaphysisch orientierte Kontinuität verteidigen. Wegen ihres Kontaktverlusts mit der Basis ist ihnen das innere Korrektiv ihrer Zeitgenossenschaft abhanden gekommen.
6. Misstrauen gegen Säkularisierungstendenzen
Auch nach Amtsantritt von Papst Franziskus bleibt diese Polarisierung vorläufig stabil. Damit hat sich ein massives Misstrauen gegen alle Säkularisierungstendenzen stabilisiert. Dies hat zwei Folgen.
Zum einen entsteht der Eindruck, die Kirche müsse und könne sich mit Erfolg gegen Säkularisierungsprozesse stemmen, so als hätte sich die Kirche der Antike gegen den Weg der Kirche ins Mittelalter oder später in die Neuzeit stemmen können oder müssen. Dieser trügerische Eindruck wird dadurch verstärkt, dass viele innerhalb der katholischen Kirche noch heute auf die absurden Strategien des Antiprotestantismus und später des Antimodernismus stolz sind. Die Fortsetzung dieser Linie im Blick auf die aktuellen Säkularisierungsprozesse kann nur fundamentalistische, d.h. selbstzerstörerische Folgen nach sich ziehen. Die wahren christlichen Impulse des Katholizismus werden ihren Auszug aus der römisch-katholischen Kirche halten.
Zum andern werden sich schon bestehende Asymmetrien, Missverständnisse und Missverhältnisse zwischen Bewahrern und Erneuerern verfestigen und sich zunehmend destruktiv auswirken.
Beispiele:
Missverhältnisse zwischen Erwartungen und legitimierten Leistungen: Die Menschen erhalten keine Lösungsmöglichkeiten, sondern absolute Verpflichtungen, keine Gesprächsangebote auf Augenhöhe, sondern Gebote zur Unterordnung. Sie müssen ihre eigene (selbsterfahrene) Würde zur Verfügung stellen bzw. abgeben, statt diese einzubringen. Die Menschen wollen verstehen, stattdessen setzt man ihnen Lernprodukte vor. Ihre als Hilfe gedachten Interventionen werden als destruktive Kritik, ihre biblisch, historisch oder humanwissenschaftlich unterbauten Bemerkungen als destruktiv erfahren. Auch sind die kirchlichen Institutionen unfähig oder unwillig, die kritische Funktion der Medien zu rezipieren; man versucht ausschließlich, sie als mediale Propagandahilfe zu benutzen. Die mangelnde Teilnahme an offiziellen kirchlichen Veranstaltungen (z.B. am Sonntagsgottesdienst oder am Sakrament der Buße) wird als Religionsverlust interpretiert und die erneuernden Kräfte innerhalb der Kirche dafür verantwortlich gemacht.
7. Faktoren der Säkularisierung
Das Ausmaß der Metamorphose, die als ein Paradigmenwechsel charakterisiert werden kann, ist kaum zu überschätzen, aber auch richtig einzuordnen. Sie spiegelt den tiefgreifenden Wandel einer Kultur (nennen wir sie pauschal die „westliche“ oder „europäische“), in die Christentum und die westlichen Kirchen rundum eingebettet, in vieler Hinsicht von ihr also ununterscheidbar war. Deshalb ist es verständlich: Eine vielfache Veränderung dieser religiösen Lebens- und Denkformen, die zugleich ein Herauswachsen aus ihrer angestammten Kultur bedeuten, muss zu tiefreichenden Irritationen, Verunsicherungen und angstbesetzten Reaktionen, auch zu Aggressionen führen.
Umso nachdrücklicher sollten wir von Seiten der einbettenden Kultur fragen, welche Veränderungen denn zu diesen Veränderungen geführt haben. Erst dann ist die Frage sinnvoll, wie denn Religionen, wie insbesondere die christliche Religion in und auf diese Veränderungen reagieren können. Ich nenne hier in aller Kürze fünf Faktoren:
(1) Pluralisierung:
Die Pluralisierung der Gesellschaft, ihrer Lebensformen, Lebensmöglichkeiten und Lebensanforderungen selbst. In diesem Umfeld muss die Kernforderung der traditionellen Religion nach einer Deutungs- und geregelten, kontrollierbaren Lebenseinheit zerbrechen. Die emotionalen, kognitiven und lebenspraktischen Dissonanzen wurden zu groß.
(2) Wissensexplosion:
Die enorme Zunahme des empirischen Wissens, das sich spätestens seit dem 17. Jahrhundert exponentiell steigert, hat schon früh den Lehr- und Wissensrahmen der kirchlichen Wissenschaft gesteigert. Hinzu kommen zunehmende Kenntnisse über den gesamten bewohnten Erdkreis mit seinen Kulturen und Religionen. Eine Religion kann diese Änderung nur verkraften, indem sie ihren Wissensrahmen und Wissensstil fundamental revidiert.
(3) Versagen der Kirchen:
Die Ordnungsfunktion der (christlichen) Religion, worauf sie immer größten Wert gelegt hat, hat spätestens seit dem 16. Jahrhundert versagt. Von symbolischer Bedeutung ist der Westfälische Friedensschluss von 1948 (in Münster und Osnabrück), der einen dreißigjährigen religionsbedingten Krieg beendete, der aus Selbstschöpfung und Selbstentkräftung zum Erliegen kam. Spätestens von diesem Augenblick an mussten die Konfessionen ihre umfassenden Ansprüche mit politischen Kräften teilen.
(4) Andere Religionen:
Zeitlich vorausgreifend nenne ich die enorme weltanschaulich-religiöse Pluralisierung, die wir seit etwa 30 Jahren mit der wachsenden Präsenz von nichtchristlichen Religionen in Europa erleben. Das simple Schema der Vergangenheit, das zwischen göttlicher Wahrheit und teuflischer Lüge unterschied, kann nicht mehr überzeugen.
(5) Aufklärung:
Als fünften Faktor nenne ich einen Faktor, der die genannten Entwicklungen und deren Religions- und Geistesgeschichte auf dem Gebiet des Denkens und des Weltverständnisses seit dem 17. Jahrhundert in verschiedener Intensität und Selbstverständlichkeit begleitete und immer noch begleitet. Auf ihn lege ich hier besonderes Gewicht. Es ist das Phänomen der „Aufklärung“: In wachsendem Maße ergreift eine sich als unabhängig begreifende Vernunft – zunächst mit höchstem Fortschrittsoptimismus und mit hohem antireligiösen Pathos – das Steuer der Interpretation von Mensch, Geschichte und Welt. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis beginnt mit ihr eine neue Epoche. Die Zeit der finsteren Vergangenheit, der politischen Unterdrückung und der sozialen Ungleichheit soll vorbei sein. Diese Aufklärung bietet für das Verständnis der Säkularisierung und der ambivalenten Art, wie die Religion darauf regierte, einen wichtigen Schlüssel.
