Glaube in einer säkularisierten Epoche – Über die Möglichkeiten einer Gemeinde, sich selbst zu gestalten

Kirche und christliche Gemeinden begreifen die allgegenwärtigen Säkularisierungsprozesse nicht als Chance, sondern als Gefahr. Damit verurteilen sie sich zur gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit, statt eine zukunftsgerichtete Dynamik zu entwickeln. Jesu Botschaft vom Reich Gottes könnte sie eines Besseren belehren.

Gliederung

I. Kirchen am Scheideweg

1.1 Überzogene Krisenangst?
Verhärtungen nach rechts – Erstarrung des Bischöfe – Unsicherheit der Reformkräfte
1.2 Am Ende einer Epoche
Zusammenbruch einer ganzen Kultur – Aktuelle politische Folgen – „Spätmoderne“
1.3 Unwiederbringliche Verluste
Traditionsabbrüche – Kenntnis von Schrift, Glauben, Werten
1.4 Resignation oder neugierige Kreativität?
Resignation aus Unkenntnis – Kreativität belebt neue Erfahrung ‑ Das Unbekannte: Ort des Unerwarteten

II. Problem Säkularisierung

2.1 Glaubens-, Kirchen- und Kulturverlust
Gewicht der Verlustdimensionen ‑ Verlust eines eminenten Kulturträgers – Verlust von Orientierung und Sinnressourcen ‑ Religion lässt sich von Kultur nicht trennen

2.2 Akteure dieser Entwicklung
 Wissenschaft und Philosophie? ‑ Glaubensabfall und Religionskritik? ‑ Kulturelle Kontexte und Symbolisierungen? ‑ Trägheit und Selbstverliebtheit der Kirchen

2.3 Tiefgreifende Metamorphose
Weltverständnis (allgemeiner Wissensstand) ‑ Weltgestaltung (Technik) ‑ Neue Ausdrucksformen ‑ Kein Glaubens-, aber Gewissheitsverlust ‑ Tiefe öffentliche und existentielle Lücke

2.4 Neubewertung der Entwicklung
Erschließt neue geschichtliche Zusammenhänge ‑ Fördert Rekonstruktion der offiziellen Kirchentheorie ‑ Schafft positiven Blick auf Säkularisierung ‑ Zwingt offizielle Kirche zu massiven Grundlagenkorrekturen

III. Autonomie der Gemeinden

3.1 Grundlagenbesinnung: Gemeinden als Basis
Biblische, historische, systematische Begründungen ‑ Grundirrtum der katholischen Kirchenstruktur ‑ Vatikanum 2: richtig, aber inkonsequent ‑ Neues Selbstbewusstsein überlebenswichtig

3.2 Zwischen Sakralität und Weltlichkeit
Sakrale Institutionen autoritär gefüllt ‑ Blockieren Reformen ‑ Gelten als unverzichtbar ‑ Tödlicher Widerspruch

3.3 Das Paradox eines verweltlichten Glaubens
Kirche: Gegenpol zum Profanen? ‑ Übersieht ihre eigene Säkularisierung ‑ Schwächt dadurch ihr Glaubensverständnis ‑ Reformkräfte: sich diesem Bann entziehen

3.4 Gemeinden kommen zu sich
Klassische Seelsorge bricht zusammen ‑ Für viele Gemeinden ein Glücksfall ‑ Faktisch agieren sie selbständig ‑ Entdecken so ihre Kompetenzen (Charismen)

IV. Das Reich Gottes und die Pforten der Hölle

4.1 Suche nach Zukunft oder Identität
Dilemma zwischen Identität und Relevanz ‑ Identitätsfragen blockieren Auftrag zur Relevanz ‑ Medium (= Kirche) und Ziel (=Erneuerung der Welt) verwechselt

4.2. Die Doppelbotschaft der Evangelien
Dritte Generation erinnert sich an Beginn ‑ Rückschau: Erinnertes wird interpretiert ‑ Fragmentarisch erinnerte) Botschaft Jesu: „Das Reich beginnt“ ‑ Kontextuell interpretierende Botschaft der Jünger: „Wir sind von Christus gesandt“

4.3 Jesus verkündet, Paulus legitimiert
Distanzierung von der Thora ‑ Rückgriff auf zürnenden Gott (Sühnetheologie) ‑ Rechtfertigung des Sünders ‑ Leidenschaft für Gerechtigkeit verfremdet

4.4 Wechselnde Bedeutung des Gottesreichs
Gesellschaftspolitisch und universal – Verinnerlicht ‑ Mit Staatssystemen identifiziert ‑ Den Bedingungen der Kirche unterworfen ‑ Mit der Kirche identifiziert

V. Weltliche jesuanische Gemeinden

5.1 Doppelgebot der Liebe (Rom 13, 6-10)
Jüdisches Erbe unverfälscht ‑ Praktiziert aber relativiert ‑ Brücke zur säkularen Welt

5.2 Zwei Brennpunkte der Gemeinde
Fixierung auf sakrale Handlungen ‑ Überhöhung der Gottesdienste ‑ Verkirchlichung der Sakramente ‑ Identifikation von Kirche und Heiligkeit

5.3 Neudefinition des Heiligen
Kerndimension von Religionen ‑ Kerndimension von Menschlichkeit ‑ Reformbedarf in kirchlicher Praxis

5.4 Lebenswelt als Ort der Gemeinde
Glaube wird im Alltag gelebt ‑ Im Gottesdienst begangen ‑ Wo sind Christinnen und Christen zu Hause?

5.5 Den Paradigmenwechsel ernstnehmen
Den Wechsel bewusst machen ‑ Kirchenstrukturen faktisch ändern ‑ Vor Ort beginnen


Vortragstext

Wir leben in keinen einfachen Zeiten, und gerne stimme ich Shakespeares trahgischem Hamlet zu:
Die Zeit ist aus den Fugen; oh Fluch der Pein.
Muß ich sie herzustelln geboren sein!
Kommt, lasst uns zusammen gehn
.“

Allen drei Zeilen ist zuzustimmen. Nicht nur in unseren Kirchen, auch in Kultur und Gesellschaft ging ein Gleichgewicht verloren. Offensichtlich liegt dessen Wiederherstellung in unserer Verantwortung. Packen wir diese Aufgabe also an. Nicht um zu klagen, sondern um Auswege zu finden, haben wir mit einer klaren Diagnose zu beginnen. Heute Abend beschäftigen wir uns mit einem wichtigen Sektor von Kultur und Gesellschaft, nämlich mit unseren Kirchen, für die ich die römisch-katholische Kirche paradigmatisch herausgreife. Diese Kirchen stehen nämlich an einem Scheideweg.

I. Kirchen am Scheideweg

Dass wir an einem Scheideweg stehen, das zeigt nicht nur die Dauerkrise des Katholizismus, der seit nunmehr 50 Jahren polarisiert und vielfach paralysiert ist. Die Ressourcen, die eine Entscheidung zwischen Reaktionären und Progressiven herbeiführen könnten, sind offensichtlich erschöpft. Ähnlich geht es mit der Ökumene zwischen Katholizismus und Reformation. Man ist freundlich, bekundet tapfer seinen Christusglauben, doch Nägel mit Köpfen werden nicht gemacht. Was ist der Grund für diese lähmenden Hängepartien? Fragen wir:

1.1 Überzogene Krisenangst?

Verhärtungen nach rechts:
Ist unsere Krisenangst überzogen? Offensichtlich nein, denn die Verhärtungen nach rechts haben in den vergangenen Jahren eher zugenommen, die Spätwirkung der beiden vergangenen Pontifikate. Johannes Paul II. hat ein Kirchenmodell herausgearbeitet, das den Zentralismus und Monopolismus der vorhergehenden Epochen weit übersteigt. Benedikt XVI. hat dieser Entwicklung eine rigide Härte gegeben. Was abwich, wurde sofort an den Rand gedrängt.

Erstarrung der Bischöfe:
Kein Wunder, dass die deutschen Bischöfe auch drei Jahre nach dem Amtsantritt von Papst Franziskus geradezu erstarrt sind. Einen freundlicheren Tonfall haben sie sich gewiss angewöhnt, aber bahnbrechende Entscheidungen sind noch keine gefallen. Ihre Themen sind die alten, aber noch ebenso diffus und nicht immer vom Willen zur wirklichen Kooperation mit den Gemeinden beseelt. Vor wenigen Wochen erließ der Präfekt der Glaubenskongregation ein Schreiben über die Charismen, das den alten autoritären Geist atmet. Es unterscheidet zwischen (normalen) Charismen und hierarchischen Charismen, die die normalen zu kontrollieren haben. Das ist absurd und von einer tiefsitzenden Krisenangst getragen.

Unsicherheit der Reformkräfte:
Auch unsere Reformkräfte verhalten sich noch recht unsicher; unter dem Regime von Papst Franziskus haben sie noch nicht richtig Tritt gefasst. Das hängt sicher mit den mehrdeutigen Signalen zusammen, die in Rom zu hören sind. Offensichtlich wird Papst Franziskus eine neue Offenheit mit alter dogmatischer Treue kombinieren. Auch dies ist ein Zeichen der Angst, auf die wir eindeutig reagieren müssten.

1.2 Am Ende einer Epoche

Zusammenbruch einer ganzen Kultur:
An sich ist dieses angstbesetzte Verhalten keine Katastrophe, könnte man sagen. Wir brauchen Zeit, um einen neuen Weg im Dschungel der Möglichkeiten zu finden. Doch uns bleibt keine Zeit mehr. Wir sehen eine ganze Kultur zusammenbrechen, die man lange abendländisch nannte, heute christlich oder westlich nennt.

Aktuelle politische Folgen:
Was heute an den verschiedensten Fronten in Europa passiert, nimmt uns den Atem. Dies zeigt sich in den aktuellen politischen Folgen, dem unsäglichen Rechtsruck, den wir in Ungarn, der Slowakei und in der Tschechischen Republik nahezu synchron erleben, ebenso in Polen und auf differenziertere Weise in Frankreich und in den Niederlanden. Gewiss, die politischen Zusammenhänge unterscheiden sich in hohem Maße, dennoch stecken hinter den Symptomen vergleichbare Gründe: Angst vor der Zukunft ebenso wie der mangelnde Wille, sie gemeinsam zu gestalten, deshalb Angst vor dem Andern, letztlich ein Zukunftswille, der den gemeinsamen Werten, die sooft beschworen werden, etwas zutraut.

„Spätmoderne“:
„Spätmoderne“ lautet das Schlagwort, das unsere Feuilletons schon seit den 1980er Jahren beschäftigt. Was als eine ästhetische Etappe unter den Architekten und Architekturhistorikern begann, wurde bald von Philosophien aufgegriffen. Die einen entdeckten, dass es keinen unveränderlichen Architekturkanon gibt, vielmehr kann man Funktionen verändern und beliebig zitieren. Die anderen stellten die Grenzen der neuzeitlichen Rationalität an den Pranger, weil sie ihr Versprechen einer gerechten und auf Gleichheit ausgerichteten Vernunft nicht einlöste. Das hatte schon die Frankfurter Schule festgestellt. Nicht jeder, der sich rational gibt, hat das Wohl der Menschheit im Visier. Deshalb brauchen wir andere Werte. Wieder andere scherten sich nicht um diese theoretischen Diskussionen. Sie stellten schlicht und einfach fest, dass die Epoche der Aufklärung, die auf ihre Leistungen so stolz war, mit den beiden Weltkriegen und mit dem Holocaust abgewirtschaftet hat. In den vergangenen Jahren bestätigen sich diese Diagnosen auch auf dem Gebiet der nackten Politik.

1.3 Unwiederbringliche Verluste

Traditionsabbrüche:
Viele Christinnen und Christen machen den Verfall des christlichen Glaubens gerne zum Sündenbock für diese katastrophale Entwicklung. Doch sie irren sich. Denn was wir heute mit dem christlichen Glauben im Westen erleben, ist nicht Ursache, sondern Teil dieses Niedergangs. Wir Christinnen und Christen ragen ja nicht aus diesem Elend heraus. Ungarn und Polen stellen sich im Augenblick als Pioniere eines christlichen Handelns dar. Die AfD behauptet ausdrücklich, sie vertrete christliche Werte und die anonymen christlichen Wurzeln der Front National werden von niemandem bestritten. Was wir innerhalb der Kirchen erleben, ist ja nur die Innenseite dieses Gesamtgeschehens.

Kenntnis von Schrift, Glauben, Werten:
Gute religiöse Traditionen brechen. Es sind Verluste, die sich nicht über Nacht reparieren lassen. Verloren geht die Kenntnis der biblischen Schriften, die unsere Kultur in hohem Maße geprägt und bereichert haben. Der Glaube, den ich hier als ein Gespür für das Geheimnis des Lebens, des Du und des Wir verstehen, wird banalisiert. Das Bewusstsein um Werte, dafür also, dass es Regeln, Verhaltensweisen und Zielsetzungen gibt, auf die wir nicht verzichten können, sobald es Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung geben soll, hat sich in einer grenzenlos beschleunigten Welt verflüchtigt. Die Digitalisierung unserer Kommunikation führt dazu, dass wir alles abrufen können, uns aber nichts mehr aneignen.

Irreparabler Teufelskreis:
Das alles bedeutet nicht nur für die Kirchen, sondern auch für unsere Gesellschaft einen unersetzlichen Verlust. Was die Gesellschaft verloren hat, das können die Kirchen nicht mehr generieren. Denn wenn die Gesellschaft ihren Glauben verliert, dann nur deshalb, weil die Kirche ihn nicht mehr überzeugend lebt. Und wenn Religion von unserer Welt abgelehnt wird, dann nur deshalb, weil unsere Religion die Welt systematisch verteufelt, moralisierend belehrt und überheblich relativiert hat. Was also tun, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen?

1.4. Resignation oder neugierige Kreativität?

Resignation aus Unkenntnis:
Viele engagierte Christinnen und Christen wirken in dieser Situation resigniert. Man lässt es sich nicht anmerken und erklärt humorvoll: Solange ich lebe, wird diese Institution noch funktionieren. Was aber geschieht mit unseren Enkeln? Ich möchte nicht, dass sie in eine glaubenslose Kultur hineinwachsen. Ich bin mir aber auch sicher, dass der christliche Glaube Zukunft hat. Würde er heute aus Europa verschwinden, würden andere Formen der Frömmigkeit, der Mystik oder von anspruchsvollen Weltanschauungen an ihre Stelle treten. Ich bin mir sicher, dass die aktuelle Resignation nur aus Unkenntnis der wahren Zusammenhänge gewachsen ist. Wir meinten, die Kirchen seien die einseitigen Wissens- und Sinngeber. Wir haben zu wenig intensiv nach den wirklichen Zusammenhängen der gegenwärtigen Entwicklung gefragt.

