„Gott wird, sobald Menschen ihn aussprechen“

Abwesenheit Gottes als Orientierungsgewinn

In der christlichen Tradition ist die Rede von Gott eng mit Fragen der Orientierung verknüpft. Der Dekalog, Kernstück biblischer Moral, gilt als von Jahwe geoffenbart und noch heute kann man hören, ohne Gott gebe es keine Moral. Zugleich gilt Gott als das Sein selbst, d.h. als reine Positivität und als die Quelle alles Positiven. Doch seit dem 19. Jh. sind diese Überzeugungen schrittweise zerbrochen. Zwar bleibt die Rede von Gott (im Folgenden mit dem Sigel |Gott| abgekürzt) eng mit Orientierungsfragen verknüpft, aber in |Gott| selbst haben sich unerwartete Elemente der Negativität eingenistet und je nach Standpunkt wird diese Entwicklung als Gewinn oder als Preis seiner Verteidigung beurteilt. Der vorliegende Beitrag, der sich auf den westlichen Kulturkreis beschränkt, will die dramatische Dialektik von Negativität und Orientierung besprechen, die |Gott| innewohnt, sobald die Ebene der Deskription überschritten und ein verbindlicher Anspruch vorgetragen wird. Kein zweiter Begriff von Bedeutung schwankt so extrem zwischen umfassendem Erklärungsanspruch und strikter Verneinung. Genau diese Spannung macht ihn so fruchtbar.

1. Die irritierende und zerfallende Rede von Gott

Dass |Gott| sich seit der späten Neuzeit in einem irrealen, enorm irritierenden und zugleich irisierenden Schwebezustand hält, ist nicht neu. Die Religionskritik des 19. Jh. wusste noch genau, wogegen sie polemisierte. Der Agnostizismus des 20. Jh. wusste noch, was sich seiner Erkenntnis entzog. Doch inzwischen haben sich die Standpunkte verflüssigt. 1968 rückt Ernst Bloch Atheismus und Christentum noch eng zusammen, aber 2006 kann Dawkins nicht mehr erklären, was |Gott| mit seinem Rundumschlag zu tun hat. Irreal wurde |Gott| bei den vielen, die ihm keinen Realitätsgehalt mehr zuschreiben [Bloch 1968, 6; Dawkins 2007], irisierend sein Begriff, weil die inhaltlichen Füllungen je nach Standpunkt sehr variabel sind. Schließlich bleibt die Wirkung solchen Redens höchst irritierend. Zwar erhalten die monotheistischen Religionen den Anspruch aufrecht, in Gottes Namen Mensch und Welt zu definieren. Dagegen nimmt der öffentliche Diskurs außerhalb der Religionen gegenüber |Gott| eine merkwürdige Habachtstellung ein. In schöner Regelmäßigkeit lösen Glaubens- und Atheismusdebatten einander ab. |Gott| wird immer dann interessant, wenn er sich mit Werten, Orientierungsfragen oder Menschenwürde kombinieren lässt. Die Religionen werden als Quellorte schlimmster Gewalt oder reinsten Friedenswillens präsentiert [Beck 2008, Weingardt 2007]. In den genannten Situationen lässt sich |Gott| weder angemessen erklären noch gut disziplinieren. So ist |Gott| zwar nicht verschwunden, aber seine unbestreitbare Positivität, seine intellektuelle und praktische Erschließbarkeit sind unwiederbringlich zerfallen.

Diese Situation ist das Ergebnis eines langen Prozesses, den die christlichen Theologien zunächst als Destruktion von Sinn und Orientierung wahrnahmen. Aber auf diese Phase undifferenzierter Ablehnung aller Religionskritik folgte eine Phase selbstkritischer Verarbeitung, in der Orientierungsfragen eine Leitfunktion übernahmen. Dadurch rückte |Gott| aber an die zweite Stelle der Reflexion; man sprach beispielsweise von Gott als dem, was mich unbedingt angeht (P. Tillich), als Chiffre der Transzendenz oder der eigenen Fraglichkeit. Im katholischen Raum ist seitdem die Rede von einer ‚anthropologischen Wende‘ der Theologie (K. Rahner).