8. Wirkung der Aufklärung:
Der Glanz der Aufklärungsidee mit ihrem Optimismus, ihrer Selbstherrlichkeit und ihrer Selbstüberschätzung ist spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entzaubert. Adorno sprach von der Dialektik der Vernunft. Über diese Ambivalenzen und uneingelösten Versprechungen ist in These 10 zu reden. In dieser These möchte ich etwas zur enormen Tiefenwirkung sagen, die die Aufklärungsidee in den vergangenen Jahrhunderten bis weit in die Gegenwart hinein erzielt hat, immer noch erzielt und die Religion vor eine ganz neue Herausforderung stellt. Darüber, was man mit „Vernunft“ genau meinte und heute meint, kann man sich lange streiten; es ist viel unklarer als es den Anschein hat.
Klar ist aber: Der Aufklärungsgedanke hat Schritt um Schritt, in einem jahrhundertelangen Prozess, auf allen Gebieten menschlichen Verstehens und Verstehenwollens eine hermeneutische Kehrtwende unbegrenzten Ausmaßes ausgelöst. Zum ersten Mal in der europäischen Geistesgeschichte verschwand die unmittelbare, die „vorkritische“ Direktheit unseres Erkennens. Mit wachsendem Nachdruck und mit wachsender Selbstverständlichkeit stellte man jetzt bei Erzählungen und geschichtlichen Berichten, beim Verstehen von Texten, bei der Wahrnehmung der Natur Rückfragen: War und ist das wirklich so? Was sind dafür die Gründe? Ist diese oder jene Interpretation richtig? Dreht sich die Sonne wirklich um die Erde? Stimmt das mit der Gottheit Christi, mit der Jungfrauengeburt, mit der Himmelfahrt wirklich? Ist eine bestimmte Aussage historische Mitteilung oder Symbol? Und was will das Symbol von der Jungfrauengeburt sagen? Was überhaupt ist die Funktion der religiösen Sprache?
Diese Rückfragen haben jetzt nichts mehr mit Unglauben zu tun. Wer aber die Aufklärung verstanden hat, kann sich solchen Fragen überhaupt nicht mehr entziehen, so wie ein Psychologe sich fragt: „Was ist hier wirklich los?“, wenn ihm jemand erklärt, er höre Stimmen.
9. Gibt es einen aufgeklärten Glauben?
Sie alle haben im Rahmen ihres bewussten Umgangs mit Glaubensfragen diesen Schritt irgendwann, vielleicht auch die enorme Verunsicherung erlebt, die er bewirken kann. Sie erreichten in diesen Augenblicken ein neues Verhältnis zum christlichen Glauben und zu dessen Verbindlichkeit. Zudem bedarf es einer großen Reife und Ausgeglichenheit, den Weg von der Unmittelbarkeit zu dem Augenblick zu gehen, an dem sich jetzt über jede Glaubensaussage und über jede Glaubenshandlung ein Schleier der Reflexion, auch die Notwendigkeit eines bewussten positiven Entscheidung zieht, an dem ich schließlich zugeben muss, dass im Prinzip auch andere Interpretationen möglich wären, ganz abgesehen von den zahllosen Irrtümern der Vergangenheit, mit denen ich mich auch auseinandersetzen muss. Kann ein solch fragiles Konstrukt noch als unbedingte und letztgültige Lebensorientierung taugen und wie verändert es die Glaubenden selbst? Ist ein aufgeklärter Glaube möglich und wie lässt er sich kennzeichnen?
10. Kontext- und Prozesscharakter der Vernunft
Im vergangenen Jahrhundert kam auch die vielgepriesene „Vernunft“ in Verruf. Sie ist weder die nüchterne oder unparteiische noch die objektiv wahrheitsfähige Kraft, die die Basis schaffen kann für eine wirklich demokratische, gerechte und gegenseitig wohlwollende Gemeinschaft. Faktisch hat auch sie sich in den Dienst von Macht gestellt, etwa des homo sapiens über die „wilde“ Natur, der „rationalen“ Männer über die „irrationalen“ Frauen, der „Weißen“ über die „Farbigen“. Absolute Fürsten haben mit ihrer Vernunft den Absolutismus begründet und die Militärs mit ihr eine durchgeplante Kriegsführung.
Dies ist kein Grund, die Vernunft zu diskriminieren, aber ihre Funktion ist behutsam einzuschätzen. Vernunft ist keine überzeitliche, statisch in sich ruhende Qualität, sondern – wie alle anderen menschlichen Fähigkeiten oder Tugenden – ein dynamischer Prozess, der von geschichtlichen und anderen Kontexten und Bedingungen abhängig ist und in ihnen reagieret. Ich definiere Vernunft als die Fähigkeit des Menschen, neue Wirklichkeiten (Tatbestände, Zusammenhänge, Erfahrungen) wahrzunehmen, sie mit anderen ins Gespräch zu bringen und darauf gesprächsfähige Folgerungen (Bedeutungen, Regeln, Prinzipien) zu ziehen. Die Leitmatrix der Vernunft ist der Dialog zwischen Gleichberechtigten und deren Fähigkeit zum Konsens. Vernunft lebt in höchstem Maße von ihrer Fähigkeit zu ständigen Reproduktionen und den täglichen, kaum merklichen Neujustierungen, die sich im konkreten Umgang mit der Wirklichkeit wahrnimmt. Ganz zu sich kommt sie dort, wo sie – über das Gewohnte hinaus – Ungewohntes erschließen, folgern, formulieren kann. Von dieser Grenzfähigkeit aus gesehen lässt sich Vernunft definieren als die Fähigkeit, Zukunft zu erschließen. Im wissenschaftlichen Diskurs geht es darum, neue Sachverhalte zu entdecken; im gesellschaftlichen Diskurs darum, neue Zusammenhänge (und deren Lösungen) herauszuarbeiten; im moralischen Diskurs darum, auf mögliches Unrecht aufmerksam zu machen und Wege zu neuer Gerechtigkeit und Gemeinschaft zu entwerfen.
Erst diese Klarstellungen zeigen, dass Vernunft nur das regeln und besprechen kann, was ihr zum Diskursobjekt wird. Sehend wird die Vernunft nicht aus sich heraus (das ist das große Missverständnis der neuzeitlichen Rationalitätsidee), sondern nur dann, wenn ihr Inhalte vorgelegt werden (Kant erklärt in seinem Diskursfeld, Kategorien ohne Inhalte seien leer; es gibt so etwas wie eine leere und damit blinde Vernunft, die nur noch sich selbst spiegelt. Das ist das große Missverständnis der „Göttin Vernunft“ während der Französischen Revolution). ++
11. Säkularisierung eine politische Kategorie
Aufklärung ist immer in politische Zusammenhäng verschränkt, meint primär aber eine hermeneutische Kategorie. Nach ihrem eigenen Selbstverständnis gibt sie der Vernunft den prinzipiellen Vorrang vor allen anderen, in der Regel konkurrierenden Instanzen der Wahrheit und der Erkennens. Sie stützt ihre Aussagen auf eine im allgemeinen Diskurs erhärtete Reflexion.