Wir sind vor allem zu einer Religion der Zurückhaltung geworden. „Keine Experimente!“, mit dieser Losung hat Konrad Adenauer vor 60 Jahren (1957) die Wahlen gewonnen. Sie ist seit Jahrzehnten die stabile Losung der Kirchen. Konkret lautet der Ruf: Lehre der Kirche, unfehlbare Wahrheit oder authentisches Lehramt. Dies alles wäre richtig, wenn wir diese Lehre aktuell erleben, diese Wahrheit ins Heute übersetzen und das Lehramt mit unserer Wirklichkeit konfrontieren würden.

Kreativität belebt neue Erfahrung:
Wie jeder kulturelle Fortschritt erfordert jeder lebendige Glaube Kreativität, d.h. Phantasie, Mut, Schritte ins Unbekannte. Nur so entsteht neue Erfahrung. Für den Glauben ist dies besonders wichtig, denn er hat es immer – geradezu definitionsgemäß ‑ mit dem Unbekannten zu tun. Einem vitalen Glauben geht es um das letzte Geheimnis, dem wir auf die Spur kommen wollen. Gerne wurde der Glaube als ein höheres Wissen definiert. Dabei ist der Glaube das Wissen um ein Nicht-Wissen, das uns hält und am Leben hält.

Das Unbekannte: Ort des Unerwarteten:
Wer sich aber dem Unbekannten stellen will, muss es hier und jetzt, in dieser Wirklichkeit suchen, sonst wird er es nicht finden. Gott ist immer Mangel und Erfüllung zugleich, ein Jenseits im Diesseits. Wir finden ihn an Orten, an denen wir ihn nicht erwarten. Wir sollten wieder zu neugierigen Menschen werden, sonst werden wir die Auswege aus dieser Zeit, die aus den Fugen geraten ist, nicht finden. Eine jede Religion, wenn sie denn lebensfähig ist, lebt von Visionen, die nicht nur unsere gegenwärtigen Grenzen überschreiten, sondern auch den Kern der Gegenwart erhellen.

II. Problem Säkularisierung

Ich möchte mich hier mit der Säkularisierung beschäftigen, denn ich halte sie für das Schlüsselproblem unserer prekären kirchlichen Situation. Wir haben sie noch nicht richtig begriffen, weil wir noch nicht verstanden haben, welche Rolle wir als christliche Frauen und Männer in ihr spielen. Schauen wir genauer zu.

2.1 Glaubens-, Kirchen- und Kulturverlust

Der Begriff der Säkularisierung ist unklar und umstrittener denn je. Lange galt die „Säkularisierungsthese“, die behauptete: Mit wachsender Industrialisierung und Rationalisierung verschwinden in jeder Gesellschaft der Glaube an Gott und die Religion als dessen institutionelle Äußerung. Zudem sei dieser Religionsverlust unumkehrbar. Religion besteht allenfalls noch als Privatsache fort. Diese These gilt aus mehreren Gründen als überholt.

Das Phänomen Säkularisierung:
Zum Ersten führten Industrialisierung und Rationalisierung nur in mittel- und westeuropäischen Ländern zum Bedeutungsverlust von Religion. Für die USA trifft das weit weniger zu, ganz zu schweigen von asiatischen Ländern, etwa Japan. Die europäische Entwicklung muss also von anderen Faktoren gesteuert sein.

Zum Zweiten haben wir spätestens in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelernt, dass Religion eine neue öffentliche, insbesondere politische Rolle spielen kann; man denke nur an die Gegenwart des Islam und die hochpolitischen Auseinandersetzungen mit ihm.

Zum Dritten haben im vergangenen halben Jahrhundert – zusammen mit der Gesellschaft – auch Glaube und Religionen ihre Gestalt geändert. Man müsste also wissen, welche Religion vom Verschwinden bedroht ist und was sich an den Religionen geändert hat, deren Ende befürchtet und erwartungsfroh vorausgesagt wurde.

Dennoch ist das Phänomen der Säkularisierung nicht wegzudiskutieren. Es muss nur differenziert betrachtet werden. Ich umschreibe Säkularisierung
– nicht generell als Glaubensverlust, sondern als den Bedeutungsverlust bestimmter Glaubensformen in der Öffentlichkeit;
– nicht generell als Zusammenbruch der Kirchen, sondern als den Relevanzverlust bestimmter Kirchenformen, ihres aktuellen Verhaltens und ihrer öffentlichen Selbstdarstellung;
– nicht generell als Entchristlichung unserer Gesellschaft, sondern als die Verflüchtigung und Anonymisierung christlich-religiöser Impulse.

Säkularisierung bezeichnet also einen Schwebezustand, der schwer zu fassen ist. Nichts ist verloren, aber alles ist in Gefahr und das Ergebnis dieses Prozesses hängt vermutlich von denen ab, die Religion(en), Religiosität und Glauben konkret mitgestalten und im Beziehungsgeflecht gesellschaftlicher Größen neu justieren können.

Gewicht der Verlustdimensionen:
Deshalb sind die Gefahren der gegenwärtigen Entwicklung klar zu sehen. Sollten Religion und die Glaubensformen unserer Kultur verlorengehen, wäre das Gewicht dieser Verlustdimensionen enorm, denn er würde sich nicht auf eine isolierte Form von Religion beschränken, sondern auch andere Kulturformen betreffen. Man denke an die enormen Interaktionen zwischen
– Religion und Menschenbild, darstellender Kunst oder Literatur,
– Religion und Moral, Sozialwesen oder Erziehungsmodellen,
– Religion und Sinnfragen, Lebensgestaltung oder Kommunikation,
– Religion und Kontingenzerfahrungen, Tod, Schuld oder Versöhnung.

Religion lässt sich von Kultur nicht trennen:
Im Grunde sind Religion und Glaube allgegenwärtig. In dem Augenblick, in dem eine etablierte Religion schwächelt oder verschwindet, entstehen Ersatzreligionen, die für das End- und Letztgültige Ersatz anbieten. Das geht von esoterischen Weltanschauungen bis zu Fußballgöttern, von sinnlichen bis zu mystischen Heilsversprechen. Absoluter Religionsverlust führt zur Selbstzerstörung einer Gesellschaft, da gebe ich Benedikt XVI. recht.

Verlust von Orientierung und Sinnressourcen:
Religion verschwindet also nicht, sie kann höchstens verwildern. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch die Kirchen und ihre Teilinstitutionen in einem anderen Licht. Ähnlich den anderen großen Religionen sind sie eminent wichtige Kulturträger und die einzigen Moralagenturen, die wirklich funktionieren und ohne die das Zusammenleben einer Gesellschaft nicht funktionieren kann. Das würde dazu führen, dass uns eine generelle Orientierung abhandenkommt und unverzichtbare Sinnressourcen versiegen.

Hinter diese Behauptung steckt kein Alleinvertretungsanspruch der Kirchen auf Sinnverkündung, sondern die Entdeckung, dass sich Religion nie von ihrer Kultur bzw. von Kulturen trennen lässt. Zu lange gingen wir von der Illusion aus, Religion stehe über der Kultur und übe in ihr eine Weisungs- und Definitionsmacht aus. Wer über Religion nachdenkt, denkt immer schon über Kultur nach.

2.2 Akteure dieser Entwicklung

Deshalb sollten wir auch genauer über die Frage nachdenken, wer denn die wahren Akteure unserer Säkularisierungsprozesse waren und sind.

Wissenschaft und Philosophie?
Waren und sind es Wissenschaft und Philosophie? Mag sein. Religionskritik wurde zunächst im Haus von Wissenschaft und Philosophie formuliert. Denker wie Feuerbach, Nietzsche, Freud und K. Marx werden als die großen Vorkämpfer genannt. Aber genau besehen haben sie den Kirchen bzw. ihren Theologien nur den Spiegel vorgehalten; sie haben mehr reagiert als agiert.

Glaubensabfall und Religionskritik?
Waren es Glaubensabfall und eine Religionskritik, die später zum Selbstläufer wurden? Ja, diese Bewegung ist nicht zu verharmlosen. Wir sollten aber nicht vergessen: die meisten ihrer Vertreter wurden von den Kirchen massivster Kritik unterworfen. Giordano Bruno (1548-1600) und Galileo Galilei (1564-1642) sind dafür typische Beispiele und seit den 1860er Jahren hat sich die römisch-katholische Kirche ausdrücklich als „antimodernistische“ Organisation definiert. Bis in die neueste Zeit hat sie kritisiert, sanktioniert und verurteilt. So hat sie wohl in hohem Maße selbst bewirkt, was sie jetzt so bitter beklagt.

Kulturelle Kontexte und Symbolisierungen
Eine wichtige und vielschichtige Rolle spielen dagegen die wechselnden kulturellen Kontexte, in denen sich Kirchen und Religionen bewegen, und zentrale Symbolisierungen – ja, ganze Symbolwelten ‑, die verschwunden sind oder sich neu gebildet haben.

Denken wir allein an die feudalen und autoritären Kontexte, in denen sich unsere Kirchen herausgebildet haben, an ihre selbstverständliche Kooperation mit und Abhängigkeit von Fürsten bzw. staatlichen Organen. Ich stelle nicht die Frage, ob der christliche Glaube mit einer demokratischen Gesellschaft kompatibel ist. Davon gehe ich aus. Zu fragen ist aber, wie viele herrscherliche bzw. hoheitliche Attitüden, Rede- und Verhaltensweisen sie noch nicht abgelegt hat. Die katholische Liturgie ist davon noch durchsättigt. Unsere Bischöfe präsentiert sich noch wie selbstverständlich mit Mitra und Stab; in der Liturgie lassen sie sich wie von einem Lakaien bedienen, unfähig, sich ihren Hut selbst aufzusetzen, und das kaiserliche Violett scheint für die ganze hierarchischen Riege unverzichtbar zu sein. Frauen bleiben vom offiziellen Dienst verbannt; bis hinauf zum Papst soll es dabei bleiben. Der Mann fungiert immer noch als göttliches Herrschaftssymbol. Man unterschätze die Wirkung solcher Selbstdarstellungen auf Zuschauer und Darsteller sowie auf diejenigen nicht, die Inspiration und Erleuchtung suchen.

Sublimere und höchst differenzierte Wege gehen neue Symbolbildungen in unserer Kultur, d.h. im Selbstausdruck unserer Gesellschaft. Auch hier geht es um Symbol- und Sprachwelten. Die traditionelle Glaubenswelt symbolisiert die Kirche mit organischen Bildern: als Leib (mit Haupt und Gliedern), als Mutter und Jungfrau, als Hüterin und Spenderin des Lebens, als Sakrament. Das 2. Vatikanische Konzil stellt Bilder des Zusammenlebens in den Mittelpunkt. Die Kirche wird zum Volk Gottes, zur Gemeinschaft der Glaubenden, zu Hörerinnen und Hörern des Wortes. Zwischen beiden Grundvorstellungen liegen Welten und der Streit um sie verläuft bis heute zwischen den Reaktionären und den Progressiven.

Diese Symbolprozesse sind schwer zu analysieren und kaum zu steuern, denn in aller Regel verlaufen sie unbewusst. Umgekehrt ist auch die Sensibilität dafür stark gewachsen. Man denke allein an das neue Sprachbewusstsein, das die Rolle von Frauen und deren Gleichberechtigung reflektiert oder an unsere neuralgischen Reaktionen auf ein autoritäres Sprachgebaren.

Wie ist diesem beizukommen? Nur indirekt, denn unsere Sprache und deren Einfärbung spiegelt immer unsere konkreten Erfahrungen, unsere Aversionen und Empathien. Dementsprechend ist unsere Sprache kreativ und ständig in Bewegung. Wer mit jungen Menschen in Kontakt ist, weiß darüber ganze Romane zu schreiben. Wir können also eine neue, eine inspirierende und gewinnende Sprache nur bedingt lernen; das gilt auch für Kirchensprache und Verkündigung. Wir können nur an ihr teilhaben oder sie in uns wachsen lassen, indem wir an neuen Lebenserfahrungen und Lebenswelten teilnehmen. Die Lebensferne mancher Kirchensprache ist das untrügliche Symbol des lebensfernen Lebens und Erlebens, das in unseren realexistierenden Kirchen und in unserer konkret verfassten Religion zu Hause ist. Sie zeugen nicht von Glauben oder von Unglauben, sondern von Lebensnähe oder dem Verweilen in einem Wolkenkuckucksheim ohne Bezug zur Realität

Trägheit und Selbstverliebtheit der Kirchen:
Ein letzter Akteur dieser Art von Säkularisierung ist zu nennen, von Kirchenmitgliedern schonungslos und selbstkritisch zur Kenntnis zu nehmen. Es sind die Trägheit und Selbstverliebtheit derer, die die kirchliche Sprache, ihr Denken und ihr Verhalten gegenüber der „Welt“ bestimmen. In der Neuzeit haben sich die Kirchen mehr zu dirigierenden und belehrenden Instanzen hochgespielt. Noch in den vergangenen Jahren spricht Rom gerne von der „Mutter und Lehrerin“ (mater et magistra); von der Hörerin ist nie die Rede. Papst Franziskus ist der erste Papst, der in seiner Enzyklika Laudato Si‘ davon spricht, dass von den Wissenschaften etwas zu lernen ist. Ich leugne nicht, dass die christliche Botschaft der „Welt“ etwas zu sagen hat, was sie aus sich selbst nicht weiß. Aber die kirchliche Botschaft ist, wie ich vermute, soweit von der christlichen entfernt und gemäß eigenen Interessen modelliert, dass die jesuanischen Impulse verdeckt sind. Leider gilt diese Kritik auch für manche Äußerungen von Papst Franziskus. Allgemeine Kritik an der Gender-Ideologie oder die generelle Behauptung, die Welt führe einen „weltweiten Krieg zur Zerstörung der Ehe“ (am 2.10.2016 auf dem Rückflug vom Kaukasus), sind schlicht Unsinn oder doch so undifferenziert, dass man ihren wahren Kern nicht mehr erkennt. Solange eine Kirche sich diesen welt-überheblichen Denkmodus nicht abgewöhnt, darf sie sich nicht darüber wundern, wenn ihre Relevanz für die Welt im Steilflug nach unten sinkt.