Seitdem steht die Theologie vor einem schwierigen Problem, weil das rational abgezirkelte und immer neu justierte Gottesbild in Fragmente zerfällt [De Kesel 2006]. Die klassische Theologie scheint damit am Ende. Muss sie ihre Arbeit also einstellen, weil sie ihr Objekt und ihr Orientierungsvermögen verloren hat? In jedem Fall muss sie ihre Identität neu finden. Weder in religiösen noch in philosophischen Diskursen kann sie in einem (letztlich unkritischen) Einverständnis mit traditionellen Gottesbildern weiterarbeiten. Vielmehr muss sie |Gott| öffentlich in einem neuen Wahrheitsbewusstsein verantworten. Dabei kann sie sich kaum mehr auf die Hilfskonstruktionen der klassischen Gotteslehren stützen [Plum 2005].

So stecken |Gott| und die theologische Reflexion in einer dreifachen Aporie.
(a) |Gott| wird nicht mehr vom öffentlichen Diskurs unterstützt, sondern verunsichert, ist also nicht mehr plausibel; es fehlt an gesellschaftlicher und kultureller Akzeptanz. Die Theologie findet keine Basis mehr, auf der sie einen umfassenden Diskurs entwickeln kann.
(b) Die ontologischen Stützpfeiler der Gottesrede (theoretische Gottesbeweise und Postulat eines sinnvollen Lebens) sind zerbrochen; auch wohlwollende Philosophien haben sie auf das „Vonwoher der Fraglichkeit“ [Weischedel 1972, 206-218] reduziert. So gilt die klassische Rede von Gott nicht mehr als wahrheitsfähig.
(c) In einer säkularisierten Gesellschaft führt ein gelingendes und als sinnvoll erfahrenes Leben nur noch zu individuellen Spuren Gottes; sie sind für Zweifel an der Glaubwürdigkeit dieses |Gottes| immer anfällig und angesichts eines fragmentierten Praxishorizonts wird |Gott| selbst fragmentiert.

Diese aporetische Grundsituation berührt auch die vielfältigen hermeneutischen Zugänge zu |Gott|. Zwar kennen wir ein Übermaß an Texten und Erfahrungen, die |Gott| Tiefe und individuelle Überzeugungskraft verleihen können. Aber im öffentlichen Diskurs führen auch sie zu ebenso vielen Fragen wie Antworten. Explizit theophorische Texte (z. B. Gebete, Lobpreis der göttlichen Macht) lassen zwar keinen Zweifel an Gott zu, aber ihr Zeugnis setzt sich zu einer säkularisierten Kultur bewusst in Widerspruch. Andere Texte erweisen sich als Zweifel und Fragen an Gott („Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“, Mk 15,34). Ihre Überzeugungskraft rührt aber daher, dass sie einen rational verantworteten |Gott| relativieren oder in Frage stellen.

2. Formen negativer Theologie

In dieser Situation hat eine intensive Rückbesinnung auf eine bekannte Vorläuferin eingesetzt. Gemeint ist die negative Theologie, gemeinhin verstanden als der Versuch, die Verborgenheit Gottes durch die Negation von Gottesprädikaten klarzustellen [Benk 2008, Hochstaffl 1976, Höhn 1996]. Auf sie konnte eine anspruchsvolle Theologie auch in früheren Zeiten nie wirklich verzichten; ohne Elemente der Verneinung kommt |Gott| in einer monotheistischen Religion nie aus. Was aber hat sie genau negiert? Diese Frage ist nicht unerheblich, denn die negative Theologie hat komplexe Wurzeln und die stets wechselnde Funktion negativer Theologie ist von ihren wechselnden Kontexten her zu begreifen. Jede Epoche erzeugt ihre eigene Negation, die sich proportional zu den Mängeln von Überzeugung und Orientierung verhält.