Dagegen sind die Säkularisierungsprozesse der vergangenen Jahrhunderte zwar eng in Aufklärungsprozesse verwoben, Säkularisierung mein primär aber eine politische bzw. soziologische Kategorie. Sie bezeichnet die Emanzipation von politischen, sozialen und kulturellen Verhältnissen aus explizit religiösen Verhältnissen.
Dabei wird immer klarer. Ähnlich wie es die Aufklärung an sich nicht geben kann, kann es die Säkularisierung an sich nicht geben, weil sich die Emanzipationsprozesse auf verschiedene Situationen beziehen können.
Allerdings wird sich die Rede von „der“ Aufklärung ähnlich halten, wie die Rede von „der“ Säkularisation. Denn beide erhielten in den vergangenen Jahrhunderten eine umfassende Bedeutung, unter der sich die vielen Einzelprozesse zusammenfassen ließen. Dafür gibt es zwei Gründe, die hier im Blick auf die Säkularisierung erklärt werden.
Erstens etablierten sich die Säkularisierungsprozesse in einer religiös bzw. kirchlich überdeterminierten Situation. Die Kirchen hatten sich zu Beginn der Neuzeit eine überdominante gesellschaftliche Definitionsmacht angeeignet und ließen neben sich keine andere religiöse oder weltanschauliche Macht zu. Lang wurden Kirchen- und Religionskritik mit Atheismus identifiziert. Im Blick auf diese „totalitäre“ Situation konnte man mit guten Gründen von der Säkularisierung an sich sprechen.
Zweitens nahm sich diese umfassend-revolutionärer Entwicklung der Säkularisierung die die Aufklärungsprozesse zu Hilfe nahm, die ihrerseits ebenfalls gegen eine umfassende Festungsmauer anrennen musste, die den ganzen Weltanschauungskomplex Religion wie eine Burgmauer umschlossen.
12. Differenzierungen bei wachsendem Erfolg
Je mehr Erfolge die Säkularisierungsprozesse verbuchen konnten, umso deutlicher hat sich gezeigt, wie differenziert der Prozess ist. Die ursprüngliche These, die für alle industrialisierten Länder eine globale, unumkehrbare Säkularisierung vorhersagte, gilt als widerlegt. Inzwischen haben sie drei differenzierende Aspekten herausgestellt:
(1) Nur gegen Institutionen gerichtet:
Genau besehen richten sich Säkularisierungs- und religionskritische Aufklärungsprozesse faktisch nie gegen den Glauben oder die Religion an sich, sondern gegen bestimmte Institutionen des Glaubens, die eine bestimmte Art von Glauben oder Religion propagieren und als alleingültig und unabänderlich präsentieren. Auffälligerweise hat die Säkularisierung ihre größten Erfolge in Ländern mit hochorganisierten und (ehemals) mächtigen Kirchen erzielt. In den USA hat sich eine kulturelle Säkularisierung nur schwach durchgesetzt, nachdem eine politische Säkularisierung (Trennung von Staat und Kirche) von vornherein akzeptiert und nicht als religionsfeindlich rezipiert wurde. Die Religionsneutralität des Staates kann die religiösen Überzeugungen ihrer Bürgerinnen schützen
(2) Nur gegen bestimmte Inhalte oder Forderungen gerichtet:
Säkularisierungsprozesse leugnen oder relativieren nicht umfassende Glaubenslehren oder –forderungen, sondern nur bestimmte Inhalte oder moralische Regeln. So beruft sich die amerikanische Verfassung trotz ihrer säkularisierten Zielsetzungen ausdrücklich auf die Schöpfung des Menschen durch Gott. Lange Zeit hat sie christliche Grundlagen ausdrücklich anerkannt. In Analogie zur kontextuellen Bedingtheit der Aufklärung lässt sich sagen: Nur diejenigen religiösen Überzeugungen fallen der Säkularisierung zum Opfer, die keine allgemeine Plausibilität mehr hinter sich scharen können.
(3) Nur gegen bestimmte Inhalte oder Forderungen gerichtet:
Faktisch hat eine säkularisierte Gesellschaft nicht eine religionsfreie Gesellschaft zum Ziel, sondern die Freiheit von der Beherrschung durch Überzeugungen, Verhaltensweisen und Strukturen, die nicht mehr allgemein nachvollziehbar sind, also nicht mehr als „vernünftig“ gelten. Deshalb plädieren Charles Taylor und Jürgen Habermas dafür, dass sich auch religiöse Gruppen am politischen Prozess beteiligen. Ihnen wird durchaus die Fähigkeit zugestanden, dass sie bestimmte Inhalte besser oder angemessener formulieren und zu Geltung bringen können als nicht-religiöse Gruppen. Aber sie müssen diese Inhalte so formulieren, dass diese Inhalte für alle, die am Diskurs teilnehmen, verstehbar sind.
13 Aufklärung und Säkularisierung als hermeneutischer und politischer Grenzfall
Die These vom Glücksfall darf nicht undialektisch und ohne hermeneutische Vermittlung mit dem Gesamtzusammenhang verstanden werden. Diesem Ziel gelten drei Einsichten:
(1) Ein unerhörtes Paradigma von Religion
Gleichwohl bedeuten Aufklärung und Säkularisierung ein Paradigma des Umgangs mit Religion, das in seiner Art einzigartig ist. Zudem hat es angesichts der Vielzahl von Weltanschauungen und Religionen eine bislang unbekannte Dringlichkeit erreicht. Im Prinzip stehen – soweit für uns erkennbar – alle bisherigen Formen von Glauben und Religion zur Disposition. Daraus erklärt sich, dass dieses neue Paradogma der Religionskritik und Religionsreform massive Wiederstände hervorruft.
(2) Aufklärung und Religion können religiös motiviert sein
Aufklärung und Säkularisierungsprozesse haben Glauben und Religion im westlichen Kulturkreis tiefgreifend beeinflusst und in der katholischen Kirche eine tiefgreifende Spaltung verursacht, die nach dem 2. Vatikanischen Konzil zu dramatischen Polarisierungen führte. Die Polarisierungen haben sich während der Amtszeiten von Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. verhärtet, aber zugleich gezeigt, dass die geforderte Deckungsgleichheit von christlichem Glauben und Katholischer Kirche nicht zu halten ist.
Man kann den Kern der Polarisierung auf die Frage reduzieren: Können Glaube und Religion die konkreten Forderungen von Aufklärung und Säkularisierung als legitime Forderungen akzeptieren und zu ihrem Glücksfall machen? Unbestreitbar ist, dass diese „Glücksfall“ schmerzhafte Prozesse der Entlarvung in Gang setzte und immer wieder setzt. Ebenso wenig lässt sich bestreiten, dass viele Aufklärungs- und Säkularisierungsprozesse zutiefst religiöse Anliegen zur Geltung brachten, auch wenn sie oft nicht als religiöse erkannt wurden. Zu nennen sind nur die großen Ideale der Einheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit, der Menschenwürde, der Vernunftautonomie, des Kampfes für eine gewaltfreie und sozial versöhnte Zukunft, sondern auch die neuen global politischen Zusammenhänge, die diesen Idealen eine große Dringlichkeit verleihen.