2.3 Tiefgreifende Metamorphose

Natürlich lebt und praktiziert die Kirche schon seit Jahrhunderten dieses prekäre Weltverhältnis. Warum traten dieser Wirklichkeits- und Relevanzverlust nie in den letzten Jahrzehenten ein? Dies hat damit zu tun, dass sich unsere Gesellschaft seit den 1950er Jahren schneller als je und in dramatischer Weise geändert hat.

Weltverständnis (allgemeiner Wissensstand):
Bisweilen denke ich darüber nach, was mein Großvater ‑ Bauer und Wirt in einem ländlichen Dorf und 1946 gestorben – von der Welt wusste und was die Generation seiner Enkel, gar seiner Urenkel heute wissen kann. Ich, der ich meinen Bildungsweg noch mit Latein, Griechisch (und Hebräisch) als den entscheidenden Grundlagen einer humanistischen Bildung begann, sah noch eine geschlossene, wohl und hierarchisch geordnete Gesellschaft voraus, die von Staat und Kirche definiert war. Diese schöne Zweiteilung ließ sich nicht halten, weil sich das empirische Wissen in rasendem Tempo steigert. Zwischen 1500 und 1900 hat es sich vermutlich alle hundert Jahre verdoppelt. Heute verdoppelt es sich vermutlich alle zwölf, wenn nicht gar alle fünf Jahre. Hinzu kommt auf subjektiver Seite die Informationsexplosion durch das Internet. Sie schafft nicht nur Horizonterweiterung, sondern auch Sinn-Überschwemmungen mit allen Ängsten, in ihnen zu ertrinken.

Lange konnten Kirchen und Theologie immer noch versuchen, dieses Gesamtwissen in ihren Systemen zu verstehen, aufzuarbeiten und zu integrieren. Das ist unmöglich geworden. Kirchen und Religion ist der Anspruch auf diese Gesamtintegration schon seit Jahrzehnten entglitten. Zum Beispiel ist Darwinismus schon lange kein Schimpfwort mehr, sondern das Signal für eine geniale wissenschaftliche Leistung. Damit haben sie nicht nur ihr Interpretationsmonopol verloren, sondern die Art unseres Wissens ist ganz anderer Art: empirisch verankert und abgesichert, durch kritische Reflexion eingeordnet, von umfassenden Interpretationen emanzipiert, den unmittelbaren Sinneseindrücken entzogen.

Weltgestaltung (Technik):
Noch dramatischer zeigt das die zeitgenössische Weltgestaltung, die von der Technik geleistet wird. Sie kann nicht mehr mit Hilfe religiöser Kategorien beurteilt werden (schickt Gott uns Blitze, bestraft er Italien oder Lissabon mit Erdbeben, kann ein Gebet einen medizinischen Eingriff ersetzen?) sondern erweist sich selbst: die Eisenbahn fährt und die Flugzeuge überwinden die Weltmeere, der Navi ortet mich richtig ein und die Herz-Lungenmaschine ersetzt den Herzschlag. Auf den ersten Blick wird Gott überflüssig, die Rede von seinem Handeln höchsten zu einer ziemlich unklaren Metapher. Damit haben Kirchen und Religion auch ein erweisbares Handlungsmonopol verloren.

Differenzierung der Gesellschaft:
Welche Folgerungen können wir daraus ziehen. Zunächst die Erkenntnis, dass sich unsere Kultur und die Religion in ihr in einer tiefgreifenden Metamorphose befinden. Die Wissens- und technischen Handlungsexplosionen haben unsere Gesellschaften mit ihrer Kultur zutiefst umgebaut, verändert. Deshalb verstehen sich unsere Gesellschaften auch ganz anders als noch vor 60 Jahren. Die Soziologie weist gerne auf die Differenzierung, gar die Ausdifferenzierung unserer Gesellschaft hin, die ja viel mehr ermöglicht und dazu führt, dass sich zahllose Faktoren verselbständigt haben und ihre eigenen Gesetz entwickelten. Dies betrifft nicht nur die Makrosektoren wie Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Erziehung und Kunst, sondern schafft auch innerhalb dieser endlose kleine Funktionsbereiche. Sie alle üben auf die anderen ihren Einfluss aus, funktionieren aber nach ihren eigenen Gesetzen und können nur durch ein politisch und rechtlich geregeltes Miteinander funktionieren.

Neue Ausdrucksformen:
Damit haben die Kirchen bis heute ihre Schwierigkeiten. Sie kommen aus einer Epoche, in der ihr bestimmte Hoheits- und Definitionsrechte zukamen. Das ist aber nicht mehr der Fall. Sie erfahren Menschen, die sich ihrem unmittelbaren Einfluss entziehen, zu Unrecht als Abtrünnige. Von ihnen wird erwartet, dass sie sich gleichberechtigt in das große Konzert der Zivilgesellschaft einordnen, von deren Funktionieren der Zustand einer ganzen Gesellschaft abhängt. Diese Zumutung fügt vielen Kirchenleitungen ein Trauma zu, aus dem sie sich nie mehr erholen. Man kann das an der Biographie von Benedikt XVI. ablesen. Durch den Einfluss der Zivilgesellschaft, die uns täglich umgibt, und durch das zivilgesellschaftliche Denken vieler kirchlich engagierter Männer und Frauen hat sich das religiöse Verhalten an der Basis schon lange verändert. Es bilden sich neue Ausdrucksformen der eigenen und gemeinsamen Religiosität, neue gegenseitige Erwartung und alte Autoritätsstrukturen verlieren ihre Überzeugungskraft. Die kulturelle Metamorphose zieht auch die Gemeinden in diesen Strudel unerwarteter Zusammenbrüche und neuer Möglichkeiten mit.

Kein Glaubens-, aber Gewissheitsverlust:
Wir sollten das nicht in naivem Optimismus sehen, sondern im nüchternen Wissen: Eine moderne Gemeinde fordert ihren Mitgliedern weit mehr ab als die traditionelle Versorgungsgemeinde. Die Glaubenswahrheit wird nicht mehr einfach geliefert, weil das Gewissen von allen beansprucht wird. Es gibt nicht mehr die allgemeine, von oben verfügte Gewissheit. Zugleich meine ich, dass unsere Verantwortung für unsere Mitwelt gewaltig gestiegen ist. Wer sich auf die Gesellschaft verantwortlich einlässt, wird daraus seinen Gewinn ziehen. Denn endlich werden die christlichen Gemeinden gezwungen, die bequeme Hängematte eines wohl definierten Glaubens, also festgelegter Glaubensinhalte guten Gewissens zu verlassen und unter den schützenden Dächern von Glaubensbekenntnissen und Dogmen hervorzukriechen. Zu Recht hat Martin Luther zwischen berechenbarer Sicherheit und existentieller Gewissheit unterschieden. Die Epoche religiöser Versicherungsgesellschaften ist vorbei. Glaube wird nur wirksam als konstante Auseinandersetzung, als ein Kampf gegen Selbstgenügsamkeit und den Schutz unbeweglicher Mauern.

Tiefe öffentliche und existentielle Lücke:
Klar ist jedoch auch: Diejenigen, die sich zu einer Religion bekennen, müssen gemäß ihren Überzeugungen dafür sorgen, dass in unserer Gesellschaft keine tiefe öffentliche und existentielle Lücke entsteht. Gewiss, Religiosität wird nicht verschwinden, dafür sind die menschlichen Tiefenerfahrungen, die uns alle umtreiben und an unsere letzten Geheimnisse rühren, zu intensiv und durch nichts zu bändigen. Aber sie werden letztlich destruktiv, wenn es nicht gelingt, für sie eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Erzählung, wenigstens gemeinsame Visionen zu finden. Wir brauchen einen öffentlichen Glauben, der eine konstruktive Kommunikation zwischen unseren gesellschaftlichen Gruppierungen ermöglicht. Andernfalls bleibt für zu viele unter uns eine existentielle Lücke. Die Wissenschaften sprechen inzwischen von einer „Öffentlichen Theologie“, die dabei helfen muss. Sie muss an der Bedeutung von Glauben und Religion für das Wohl einer Gesellschaft vor Ort und an der Zukunft einer in Frieden versöhnten Weltgesellschaft arbeiten. Ich denke an die Befreiungstheologien und Politische Theologien, an theologisch orientierte Frauenstudien oder an das Projekt Weltethos als Beispiele, die den Weg zeigen können.

2. 4. Neubewertung der Entwicklung

Ich schlage Ihnen vor, in den grob umrissenen Entwicklungen nicht in erster Linie die Nachteile zu sehen. Klar, auch ich werde bisweilen nostalgisch, wenn ich an die Zeiten meiner Kindheit zurückdenke, als sonntags das ganze Dorf noch in der Kirche versammelt war und die Orgel – das einzig nennenswerte, für uns erreichbare und richtig laute Musikinstrument – ertönte. Ich höre uns noch am Christkönigsfest aus voller Kehle singen: „Ein Haus voll Glorie schauet …“. Solche Nostalgie bringt uns nicht weiter. Es ist viel sinnvoller, die positiven Folgen zu erspüren, die sich aus den Umbrüchen ergeben.

Erschließt neue geschichtliche Zusammenhänge:
Diese neue Sicht, von der oben die Rede war, erschließt neue geschichtliche Zusammenhänge, weil sie auf die differenzierten Interaktionen achtet, die sich in den vergangenen Jahrzehnten abgespielt haben. Wir können entdecken, dass wir uns nicht in einem katastrophalen Untergang, sondern in einem grandiosen Übergang befinden und dass es in der Geschichte des Christentums auch andere tiefgreifende Umbrüche gab. Wie mag sich ein traditioneller Judenchrist gefühlt haben, wenn es ihn unversehens nach Korinth oder Kolossä, nach Ephesus oder Thessaloniki verschlug, wie der kulturell anspruchsvolle Römer der ausgehenden Antike, wenn er in ein armseliges gallisches Kloster geriet, wie ein liturgisch hochgebildeter Spanier des 17. Jahrhunderts, wenn er an einem Gottesdienst im indischen Goa teilnahm?

Bei solchen Abbrüchen wurde vorher nichts falsch gemacht und unsere Alltagstheorien von einer Menschheit, die dem Materialismus, dem Hedonismus oder der Geldgier verfallen ist, greifen zu kurz. Wollen wir denn wirklich zum religiös domestizierten Europa der beiden Weltkriege zurück? Wer differenziert, kann nicht nur entdecken, warum, sondern auch wie sich unsere Welt umsortiert.

Fördert die Rekonstruktion von offiziellen Kirchentheorien:
Ferner erlaubt es uns unsere prekäre Situation, unser eigenes Kirchenverständnis kritisch und behutsam zu rekonstruieren. Was sich vor einem halben Jahrhundert noch wie ein massiver Block präsentierte, bröckelt auseinander. Also können wir die Einzelteile getrennt betrachten, einer Reinigung unterziehen und vielleicht neu zusammensetzen: Den ungeschmälerten Sinn der Taufe, die nicht domestizierte Bedeutung des Gemeinsamen Priestertums, die ursprünglichen Kriterien für die Autorität einer Kirchenleitung, den biblischen Sinn für das gemeinsame Brotbrechen, die verlorene Hochschätzung und problemlose Akzeptanz von Frauen bis hin zum Amt einer Apostelin. Wer sich dieser umfassenden Rekonstruktionsarbeit einmal verschrieben hat, wird nicht mehr mit schlechtem Gewissen, sondern aus Leidenschaft für die Sache Jesu gegen autoritäre Kirchenverhältnisse protestieren und sich von den schwierigen und endlosen innerkirchlichen Flügelbildungen nicht entmutigen lassen.

Schafft positiven Blick auf Säkularisierung:
Vor allem lernen wir, unsere Ängste vor den aktuellen Säkularisierungsprozessen abzustreifen. Es sind keine kirchen-, gar glaubensfeindlichen, sondern zutiefst menschliche Prozesse der kontinuierlichen Anpassung an Situationen, die oben umrissen wurden. Wir können ihnen einen guten Sinn abgewinnen, weil wir sie aus zutiefst menschlichen Reaktionen leben. Selbst die höchst gefährlichen Begleiterscheinungen der Macht- und Kapitalakkumulation sowie der wachsenden Verarmung einer Zweidrittelmenschheit sind nicht einfach die Folge der Säkularisierung, sondern der Macht- und Habgier, die es schon vorher gab. Deshalb müssen und können wir ihnen Widerstand leisten. Vor allem können wir offen zugeben, dass und wie sehr auch wir, kirchlich engagierte Christinnen und Christen, säkularisiert sind. Dieser nüchterne und entspannte, projektionsfreie Blick auf unsere Umwelt ist die Grundbedingung für einen wirklich kreativen Neubeginn. Klar muss aber sein, dass diese Zusammenhänge den Kirchen massive Grundlagenkorrekturen abverlangen, wenn sie die nächsten Jahrzehnte bestehen will.

Zwingt offizielle Kirche zu massiven Grundlagenkorrekturen:
Allerdings bleibt uns der eine schwere Gang nicht erspart. Wir müssen und können den Druck auf die offiziellen Strukturen unserer Kirche erhöhen. Viele von uns tun das nicht gern, auch ich könnte mir Schöneres vorstellen. Doch der sachgemäße Umgang mit den Säkularisierungsprozessen lässt uns keine andere Wahl. Diese Kirche wird ohne schwere Identitätsbrüche nur bestehen, wenn sie sich zu massiven Grundlagenkorrekturen entschließt. Man lese nur Ist die Kirche noch zu retten? von Hans Küng, Krypta von Hubert Wolf oder eine der zahlreichen kirchenkritischen Bücher von Eugen Drewermann, die konstruktiven Bücher von Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Elisabeth Moltmann-Wendel, Luise Schottroff oder andere klassische Kämpferinnern, ganz zu schweigen von denen die heute vor Ort Basis- und Überzeugungsarbeit leisten. Doch kann dieser Kampf in der Theologie nur vorbereitet, durchgefochten muss er an der Basis werden.