Zu nennen sind der altägyptische Gedanke des unaussprechlichen Geheimnisses, der sich in esoterischen Linien bis in die Neuzeit fortgesetzt hat. Im Gegenzug zu Gottes geradezu physischer Präsenz gilt er als nicht sichtbar und nicht vorstellbar [Assmann 1998, 133-210]. Philo von Alexandrien veränderte diesen Gedanken in einer Atmosphäre kultureller Übergänge durch die Doppelmethode einer somatischen und einer pneumatischen Interpretation; man hütet das Geheimnis in der Suche nach einem ‚tieferen‘ Sinn. Der klassische Dreischritt von Bejahung, Verneinung und Überhöhung, den Dionysius Areopagita entwickelte, spiegelte die stabilisierte Gotteslehre der christlichen Antike wider. Er führte zu einer behutsamen Auseinandersetzung mit der Transzendenz, schob zwar jedem dingontologischen |Gott| einen Riegel vor, wurde aber von der offiziellen Kirche zur Absicherung der eigenen Identität vereinnahmt. Dies hat die erweiternden und orientierenden Effekte des Negativen weitgehend neutralisiert.

Die mystischen Strömungen des Mittelalters, für die Meister Eckhart (1260-1328) exemplarisch stehen kann, belebten die negative Theologie in einer Epoche der erstarkenden Scholastik neu [Reiter 1993, Haas 1994] und schützten religiöse Erfahrungen; so nahm sie anthropologische und erkenntnistheoretische Komponenten auf.

Bis weit in die Neuzeit hinein ändert sich diese Grundkonstellation nicht, bis Wesen und Existenz Gottes selbst in Frage gestellt wurden. Zunächst holt I. Kant die negative Theologie für das Feld der Erkenntnistheorie ein. Erst L. Feuerbach und K. Marx erweitern die Problematik. Ans Licht gebracht werden die innere Verwobenheit von Theorie mit menschlichem Bedürfnis und mit gesellschaftlicher Praxis; damit ist die Idee objektiver Gottesrede gleich mehrfach unterlaufen. Fragen der Projektion und menschlicher Selbstlegitimation kommen hinzu. Erst befreiungstheologischen und anderen emanzipatorischen Ansätzen gelingt es, die theologisch orientierende Kraft solcher Kritik zu entdecken. Die Negation |Gottes| wird zur Kritik an der (gesellschaftlichen) Wirklichkeit gewendet, die im Sinn des Reiches Gottes zu ändern ist. |Gott| verwirklicht sich nicht im abstrakten Bekenntnis, sondern als praktischer Weg zu einer versöhnten Welt [Borgman 1995]. Damit hat sich Negation der Gottesrede als orientierender Impuls für die menschliche Praxis erwiesen.

3. Rationalitätskritik

Diese Wende von der Negation zur Orientierung lässt sich aus hermeneutischer Perspektive erhellen. Zu unterscheiden ist der konstatierende Blick des Beobachtens vom partizipierenden Mitvollzug des Verstehens. Wer beobachtet, konzentriert sich auf das Seiende, isoliert also die einzelnen Dinge. Wer verstehen will, lässt sich auf umfassende Horizonte ein, bezieht also die Dimension des Seins mit ein. Wer |Gott| nur als das höchste Seiende versteht, bleibt deshalb im Zirkel von Bejahung und Verneinung gefangen. Wer die negative Theologie „ontotheologisch“ (Heidegger) aufschlüsseln will, wie es in der Neuzeit geschehen ist, gerät in einen endlosen Prozess stets neuer Verneinung. Deshalb nahm die Theologie die sich radikalisierende Religions- und Theologiekritik der Moderne nicht als wachsendes Wahrheitsbewusstsein, sondern als die Destruktion von Sinn und Orientierung wahr. Sobald aber die Frankfurter Schule unter dem Eindruck der Schoah die instrumentelle Vernunft der Moderne kritisierte [Horkheimer 1947] und die Theologie mit einiger Verzögerung nachzog [Ammicht-Quinn 1992, Häring 2003], begann man das Entscheidende zu begreifen: Die beklagte Gottesferne ist die Folge einer falschen Dingrationalität, gleich, ob sie von der Moderne induziert oder von der Theologie selbst vorangetrieben wurde. Die erste Frage lautet also nicht mehr: Wie lässt sich die wachsende Säkularisierung eindämmen? Die erste Frage lautet: Wie finden wir Zugang zu einem Denken, das |Gott| in den offenen Horizont des Seins selbst stellt. Allerdings bedarf auch dieses Sein der Übersetzung. Ich verstehe es hier als den umfassenden Horizont eines gelebten und erfahrenen Lebens, das gegenüber jedem Reden zu erkundende Überschüsse enthält. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie radikal und wie konsequent eine negative Theologie ausgearbeitet wird, in neuer Weise. Es reicht eben nicht, formal den Geheimnischarakter Gottes zu betonen und ansonsten zur Tagesordnung analytischen Denkens überzugehen.