(3) Es gibt nur vorläufige Grenzen von Religion
Wer als religiöser Mensch Aufklärung und Säkularisierung als religionskritische Erscheinungen akzeptiert, unterwirft die eigene Religion – einer formalen Ordnungslogik zufolge – nicht-religiösen Normen. Nach einem traditionell westlichen Verständnis von Glauben und Religion widersprechen diese religiösen Grundsätzen. Diesen scheinbar unversöhnlichen Widerspruch hat die traditionelle Religionskritik des 19. Und des 20. Jahrhunderts durchexerziert und viele Gläubige verstehen die klassische Religionskritik noch immer als einen Versuch, Religion zu widerlegen oder zu zerstören. Diese traditionelle Mentalität kommt in der Religionskritik etwa von Clinton Richard Dawkins oder Christopher Hitchens erneut zum Tragen. Doch ihre längst überholten Voraussetzungen sind leicht zu durchschauen.
Allerdings ist eine generelle Voraussetzung dieser traditionellen Religionskritik bislang noch nicht aufgearbeitet. Die Voraussetzung lautet: Religion und Glaube hören dort auf, wo sie sich selbst ihre doktrinalen, gesellschaftlichen und institutionellen Grenzen setzen. Diese These bedarf der Ergänzung. Denn genau genommen verstehen sich Religion und Kultur als Annäherung an eine letzte Instanz oder ein letztes Geheimnis der Welt, das sich nie objektivieren lässt. In dieser Tiefenschicht, die aller religiösen Dynamik und allen religiösen Äußerungen zugrundeliegt, werden Glaube und Religionen gerade nicht durch ihre Doktrinen und Institutionen definiert. Deshalb sorgen Doktrinen und Institutionen in kulturell stabilen Zeiten zwar für sinnvolle und praktikable Grenznäherungen; sie haben einen lebenspraktischen Sinn und eine ordnende Funktion. Doch in Zeiten kulturellen Umbruchs können sich die sichtbaren Grenzen von Glaube und Religion in dramatischer Weise auflösen und verlagern. Das Geheimnis der Welt lässt sich immer nur begingt, nämlich in Relation zu (neuen) Weltanschauungen und Weltinterpretationen erkennbar machen.
In diesem Sinn kann eine Religionskritik, die aus ihrer Außenperspektive dazu antritt, eine Religion in ihre Grenzen zu weisen, zu deren Grenzverlegung beschleunigen. Aus Gründen ihrer eigenen Wahrhaftigkeit tun Religion und Glaube gut daran, die gängigen Grenzabsprachen auf der Ebene von Doktrinen, Institutionen und gesellschaftlichem Absprachen zu überprüfen. Das ist kein einliniger, sondern ein vielschichtiger und oft umstrittener Prozess.
(4) Bedeutungsverluste und Bedeutungsverlagerung
Dies gilt insbesondere für den politischen Bedeutungsverlust, den das westliche Christentum seit zwei Jahrhunderten erleidet und der – wie es scheint – ein einen gesellschaftlich kulturellen Bedeutungsverlust übergeht. Nach allem, was wir heute wissen, führt diese dramatische Einbuße, die Glaube und Religion nach gängigen Maßstäben erleiden, zu einer tiefgreifenden Klärung der eigenen Identität, die langfristig zu einer unabsehbaren Bedeutungsverlagerung führt. Maßstäbe, die seit Beginn der Aufklärung – mit wachsender Dringlichkeit und scheinbar von außen – an Glaube und Religion herangetragen wurden, erweisen sich langfristig als Werte, die zuinnerst kompatibel sind mit einer Religion, die diese seit Jahrhunderten bekämpfte.
14. Säkularisierung als Glücksfall für Religionen
Die genannten Voraussetzungen schließen natürlich nicht aus, dass Aufklärung und Säkularisierung innerhalb und außerhalb der Kirchen oft als ideologische Schlagworte benutzt werden. Unabhängig von inhaltlichen, normativen oder strukturellen Differenzierungen werden sie dann als verselbständigter Kampfruf gegen Religionen, Kirchen oder religiöse Überzeugungen nur deshalb eingesetzt werden, weil sie religiös sind. Im Gegenzug werden sie kompromisslos diskriminiert oder abgelehnt, weil man sie auch innerhalb des Glaubens als Feinde von Glaube und Religion wahrnimmt. Diese gedankenlose Verselbständigung ist im öffentlichen Diskurs gang und gäbe.
Es gehört es, richtig verstanden, zum Selbstanspruch von Aufklärung und konkreter Säkularisierung, dass sie ihren Prozesscharakter sehen und ihr Kritik nach außen mit kritischer Selbstaufklärung betreiben, also die Objekte ihrer möglichen Kritik und sich selbst nach den Maßstäben von Denken, Kommunizierbarkeit und Kommunikation begreifen. Wer mit Aufklärung und Säkularisierung also differenziert umgeht und sie immer neu an ihrem wirklichen Aufklärungspotential justiert, kann in ihnen für Glauben und Religion einen Glücksfall erkennen.
Das setzt allerdings auch von Glaube und Religion eine vergleichbare Grundhaltung voraus: Auch sie müssen aus der Erwartung leben, dass sich ihre Inhalte und Forderungen repressionsfrei kommunizieren lassen und dass sie auf überzeugende Weise in den gesellschaftlichen Diskurs eingebracht werden können. Sobald sich Glaube und Religion also mit den Forderungen von Aufklärung und einer säkularisierten Öffentlichkeit einverstanden erklären, unterstellen sie sich der Norm der Vernunft, d.h. der Einsehbarkeit, der Besprechbarkeit und einer unbeschränkten Kommunikation. Die Forderungen nach einem sich unterordnenden Glaubensgehorsam sind ebenso tabu wie irgendwelche Zwangs- und Sanktionsmaßnahmen gegen Andersdenkende.
15. Eine innerchristliche Bestätigung der säkularen Erwartungen
Aus den genannten Zusammenhängen zeigt sich: Die Außenkonfrontation von Religion und religionskritischer Säkularisierung muss zu einer kritischen Konfrontation des christlichen Glaubens mit sich selbst führen. In der Tat wurde und wird diese Selbstkonfrontation in den Kommunikationsräumen der katholischen Kirche wie der evangelischen Kirchengeführt. eführt. Dies zeigte sich, global gesprochen, im Erstarken von geschichtlicher Re- und hermeneutischer De-Konstruktion, in einer kritischen Aufarbeitung der eigenen Macht- und Schuldgeschichte, seit einigen Jahrzehnten auch in der intensiveren Beschäftigung mit anderen Religionen. Dabei seien einige Ergebnisse herausgegriffen, die zu einer grundlegenden Neuorientierung von Glaube und Religion geführt haben. Ich unterscheide zwischen ontologischen Umschichtungen, geschichtlichen Neuentdeckungen und handlungsorientierten Konstellationen.