III. Autonomie der Gemeinden

Ich sagte es schon: Sprache und Denken von Kirchen und Religion bestehen die aktuellen Herausforderungen nur, wenn sie am Puls der Zeit bleiben und deren Erfahrungen aufnehmen, indem sie die Welt annehmen, ihr geschwisterlich und solidarisch auf Augenhöhe begegnen, statt sich über sie zu erheben. Uns als Kirche bleibt deshalb nur eine Zukunft, wenn das Schwergewicht des Glaubenslebens und der Glaubensinitiativen an die Basis, in die Gemeinden verlagert wird. Sie sind die Einheiten vor Ort, die mit ihren Lebensräumen in unmittelbarem Kontakt sind. In ihnen, der Lebenswelt, in der Gemeindeglieder und Mitglieder der säkularen Kommunen sich treffen, kommen Individuen zusammen, die den Alltag der Welt leben, sich in ihm auskennen und wohl auch am besten verstehen. Das Hauptproblem des Klerikalismus, der unsere Kirchen ausdorren lässt, ist nicht sein elitärer und autoritärer Charakter, sondern seine Welt- und Erfahrungsferne. So kann man nicht lernen, was Nachfolge Jesu vor Ort bedeutet. Die Gemeinden und elementare Gemeinschaften bilden dafür die unverzichtbare Basis.

3.1 Grundlagenbesinnung: Gemeinden als Basis

Biblische, historische, systematische Begründungen:
Gemeinde als Basis, das ist keine neue Idee und die biblischen Zusammenhänge sind auch in katholischen Gemeinden bekannt. In den Evangelien treten nur Glaubende ohne jede weitere Struktur in Erscheinung. Nachfolge Jesu meint zunächst Ereignisse und keine Institutionen, Begegnungen und keine Rechtsansprüche, Engagement in bestimmten Situationen der Not und der Mitmenschlichkeit und keine hoheitlich geregelte Heilsvermittlung. Nach heutigen Maßstäben lässt Paulus in Korinth eine ziemlich elementare, vielleicht chaotische Ordnung erkennen; man spricht von einer charismatischen Grundstruktur, weil alle vorhandenen Fähigkeiten einander prinzipiell gleichgeordnet sind. Sie alle gelten ohne jeden Unterschied als „Gnadengaben“ (Charismen).

Alle Mitglieder tun, wozu sie fähig sind, und Paulus beurteilt ihr Tun nach deren Nutzen für die Gesamtheit; diese Grundregel wird im „Hohelied der Liebe“ (1 Kor 13) unterstrichen. Es ist kein romantischer Hymnus, sondern ein ziemlich scharfes Schwert gegen die Eitlen, Autoritären und Egozentriker, die die Gemeinde gerne in ihrem Sinn aufmischen möchten. Zwar kennt Paulus (wie die Apostelgeschichte und die Pastoralbriefe) schon feststehende Rollenbezeichnungen: Apostel, Evangelisten, Propheten, Zungenredner und deren Übersetzer, Lehrer, Krankenheiler und solche, die die Wahrheit zu ergründen und andere, die die Geister zu unterscheiden wissen, später Diakone, Presbyter und Episkopen (Bischöfe). Doch einige Rollenbezeichnungen sind für unser Verständnis unklar, von keiner wird erklärt, sie sei anderen prinzipiell übergeordnet und von keinem dieser Ämter werden Frauen ausgeschlossen. Die Aufgabe der Gemeindeleitung bleibt offensichtlich auf ihre funktionalen Zuständigkeiten begrenzt. Eine Sonderrolle nehmen allenfalls die Apostel und Apostelinnen ein, die für das ursprüngliche Zeugnis garantieren und/oder denen als Gemeindegründerinnen eine natürliche Autorität zukommt.

Historisches Nachfragen kann zeigen: Vieles, was wir lange für unabänderlich hielten, gehört nicht zum ursprünglichen Kern einer christlichen Gemeinde. Immer wurde es aus bestimmten Kontexten und Interessen geboren. Daraus folgen explosive Fragen. Gehört z.B. zum Wesen der Kirche die klassische Dreiteilung der Amtsstruktur Diakone, Priester und Bischöfe, wenn bis heute ihre gegenseitige Zuordnung noch ungeklärt ist? Können wir die intransparente Willkür von Bischofsernennungen akzeptieren, wenn in der gesamten Spätantike die Gemeindewahl oder deren Zustimmung die eiserne Voraussetzung einer Bischofsernennung war? Signalisiert das Violett der Hierarchie nicht eine unchristliche Anmaßung, wenn es ihr ursprünglich vom byzantinischen Hof verliehen wurde? Haben die Glaubenswächter nicht seit 325 (Konzil von Nikaia) mit staatlichen Zwangsmitteln gearbeitet, wenn man damals schon den wahren Christusglauben zum Reichsgesetz erheben ließ? Und müsste das System der Großdiözesen in Deutschland nicht endlich zerschlagen werden, nachdem es von Otto I. (gest. 973) und einigen Nachfolgern mit dem Ziel einer strammen Reichsverwaltung kreiert wurde? Fragen über Fragen stürzen auf uns ein, die den Anschein einer unangreifbaren Institution ruinieren.

„Meine Herren, es wackelt alles“, soll schon 1896, also vor 120 Jahren, der junge evangelische Theologe Ernst Troeltsch in einer Debatte gerufen haben. Diese Erkenntnis ist inzwischen auch bei uns angekommen. Kaum eine Berufung auf die Geschichte kann uns irgendeine Gewissheit schaffen, außer der, dass wir unsere ganze Geschichte in den Gemeinden neu zu rekapitulieren und zu bewerten haben. Nicht ohne Grund ist die Geschichte des Jesus von Nazareth in unserem Bewusstsein so ins Zentrum gerückt. Seine Nachfolge ist nicht das fromme Sahnehäubchen eines christlichen Lebens, sondern dessen unverrückbare Grundlage, die vieles Andere einer unnachgiebigen Kritik unterzieht. Erinnern wir uns erst an ihn, bevor wir uns an Augustinus von Hippo, an Thomas von Aquin oder an Johannes Paul II. erinnern.

Systematisch-theologisch lässt sich seit der Kirchenkonstitution des 2. Vatikanischen Konzils (Lumen Gentium) die elementare Bedeutung des „Volkes Gottes“, also der Gemeinden, nicht mehr verharmlosen. Ich halte es für einen Skandal, dass dieser zentrale Impuls der 1960er Jahre verdrängt, totgeschwiegen oder verharmlost wurde. Schuld dafür trug die Gemeinschaft der Konzilsteilnehmer selbst. Sie ließ in den amtlichen Endtexten viel zu viele Kompromisse und Widersprüche zu. So konnte jede Partei diejenigen Rosinen herauspicken, die ihr behagten. Zu einem guten systematisch-theologischen Gespräch gehören – ebenso wie zu einer guten Auseinandersetzung in einer Gemeinde – eben auch gegenseitige Fairness und der Wille zum gegenseitigen Verstehen.

Grundirrtum der katholischen Kirchenstruktur:
Das sind erstaunliche Ergebnisse. Was aber ist aus ihnen zu schließen? Es wäre naiv, einfach zu neutestamentlichen Verhältnissen zurückkehren zu wollen, denn nicht jede weitere Entwicklung muss Abkehr von der biblischen Botschaft bedeuten. Sie ergibt sich nicht aus der Repetition biblischer Schriftworte, sondern aus deren Interaktion mit der Gegenwart. Deshalb müssen wir den Mut haben, spätere Entwicklungsschritte aus ihren und unsere Reformziele von den gegenwärtigen Zeitverhältnissen heraus zu beurteilen. Ich möchte das Vergangene nicht einfach verurteilen, weil vieles im Rahmen damaliger Regeln und Auffassungen seinen guten Sinn hatte. Aber diese Zeitverhältnisse haben sich so massiv geändert, dass wir die frühere Autoritätspraxis und Zweiklassenkirche, den oft nur sanften Ausschluss der Frauen und die starken Kommunikationsmängel nicht mehr akzeptieren können, den Antijudaismus und Ausschließlichkeitsanspruch als menschenverachtend wahrnehmen müssen.

Hinzu kommt eine frappante Entdeckung: Unsere heutigen Erwartungen an eine menschenfreundliche Kirche entspringen nicht einfach dem modernen Zeitgeist, sondern finden im Neuen Testament und in der Frühen Kirche eine hohe Entsprechung. Ich wage es kaum zu sagen, weil es arrogant klingt: Unser aktuelles säkularisiertes Bewusstsein wird in der ursprünglichen Botschaft Jesu in höchstem Maße bestätig. So geraten spätere Entwicklungen in die Zwickmühle zwischen Beginn und Gegenwart, während uns eine ganz neue Gegenwart jesuanischer Glaubenspraxis geschenkt wird.

So zeigt sich angesichts einer säkularen Gesellschaft in aller Deutlichkeit der Grundirrtum der römisch-katholischen Kirchenstruktur, die nicht partizipatorisch (oder demokratisch) von unten nach oben, sondern autoritär von oben nach unten konstruiert ist. Bis heute hält Rom mit einer erstaunlichen Unbelehrbarkeit an diesem unchristlich-hierarchischen Prinzip fest, obwohl das 2. Vatikanische Konzil den Vatikan eines Besseren hätte belehren können.

Neues Selbstbewusstsein überlebenswichtig:
In der nachkonziliaren Zeit wurden solche Gedanken immer wieder als protestantisch und als kirchenkritisch diskriminiert. Im Grunde hat das lange am Selbstbewusstsein katholische Gemeinden genagt, denn zu Recht wollten auch sie sich den Ehrentitel einer kirchlichen Gesinnung nicht nehmen lassen. Allmählich dämmert vielen Gemeinden: Sie dürfen nicht nur ein eigenes Selbstbewusstsein entwickeln, sondern sie müssen es, wenn sie denn die große Aufgabe anpacken wollen, die ihnen aufgetragen ist. Dieses neue Selbstbewusstsein der Gemeinde ist überlebenswichtig, wenn die Kirche in unserem Kulturkreis nicht an Auszehrung sterben soll. Nur so gelingt es ihr, den ihr angemessenen Weg offen zu erkunden, engagiert zu diskutieren und entschlossen zu gehen. Sie muss aller Heteronomie den Abschied geben. Dazu gehört alle Abhängigkeit von übergeordneten Instanzen, die sie in ihrem Gewissen nicht nachvollziehen kann. Reformwege beginnen im Kopf, in der Mentalität und mit einer Vision, die aus dem eigenen Herzen kommt. Es gehört zur Erfahrung der christlichen Botschaft, dass sie genau zu diesem Weg und nicht zu einem ferngesteuerten Funktionieren einlädt. Wir sind keine Drohnen, die von höheren Instanzen geleitet und kontrolliert werden.

3.2 Zwischen Sakralität und Weltlichkeit:

Ein Haupthindernis für die Autonomie der Gemeinden liegt in der einseitigen Sakralisierung kirchlicher Institutionen und Leitungsämter. Ich nehme das Verhältnis von Sakralität und Weltlichkeit zunächst ganz grundsätzlich in den Blick.

Was meint in diesem Zusammenhang Sakralität?
Die Religionswissenschaften definieren Kirche und Religion aus ihrer Polarität zum Profanen. Es gibt heilige Orte (z.B. Tempel) innerhalb einer profanen Welt, heilige Zeiten (Festtage) im profanen Alltag und heilige Personen (Priester/innen) gegenüber den profanen Machern, die die Geschäfte der Welt besorgen. Ist dieser Dualismus so selbstverständlich oder wenigstens klar?

Nein, denn die verschiedenen Religionen gestalten ihn sehr unterschiedlich und selbst zwischen den evangelischen und der römisch-katholischen Kirche zeigen sich grundlegende Differenzen. Die beiden Pole können sich rein pragmatisch ergänzen. Menschen brauchen einen Rhythmus im ständigen Wechsel, weil diese Welt eben von einem umfassenderen Geheimnis getragen wird. Das Judentum begründet den Rhythmus von Werktagen und Sabbat bemerkenswert nüchtern; die Menschen sollen regelmäßig ausruhen, um wieder zu sich selbst zu kommen.

Dabei können Sakralität und Weltlichkeit viele Schnittmengen und unausgesprochene Übergänge zeigen. So galt (und gilt) politische Macht in vielen Kulturen als heilig, stark ausgeprägt bei der traditionellen Herrschaftsfigur des Königtums, aber auch in vielen Demokratien. Die Koppelung von Macht (Leitungsbefugnis) und Sakralität ist in der christlichen Tradition stark ausgeprägt. Bis heute sind das Violett, die Mitra und der Stab weltliche Herrschaftszeichen und innerkirchliche Leitungsansprüche sind mit der Attitüde der Obrigkeit versehen. Die Bischöfe beanspruchen „Vollmacht“, Rechte, von Gott oder Christus verliehene Vorzüge; der Papst nennt sich sogar „Stellvertreter Christi“, was ursprünglich ein Titel kaiserlicher Herrschaft war. Wie sich an mittelalterlichen Konflikten gut zeigen lässt, hat die christliche Tradition ihre Sakralität nicht einfach als polaren Gegensatz zur Profanität, sondern als überlegenen Herrschaftsanspruch gegenüber dem Weltlichen begriffen (klassisch dafür der Investiturstreit, 1076-1122). Diese spezifische Konkretisierung des Sakralen kommt spätestens jetzt an ihr Ende. Doch sehen wir genauer zu.

Sakrale Institutionen autoritär gefüllt:
In der christlichen Tradition wird Sakralität, wie sie Großkirchen (vor allem die römisch-katholische Kirche) bis heute leben und verteidigen, nicht als ein polares Gegenüber oder als eine geistliche Steigerung oder Überhöhung (wie in den östlich-orthodoxen Kirchen), sondern als eine durchsetzbare Überlegenheit verstanden. Dies ist das Erbe der sog. Gregorianischen Reform, die ihren Namen von Papst Gregor VII. (gest. 1085) erhielt. In seinem Schlüsseldokument, der Dictatus Papae (1075), erklärt er den Papst zum obersten Herrn selbst über den Kaiser. Er kann von niemandem gerichtet werden, Bischöfe ein- und absetzen, den Kaiser absetzen, kaiserliche Herrschaftsabzeichen verwenden und als einziger sich „universal“ nennen; sein Name sei einzigartig (unicum) auf der Welt; die römische Kirche sei niemals in Irrtum verfallen und werde nach dem Zeugnis der Schrift niemals irren. In These 23 steht ein für uns besonders interessanter Satz: Er behauptet, „dass der römische Bischof, falls er kanonisch eingesetzt ist, durch die Verdienste des heiligen Petrus unzweifelhaft heilig wird …“.

