Der Sendungsbefehl Jesu „Geht zu allen Völkern“ formuliert keinen universalen Machtanspruch, sondern die Überzeugung, dass Liebe von universaler Bedeutung sein kann.
Die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, den Jesus ihnen genannt hatte. Und als sie Jesus sahen, fielen sie vor ihm nieder. Einige aber hatten Zweifel.
Da trat Jesus auf sie zu und sagte zu ihnen:
Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde.
Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern: tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe.
Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.
Liebe Freunde, Schwestern und Brüder in Christus!
Das ist ein anspruchsvoller Evangeliums- und Predigttext, den wir heute ausgewählt haben. Aber er ist wichtig genug, um an diesem Ort bedacht zu werden. Und ganz sicher bin ich nicht der erste, der ihn hier auf die Probe stellt. Nicht nur in der Kapelle, sondern auch in den Hörsälen dieses Anwesens muss er wohl eine Rolle gespielt haben. Es war der klassische Text, der den Missionsauftrag der Christen, insbesondere unserer Kirche begründete und es ist ein Text, der immer noch eine wichtige Rolle spielt.
Zunächst mahnt uns der Text dazu, in der Schrift nicht vorschnell zwischen überholten und fortschrittlichen Partien zu unterscheiden. Was sagen wir dazu, wenn die frühe Gemeinde so selbstbewusst zu Worten findet wie: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde, oder: Macht alle Menschen zu meinen Jüngern. Tauft sie! ? Hat denn Franz Xaver Recht gehabt, wenn er vor nahezu fünf Jahrhunderten in Indien so viele Menschen taufte, dass abends seine Arme schlaff und müde waren? Klingt das nicht allzu magisch und allzu triumphal zugleich und haben wir in den vergangenen Jahrzehnten nicht mit guten Gründen und ehrlichen Gewissens versucht, diesen Missionsbefehl nach Kräften zu relativieren, in eine plurale Zeit einzuordnen, bescheidener zu werden und unsere Missionsgelüste einzudämmen? Hatte uns nicht schon Albert Schweitzer vorgemacht, dass es nicht um die Christianisierung der Welt, sondern um Vermenschlichung der Zustände geht, gleich, ob in Afrika oder auf anderen Kontinenten?
Doch geht es mir nicht um eine platte Kritik an diesem Aufruf, sondern darum, ihn neu, vielleicht besser zu verstehen. Folgen wir deshalb einigen Signalen: Die Perikope ist nicht gerade auf Triumph gestimmt. Da ist nur noch von den elf Jüngern die Rede. Das messianische Selbstbewusstsein der heiligen Zwölfzahl ist peinlich in Mitleidenschaft gezogen. Sie hatten Jerusalem, den Ort der großen Niederlage verlassen; Ostern war für sie nicht nur eine Erfahrung des Triumphes, sondern auch eine Erfahrung der Flucht, des notwendigen Neuanfangs, der Verarbeitung ihres Scheiterns. Einige aber hatten Zweifel, sagt das Evangelium. Offensichtlich waren sie ihrer Sache überhaupt nicht sicher. Sie fielen nicht vor dem großen Besieger des Todes nieder, sondern brachen vor ihm zusammen, erniedrigten sich vor ihm, den sie in ihrer Enttäuschung und Verzweiflung verlassen hatten. Wird er ihnen vergeben? Das ist die Frage, die z.B. im Johannesevangelium ausgetragen wird. Sie zweifelten nicht an seiner Gegenwart, sondern an seiner neuen Zuwendung zu ihnen. Zur Diskussion standen nicht seine Person oder Identität, sondern sein Mut und seine Botschaft, seine Sache also, zu der sie erst wieder neues Vertrauen gewinnen mussten. Die Stürme, die das Boot der jungen Kirche bedrohen und durchschütteln sollten, standen ihnen erst noch bevor.