(1) Ontologische Umschichtungen
Es hat sich herausgestellt, dass das metaphysische Gefüge der klassischen Glaubenslehre einer historisch gewordenen Glaubensform zuzuordnen ist, nicht dem konstitutiven Glaubensinhalt. Das betrifft das Gottesbild und dessen Verhältnis zur Welt, die Vorstellungen von Erlösung und Heil, aber auch den exklusiven Heil- und Wahrheitsanspruch der Kirche. Hochsignifikant für diese Umschichtung ist die Frage, ob und wie Gott in der Welt und im Menschen handelt. Dabei hat sich u.a. gezeigt, dass das metaphysische Bild von Gott und Erlösung christlichen bzw. kirchlichen Machtinteressen in hohem Maße diente. Diese Umschichtung hat auch ihre Auswirkungen auf die Frage nach der „Göttlichkeit“ Jesu, in der sich sein 1700 Jahren der göttliche Anspruch der Kirche(n) spiegelte. Diese Auseinandersetzung lässt sich spiegeln
– in den Stichworten von Hellenisierung und Enthellenisierung,
– in der Neuentdeckung von Sprache und sprachlichem Handeln,
– in einem neuen Zugang zu anthropologischen Wissenssystemen.
(2) Geschichtliche Neuentdeckungen
Parallel zum Abschied von der Metaphysik begann die Neuentdeckung der Geschichte, die ihrerseits zu einem Kosmos von geschichtlichen Neuentdeckungen führte. Es zeigte sich, dass die meisten Religionen (insbesondere die biblischen Religionen) von einem narrativen Kern, einem Gründungsgeschehen herkommen. Diese Struktur schießt von vornherein ein: Eine jede „Glaubenswahrheit“ bedarf der jeweiligen Nacherzählung, d.h. Auslegung. Damit sind dogmatische Aussagen von vornherein relativiert. Zu den umwälzenden geschichtlichen Neuentdeckungen gehören
– ein grundlegend erneuertes Verständnis von sämtlichen kanonischen Texten in ihrer jeweiligen Vielfalt, geschichtlichen Einbettung und Eigendynamik. Die Frage nach der Gesamtbedeutung der Bibel (jüdisch oder christlich verstanden) erhält dadurch eine neue, hermeneutisch vielschichtige Qualität;
– ein von Grund auf erneuertes Bild von Jesus von Nazareth („historischer Jesus“ genannt), die vor allem die Zuordnung von Göttlichkeit und Menschlichkeit neu ordnet. Die Folgen dieses Umbruchs sind kaum zu überschätzen
– eine kritische Rekonstruktion der Geschichte von Kirche und Theologie mit alle einen relativierenden Folgerungen.
(3) Handlungsorientierte Konstellationen
Mit handlungsorientierten Konstellationen meine ich die Konstellationen, in denen das christliche Selbstverständnis und gesellschaftlicher Handlungsdruck aufeinander prallen. Solange sich die bekennenden Christinnen und Christen nicht als Eremiten aus der Welt zurückziehen, können sie sich dieser Grundkonstellation von christlichem Wahrheitsverständnis und weltoffener Kommunikation nicht entziehen.
Deshalb ist an ein herausragendes Motiv der Aufklärung und späterer Säkularisierungsprozesse zu erinnern. Es waren die Ausbrüche von Gewalt, Krieg und Zerstörung, die Europa aus religiösen Gründen in den Ruin getrieben haben (vgl. 7,3). Es waren deshalb Ideale wie
– Einheit (gegenseitiges Verstehen und Friedensbereitschaft),
– Gleichheit (Gerechtigkeit, Solidarität und machtfreier Ausgleich der Interessen) und
– Geschwisterlichkeit (gegenseitiger Respekt, gewaltfreie Kommunikation, demokratische Strukturierung der Gesellschaft),
die als religionskritische und säkulare Orientierungen erstarkten und allmählich die unheiligen Wirkungen der religiösen Mächte bändigten.
Die Wirkungen dieser säkularen Ideale waren so nachhaltig, dass sie sich als eigenständige Ideale verselbständigt haben, nicht nur religionskritisch wirkten, sondern auch als säkulare Wert galten. Bei wachsender Komplexität der westlichen Gesellschaft haben sie sich weiterentwickelt. Zu nennen sind Stichworte wie Autonomie und unverletzliche Würde der menschlichen Person, Gewaltlosigkeit, Gleichberechtigung von Frauen, Inklusion auch der Schwachen, Kranken und Anderen. Hinzu kommt die Bewahrung der Schöpfung mit alle ihren Konsequenzen. Diese Ideale lassen sich heute unter dem Stichwort der Humanität, der Menschlichkeit zusammenfassen. Wir leben in einer Kultur von dominierenden säkularen Werten.
(4) Religiöse Re-integration säkularer Werte
Diese Situation der Dominanz säkularer Werte zwingt viele engagierte Christinnen in eine schizophrene Situation. Sie möchten Christinnen sein, werden aber von säkularen ethischen Werten überrollt. So suchen sie krampfhaft nach spezifisch und ausschließlich christlichen Werten. Dies führt – in blinder Nostalgie – zu fundamentalistischen Reaktionen.
Eine spiegelbildlich vergleichbare Reaktion ist bisweilen bei reformorientierten Christinnen zu finden, die das kirchliche Establishment ohne jede innerkirchliche oder theologische Argumentation mit säkularen Werten konfrontieren. Dabei wird übersehen, dass säkulare Argumentationen für Kirchenführer kaum Überzeugungskraft besitzen.
Deshalb gehört es zur Hauptaufgabe vom christlichen Glauben überzeugter reformorientierter Kräfte, nachdrücklich an der Re-integration der genannten säkularen Werte zu arbeiten. Es gilt, die religiösen Kontexte der säkularen Werte neu zu erarbeiten. Ziel dieser Arbeit sollte nicht eine Art Rückeroberung im Sinne des Ausrufs sein: „Seht ihr, ihr Säkularen, im Grunde seid ihr doch christlich!“ Ziel muss eine neue, auch religiöse motivierte Solidarisierung mit der Welt, den Menschen und ihren Fragen sein:“Seht ihr, ihr Frommen, eure Frömmigkeit kann sich nur als Weltsolidarität legitimieren!“
(5) Gottes- und Nächstenliebe
Angesichts der religions- und geistesgeschichtlich hochkomplexen Zusammenhänge lässt sich die Grundtendenz einer sachbezogenen Aufklärungs- und Säkularisierungsdynamik auf verblüffend einfache Weise zusammenfassen: Gemäß christlicher Tradition gehören Gottes- und Nächstenliebe zusammen. In der Regel wurde diese Doppelung zugunsten eines überlegenen Gottes aufgelöst: Die Menschenliebe erfüllt ihre Erfüllung erst, wenn sie von der Gottesliebe integriert, sozusagen überboten wird. Angesichts einer säkularen Kultur kehrt sich die Dynamik um: Die Gottesliebe erweist sich nur darin, dass wie die Mitmenschen, selbst die Feinde lieben. Dies führt zu einer grundsätzlichen Überlegung, aus der Konsequenzen zu ziehen sind.