Diese Behauptung zeigt in höchster Prägnanz, was für eine Idee von Heiligkeit sich jetzt durchgesetzt hat. Sie hat nicht viel mit moralischer Heiligkeit zu tun, meint aber einen unberührbaren, absolut überlegenen, mit höchster Macht ausgestatteten Status, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Kirche. Daraus spricht ein absolut autoritäres Verständnis von Sakralität. Ob das heute noch gilt? Natürlich werden nur noch die Hardliner unter den Bischöfen eine solche Position vertreten. Doch vergessen wir nicht: Der innere Anspruch dieser Art von Sakralität ist im offiziellen Kirchenbild (bis hin zum Unfehlbarkeitsdogma) niederlegt. Die meisten Bischöfe werden streng zwischen persönlicher Bescheidenheit und offiziellem Heilsanspruch unterscheiden. Aber auch sie leben in diesem autoritären Denken, weil sie es einfach für richtig halten. Es äußert sich in den tausend Fällen, in denen engagierte Katholikinnen und Katholiken mit ihren Bitten, Vorschlägen oder kritischen Bemerkungen an einer Mauer der Überlegenheit abprallen. Die Öffentlichkeit hat für diese autoritäre Mentalität ein deutliches Gespür; insofern verstehen sie die Bischöfe besser als es diesen lieb sein kann. Säkularisierung heißt nicht simpel Abkehr von Religion, sondern die Ablehnung eines solchen religiös maskierten Autoritarismus.

Blockieren Reformen:
Blockiert dieses autoritäre Verständnis von Heiligkeit wirklich Reformen? Können wir auch unter den Kirchenleitern nicht eine große Anzahl von unabhängigen Geistern erwarten, die den inneren, zutiefst christlichen Sinn unserer Hoffnungen nehmen und uns unterstützen? Es kommt ein wichtiger Gesichtspunkt hinzu, der sich ebenfalls im 11. und 12. Jahrhundert entschieden hat. Es geht um den Begriff der Transsubstantiation, der 1079 zum ersten Mal auf einer römischen Synode diskutiert und 1215 vom 4. Laterankonzil offiziell übernommen wurde. Voraus geht eine lange und ausführliche Diskussion, die schon viel früher begann, jetzt aber auf die Spitze getrieben wurde. Vielen reichte es nicht mehr, Brot und Wein als Zeichen der Gegenwart Christi zu deuten. Zwar konnte Albert der Große (gest. 1250) noch erklären, die Lehre von der Transsubstantiation habe die ganze Philosophie gegen sich. Dennoch setzte sich offiziell die Theorie durch: Dieses Brot ist nicht mehr Brot, durch göttliche Allmacht sieht es nur noch so aus. Das bedeutet: die göttliche Allmacht kann auch mit meinen Sinnen spielen. Die Broteigenschaften sind zwar noch da, aber sie sind im Grunde Täuschung.

Dies sei hier nicht weiter diskutiert, aber hinzuweisen ist auf die Folge für unser Kirchenbild und unser Bild von den Priestern, denen jetzt eine ungeheuerliche Wandlungsvollmacht zufällt. Sie nehmen jetzt an der „Willkürallmacht Gottes“ teil (K. Flasch). Damit hat die Überhitzung kirchlicher Sakralität eine letzte Stufe erreicht. Sie steht der Welt nicht mehr polar gegenüber, sondern kann Naturgesetze buchstäblich außer Kraft setzen.

Benedikt XVI. hat im Juni 2009 in einem offiziellen Schreiben mit eigener Zustimmung den Pfarrer von Ars zitiert: „Ohne das Sakrament der Weihe hätten wir den Herrn nicht. Wer hat ihn in den Tabernakel gesetzt? …Wenn wir recht begreifen würden, was ein Priester ist, würden wir sterben … Ohne den Priester würden der Tod und das Leiden unseres Herrn zu nichts nützen. … Der Priester besitzt den Schlüssel zu den himmlischen Sätzen: Er ist es, der die Tür öffnet, er ist der Haushälter des lieben Gottes.“ Mit seinen Händen (mit seinen „kanonischen Fingern“, hieß es in vorkonziliarer Zeit) berührt er täglich den Gottessohn; so liegt es in der Logik dieser Vorstellung, dass er keinen Frauenleib mehr berühren darf.

In diesem – im wahren Sinn des Wortes – weltfernen Priesterbild spiegelt sich das offizielle Bild wider, das die römisch-katholische Kirche von sich selbst hat. Und das hat viel mit der gegenwärtigen Blockade der angemahnten Reformen zu tun. Wer nämlich meint, in dieser Weise die Schlüssel zum Himmel zu besitzen, nicht nur eine dinglich sakramentalistische Vollmacht, sondern eine ebenso dingliche Einsicht in Gottes Wahrheit zu besitzen, der kann und der darf sich nicht von unbedarften Menschen irritieren lassen, die an dieser „Willkürallmacht Gottes“ keinen Anteil haben. Substantielle Reformen müssen blockiert werden, weil sie der unfehlbar sanktionierten Tradition widersprechen.

Gelten als unverzichtbar:
Wir sind zum Kern des Problems vorgedrungen. Dieses über-hebliche Selbstbild der Kirche und ihrer klerikalen Vollmachten muss mit den aktuellen Säkularisierungstendenzen in einen unmittelbaren und unlösbaren Konflikt geraten. Das offizielle römisch-katholische Kirchenbild erlaubt prinzipiell keine Kompromisse, weil sein Gott keine Kompromisse zulässt. Eine jede Anfrage, die die Substanz dieses Klerikalismus trifft, beweist nur, dass an den klassischen Theorien der Gregorianischen Reform festzuhalten ist. Je mehr sie angegriffen werden, umso mehr verdichtet sich die Überzeugung, dass sie unverzichtbar sind. Wir befinden uns deshalb in einem Teufelskreis und können ihn nur sprengen, indem wir ihn missachten.

Tödlicher Widerspruch:
Prinzipiell ist der Widerspruch, in dem sich Säkularisierung und römischer Katholizismus befinden, tödlich. Ich glaube nicht, dass wir ihn mit Kompromissen oder mit noch mehr Protestaktionen lösen können. Vielleicht müssen wir uns und unsere Geschwister in und außerhalb unserer Gemeinden ablenken oder durch paradoxe Interventionen Verwirrung schaffen, z.B. die Bischöfe dazu auffordern, ihr dogmatisches Glaubenssystem bis in die letzten Konsequenzen auszuführen, damit sie sich mit deren Absurdität konfrontieren, oder ihre Überzeugungen als ihre freiwilligen Entscheidungen oder intellektuellen Irrtümer umdeuten, damit sie gezwungen sind, sich vernünftig zu erklären. Ich bin kein Psychologe. Mich verwirrt aber, dass viele Glaubenshüter durch nichts so irritiert werden, wie durch psychotherapeutische Reaktionen. Das alles müssen Fachleute entscheiden. Für uns ist es wichtig, dass wir uns dem Erstickungstod durch Dogmatisten entziehen.

3.3. Das Paradox eines verweltlichten Glaubens

Kirche: Gegenpol zum Profanen?
Vor diesen Hintergründen lässt sich auch ein allgemeines Missverständnis aufklären, das uns alle gefangen nimmt. Wir versuchen, den aktuellen Gegensatz zwischen Religion und Säkularisierung aufzulösen, indem wir die beiden als gleichrangige Gegenpole verstehen. Wir fragen uns: Warum können säkularisierte Menschen, auch wenn sie zugleich gläubige Menschen sind, nicht einfach miteinander sprechen und aufeinander eingehen? Wenn das nicht gelingt, sind wir geneigt, der einen oder der anderen Seite Sturheit, Dummheit oder bösen Willen zu unterstellen.

Dabei übersehen wir das eigentliche Problem, das gerade diskutiert worden ist: Kirche und Säkularisierung sind keine polaren, sondern asymmetrische Größen. Vielen säkularisierten Menschen sind die über-menschlichen Vollmachtsansprüche der Kirche (vgl. Transsubstantiation) nicht bewusst und die offiziellen Kirchenvertreter können in zentral kirchlichen Fragen überhaupt nicht mit den Menschen sprechen; sie sprechen höchstens über sie. Aus diesem Grund wird sich der Relevanzverlust der Kirchen noch weiter verstärken, bis auch wir bei skandinavischen oder französischen Verhältnissen angelangt sind, wo man „die religiöse Sprache verloren hat“ (D. Terstriep SJ).

Übersieht ihre eigene Säkularisierung:
Doch hat dieses Missverhältnis auch einen anderen Grund, der aus dem genannten folgt. Wir engagierte Frauen und Männer, die wir uns vielleicht einer Gemeinde oder einer christlichen Gruppe verbunden fühlen, also religiös sein wollen, wir übersehen, dass und wie sehr wir selbst säkularisiert sind. Sofern wir zu uns, zu einem historisch und rational verantworteten Glauben gefunden haben, leben wir zu unserer säkularen Umgebung in einem entspannten Verhältnis. Dennoch reagieren wir bisweilen paradox: Wir verteidigen einen säkularen Lebensstil (der unser religiöses Engagement nicht ausschließt) und sind in kirchlichen Angelegenheit verunsichert. Von Freundinnen und Freunden höre ich immer wieder: „Ich kann nicht mehr an Christus glauben.“ Nach unserem Selbstgefühl haben wir uns vom Zentrum römisch-katholischer Wahrheit entfernt.

Wir müssen uns klarmachen, dass wir uns in dieser Selbsteinschätzung täuschen. Reformarbeit muss mit intellektueller Konsequenz beginnen. Ich schlage vor, das eigene Glaubensgebäude konsequent von der biblischen Jesuserzählung aufzubauen, die wir heute in einer gut verantworteten Weise lesen können. Konsequent ist sie dann, wenn wir die traditionellen Zugaben, so schön sie auch sein mögen, nicht unbedingt abtreiben, aber relativieren. Sie haben sich an Jesus selbst, nicht einmal an Paulus oder irgendwelchen Kirchenvätern zu messen. Bei diesem Versuch lässt sich schnell entdecken, wie säkular, wie menschenbezogen und wie gesellschaftlich positioniert diese Erzählung ist. Man sieht es an den Inhalten der Gleichnisse, an den Grundthemen der Bergpredigt und an den Visionen der Seligpreisungen. Man wird auch entdecken, dass er von sich selbst wohl kaum geredet hat. Die späteren Spekulationen über sich, seinen Vater und Gottes Geist hätte er ohnehin nicht verstanden.

Schwächt dadurch ihr Glaubensverständnis:
Meine These lautet: Wer mit der Säkularisierung fremdelt, schwächt dadurch sein eigenes Glaubensverständnis, oder vorsichtiger gesagt: entzieht seinem Glauben dessen Realitätsnähe und konkrete Lebenskraft. Das gilt für uns als Individuen, als kirchliche Gemeinschaft und als umfassende Kirche. Sich auf die Säkularisierung einzulassen bedeutet nicht, sich dem Blick für die Schrecken und die Grauen unserer Welt zu entziehen. Man kann es an Papst Franziskus sehen. Gerade weil die Öffentlichkeit weiß, wie sehr er aus dem Kokon seiner Hierarchenwelt heraustritt, auf die Menschen zugeht und Nähe zu ihnen sucht, gerade deshalb wird seine Kritik an Wirtschaft und Politik, an der mörderischen Ungerechtigkeit unserer Gegenwart ernstgenommen. Wer unsere säkularisierte Welt nur aus der Brille eines abstrakten Gottesglaubens sieht, kennt auch ihre Abgründe nicht. Nur wer konkrete Solidarität mit ihr übt, kann mir ihr und an ihr leiden sowie die Gegenkräfte des Friedens mobilisieren. Nur in diesem Sinn bringen es säkulare Menschen auch fertig, die universale Reichweite der christlichen Botschaft und anderer religiöser Botschaften wahrzunehmen.

Reformkräfte: Sich diesem Bann entziehen:
In den wohlhabenden, politisch und sozial relativ stabilen Ländern droht für christliche Reformbewegungen eine Gefahr. Sie verzetteln sich gerne in vielfache Fragen oder gar in abstrakt globale Diskussionen über die Weltsituation. In Lateinamerika oder in afrikanischen Ländern drängen sich konkrete Fragen von alleine auf. Politisch wache Christ/innen wissen, worum sie sich zu kümmern haben. Ein Hauch von dieser wohltuenden Direktheit wird uns von den befreiungstheologischen und feministischen Schallwellen übermittelt, die uns erreichen. Deshalb vermute ich, dass sie keine Diskussionen über Säkularität und Säkularisierung führen müssen.

Wie steht es bei uns? In anderem Zusammenhang (der Frage nach dem Teufel) sprach Karl Barth einmal von einem „kurzen kräftigen Blick“ der darauf zu werfen sei, danach solle man, bitte, wieder zur eigentlichen Sache zurückkommen. Das gilt auch für die Diskussion über die Säkularisierung. Es ist wichtig, einmal über sie nachzudenken. Sie darf aber kein selbstverliebter Dauerbrenner werden und kein Anlass zur Frage werden, ob Gott denn nun an- oder abwesend ist. So oder so sehen wir – wiederum mit Papst Franziskus – Gott in allen Dingen und in einem jeden Menschen. Und in jedem Fall ist Gott dort fern, wo Menschen verachtet, vernichtet, im Stich gelassen oder gar getötet werden. Wer dies verstanden hat, kann die Diskussion zur Säkularisierung ruhig den Fachleuten überlassen.

3.4 Gemeinden kommen zu sich

Wie schon gesagt, ist ein neues Selbstbewusstsein für die Gemeinden überlebenswichtig, sonst werden sie für die Welt bedeutungslos und bedeutungslos wird mit ihnen die Kirche. Hängt diese Drohung nicht wie ein Damoklesschwert über ihr? Ich glaube nicht; ich möchte folgendes Zukunftsszenario vorschlagen, dass Drohung und Chancen zusammen fügt.

Klassische Seelsorge bricht zusammen:
Alle Prognosen und die faktische Entwicklung übermitteln dieselbe Botschaft. Die Priesterberufe in Deutschland sinken gegen Null. Der Import von Priestern aus anderen Kulturkreisen kann diesen Missstand nicht beheben und aus dogmatischen Gründen wird man Frauen aus den Kernämtern nach wie vor ausschließen und den Zölibat nicht lockern. Und selbst, wenn der Zölibat gelockert wird, wird sich die Anzahl der Priester nicht wesentlich erhöhen. Die Bischöfe haben bislang mit einer Aufhebung oder Zusammenlegung von Gemeinden reagiert. Damit schaufeln sie ihrer eigenen Seelsorge das Grab.