Blicken wir deshalb noch einmal auf die Geschichte der negativen Theologie. Einen Durchbruch brachte die (der Häresie verdächtigte) negative Theologie des Meister Eckhart. Das Unaussprechliche lebt nach ihm nicht als höchstes Wesen über der Welt, sondern geht in einen jeden Menschen ein: Es findet als „Seelenfünklein“ seinen Ort in der menschlichen Seele. Die positiv orientierende Funktion dieses Gedankens ist unbestritten. Einen wichtigen Schritt setzt K. Marx, der die Materie eben nicht mehr als Mangel an Sein, sondern als Ort der Praxis definiert und so – als gottloser Materialist verschrieen – den Raum menschlichen Lebens entdeckt. Der Schock dieser Erkenntnis hat den traditionellen |Gott| der Ontotheologie einer vorbehaltlosen Negation ausgesetzt, aber das Leben selbst als Orientierungsraum eröffnet.

Bis heute hat die Theologie diese Herausforderung nur unzureichend aufgearbeitet. Es gibt (noch) keinen Basiskonsens darüber, dass |Gott| nicht mit etwas geistig Definierbarem zusammenfällt. Dabei ist das Gewicht der Tradition und der sie schützenden Institutionen enorm. Die vermeintlichen Gründe dafür sind eindeutig: Ein vorbehaltlos negierter |Gott| biete weder Sinn noch Orientierung und unserer Epoche sei es vorbehalten, den Tod Gottes zu vollziehen. Ist |Gott| damit verschwunden? Den Gott der Metaphysik vorausgesetzt, lässt sich das nicht leugnen. Aber angesichts seiner Auflösung in traditionell semantischer Hinsicht wird unklar, was wir unter |Gott| überhaupt noch verstehen sollen. Idealtypisch gesprochen kehrt er in die Bedingungen seiner unbedingten Unaussprechlichkeit zurück. Preis und zugleich Lohn für diesen Sprung ins kalte Wasser ist eine neue und unverstellte Konfrontation mit dieser Negativität, die neue Orientierungen öffnet.

4. Pioniere einer neuen Theologie: J. Pohier und M. de Certeau

Zu fragen ist, ob dieser Sprung in die Negativität unsere kognitiven, moralischen und emotiven Orientierungen einfach zerstört. Das wird von vielen behauptet und oft als Antikritik dieser Leugnung |Gottes| angeführt. Doch bleiben uns die traditionellen Ausflüchte in ein ‚aber Gott ist unbegreiflich‘ ebenso verstellt wie deren Domestizierung durch den klassischen Weg der Analogie. Wie also lässt sich diese Pattsituation [Küng 1978, 490-502] entschlüsseln? Ich suche eine Antwort bei zwei französischen Theologen, bei Jacques Pohier (geb. 1926) und Michel de Certeau (1925-1986). Nicht ohne Grund stammen beide Denker aus Frankreich und sind mit dem intellektuellen Klima des Landes bestens vertraut.