16. Überwindung des interventionistischen Gottesbildes
(1) Eine zweite Achsenzeit
In der westlichen Tradition haben sich das christliche Glaubens-, Religions-, Heils-, Kirchen- und Wahrheitsverständnis mit hoher Intensität um ein metaphysisch interventionistisches Gottesbild organisiert. Gott, ein überzeitliches und im strengen Sinn außerirdisches Wesen, verhält sich gegenüber der von ihm geschaffenen Welt wie eine allmächtiges, allgegenwärtige und allwissende Person, die zwar als menschenfreundlich gilt, aber die Gerechtigkeit gemäß seinen Anordnungen als Lohn und Strafe ordnet. Sowohl die gesellschaftspolitischen, als auch die späteren natur- und humanwissenschaftlichen Widerstände gegen die christliche Tradition haben diese Gottesbild immer nachhaltiger de-legitimiert. Wer aber den Geheimnischarakter dessen, was wir als Gott verehren, ernstnimmt, kann an diesem interventionistischen Gottesbild nicht festhalten. Wer an ihm festhält, kann den Bewusstseinstand der Moderne mit ihrem philosophischen und wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht ernst nehmen.
Binnentheologisch betrachtet ist die die größte Herausforderung, vor die der christliche Glaube in einer säkularisierten Kultur gestellt wird. Vermutlich sind sich viele reformorientierte Christinnen der weitgehenden Konsequenzen dieses epochalen, kulturellen und zugleich innerreligiösen Umbruchs noch nicht bewusst. Für mein Verständnis ist ein Paradigmenwechsel dieses Ausmaßes seit der Achsenzeit noch nie dagewesen. Das westliche Christentum steht an der Spitze einer zweiten Achsenzeit. Sie ist die Folge der Grundentscheidung die die Aufklärung schrittweise eingeleitet hat, dass nämlich grundsätzlich alle Wahrnehmungen, Überzeugungen und ethischen Wertesetzungen, also auch die religiösen Setzungen, einer verantwortlichen, kommunikativ offenen Reflexion zu übergeben sind.
(2) Durch Menschenwort und Menschentat vermittelt
Gibt es also keinen religiösen Fixpunkt mehr, der einen festen und indiskutablen Halt bietet? Wir müssen uns in der Tat darauf einlassen. Alles, was wir in religiös-symbolischer Sprache vorbehaltlos als Gottes Handeln, Gottes Wort oder Gottes Willen benennen oder als Christinnen bekennen, ist durch irdisches Geschehen, bzw. geschichtlich durch menschliches Wort und durch menschliches Handeln und durch menschliche Erfahrung vermittelt. Es ist nie ohne Vermittlung, Interpretation, neues Verstehen und Erproben zu haben. Das gilt ausnahmslos für alle Glaubenssätze, normative Handlungen, prophetische Zumutungen und ethische Anweisungen.
Diese Abgrenzung klingt sehr negativ und verunsichernd im Sinne von Ernst Troeltsch: „Es wackelt alles!“ Deshalb füge ist die positive Kehrseite hinzu: Wenn sich eine religiöse Überzeugung unter diesen Bedingungen, also in menschlicher Erfahrung und in gemeinsamer öffentlicher Lebenspraxis, auch wirklich erprobt hat, ist sie in der Wirklichkeit unbestreitbar verankert. Ihre Anwendung bleibt flexibel und für Neuformulierungen offen. Musterbeispiele sind die Regeln des Respekts von Mitmenschen, vor Leben und der vorgegebenen Natur, die Gebote der Nächstenliebe und die Goldene Regel. Als Musterbeispiel können auch gelten die vorbehaltlose Hochschätzung der jesuanischen Lebenspraxis und die Ehrfurcht vor einem letzten Geheimnis von Menschen und Welt.
(3) Neuer Blick auf Ursprung und Zentrum
Durch den Zwang zu einer grundsätzlichen (geschichtlichen und hermeneutischen) Rekonstruktion von konkreten Glaubensformen und Religionen wurde ein neuer offener Blick auf die Religionen möglich. Zum Beispiel eröffnet Hans Küng seine Analyse der drei monotheistischen Religionen jeweils mit
(a) einem (historisch berichtenden) Blick auf den Ursprung einer Religion,
(b) einem (hermeneutisch reduzierenden) Blick auf das Zentrum einer Religion.
An diesem Doppelkriterium kann die jeweils spätere Entwicklung einer Religion gemessen und beurteilt werden. Diese spätere Entwicklung wird dann auf die jeweiligen Kulturen in ihrem Wendel bezogen durch
(c) die Analyse der Paradigmen, die eine Religion durchläuft.
Angesichts der (möglichen und notwendigen) Inkulturation der christlichen Religionen in anderen Kontinenten und Volkskulturen legt sich ein zukunftsbezogenes Projekt zur
(d) Analyse der Inkulturation der christlichen Religion in andere Kulturen nahe.
(e) Zu betonen ist, dass Küng alle diese Analysen vom Standpunkt einer aufgeklärten und säkularisierungsoffenen Reflexion vollzieht. Dieser Standpunkt kommt in seinen Kernpunkten mit seinem Verständnis von Jesu Botschaft und Lebenspraxis überein.
Mit der Kombination dieser Ansätze ist der Weg zu Blick auf ein universalisierbares Verständnis von Christentum gegeben.
(4) Religion, weltlich und human
Wenn religiöses und säkulares Denken in nahezu perfekter Weise einander begegnen, wenn die Säkularisierung als die große Konkurrentin einer religiösen Weltgestalterin Religionen wieder zu ihren eigenen Aufgaben bringen kann, muss es zwischen Religion und säkularer Weltlichkeit einen Punkt paradoxer Identifikation geben. Es stellt sich die Frage, wie weltlich Religionen überhaupt sind. Ich beschränke mich auf drei Hinweise, die die Zusammengehörigkeit von Kirche und Welt illustrieren können:
– Wie von einem Eisberg über dem Wasser nur ein Zehntel sichtbar ist, so lebt eine jede Religion und Religiosität lebt von zahllosen vorreligiösen Lebensbedingungen und –strukturen (Gebräuche, Ritualisierungen, Verbindlichkeiten, ethischen Regeln), die eine Religion erst ermöglichen. Eine klare Unterscheidung zwischen einer Religion und einer vorangehenden impliziten Religiosität ist unmöglich. Die reine Religion gibt es ebenso wenig wie die reine religiöse Wahrheit.
– Eine jede Religion ist ursprünglich in eine bestimmte Kultur eingebettet und beide sind nur im gegenseitigen Zusammenhang zu verstehen. Nur eine Religion die Jahrhunderte oder noch länger in der selbstverständlichen Symbiose mit einer bestimmten Kultur lebt (Stichwort Abendland) und diese Kultur weltanschaulich definiert, kann dies verdrängen. Diese Verdrängung kann zu einem selbstmörderischen Absolutismus führen. Lange Zeit war das im westlichen Christentum der Fall.