Für viele Gemeinden ein Glücksfall:
Doch bin ich mir sicher: Das bedeutet gerade nicht das Ende der Gemeinden, also nicht das Ende von christlichen Gemeinschaften, die an einem überschaubaren Wohnraum leben, einander kennen und ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit, also auch einen gemeinsamen Glauben und eine gemeinsame Glaubenspraxis entwickeln. Je mehr die traditionelle Seelsorge ihren Abschied nehmen muss, umso stärker werden die Gemeinden, die zu eigenem Handeln fähig sind, eigene Gottesdienste feiern und die Verkündigung der Botschaft selbst in die Hand nehmen. Es gibt heute schon hoffnungsvolle Beispiele für diese Entwicklung.

Faktisch agieren sie selbständig:
Diese neue Situation wird die Gemeinden – ich rede sehr global, aber nicht unrealistisch – in eine elementare, geradezu frühchristliche Situation zurückführen. Sie werden ihre eigenen Wege, Ausdrucksformen und Lösungen finden müssen. Das wird sie von keinen Schwierigkeiten und Konflikten befreien, wie auch das frühe Christentum mit Problemen über Probleme zu kämpfen hatte. Aber sie werden – ohne die Zwänge einer selbstverliebten Tradition – ihren Sinn und ihre Aufgaben vor Ort finden, dort also, wo sie für andere Menschen da sein können. Diese neue Freiheit wird sie nicht zu spirituellen Egoisten und Eigenbrötlern machen, denn in ihr können sie die Gemeinschaft mit anderen Gemeinden suchen, mit denen sie eine Kirche bilden. Eine autonome und selbstverantwortete Haltung ermöglicht es nämlich, sich für andere zu öffnen, die vom selben Ziel beseelt sind.

Entdecken so ihre Kompetenzen (Charismen):
Ist das wirklich eine Rückkehr zu frühchristlichen Verhältnissen? Bestimmt eine Rückkehr, in der das paulinische Ideal einer charismatischen Struktur, von der schon die Rede war, wieder zur Geltung kommt. Engagierte Christ/innen sind heute bereit, ihre Gaben zur Verfügung zu stellen, und sie sind durch eine gute Ausbildung und ein selbstverantwortliches Berufsleben in der Regel gut ausgebildet. Andere, die keine berufliche Karriere machen konnten, brennen darauf, an anderen Orten ihre Fähigkeiten zu erproben. Vielleicht werden die Bischöfe auch entdecken, dass sie bislang viel Energie in den absurden Versuch gesteckt haben, diese Begabungen zurückzudrängen und als Unbotmäßigkeit zu interpretieren.

So setzt das Konzept einer Kirche, die von der Basis her arbeitet, ungeahnte Kompetenzen frei. Es ist der einzige Weg, die gesellschaftliche Relevanz der christlichen Botschaft gerade in einer säkularisierten Gesellschaft in unerwarteter Weise zu stärken.

IV. Das Reich Gottes und die Pforten der Hölle

4.1 Suche nach Zukunft oder Identität

Wer sind wir, woher kommen wir und wohin gehen wir? Diese Fragen sind uns geläufig. Es gibt viele Gelegenheiten, sie zu stellen und sie werden in allen Weltreligionen gründlich bearbeitet, auch im Christentum. Wie aber sehen unsere Antworten aus? Sie sind merkwürdig dünn geworden und werden kontrovers beantwortet. Viele von uns müssen lange nachdenken, bevor sie eine Antwort wagen, und vor allem: Die offiziellen Antworten, die uns die Kirchen geben, überzeugen viele Christ/innen nur noch bedingt, die Öffentlichkeit kaum mehr. Ein erfolgreicher Industrieller, der mit jährlich acht Millionen verdienstvolle Bildungs-, Sozial- und Kulturprojekte unterstützt, brachte es letzthin auf den Punkt: „Kirche? Eine Tankstelle ohne Sprit“. Vornehmer ausgedrückt: Zwar beschäftigen sich unsere Kirchen schon immer mit ihrer Identität und seit 1952 tut die römisch-katholische Kirche dies mit höchster Intensität, doch ihre gesellschaftliche Relevanz nimmt immer mehr ab, dennoch oder gerade deshalb?

Dilemma zwischen Identität und Relevanz:
Eine jede Institution, die für andere Menschen und in der Öffentlichkeit eine Rolle spielt, bewegt sich zwischen den beiden Fragen: Wer/was bin ich? Und: Was bedeute ich? Sie kann ihre eigene Identität herausarbeiten und nach Kräften betonen („Mir san mir!“), die Signale ihrer Identität zu erkennen geben. Dann wird sie gewiss erkennbar. Doch sie provoziert auch die Frage: Wofür ist sie gut? Sie kann auch ihrer Relevanz nach vorne rücken und sich an dem messen, was sie alles tut und wie viel Erfolg sie hat, sei es durch die gute Arbeit etwa eines Krankenhauses, das sich einen guten Ruf erwirbt, sei es durch Reklame eines Betriebs, dessen Produkte sich gut verkaufen. Dann muss diese Institution daraus achten, dass sie oder ihre Produkt seine Identität behält. An jedem Auto sind Marke und Firma erkennbar, andernfalls nützt ihr für die eigene Zukunft die Qualität ihres Produktes nicht.

Bei Kirchen oder anderen Weltanschauungsgemeinschaften sind die Zusammenhänge komplizierter. Schließlich ist eine Kirche keine produktorientierte Firma, will also keine Produkte zum eigenen Vorteil an die Kundschaft bringen. Vielmehr geht es ihr um Wahrheit, um Liebe und um eine entsprechende Zukunftsvision, doch sind auch diese Aktivitäten nicht zwecklos. Wie alle Religionen gehen sie davon aus, dass sie Mensch und Gesellschaft etwas zu sagen haben. Deshalb können auch sie nicht der Frage ausweichen: Worauf müssen wir in erster Linie achten, auf unsere Identität oder auf unsere Relevanz? Die Balance zwischen beiden kann für alle Kirchen zu einem schwierigen Dilemma werden, doch in verschiedener Weise. Ich beschränke mich im Folgenden auf die römisch-katholische Kirche.

Identitätsfragen blockieren Auftrag zur Relevanz:
Die offizielle Kirche weiß über ihre Identität genauestens Bescheid, jedenfalls ist das ihre Überzeugung. Seit der Zeit der Gregorianischen Reform hat sie eine äußerst differenzierte Kirchenlehre entwickelt; die Fachleute sprechen von ihrer Ekklesiologie. Darin ist ihre Herkunft (und Stiftung durch Jesus Christus), sind die Vollmachten der Hierarchie (vom Priester bis zum Papst), die Sakramente (von der Taufe bis zur Krankensalbung) und die Pflichten der Gläubigen dargelegt. Doch bis weit über das 2. Vatikanum hinaus bleibt der Grundzug dieses Kirchenbildes trotz seiner vielfachen Variationen immer derselbe. Die Kirche spricht von ihrem Auftrag, ihren Rechten und ihrer Vollmacht, die Menschen über die Wahrheit zu belehren. Mehr noch, im Kern versteht sie sich als die Quelle der göttlichen Wahrheit. Sie hat die Vollmacht, diese untrüglich zu verkünden.

Es geht also um ihre Identität und weil sie so ist, wie sie ist, ist sie relevant. Man sieht die Einbahnstraße: Wer die Wahrheit sagt, so der Gedanke, ist für Welt und Gesellschaft automatisch relevant. Wer also die Relevanz der kirchlichen Botschaft bezweifelt, hat von dieser Wahrheit nichts begriffen. In ihrem offiziellen Selbstverständnis tappt die römisch-katholische Kirche in die Falle ihrer oben beschriebenen Idee einer Vollmacht, die zur Not auch Brot in Christi Leib verwandeln kann, weil ihre Priester Haushälter Christi seien, ohne die Christus nicht in den Tabernakel käme.

Vielleicht erheben hier die Theolog/innen unter Ihnen Widerspruch, weil unsere hochanerkannten Theologen vom Fach (z.B. Walter Kasper) konstant von der Geschichtlichkeit der Offenbarung reden. Ja, sie tun das. Aber sie verschweigen, dass ihre Geschichtlichkeit eine klare ungeschichtliche Grenze hat, dort nämlich, wo sich die Kirche dogmatisch festgelegt hat.

Dies führt seit einiger Zeit – vor allem seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus – zu seltsamer Nervosität. Immer öfters versuchen sich unsere Bischöfe aus dem Dilemma zu retten, indem sie uns erklären, welchen gesellschaftlichen Nutzen die kirchliche Lehre doch habe. Dabei weichen sie auf Zweitrangiges aus. Über ihre Gotteslehre, die Lehre von Christus oder darüber, was das christliche Heil bedeutet, schweigen sie sich aus. Johannes Röser von Christ in der Gegenwart hat diesen Missstand vor einigen Wochen aufs Korn benommen. Faktisch blockiert dieses absolute, unfehlbare, unveränderliche, von Gottes Geist garantierte Identitätsbewusstsein die Bereitschaft, über die Relevanz kirchlicher Verkündigung und kirchlichen Handelns nachzudenken. Was unmittelbar von Gott oder Christus hergeleitet wird, das schwebt in höheren Sphären, denen wir uns in Demut zu beugen haben. Auf diese Weise ist Gott aber nicht in unserer Mitte.

Zu oft werden Medium und Ziel verwechselt:
Ich kann das Problem auch anders benennen: Jede Firma, jedes Orchester und jedes wissenschaftliche Institut wird danach beurteilt, ob ihre Produkte, seine Konzerte oder seine Forschungsergebnisse überzeugen. Die Kirchen sind aber dazu geneigt (und in der römischen Kirche wird das ausdrücklich bestätigt), sich selbst mit dem Ziel zu verwechseln. Uns Katholik/innen steckt immer noch die theologische Losung der Barockzeit in den Knochen: es gilt, den Triumph der Gnade sichtbar zu machen. In der Folge dieser Logik wird dafür gesorgt, dass Bistümer und Gemeinden, dass ihre Liturgien und ihre Selbstdarstellung möglichst gut gelingen. Oder moderner gesagt: Je besser es einer Kirche geht, umso besser für die Welt.

Wirklich? Wir haben vergessen, dass wir mit unserem kirchlichen Handeln nur das Medium sind. Die christliche Botschaft gehört nicht uns, sie gehört der Welt. Ebenso wenig sind wir das Ziel dieser Botschaft, weil sie der Welt weiterzugeben und für sie zu leben ist. Wir sind allenfalls das Medium, nicht das Ziel.

Diese Verhältnisbestimmung mag frustrierend sein, wenn wir den geringen Erfolg in unserer Gegenwart zur Kenntnis nehmen. Umso wichtiger ist es, dass wir Klarheit über unsere Vision und die Parameter gewinnen, die aus ihr folgen. In ihr zeigt sich, dass die Kirche ohnehin nur ein Provisorium ist, das sich dort erübrigt, wo das Reich Gottes beginnen kann. Dies kann ein Blick auf die Evangelien noch deutlicher zeigen.

4.2 Die Doppelbotschaft der Evangelien

Die Evangelien sind wunderbare Texte. In der Regel lassen sie sich unmittelbar lesen und auch verstehen. Seit ihrer Entstehungszeit vor gut 1900 Jahren führen sie die christliche Botschaft auf ihre Kernimpulse zusammen, bestimmen noch heute unsere Anschauungen und unsere Spiritualität, gelten als Kriterium zur Beurteilung alles dessen, was wir in den Heiligen Schriften lesen. Auch die historisch-kritische Bibelkritik hat nichts daran geändert, Gott sei Dank!

Doch sollte man nicht übersehen, dass die Evangelien – zwischen und hinter den Zeilen – eine komplizierte Struktur aufweisen. Vieles davon wissen die Kundigen unter Ihnen, die sich mit diesen Schriften schon näher beschäftigt haben. Doch ein Gesichtspunkt, der für unsere Fragestellung wichtig ist, wird oft übersehen. Die Evangelien projizieren die Botschaft Jesu in die Wirklichkeit der frühen Jesusgemeinde hinein. Zum Beispiel changiert das Bild der Apostel zwischen den ursprünglichen Augenzeugen und den ersten Jesusjüngern; vor- und nachösterliche Schichten überlagern sich.

Angesichts der Säkularisierung mit ihrem Traditionsverlust sind wir gezwungen, die elementare Ursprungsituation genau zu erkunden. Was also wollte Jesus, bevor es eine Gemeinde gab? Können wir die Spuren dieser Botschaft noch erkennen?

Dritte Generation erinnert sich an Beginn:
Erinnern wir uns: Die Evangelien wurden – pauschal umrissen – zwischen den Jahren 70 (Markus) und 110 (Johannes ) geschrieben, die mündlich überlieferten Erzählungen in neue „Großerzählungen“ zusammengefasst. Geschrieben wurden sie von der dritten Generation nach Jesu Tod, in einer Zeit also, in der die Augenzeugen ausstarben und man das festhalten wollte, was man noch wusste. Es war eine Situation, die wir in den vergangenen Jahrzehnten erlebten, als man begann, die letzten Zeugen von Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust zu befragen und ihre Antworten niederzulegen. Der erste Paulusbrief wurde ja schon um das Jahr 50 geschrieben. Deshalb wirkten die Evangelien auch als eine Ergänzung dieser Paulustexte, vielleicht auch als eine Korrektur. In jedem Fall bestand das Bedürfnis, die hohen abstrakten Spekulationen dieses ersten Theologen durch konkrete Berichte dessen zu ergänzen, was Jesus getan, gesagt und erlitten hat.

Rückschau: Erinnertes wird interpretiert:
Doch sind die Evangelien keine Protokolle. Vielmehr geschah dasselbe, was bei unserem Versuch geschieht, Erinnerungen aufzuschreiben. Erinnern wir uns an genaue Worte? Meistens nicht. An den präzisen Hergang bestimmter Ereignisse? Ebenso wenig. Dennoch wissen wir oft genau zu sagen, worauf es ankommt, was für ein Mensch unser Freund oder unsere Großmutter gewesen ist. Und vor allem: Wir übertragen die Ereignisse instinktiv so in unsere Verhältnisse, dass die gegenwärtigen Adressaten gut verstehen, worauf es ankam. Bei Lukas (6,20) finden wir das Wort: „Selig die Armen“, bei Matthäus „Selig die Armen im Geiste“ (M5 5,3). Lukas spricht vom Gottesreich, Matthäus vom Himmelreich. Matthäus legt Jesus die Worte in den Mund: „Auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ Zum einen zeugt dieses Wort nicht von der Sprachwelt Jesu, zum anderen kennen die Parallelstellen dieses Felsenwort nicht.