J. Pohier, Theologe und hervorragender Kenner des Thomas von Aquin, Seelsorger mit Leib und Seele und dem Lebenskonzept der Dominikaner verbunden, erlebt am eigenen Leibe die Dialektik von Orientierung und Negativität. Er reflektiert seine Lebenskrise in zwei Büchern. Das erste Buch [Pohier 1980] zeigt Konturen eines Gottesbildes auf, das Pohier sich an Hand der Schriften Israels erarbeitet. Er muss das Konzept eines ontologisch definierten Gottesbildes verlassen und nach dem Ort fragen: ‚Wo ist Gott?‘ Schon diese Frage nimmt eine erstaunliche Selbstbegrenzung in Kauf, denn da bleibt nur die Enge eines bestimmten Ortes übrig, an dem |Gott| zu finden ist und der zugleich in einen bestimmten kulturellen Zeitraum eingegrenzt bleibt. Pohier ist Franzose, Mann, Bürger des 20. Jh.. Er greift auf die nachexilisch jüdische Tradition zurück. Für sie ist |Gott| anwesend über der Bundeslade, im Leerraum zwischen den Flügeln der sie überragenden Cherub-Figuren, anwesend als seine ‚Schekina‘, d.h. als verhüllte(!) Herrlichkeit. Alles, was diesen Ort umgibt, deutet auf Gottes Gegenwart hin und verneint sie zugleich, denn in der Lade befinden sich nur Erinnerungen vergangener Zeiten: die Gesetzestafeln, der Mannakrug und der Stab Aarons. Die Lade selbst gilt als der Thron Jahwes, der aber leer ist und leer bleibt. So wird die Anrede: „Du, der zwischen den Cherubim thront“, zur Formel dafür, dass sich Gott jedem Zugriff entzieht und in dieser Entzogenheit gegenwärtig ist.

|Gott| ist also ortsgebunden, zeitgebunden, offener Raum, nur schwer umgrenzbare Leere. Wer |Gott| in der Lade sehen oder hören will, sieht und hört nichts. Pohier findet in dieser Tradition die Metapher für |Gott|, der zwar seinen Ort hat, dort aber immer fehlt, abwesend ist, schweigt, sich in reiner Negativität erschöpft. „Gott ist da nach Art der Schekinah. … Sie ist kein festes und volles Objekt wie eine Statue etwa oder ein lebendiger Körper. Sie ist kein geschlossener Hohlraum wie das Innere der Lade, worin sich etwas befände, und seien es auch die Gesetzestafeln oder das Manna. Auch kein eingeschlossener, hohler Raum, in dem nichts wäre. Sie ist weder leer noch hohl, weder voll noch geschlossen. Sie ist offen. Offen und so wenig leer wie eine offene Hand.“ [ebd. 71] Wir wissen, dass selbst die Juden dieses Unfassliche nicht durchgehalten haben. Aber Pohier sieht darin die objektivierenden Darstellungen unserer Gegenwart durchbrochen, eine Art Kritik an unserem onto-theologischen Denken. Dieses kann weder die Welt noch den Menschen erklären. Aber der aus Negation entstehende offene Raum gibt dem Menschen eine Freiheit zu sich selbst; Gott ist „der …, der er ist, und das ist, was wir verwirklichen“ [ebd.  328]. Nur so kann er die Orientierung des Glaubens bieten.

In seinem zweiten Buch [Pohier 1985] geht Pohier einen Schritt weiter; aus der Theorie wird eine praktisch vollzogene Theologie. Im autobiographischen Rückblick beschreibt er die ‚Auflösung‘ seiner religiösen Lebenspraxis, seiner religiösen Ordenskultur und Predigtpraxis, die Auflösung von |Gott| selbst. Er unterscheidet nicht mehr objektivierend zwischen seiner subjektiven und Gottes objektiver Ebene. Für ihn zerfällt die Tatsache, „dass wir selbst Gott sagen sowie die Tatsache, dass wir selbst Gott sagen können“. Dann folgt ein für Pohiers neues Gottesverständnis entscheidender Schlüsselsatz: „Wenn Gott, so Eckhart, Gott wird, sobald die Geschöpfe Gott sagen, dann geht es in gewissem Sinne um die Auflösung Gottes.“ [Ebd. 56]

Die Tragweite dieser Aussagen ist kaum zu überschätzen. Zunächst schwindet für Pohier die Selbstverständlichkeit, mit der Prediger, Priester und Theologen von Gott reden. Dann distanziert er sich vom |Gott| der traditionellen Mystik, weil auch sie ihre Radikalität noch in die Dialektik eines objektivierenden Alles-oder-Nichts gießt, so, „als ob dies die Dialektik Gottes wäre“ [ebd. 83], als dürften wir das Geschöpf auf ein Nichts reduzieren und als gäbe es zwischen Mensch und Gott so etwas wie eine mystische Einheit. Tiefenpsychologisch entlarvt er das gängige ‚Gott ist alles‘ als das Allmachtsverlangen des Menschen. Er, der die Menschen in ihre Freiheit entlässt, will das nicht sein. Schließlich begreift Pohier – es ist sein Ostererlebnis von 1981–, dass er |Gott| aufgeben muss [ebd. 86f.]. Ostern wird ihm – gemäß einer alten Übersetzung von Ex 12,11 – zum ‚Vorübergang Jahwes‘, zum Abschied vom Herrn.