– Die nahezu perfekte Illustration für die Ursprungs- und Zielidentität von Weltlichkeit und Religiosität ist die Goldene Regel. Sie ist nicht nur in allen Weltreligionen zu finden, sondern bilde in ihnen auch eine gleichzeitig religiösen und „weltlichen Kern. Religiöse Bezüge fallen aus der Formulierung heraus, weil sie in großer Unmittelbarkeit zwischenmenschliche Verhältnisse ansprechen. Ähnliches zeigt sich auch in der Kernaussage des Projekts Weltethos, das aus den Weltreligionen vier Grundweisungen herausdestilliert und damit ein durch und durch weltliches Projekt formuliert.
Daraus lässt sich die Grundregel von Religion unter den Bedingungen der Säkularität ableiten. Sie lautet: Je intensiver eine Religion auf Welt und Mensch bezogen ist und je solidarischer sie sich zu den Fragen von Welt und Menschheit verhält, umso präsenter kann sie in unseren Kulturen agieren.
17. Europa, religiöses Experimentierfeld für die Welt?
Aus den hier erläuterten Gründen können die Säkularisierung der westlichen Kultur und deren Akzeptanz durch die christliche Religion – wie gesagt – als Glücksfall betrachtet werden. Denn ihre aktuelle Situation und ihre – wie beschrieben – kreative Reaktion haben Signalcharakter für Glauben und Religion auf anderen Kontinenten, in anderen Kulturkreisen und Ländern. Der Existenz- und ständigen Rechtfertigungsdruck, dem die europäische Kirche ausgesetzt ist, zwingt sie zur Selbstentäußerung. Alle Schutzhüllen stehen auf dem Prüfstand und werden gegebenenfalls entfernt.
Die positiven Folgen dieses schmerzlichen Prozesses sind unbezahlbar. Ich nenne drei Punkte:
(1) Universalisierbarkeit für die Weltkirche
Der positive Umgang der europäischen Kirchen mit Aufklärung und Säkularisierung hat zu einem doppelten Universalisierungseffekt geführt.
– er setzt das christliche Glaubensverständnis prinzipiell von heteronomen (ethischen, kulturellen anthropologischen), macht- und angstbedingten Vorgaben frei; „der Sabbat ist für den Menschen da“. Dadurch kann ein jeder Mensch unter allen Bedingungen die Glaubensform finden, in der er zu sich kommen kann. Es wird eine Universalisierbarkeit hergestellt, die zwar allen Weltreligionen als Ideal gilt, aber meistens zu universalen Zwängen geführt hat. Aus religiöser Sicht kann die Befreiung von solchen Zwängen als das heilsame Ziel aller Säkularisierungsprozesse begriffen werden.
– dadurch erhält das in diesem Sinn säkularisierte Religions- und Glaubensverständnis für die Weltkirche als ganze einen verpflichtenden Vorbildcharakter. Dies gilt insbesondere für die universale Kirchenleitung. Sie muss Räume offenhalten für Prozesse des Kulturwandels für neue Inkulturationen und Paradigmen einerseits und für die Bedürfnisse eines autonom rezipierten Christsein, also Garantin christlicher Freiheit sein. Ein säkularisiertes Glaubensverständnis macht damit ernst, dass Gott, streng genommen, das Geheimnis der Welt ist, dass Gottes Wahrheit und Wille immer durch Menschen zu vermitteln und zu lebensfähigen Formen umzubilden ist.
(2) Signalcharakter für andere Länder und Kulturen
Die Akzeptanz eines aufgeklärten und säkularisierten Christsein hat Signalcharakter für andere Länder und Kulturen. Denn bei wachsender Globalisierung und internationaler Vernetzung steigt die Wahrscheinlichkeit für ein aufgeklärtes, wissenschaftsorientiertes und säkularisierten Denken. Sie hat zugleich Signalcharakter für die Inkulturation des Christentums in Kulturen, die primär von anderen Religionen geprägt sind. In dieser Situation wird der von Paulus vorangetriebene Hellenisierungsprozess der frühen Kirche vorbildhaft.
(3) Offenheit für Neugestaltungen
Schließlich sollten sich die europäischen Kirchen davor hüten, den aktuellen Stand ihrer Säkularisierung als idealen Normzustand zu begreifen. Es sind nicht die aktuellen Zusammenhänge, sondern die entwickelten Zielvorstellungen, die normgebenden Charakter haben und noch lange nicht erfüllt sind.
Alternativer Zugang zur Thematik
1. Was ist im Westen mit dem christlichen Glaube passiert?
1.1 Hellenisierung des Christentum – Verlust der biblischen Tradition.
Faktisch ist der biblische Glaube in eine religionskritische Kulturvariante eingetreten. Entscheidende ist nicht die Hellenisierung als eine bestimmte Kulturform, sondern die Hellenisierung als in eine religinsdistanzierte Denkart. Das bedeutete zugleich: Verlust der biblischen Tradition.
1.2 Sakralisierung des Christentums – Rationalität als Mentalitäts-Ersatz
Faktisch ist das eine komplementäre Reaktion. Sie hat von Anfang an eine ausgleichende und eine ergänzende Funktion. Die Sakralität des westlichen Christentums wendet sich automatisch der hellenistischen Rationalität als einer Art von religiösem Mentalitäts-Ersatz zu. Die zentralsten Glaubensgeheimnisse (Christologie, Trinität, Erlösungstheorie) sind Produkte der spekulativen Konstruktion, nicht der existentiellen Intuition.
1.3 Verjenseitigung des Christentums – Säkularisierung als deren verborgener Kern
Die metaphysische Verjenseitigung des christlichen Glaubens ist eine Art negativer Religionsersatz. Man entzieht das Göttliche diese Welt um es vor Verweltlichung zu schützen. Das ist nicht mehr der Weg spontan ursprünglicher Religionen, deren Religiosität aus einer bestimmten Welterfahrung herauswächst. Diese Entwicklung kann als Folge, als verborgener Kern des Machtanspruchs eines hellenistischen Glaubens verstanden werden. In Wirklichkeit fehlt das Göttliche. Es wird nur noch als das Negative bestimmt.
1.4 Aufklärung – Gewinnung einer entmachtenden Distanz
Die Aufklärung kann als die rationale Reaktion zur Abwehr inhumaner und zerstörerischer Unfreiheit betrachtet werden. Vor jeden Wahrheits-, Macht- und Religionsanspruch wird ein Filter kritischen (erhellenden, erleuchtenden) Denkens gestellt. Dadurch schafft man eine gesellschaftlich, politisch, sozial wirksame Distanz. Sie schafft ein entspannendes Verhältnis zwischen Gegenwart und Tradition, zwischen Eifer und Gelassenheit, zwischen Mission und Toleranz.
II. Worin besteht die fundamentale Krise des Christentum?
2.1 Diskrepanz von Erwartung und Angebot
a) Die suchenden Menschen erhalten kein Angebot, sondern eine absolute Verpflichtung, über die im Grunde nicht mehr zu diskutieren ist. Man begegnet ihnen nicht in Augenhöhe, sondern fordert sie zur Unterordnung auf. Sie müssen ihre eigene Würde abgeben, statt sie einbringen zu dürfen.
b) Die Menschen wollen verstehen. Stattdessen setzt man ihnen ein Glaubensgebäude aus vergangenen Zeiten vor.
c) Die Zustimmung zum Glauben wird von der Kirche nicht als freie Akzeptanz verstanden, sondern als Ja zu etwas, das ohnehin geschuldet ist. Die Kirche weiß die Reaktionen der Bevölkerung nicht mehr zu deuten.
d) Die Kirche selbst ist zutiefst gespalten, weil sie die Funktion der Medien nicht (mehr) versteht.