Was passiert da? Das, was ein Evangelist in Erinnerung ruft, überträgt er in seine Gegenwart. Den modernen Regeln der Geschichtswissenschaft entspringt das nicht, wohl aber den Gesetzmäßigkeiten eines aktualisierenden Berichts. Die Evangelien enthalten eine doppelte Botschaft: die ursprüngliche Botschaft Jesu und deren Anwendung auf die Situation der frühen Jesusgemeinde.

Fragmentarisch erinnerte Botschaft Jesu: „Das Reich beginnt“
Natürlich wollten die Evangelisten Jesu Botschaft nicht verfälschen, deshalb spiegeln große Teile diese ursprüngliche Jesusbotschaft wider. Völlig unbestritten ist der Kern dessen, was Jesus zu sagen hatte. Es wird in den Worten zusammengefasst: „Das Reich Gottes beginnt“, vielleicht auch: „Es hat begonnen“, ganz genau übersetzt vielleicht: „Es ist jetzt am Beginnen“. Um diese Gegenwart und um das Wirken des Gottesreichs geht es an vielen Stellen, z.B. in den Seligpreisungen, in den Gleichnissen und in den Heilungsberichten. Wer sie liest, entdeckt unmittelbar: In ihnen geht es nicht um seine Jüngerinnen und Jünger, auch nicht um eine spätere Gemeinde, schon gar nicht um die Kirche. Es geht um Menschen und um soziale Verhältnisse, um Streit und Vergebung, um vorbehaltlose Versöhnung. Bei der Lektüre der Evangelien sind wir geneigt, diese Reich-Gottes-Botschaft unkritisch mit kirchlichen Verhältnissen zu vermengen. Dann bedeutet die Taufe gleich Kirchenmitgliedschaft, die Versöhnung gleich die Beichte, die Ladung zum Gastmahl gleich die Eucharistie. Nein, Jesus kannte dies alles nicht. Er hatte, wenn man so will, eine durch und durch säkulare Botschaft für Mensch und Gesellschaft. Er führt die prophetische Botschaft Israels mit höchster Leidenschaft weiter; es geht ihm um Gerechtigkeit. Diesen kirchen-freien Impulsen sollten wir uns in einer kirchen-freien Epoche mit neuem Interesse stellen.

Kontextuell interpretierende Botschaft der Jünger: „Wir sind von Christus gesandt“
Erst nachdem dies alles klar ist und wir wissen, dass Gottes Reich keine kirchliche, sondern eine universal menschliche Botschaft meint, stellen wir natürlich betroffen fest, dass diese Botschaft auch mit uns, den Individuen und der Gemeinde, etwas macht. Diese Botschaft läuft nicht einfach durch uns durch wie durch einen wasserdichten Kanal, denn sie gewinnt nur Gestalt, wenn sie für uns zur vorläufigen Wirklichkeit wird. Nur wenn wir uns mit dieser Botschaft für Mensch und Menschheit aktiv identifizieren, bekommt unser glaubendes Engagement ein Gesicht. In kirchlicher Sprache lautet das: So sehr wir aus eigener Entscheidung mit Herz und Verstand handeln, so sehr sind wir auch von Christus gesandt.

4.3 Jesus verkündet, Paulus legitimiert

Distanzierung von der Thora:
Spannend und für uns lehrreich ist auch die Art und Weise, wie Paulus die christliche Botschaft interpretiert. Deutet er sie nicht einfach um? In seiner eigenen Zeit war es jedenfalls höchst umstritten und die Erstapostel in Jerusalem beäugten sich mit höchstem Misstrauen; dem Kephas (= Petrus) widerstand er „ins Angesicht“, denn sie stellten ihm harte Fragen. In ihren Augen distanzierte er sich von der Thora, für jüdische Christen eine Ungeheuerlichkeit. Er tat es aber, weil das hellenistische Vorderasien – mit jüdischen Augen gesehen – absolut hellenisiert war. Vom Willen Jahwes, der sich Moses gezeigt hatte, hatten sie keine Ahnung. Der Gang des Christentums in die Welt begann also mit einer Zumutung, mit der wir uns heute – unter anderen Umständen – erneut auseinanderzusetzen haben.

Rückgriff auf zürnenden Gott (Sühnetheologie):
Umgekehrt fügte Paulus seiner Verkündigung ein Element zu, das in der jesuanischen Botschaft nicht zu finden ist. Vermutlich trennte sich Jesus deshalb von Johannes dem Täufer, weil ihm die bedingungslose Liebe eines Gottes klar wurde, der nie und nimmer zürnt. Paulus dagegen führte diese Botschaft vom zürnenden Gott wieder ein. Gott, so Paulus, muss versöhnt werden, deshalb stirbt Jesus den Sühnetod.

Kaum ein anderes Element der aktuellen Glaubensverkündigung beschert uns heute so viele Probleme wie dieser Sühnegedanke. Letztlich degradiert er den Menschen zum nichtsnutzigen Sünder. Augustinus und Luther zogen weitere Konsequenzen. Wie konnte Paulus diesen Fehltritt begehen? Weil er das Menschenbild seiner Kultur zum Ausgangspunkt seiner Botschaft genommen hat. Genau das – der Gedanke von Sühnetod und Erlösung ‑ hat die Menschen im vorderasiatischen Raum überzeugt. Diese Freiheit, die Paulus für seine Botschaft in Anspruch nahm, steht auch uns zu. Wir können uns unbefangen auf die Botschaft Jesu berufen.

Rechtfertigung des Sünders:
Die Neuentdeckung Jesu gibt uns noch einen weiteren Fingerzeig. Man kann die kritische Frage stellen (und sie wurde schon oft gestellt), ob Paulus bei der Botschaft Jesu geblieben ist. Hat er sie nicht verfremdet? Spricht er nicht eine spekulative, höchst schwierige Sprache, während Jesus von den Menschen spricht, ihnen Mut macht und sich gegen die Rechthaberei ausgerechnet der Frommen wehrt?

Unser Gespür trügt uns nicht. Während Jesus noch der Spur einer elementaren Frage folgt, die schon die Propheten verfolgt haben, stellt Paulus ein sekundäres Problem in den Mittelpunkt, das im Grunde nur fromme Menschen verstehen können. Jesus kämpft mit Leidenschaft und in einem umfassenden Horizont für Gerechtigkeit. Paulus stellt eine sekundäre Frage in den Mittelpunkt: Wie komme ich trotz meines Versagens zum Heil? Jesus denkt universal, weil er eine grenzenlose Vision entwickelt. Paulus denkt für die Frommen. Im Laufe der Jahrhunderte ging die ursprünglich universale Frage verloren. Deshalb geriet die Frage des Paulus zu einem heilsindividualistischen Problem, das in einer säkularen Epoche nicht mehr verstanden wird.

Das ist nicht nur eine Frage für die reformatorischen Kirchen, sondern auch ein Problem für den Katholizismus, denn auch er ist Augustinus, dem großen Mittler zwischen Paulus und Luther verpflichtet.

Leidenschaft für Gerechtigkeit verfremdet:
Für mich liegt der Schlüssel für unseren Weltverlust und für den Relevanzverlust der christlichen Kirchen in der Dominanz der Rechtfertigungs- und persönlichen Heilsfrage. Sie hat dazu geführt, dass Christ/innen die urjüdische, weil urprophetische Leidenschaft für die Gerechtigkeit der Welt verloren haben. Vermutlich wurde Paulus in seiner Umwelt noch anders verstanden. Aber um das deutlich zu machen, muss heute mehr über das geredet werden, was der vor-kirchliche Jesus wollte.
Vgl. Ulrich Duchrow, Hans G. Ulrich (Hg.), Befreiung vom Mammon, Berlin 2015;
Vgl. Ethel L. Behrendt, Die Gnade Gottes. Wie die Kirchen sie entwertet und GOTT unkenntlich gemacht haben, München 2015.

 4.4 Wechselnde Bedeutung des Gottesreichs

In den vergangenen Jahrzehnten haben wir uns in unseren Gemeinden oft auf die Botschaft Jesu konzentriert und das war, wie sich zeigte, gut so. Doch dabei haben wir uns vielleicht einseitig auf das konzentriert, was Jesus getan hat und was konkrete Nachfolge für uns bedeutet. Dabei trat eine wichtige Dimension in den Hintergrund. Jesus verkündete, wie besprochen, Gottes Reich. Er lebte also aus einer Zukunftsvision. Er wollte Menschheit und Gesellschaft so ändern, dass sie der Gegenwart voraus ist, dass Ungerechtigkeit endgültig überwunden wird.

Dieser visionäre Zukunftsaspekt ist für uns unverzichtbar. Wir müssen visionäre Gemeinden werden. Wie aber soll das geschehen? Was ist mit Gottes Reich überhaupt gemeint? Beide Begriffe sind prekär geworden; denn wir wollen in keinem „Reich“ mehr leben und „Gott“ wurde leider für viele zu einem unverständlichen Wort. Deshalb rede ich gerne von jenem gemeinsamen Lebensraum, dessen Verhältnisse all unsere Sehnsucht in endgültiger Weise erfüllen.

Gesellschaftspolitisch und universal:
Ich verstehe den jesuanischen Begriff des Reiches Gottes als messianisch, d.h. universal und gesellschaftspolitisch orientiert. Jesus liegt ganz auf der Linie der großen Heilspropheten (z.B. Amos, Jesaja oder Jeremia). Er hat das jüdische Volk im Blick, glaubt aber an dessen Sendung, dass es für die gesamte Menschheit einsteht und vor Gott als deren Anwalt auftritt. Die Gerechtigkeit dieses Gottes ist umfassend; sie umfasst Frieden und eine Versöhnung, die niemanden ausschließt, auch diejenigen nicht, die dieses Heil nicht „verdient“ haben. Darin hat auch die Rechtfertigungslehre des Paulus ihren Grund, auch wenn sie Paulus verengt hat.

Verinnerlicht:
Unbestreitbar hat dieser Lebensraum, der alle Sehnsucht nach Gerechtigkeit erfüllt, auch eine Innenseite. Er betrifft auch das Herz einer jeden Person. Aber im Unterschiede zu späteren Epochen werden das äußere Verhalten und das innere Herz der Menschen zusammengedacht. Deshalb hat es wohl seinen Grund, wenn Lukas 17,21 verschieden übersetzt wird: „Das Reich Gottes ist unter euch“, oder: „Das Reich Gottes ist in euch.“ Schon im Mittelalter denkt die Mystik individuell und verinnerlicht: Gottes Reich ist in meiner Seele. Heute geschieht das stark in pietistischen Kreisen. Meines Erachtens sollten wir die Dimension des Inneren nicht ausschließen. Es ist aber wichtig, dass diese Innerlichkeit nicht zum Vorwand für ein unpolitisches Christentum wird.

Mit Staatssystemen identifiziert:
Viel gefährlicher und noch nicht überwunden ist die Tatsache, dass die Kirchen das Reich Gottes in vielen Epochen mit Staatssystemen identifiziert hat. Diese Tendenz begann in der Antike, als Kirche und das (byzantinisch-römische) Reich miteinander verschmolzen, als sich Karl der Große und spätere Kaiser sich als die großen Schirmherrn der Kirche verstanden und damit als christliche Machthaber auftraten, als sich die Kirchen bis zum Ende der Königtümer an die Monarchen anlehnten. Diese Symbiose von Staat und Kirche lebte immer von der Idee, dass beide als Reich Gottes miteinander verschmelzen können. Die Herrschaftsansprüche, die sich die Kirchen daraus erschlichen, wirken bis heute nach.

Gegen diese Tradition hilft nur eine strenge und kompromisslose Abgrenzung dessen, was Jesus wollte. Seine Humanität braucht keine Anleihen an irgendeiner staatlichen Hilfestellung.

Den Bedingungen der Kirche unterworfen:
Nach innen wird das Reich Gottes noch immer den Bedingungen der Kirchen unterworfen. Zumal die Großkirchen reservieren das Gottesreich für ein Jenseits und legen die Bedingungen fest, die einen Zugang zu ihm garantieren. Das ist in erster Linie die römisch-katholische Gefahr. Um diesem Missbrauch entgegenzutreten, muss das jesuanische Verständnis vom Reich Gottes unvermindert gelten.

Mit der Kirche identifiziert:
Heute wird das Reich Gottes, also jener Lebensraum, der alle Sehnsüchte erfüllt, nur noch selten mit der Kirche identifiziert. Wohl aber wird oft die Meinung vertreten, die Kirche komme diesem Gottesreich am nächsten. Wie schon gesagt, kann die Kirche allenfalls als eine Vorhut von solchen gelten, die sich vorbehaltlos für diese – jetzt schon beginnende – Zukunft einsetzen. Aber erstens ist sie nicht die einzige Vorhut und zweitens bleibt sie gerade deshalb ein Provisorium.

V. Weltliche jesuanische Gemeinden

Im letzten Teil sollen aus dem Gesagten einige Folgerungen gezogen werden. Was ist mit einer weltlichen jesuanischen Gemeinde gemeint, nach welchen Kriterien soll sie arbeiten, welche Gefahren vermeiden und wo ist sie zu Hause?

 5.1 Doppelgebot der Liebe (Röm 13,8-10)

Menschenliebe gleich Gottesliebe:
Die Zeit der theoretischen Selbstdefinitionen von Kirche ist vorbei, denn ihre Glaubwürdigkeit und Relevanz für die Öffentlichkeit kann sie sich nur erarbeiten, indem sie der Praxis den Vorrang einräumt. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Mt 7,16)

Auf ihre Weise hatte schon die jüdische Urgemeinde ihre Relevanzprobleme. Deshalb legte Matthäus Jesus die Worte in den Mund: „Ihr seid das Licht der Welt: Eine Stadt, die auf dem Berge liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5,14-16)

Diese den Menschen gezeigten Liebe ist kein zweitrangiges Gebot, denn es ist dem Gebot der Gottesliebe gleich (Mt 22,38f.). Für das konkrete Leben folgt daraus, dass das Gebot der Gottesliebe mit dem Gebot Menschenliebe beginnen muss. Nur auf diesem Weg wird die Gottesliebe konkret und mit weltlichem Inhalt gefüllt

Jüdisches Erbe unverfälscht:
Dieser Nachdruck auf die Tat mitmenschlicher Solidarität schränkt den Horizont des christlichen Glaubens nicht mehr ein, sondern gibt ihm seine glaubwürdige Basis zurück. Die Gemeinden stehen so nicht mehr unter dem Druck, die Zeugnisse des Ersten Testaments dem Zweiten Testament unterzuordnen. Wer den Akzent nicht mehr auf die formalen Fragen von Verheißung und Erfüllung, von Gesetz und Evangelium, von „Altem“ und „Neuem“ Testament legt und damit in die biblische Botschaft einen Keil treibt, kann säkulare Dimensionen der christlichen Botschaft zur Geltung bringen. Sie brauchen für ihre Gottesdienstes und ihre Motivation prophetische Impulse.