Warum aber zieht Pohier jetzt nicht die Konsequenz, die der neuzeitlich analytischen Rationalität gut anstünde, die nur entweder ein Ja oder ein Nein zu Gott zulässt? Er zieht sie nicht, weil sich Gott als der ‚ganz Andere‘ (K. Barth) nicht in diese Alternative einfangen lässt. Für ihn bedeutet dieser Abschied, dass der |Gott| seiner Vergangenheit nicht mehr der Grund und die Bedingung eines wahren Lebens oder die Antwortet auf die Frage des Todes ist. Er braucht ihn also nicht mehr, um den Tod zu überwinden, denn der Tod steht für ihn jetzt an zweiter Stelle [ebd. 124].

Dem Leser werden jetzt die lebenspraktischen Konsequenzen dieser entdinglichten Ontologie klar; in ihrem Sinne bietet das so verstandene Christentum „eher eine andere Weise des Fragestellens als … Antworten“. Wie ich mich erinnere, wird Gott an keiner Stelle der hebräischen Bibel etwa allmächtig genannt. Wir verstehen |Gott| erst, wenn |Gott| nicht mehr notwendig ist, wenn Lebenssinn und Lebensorientierung sich aus sich heraus einstellen, wenn wir die moralischen Fragen im Einverständnis mit Menschen lösen können, die ohne Gott zu denselben Antworten finden. Damit zerfällt ihm die klassische rationale (d.h. onto-theologische) Grunddefinition des Monotheismus endgültig: „Gott ist Gott, also ist er nicht[!] alles.“ Gott ist eben nicht mein Ein und Alles, kein Totalobjekt meiner Liebe. Diese von Pohier intensiv reflektierte Grunderfahrung, zu der er sich jetzt (wohlgemerkt, als Christ!) durchringt, führt zu einer grundsätzlichen Absage an allen Totalitätsanspruch, den die klassische, auch die negative Theologie gemeinhin mit Gott verbunden hat.

Pohier widerspricht also der Idee eines religiösen Totalsinns, denn indem wir aus |Gott| ein Alles machen, reduzieren wir ihn auf unser eigenes Ich und verbieten ihm, „er selbst, Gott zu sein“ [ebd. 346]. Was für einen Sinn kann aber ein Gott haben, der keine Sinntotalität besitzt und nicht allmächtig ist? [ebd. 348]. Pohier besteht darauf, dass der Glaube diese Frage nicht bewältigen kann [ebd. 349]. Genau in dieser Lücke, in dieser für das traditionelle Gottesbild der Metaphysik unerträglichen Aporie ruht für die Menschen ein unbegrenzter Überschuss: Sie können ihre Freiheit, ihre Wahrheit und Orientierung aus sich heraus entdecken. Diese radikal negative Gottesrede ist die Bedingung dafür, dass der Mensch die Ordnung seines Lebens radikal durchbricht [ebd. 356]. Eine Orientierung meldet sich an, die nicht mehr äußerlich bleibt, sondern – in einem vielleicht schwierigen Prozess des Loslassens – aus der Situation des Menschen selbst kommen kann.

M. de Certeau: Die philosophischen Einflüsse der Pariser Szene auf Pohier sind offensichtlich. Auf J. Derridas Programm der Dekonstruktion ist hier nicht einzugehen. Stattdessen verweise ich auf den Einfluss des theologisch ausgebildeten Jesuiten und Soziologen Michel de Certeau, der sich dem säkularisierten Milieu Frankreichs in gleicher Weise ausgesetzt hat [Bogner 2002]. Auch er stellt sich dem zeitgenössischen Diskurs über Glaube und |Gott| und dekonstruiert in soziologisch- und historisch-methodisch geleiteten Überlegungen die zentralen Inhalte des christlichen Glaubens. Wie konnte es zu dem tiefgreifenden Bruch kommen, der |Gott| aus dem öffentlichen Diskurs herauskatapultiert hat? Der Faden, so Certeau, ist endgültig gerissen. Wollte sich die Theologie gegenüber human- und kulturwissenschaftlichen Diskursen als solche behaupten, dann würde sie durch diese systematisch erodiert.