In dieser unsicheren, von Zweifeln durchfurchten Situation tritt Jesus auf sie zu und sagt zu ihnen: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde. Zweifel hin oder her, dieses Wort wirkt wahrlich wie ein Paukenschlag, nicht weil sich da einer in Triumph und Selbstsicherheit aufspielt, das wäre allzu modern und individualistisch gedacht, sondern weil da einer die Jünger aus ihrer Verzweiflung und ihrem Versagensschock herausholt und sie auf seine Sache lenkt. Ihm ist alle Macht im Himmel auf der Erde gegeben, weil seiner Sache jetzt alle Macht zukommt, der Erinnerung an das, was er gesagt, getan und erlitten hat. Was er verkörpert, gilt im Himmel und auf der Erde. Nicht der abstrakten Person, die sie hier verehren, kommen jetzt alle Hoffnungen zu, sondern – wie die klassische reformatorische Theologie sagt – seinem „Amt“, oder, wie wir es nüchterner ausdrücken, seiner „Funktion“, der „Sache“ oder dem „Auftrag“, für die Jesus von Nazareth steht und um derentwillen wir ihn – in der jüdischen Tradition gesprochen – den „Messias“ nennen dürfen. Die biblischen Bücher, die Propheten zumal, haben Gottes Reich gerade nicht personifiziert, sondern mit Sachaussagen umschrieben. Das Lamm wird beim Wolf wohnen, es geht um das Reich der Freiheit und der Liebe, um Vergebung und Versöhnung, um das Wiederfinden des Verlorenen, um das Aushalten des Sturms, um die umfassende, Himmel und Erde umfassende Geschwisterschaft aller Menschen. Lehrt sie alles befolgen, was ich euch befohlen habe. Lehrt sie, meinem Beispiel zu folgen. Lehrt sie, zu tun, was ich getan habe. An keinen Katechismus, an keine hohe Christologie, an keine Glaubenswahrheit denkt man bei diesen Worten, sondern an die jesuanische Lebenspraxis.
Von hier aus erschließt sich der Taufbefehl neu. Nehmt alle Völker in dieses Programm jesuanischer Lebenspraxis auf; versiegelt sie in diesem Programm; ruft es programmatisch über einen jeden Menschen aus. An diesem Punkt nun beginnt der neue Optimismus, das Bewusstsein des Neuen Bundes zu greifen. Wie aber greift es? Die Sprachwissenschaft der vergangenen Jahrzehnte hat uns in dieser Frage weitergeholfen. Sprache ist nicht nur ein Informationssystem. Und reden heißt nicht nur die Welt beschreiben. Sprache kann neue Welten erschaffen. Wer etwas verspricht, schafft neue Verhältnisse der Erwartung, und wer authentische Gewissheit vermittelt, gibt Orientierung, nach der heute so viele rufen. Wer sagt „ich vergebe“, eröffnet neue Beziehungen. Wer sagt „ich liebe“, steht am Beginn eines neuen Glücks. Wer glaubwürdig ruft – und in seinem Handeln bezeugt – „jetzt beginnt eine neue Epoche der Menschheit, nämlich der Freiheit, der Liebe und der Versöhnung“, gibt diesem neuen Gesetz auch wirklich eine neue Chance, denn er schafft Hoffnung, Orientierung, öffnet Horizonte. Macht also alle Menschen zu meinen Jüngern, will sagen: Lasst sie alle, die ihr irgendwie erreichen könnt, an dieser neuen Lebenspraxis teilhaben.
Ist eine solche Universalität realistisch oder nicht doch ein imperialistisches Produkt? Ich meine, wir müssen die Zusagen vorbehaltloser Liebe und Solidarität nur ernst nehmen, um deren innere Universalität zu begreifen.