Praktiziert, aber relativiert:
Gemeinhin werden Liebe und Solidarität in den Gemeinden mit hohem Engagement praktiziert; dazu gehört der Einsatz für solche, die aktuell in Not sind. Zugleich wird solches Handeln relativiert, nämlich den gottesdienstlichen Aktivitäten einer Gemeinde nachgestellt. Diese Rangordnung muss durchbrochen werden, denn der Sabbat ist um des Menschen willen da (Mk 2.27) und Jesus begegnen wir in erster Linie in denjenigen, denen wir Gutes oder Böses tun. Ich schlage deshalb vor, diese neue Rangordnung in das Bewusstsein der Gemeinde einzuprägen und daraus Konsequenzen zu ziehen.

Brücke zur säkularen Welt:
In diesem Sinn sind die Folgerungen aus den bisherigen Säkularisierungsprozessen zu ziehen. Die Kirchen und ihre Gemeinden haben – bewusst oder unbewusst – den Teufelskreis angetrieben, der zwischen „Religion“ und „Welt“ Abgründe entstehen ließ. Es gilt jetzt, Brücken zu schlagen. Wer den Funken der Solidarität entzündet und die Menschen dessen Wärme spüren lässt, schlägt Brücken zur säkularen Welt.

5.2 Zwei Brennpunkte der Gemeinde

Ich schlage vor, das Geschehen einer christlichen Gemeinde nicht mehr von einem Mittelpunkt, nämlich dem Altar oder dem Gottesdienst zu betrachten. Wir sollten uns unsere Gemeinden als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten denken, einem in der religiösen Mitte und einem draußen vor Ort. Wenn einer der beiden Brennpunkte verschwindet, stürzt die Ellipse in sich zusammen. Dies entspricht dem klassischen Modell der Basisgemeinde, das in Lateinamerika seit den 1960er Jahren entwickelt wurde. Eine Basisgemeinde besteht aus einer kommunizierenden Gemeinschaft, einem sozialen Projekt und einem religiösen Engagement. Möglicherweis lässt sich die Ellipse zu einer Parabel erweitern, weil die Ausrichtung auf Welt und Gesellschaft endlose Räume eröffnet. Auf keinen Fall dürfen sie abgeblendet werden. Daraus folgen:

Keine Fixierung auf sakrale Handlungen:
Schon von den ersten Christen, die ihren Besitz zusammenlegten, wird gesagt: „Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ Erst dann wird erklärt „Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens.“ (Apg 2,44-46). Solidarität geht den religiösen Pflichten voraus und selbst die religiösen Pflichten werden auf Tempel und Häuser aufgeteilt.

Keine Überhöhung der Gottesdienste:
In der römisch-katholischen Kirche wurden seit Jahrhunderten der Stellenwert und die Deutung der Gottesdienste überladen. Diese Überhöhung kulminierte in der Eucharistie. Die Reformation entwickelte ein Gegengewicht, indem sie dem Sakrament das Wort als dessen Lebenselixier entgegenstellte. Doch in den nachkonziliaren Jahren wurde diese Dialektik zwischen Wort und Sakrament wieder zurückgedrängt; gegenüber den Reformanliegen des Konzils bekam die antireformatorische Tradition wieder ein erdrückendes Gewicht. Faktisch hat dieser neue Sakramentalismus die Überhöhung des bischöflichen bzw. priesterlichen Amtes erneut begünstigt.

Keine Verkirchlichung der Sakramente:Genau besehen hat die römisch-katholische Kirche mit der Überhöhung der Sakramente ihren Gegensatz zur Welt stabilisiert und die Sakramente zu kirchlichen Institutionen gemacht. Dabei gehen Taufe und Eucharistie allen kirchlichen Institutionen voraus. Die Gemeinden sollten lernen, Taufe und Eucharistie unabhängig von der Kirche, nämlich als Ausblick auf das Gottesreich zu verstehen. Entscheidend ist nicht ihre Einbindung in kirchliche Regeln, sondern die Vision vom Gottesreich, die in Taufe, Eucharistie und anderen Gottesdiensten gefeiert wird. Es geht um die Hoffnung, dass der Herr neu gegenwärtig ist, wo uns das Gottesreich gelingt.

Keine Identifikation von Kirche und Heiligkeit:
Lange Zeit definierte die Kirche Heiligkeit als unantastbare Macht. Schon die Psalmen haben Gott als Herrn und Herrscher gepriesen, seine Hoheit und Macht herausgehoben. Die Kirche ließ sich durch ihre Machtfülle bestätigen und nahm an dieser göttlichen Macht Anteil. Diese Identifikation von Kirche, Macht und Heiligkeit führte zu einem Heiligkeitsmonopol, die die Welt entheiligte, weil in ihr und ihrer Sündigkeit nichts Heiliges mehr zu erkennen war. Dass dadurch auch der Mann zum ausschließlichen Repräsentanten des Heiligen wurde, sei nur nebenbei erwähnt. Deshalb ist eine Neudefinition des Heiligen Gebot der Stunde.

5.3 Neudefinition des Heiligen

Kerndimension von Religionen:
Gewiss gehört die Erfahrung des Heiligen zum zentralen Vollzug einer Religion. Das Heilige wird dadurch nicht der Welt, aber dem Missbrauch, der Missachtung und der Respektlosigkeit entzogen. Die Qualität einer Religion zeigt sich nicht darin, wie sie mit ihren eigenen Bereichen und Handlungen umgeht; natürlich wird sie diese hochschätzen, wie es auch im Christentum der Fall war. Sie zeigt sich im Respekt und in der Hochachtung, den sie dem Leben, der Welt und den Menschen entgegenbringt. Schon deshalb sollten sich Gemeinden davor hüten, ihre eigenen Bereiche höher zu schätzen als ihre Bereiche vor Ort, mit denen sie tagtäglich umgehen.

Kerndimension von Menschlichkeit:
Zunächst erfahren die Menschen das Heilige in ihrer Welt und in sich selbst, nicht im Rahmen einer Religion. Sie erfahren es im Staunen über die Wunder ihres Lebens, in der Begegnung mit anderen Menschen und in der allmählichen Entdeckung der überreichen Wirklichkeit, die sie umgibt.

Neuere Studien haben gezeigt: Die Neuzeit hat in vielen Einzeldiskursen dem menschlichen Wesen mehr und mehr Sakralität zugesprochen. Diese Sakralität der Person, die auf durchaus säkularen Wegen, also außerhalb kirchlicher Impulse entdeckt wurde, hat zum modernen Menschenrechtsbewusstsein geführt (Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt 2011).

Sehr deutlich wird die kirchlich-weltliche Konkurrenz um die Sexualität, die von der Tradition oft verteufelt wurde, in unserer Gesellschaft umso mehr eine geradezu magische Verherrlichung erfährt. Gewiss fand an diesem Punkt ein tiefgreifender Wandel statt; er zeigt sich im päpstlichen Dokument Amoris Laetitia „über die Liebe in der Familie“. Doch lässt dieses Dokument auch die Grenzen dieser Anerkennung erkennen, die Hürden sind noch nicht wirklich überwunden. Umso wichtiger ist es, dass die Gemeinden sich auf diesem Gebiet über die kirchlichen Hemmschwellen hinwegsetzen. An diesem sensiblen Punkt entscheidet sich zumal für junge Menschen ihre Beurteilung kirchlicher Institutionen.

Reformbedarf in kirchlicher Praxis:
Der dringende Reformbedarf kirchlicher Praxis in Sachen Heiligkeit ist unbestreitbar. Hier konnten nur einige Beispiele gezeigt werden. Die Grundfrage lautet: Mit welchem unerschütterlichen Respekt treten die Gemeinden heute den Menschen vor Ort gegenüber? Erst wenn eine Gemeinde deren Heiligkeit vorbehaltlos akzeptiert, kann sie auf Anerkennung hoffen und Prozesse in Gang setzen, in denen sie ihr religiöses Verständnis von Heiligkeit klärt.

5.4. Lebenswelt als Ort der Gemeinde

Der doppelte Brennpunkt einer Gemeinde muss nicht erkämpft werden, vielmehr müssen ihre Mitglieder ihn nur eingestehen. Denn faktisch leben die Gemeindemitglieder in ihrem profanen Alltag. Dort lassen sie sich von ihren Sorgen umtreiben, gehen sie ihren Geschäften nach und setzen sich mit Menschen und Situationen auseinander, in denen ihre Empathie und ihre tätige Solidarität gefordert sind. Insgesamt verwenden sie nur wenige Stunden in der Woche, in denen sie Gemeinde sind und als Gemeinde handeln.

Glaube wird im Alltag gelebt:
Gemeindeerneuerung ist zunächst eine Sache der Mentalität. Oft können alle Aktivitäten so weitergeführt werden, wie es bislang der Fall gewesen ist. Es kommt darauf an, sie anders zu werten, nicht mehr als Folge ihrer ethischen Verpflichtung, sondern als selbstverständlicher Impuls von religiöser Qualität. Dabei wird sich auch das Bild von Religiosität ändern. Man könnte von einer impliziten oder anonymen Religiosität sprechen, die immer da ist. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass eine jede Religion und Religiosität von anonymen und instinktiven Vorformen lebt, wie ein Eisberg nur zu einem Zehntel aus dem Wasser ragen kann. Es ist Aufgabe einer modernen Gemeinde, ihren Alltag als religiöse Wirklichkeit zu begreifen, statt ihr eine religiöse Hülle überzustülpen.

Im Gottesdienst begangen:
Diese Kehrtwende führt auch zu einem erneuerten Verständnis von Gottesdienst. Genau genommen ist er für die Gemeinde nicht der Beginn, sondern die Summe ihres Gottesbezugs. Ein Gottesdienst sammelt die weltlichen Gotteserfahrungen (= Menschenerfahrungen) ein, die ihm vorangegangen sind. So gesehen führen etwa soziale Aktivitäten nicht zu einem gefährlichen Aktionismus, sondern zu einer erfüllten Frömmigkeit und zu Gottesdiensten, die sich an konkreten Themen entzünden können. Übrigens wird es auch ein Gottesdienst sein, in dem sich die Grenzen zwischen „kirchlichen“ und „unkirchlichen“ Mitfeiernden auflösen. Jesus kannte diese Unterscheidung nicht, weil ihn nicht die Institution, sondern das Ereignis interessierte.

Wo sind Christinnen und Christen zu Hause?
Christinnen und Christen sind primär in der Welt zu Hause. Ihre Heimat ist ihre Lebenswelt vor Ort und ich wünsche mir solche Christen, die ihre Welt, ihre Mitmenschen und ihren Lebensalltag lieben, wie Jesus die Menschen liebte, gerne aß, trank und Feste feierte.

Natürlich ist der doppelte Boden dieser Aussage mitzudenken. Er lautet: Eine jede Liebe zu Mitmenschen wird vom Schmerz darüber begleitet, dass auch sie ihre Grenzen erfahren. Genauer gesagt: Eine jede Liebe zu Mitmenschen ist auf der Suche nach einer Vision, die die Grenzen der Gegenwart mit ihrem Grauen überschreitet. Nur eine visionäre Gemeinde kann eine gute Gemeinde sein.

5.5 Den Paradigmenwechsel ernstnehmen

Den Wechsel bewusst machen:
Ich finde es schwierig, die Vielfalt der hier besprochenen Aspekte zusammenzufassen. Ich meine aber, dass diese geradezu explodierende Vielfalt der Sache selbst geschuldet ist. Wir befinden uns in einem Wandlungsprozess, den wohl niemand übersieht. Deshalb sollten wir uns wenigstens das Ausmaß des aktuellen Umbruchs bewusst machen, der unsere Kultur und unsere Glaubensformen gleichermaßen durcheinander wirbelt. In der wissenschaftlichen Diskussion und in der Alltagssprache hat sich dafür der Begriff des Paradigmenwechsels eingebürgert. Gemeinden sollten sich dieses Paradigmenwechsels bewusst werden. Das wird ihnen bei der Bewältigung der Fragen helfen.

Kirchenstrukturen faktisch ändern:
Die neue Selbständigkeit der Gemeinden verleiht diesen auch eine neue Gelassenheit gegenüber dem aktuellen Versagen der Kirchenleitungen. In aller Klugheit können sie ihre eigenen Wege gehen. Zugleich sollten sie auf die grundlegende Erneuerung kirchlicher Strukturen drängen. Niemandem ist mit einer Kirchenleitung gedient, die alle Autorität verspielt hat. Denn für das öffentliche Ansehen, das wir uns vor Ort wieder erarbeiten wollen, müssen auf umfassenderer Ebene glaubwürdige Repräsentant/innen der Kirchen sorgen.

Vor Ort beginnen:
Was also tun? Lebendige Religionen zeichnen sich immer durch eine große Ungeduld aus. Sie wollen hier und jetzt beginnen. Genau das ist die Ungeduld, die sich in der Vision Jesus in der Losung verwirklicht hat, das Reich könne hier und jetzt beginnen. „Kommt“, sagt Hamlet im eingangs zitierten Text, „lasst uns zusammen gehen.“ Und der, der auf dem Thron sitzt, spricht: „Seht, ich mache alle neu!“ Es gibt Gründe genug, die uns an dieser Hoffnung festhalten lassen.

Bei dieser Nachschrift sind die Unterpunkte der PP-Präsentation in aller Regel beibehalten. Dadurch hat sich die Form eines durchlaufenden Textes optisch und im Textverlauf aufgelöst. Die Gedankengliederung tritt klarer hervor und je nach Interesse lassen sich einzelne Textabschnitte leichter bearbeiten oder übergehen.