Begriffe wie Differenz, Bruch, Schwäche oder Pluralismus gehören zu Certeaus Vokabular und die schon besprochenen Erfahrungen betont er in ungebrochener Schärfe. Streng wissenschaftlich gesehen sei |Gott| ebenso wie die Rede vom Menschen bedeutungslos geworden, er fungiere nur noch als Symptom des Systems (vgl. M. Foucault). Aber hier beginnt das Problem: In wissenschaftlicher Strenge können sich die Humanwissenschaften nur etablieren, wenn sie das Unausgesprochene verdrängen, so etwa den Gegensatz von europäischen und nicht-europäischen Kulturen, von Kind und Erwachsenem, von Mann und Frau, von Vernunft und Wahnsinn. Erst recht gilt dies für |Gott| und ähnlich wie Pohier gibt er Hinweise auf die Mystik, die schon immer ein „Restwissen“ um |Gott| und dessen rational nicht integrierbare Anteile aufgebaut habe. Die Mystik kann und will aber kein rationales Wissen ersetzen, sondern lässt erkennen, dass sich die Spaltung zwischen Sein und Scheinen nie auflösen lässt. „Es bleibt offen und lässt sich nie letztgültig klären, ob das, dessen Verborgenheit behauptet wird, nicht nur ein Trugbild und eine Täuschung ist.“ [ebd. 133] Zwar löst sie das Problem, wenn sie den Ort ihrer Praxis mitliefert. Umgekehrt zerstört sie ständig die Grundlage, von der sie lebt. Falsch wäre es also, |Gott| und die Theologie zu Lückenbüßern von Wissenschaft zu machen, denn |Gott| und die Theologie sind schon immer mit einem Unsagbaren konfrontiert und haben sich daran abzuarbeiten.

Certeau sucht deshalb eine Spur, die sich mit der bei Pohiers gezeigten vergleichen lässt. Für ihn lebt der christliche |Gott| aus der Erinnerung an ein ein für allemal vergangenes Ereignis. Das Christentum lebt also aus einem Bruch und einer Abwesenheit. Christen tun (nur) so, als wäre dieser Jesus gegenwärtig. Ist das erlaubt? Gewiss, auch in der Nachfolge lässt sich das verschwundene Ereignis nicht perpetuieren, aber es verschafft den Nachfolgenden die Erlaubnis, im Einverständnis mit dem Ursprung das Ihre jetzt anders zu tun. Diese Erlaubnis wirkt weder als Ursache noch als äußere Zielbestimmung, aber offensichtlich können Menschen nicht ohne Erlaubnis agieren, weil sie kommunikative und vernetzte Wesen sind. Die Wahrheit des Anfangs meint also keine semantische Identität, sondern den Raum eröffneter Möglichkeiten, nachdem das Vorhergegangene verschwunden ist. Wieder sind wir mit der Negativität konfrontiert, denn dessen Wahrheit „entleert“ sich in ein Handeln, das sich nie verbindlich ausweisen kann. Deshalb ist diese Wahrheit |Gottes| immer im Vorbeigehen und im Verschwinden. Zugleich wird sie zum Beginn humaner Orientierung, denn wenn dieser Bruch immer akzeptiert wird, hat |Gott| Zukunft. In |Gottes| Namen gibt es keine Deutungshoheit, aber eine Ermächtigung.

5. Folgerungen – Orientierung aus Freiheit

Ich breche diese exemplarischen Hinweise ab. Eine gründlichere Analyse müsste drei Gesichtspunkte beachten:
(a) |Gott| ist Teil eines umfassenden Fragekomplexes. Zu ihm gehören die Frage nach Mensch, Geschichte und Kultur. Die Gottesfrage verlangt einen kritischen fundamentalhermeneutischen Diskurs.
(b) Die Gottesfrage betrifft kein isolierbares Objekt, sondern die Konstitution und Besprechbarkeit unseres Verstehenshorizonts.
(c) Die darin verwickelte Rationalitätskritik ist mit einem neuen Selbstverständnis gekoppelt, deshalb verschafft sie Verunsicherung. Annäherungen an die Wahrheit sind nur durch die unaufhörliche Negation vorhandener Vorurteile zu erreichen. Nur so lässt sich der dahinterliegende Vorschuss an orientierendem Sinn freilegen.