2.2 Diskrepanz zwischen verschiedenen Zugängen zum Glauben
a) Wird der Glaube als ein statisches Produkt oder als ein dynamischer Prozess verstanden? (Institution oder Ereignis?) [vgl. Mark Lilla, der totgeglaubte Gott]
b) Ist er Glaube eine zeitlose Wahrheit oder in der Zeit selbst zu Hause?
c) Ziel oder Weg? Bedeutung der Geschichte
2.3 Diskrepanz zwischen autonomem Subjekt und objektiver Einbettung
a) Freiheit oder Zwang
b) Wahrheit oder Entfremdung
c) Säkularität oder Transzendenz?
III. Was unterscheidet Europa von anderen Kulturkreisen?
3.1 Post-religiöse Situation, die der Religion prinzipiell mit intellektueller Skepsis begegnet
3.2 Distanz zur Macht, die sich auch religiösen Machphänomenen instinktiv entzieht
3.3 Symbolisierung der Wahrheit, für die das Wahre prinzipiell vermittelt ist
IV. Was haben wir zu bieten?
4.1 Historische Reflexion – als Bescheidenheit
4.2 Religiöse Analyse – als Gesprächsfähigkeit
4.3 Befreiung von bestimmtem Paradigma – als Toleranz
Exkurs:
Gedanken von Charles Taylor zu Religion, Freiheit, Toleranz
Charles Taylor unterscheidet zwischen
1. Eingebettete Religion:
Das ist die ungestörte, gewachsene Religion, die in Osmose mit „ihrer“ Kultur lebt (Beispiel: „christliches Abendland“)
2. Religion als Marker:
Hier wird die Religion auf bestimmte (politische, soziale, ethnische) Ziele verengt. Sie setzt entsprechende Zersplitterungen voraus und schafft solche Zersplitterungen. Die Tragik ist, dass jede Religion, die als Marker funktioniert, ihren genuigen Sinn nicht mehr erfüllt.
- Religion der Seekers (Suchenden):
Bei ihnen spielt die „Einbettung“ keine Rolle mehr. Religion funktioniert zunächst als persönlich-individuelle Antwort auf Sinnfragen.
- Religion des Integrismus (zurück zur Einbettung)
Integrismus will die Angehörigen einer Religion despotisch zur 1. Form (= Einbettung) zurückzwingen. Heute haben wir es (oft) mit einem aufgeklärten Despotismus zu tun.
5. Die ungeklärte Frage: wie kann eine Religion ohne ‚Einbettung‘ communio stiften?
Der aufgeklärte und wissenschaftlich orientierte Westen zwingt uns dazu, Verhaltensregeln und Weltinterpretationen konsequent empirisch an der Wirklichkeit zu spiegeln. Charles Taylor spricht von einer „prinzipiengeleiteten Distanz“ zwischen Kirche und Staat. Die drei (immer noch aktuellen) Prinzipien sind Religionsfreiheit, Relgionsgleichheit und Brüderlichkeit/Geschwisterlichkeit (liberté, égalité, fraternité). Es geht beim zeitgenössischen Säkularismus („laïcité“) ursprünglich nicht um das Verhältnis von Staat und Religion, sondern um die Wahrung der Vielfalt. Bei Konkurrenzen ist (wie unter Brüdern) eine jede Bevorzugung zu vermeiden. Aber unbestrittene gemeinsame Überzeugungen (auch wenn sie religiös sind) müssen nicht verbannt werden.
Müssen Religionen in säkularen Staaten eine Rolle mehr spielen? Das folgt aus den Grundansätzen der Aufklärung gerade nicht. Inhaltlich geht es um Menschenrechte, Gleichheit und Freiheit vor Diskriminierung, um Demokratie. Wir sind heute zu einem überlappenden Konsens verurteilt. Gemeint ist die Überlappung zwischen religiösen und nicht-religiösen Begründungen. Es gilt, die Grundziele umso eindeutiger wahrzunehmen.
Drei abschließende Thesen:
- Die europäischen Kirchen sind einem unerbittlichen Aufklärungs- und Säkularisierungsdruck ausgesetzt. Das ist gut so.
Für die innerkirchliche Erneuerung und Zukunftsgestaltung ist dies keine Katastrophe, sondern ein Glücksfall, denn dieser Druck zwingt die Kirchen zur Klarstellung ihrer eigenen Identität und Lebenspraxis, der sie jahrhundertelang ausgewichen sind. Nach gegenwärtigem Kenntnisstand haben die Kirchen das Zentrum der christlichen Botschaft verfremdet und diese Verfremdung durch kirchliche Wahrheitsansprüche legitimiert.
Orientierende Signalpunkte sind: Innerkirchliche Reformbewegungen seit 50 Jahren, theologische und kirchenpraktische Polarisierungen, Universalisierung des innerkirchlichen Dialogs durch kontextuelle und emanzipatorische Bewegungen.
- Aufklärung und Säkularisierung waren und sind Protestformen gegen das real existierende Christentum um eines besseren Christentums willen.
Der Protest wehrt sich gegen die Verquickungen des Glaubens mit einer höheren Macht, einer besseren Wahrheit, einer unbedingten Heilsgarantie und einem intervenierenden, also heteronomen Gott. Dieser Protest findet eine Bestätigung in der christlichen Kernbotschaft, soweit sie sich historisch eruieren und hermeneutisch aktualisieren lässt.
Orientierende Signalpunkte sind: Neuentdeckung des historischen Jesus und der urchristlichen Gemeinde, Neubelebung einer prophetischen und gesellschaftskritischen Glaubenspraxis, Entdeckung und christliche Begründung der Menschenrechte; Umwälzungen im Gottesbild und Entwicklung eines solidarisch interreligiösen Dialogs.
- Die europäischen Kirchen müssen sich entscheiden zwischen einem exklusiven, von Angst geprägten Fundamentalismus und einer Spiritualität der leidenschaftlichen Welt- und Menschenliebe.
Diese Alternative berührt den Kern einer authentischen, freien und zugleich solidarischen christlichen Lebenspraxis. Die Leidenschaft für Geschwisterlichkeit und Kommunikation wird zum Modell für Entscheidungssituationen, in die das Christentum weltweit eintreten wird.
Orientierende Signalpunkte sind: Neudefinition von Sakralität und Amt, neue Formen kirchlicher Gemeinschaft, kirchliche und gesellschaftliche Stellung der Frauen, Transparenz und Partizipation in Kirche und Gesellschaft, kategorische Geltung von Gewaltverzicht, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gegenseitiger Treue, Option für die Armen als eine reflektierte Kategorie.
26.05.2014