Edward Schillebeeckx, dieser große Theologe, der am 23. Dezember gestorben ist, hat dies in seinem Jesusbuch eindrucksvoll gezeigt. Er führt dort aus, dass eine bedingungslose und vorbehaltlose Liebe zwar immer faktische zeitliche Grenzen kennt, aber sie kann doch eine Dynamik entwickeln, die an keine menschlichen Grenzen der Rassen, der sozialen Situation oder der kulturellen Bedingungen stößt. Sie kennt keine Grenzen. Denn bei diesem Taufprogramm geht es nun wirklich nicht darum, eine religiöse oder kirchliche Identität zu propagieren (insofern hat man den Taufakt immer falsch, egozentrisch, im Sinn einer kirchlichen Institution verstanden). Es geht darum, die Grenzenlosigkeit der Solidarität mit den Verlorenen zu propagieren.
Dies nun geschieht genau so, wie wir es heute in den Vorträgen besprochen haben:
– Im Namen des Vaters, also im tätigen Wissen um den letzten Grund und das letzte Geheimnis, das alle Menschen verbindet und das uns alle zu Empfangenden, zu Dankenden und zu Vertrauenden macht. Ohne diesen vertrauenden Glauben keine Heilung.
– Im Namen des Sohnes, der uns alle an den ernsten Realismus des Zusammenlebens erinnert und zeigt, dass Liebe sich immer in der Überwindung seines Gegenteils zu bewähren hat, in der Solidarität mit den Einsamen, in der Rettung der Verlorenen, im Umgang mit den Kontrasterfahrungen des Alltags, kurz: in der Nachfolge Jesu.
Im Namen des Geistes, der eine Zeitansage ist und zeigt, dass die neue Zeit keinen Aufschub mehr duldet, dass das umfassende Reich Gottes jetzt also zur Diskussion steht, auch keine institutionell kirchliche Eingrenzung mehr duldet.
So gesehen, meine ich, sind diese Schlussverse des Matthäusevangeliums ein Vermächtnis, das nicht den Vorrang des katholischen Glaubens festnagelt. Diese Grenzen werden vielmehr durchbrochen. Sie verpflichten uns zum Dialog mit den Religionen und zur Solidarität mit der säkularen Welt. Diesen Verkündigungsruf nimmt ernst, wer der universalen Sache Jesu den Vorrang gibt, statt sie immer wieder in die Mechanismen christlicher Rechthaberei einzusperren.
Deshalb leben wir in einer interessanten und wichtigen Zeit, denn die Epoche christlicher Universalisierung und Gesprächsfähigkeit beginnt erst. Ob wir die großen Programme der Befreiungstheologie oder der Compassion, den Gedanken des Weltethos oder die zahllosen kulturübergreifenden religiösen Impulse betrachten, die wir auf allen Kontinenten beobachten. Und es gibt sie überall, sogar in einer neu aufblühenden Religiosität in China, das Christentum eingeschlossen.
Im neuen Flughafen von Shanghai sah ich im vergangenen September eine riesige und weithin leuchtende Reklametafel. Sie zeigt die Glasfassade eines Hochhauses, in der sich eine weite grüne Landschaft mit Bergen und Wäldern spiegelt. Zwei Männer in einem Schwebekorb sind dabei, die Fassade zu reinigen. Darunter steht in großen Lettern: „It’s time for a clear new world“. „Es ist Zeit für eine klare neue Welt“. Auf mich wirkte dieses Motto geradezu wie ein religiöser Aufruf: „Es ist Zeit dafür, dass die Welt endlich eine neue Orientierung bekommt.“ Könnte es eine bessere universale Orientierung geben als die, die wir Christen in der Lebenspraxis Jesu zu lernen vermögen? Aber ich spürte zugleich die Frage: „Ist es nicht endlich Zeit, dass auch wir Christen unsere Provinzialismus zugunsten eines universalen Friedensglaubens aufgeben? Dann erst könnten wir glaubwürdig sagen und beten: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Nur unter dieser Bedingungen können wir gewiss sein, dass er bei uns ist alle Tage bis zum Ende der Welt.“ Amen.
(Predigt vom 09.01.2010)