Stärker als andere Fragen ist |Gott| von diesem Wandlungsprozess her zu entschlüsseln und mehr denn je figuriert diese Frage als Platzhalterin jenes offenen Raums, der die endlose Frage nach unserer Selbsttranszendenz markiert [Joas 1997, 10], – eine Selbsttranszendenz, die Verbindung entstehen lässt [ebd. 285]. Zwar kann |Gott| keine universal gültigen Antworten mehr versprechen, hält aber die Erinnerung an unsere permanente Überforderung wach und sorgt mehr denn je dafür, dass unsere Vorstellungen von Transzendenz nicht verdinglicht werden. Die besprochenen Entwürfe zeigen das radikale Maß der Negativität, die sich in der Gottesfrage heute ankündigt. Weitere Analysen von Pohier und Certeau könnten die orientierende Befreiung zeigen, die faktisch von dieser Negation |Gottes| ausgeht. Sie bedeutet eine prinzipielle (hoffentlich auch faktische) Befreiung von allen Allmachtsphantasien, die uns an Andere binden. Sie aber befähigt dazu, die Orientierungen und Werte wahrzunehmen, auf die wir immer schon bezogen sind.

Nach Pohier können Menschen in der neuen Erfahrung des abwesenden, einen offenen Raum gewährenden Gottes ihre Freiheit und wahre Menschlichkeit finden. Certeau führt die Kategorie der Erlaubnis ein, die vom Ereignis |Gott| ausgeht. Wer etwas erlaubt, der verursacht oder gebietet nichts, sondern wirkt in einem kommunikativ orientierenden Geschehen. Dies erinnert an die kabbalistische Metapher des Gottes, der sich zurückzieht, um der Schöpfung Raum zu geben [Moltmann 1985, 98-103; Lévinas 1987, 148]. Kann von solcher Negation aber wirklich Orientierung ausgehen? Vielleicht ist zwischen einer Orientierung zu unterscheiden, die – quasi verdinglicht und objektivierbar – reine Positivität voraussetzt, und einer anderen, die es dem Menschen erlaubt, zu sich und zu seiner eigenen Praxis zu gelangen. Die erste Orientierung sagt uns normativ, was wir konkret zu tun haben, die zweite eröffnet uns den Weg zu unserer eigenen Transzendenz, die zu leben wert ist. Es geht um unsere ‚genuinen Optionen’ [Seibert 2008].

Wo aber fällt eine solche Werteentscheidung? Es fällt auf, dass sich beide Denker auf den ‚Ort‘ und den ‚Leib‘ als Träger von Ereignissen und des Ichs konzentrieren. |Gott| erscheint als jemand, der/die/das sich immer schon ereignet hat und lässt sich philosophisch weder auf ein Subjekt noch auf ein Prädikat reduzieren. Wo und wann ereignet sich also |Gott|? Der Leib (des Individuums oder einer Gemeinschaft) ist der elementare und primäre Raum, dem Orientierung und Freiheit zugleich entspringen. Das schließt Konflikte zwischen den beiden nicht aus, aber an diesem Ort können sie auch wirksam ausgetragen werden. Deshalb entsteht in und aus dieser leibhaftigen Bestimmtheit immer auch ein Vorschuss dessen, was wir human nennen. So gesehen erweist sich jede Negation eines von außen zugeschriebenen Symbolkosmos als eine Befreiungstat, aus der die dem Menschen gemäße Orientierung ihren Ort und ihre Erlaubnis erhält. Für Lévinas ist keine religiöse Erhebung, sondern das Antlitz des Andern der Geburtsort ethischer Verantwortung und Spur Gottes zugleich [Bartholomäus 2002, 64-95]. |Gott| ist uns nicht gegeben, sondern in einem elementaren Sinn aufgegeben. So gesehen steht |Gott| in unserer Kultur nicht am Ende, sondern erst an seinem wahren Beginn.

Literatur

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