Der christliche Glaube an die Erlösung ist schon lange in die Krise geraten. Statt Erlösung auf die Schuldfrage der Vergangenheit zu fixieren, sollten wir sie als möglichen Weg in eine Zukunft begreifen, in der wir unsere Verantwortung wahrnehmen und die Frage nach einer Erlösung überflüssig wird.
I. Der Ausgangspunkt
Sie haben mir eine extrem breite und schwierig gewordene Frage zur Beantwortung vorgelegt. Sie bewegt sich im Dreieck der Begriffe Erlösung, Schuld und Evolution. Nun wissen wir aus der Astronomie, dass schon die Mathematik nicht mehr imstande ist, die Laufbahn von drei umeinanderkreisenden Gestirnen, die umeinander genau zu berechnen. Dieser Vergleich trifft genauestens zu, denn im Rahmen der klassischen christlich dogmatischen Theologie drehen sich die drei genannten Begriffe (neben anderen, die hier nicht genannt seien) so umeinander, dass sie nur zusammen und als eine Gesamtheit verständlich werden. Dabei unterliegt in unserer gegenwärtigen Epoche schon jeder der genannten Begriffe für sich einer komplizierten Geschichte des Verfalls und der Neukonstruktion. Hinzu kommt, dass diese sachbezogene Thematik durch den Obertitel in eine personale Perspektive gerückt wird. Das geschieht zurecht so, denn die christliche Tradition will in erster Linie keine Geschichte der Sachdefinitionen, sondern eine Geschichte der Erzählung dessen sein, was sich im Leben und Tod Jesu Christi, d.h. des uns erlösenden „Gesalbten“ ereignet hat und noch stets ereignet. Was also tun?
Kurzentschlossen könnte ich in die Gesamtthematik eine Schneise schlagen, indem ich einige Aspekte einfach herausgreife und Ihnen nach meinem Gutdünken präsentiere. Ich kenne Sie und die aktuelle österreichische Diskussion aber zu wenig, um diesen Husarenritt zu wagen. Also habe ich mich dazu entschlossen, das breite Themenfeld in einer offenen Problemskizze zu präsentieren und zu zeigen, wie die genannten Einzelfragen miteinander zusammenhängen und einander beeinflussen. Mit dem Verständnis von Schuld verändern sich auch das Verständnis von Freiheit und Erlösung. Davon hängt es wiederum ab, ob wir den sachfremden, weil wissenschaftlichen Diskurs der Evolution als Störung oder als Erweiterung unseres klassischen Erlösungswissens empfinden. Überdies spielt noch ein weiterer Begriff eine wichtige, vielleicht die unausgesprochen zentrale Rolle. Es ist der Begriff der Freiheit mit seinen verschieden und teils widersprüchlichen Konnotationen[1].
1.1 Voraussetzung: Erlösung als interaktiver Begriff
Historisch gesehen ist der Ausgangspunkt eindeutig. Schon früh galt der christliche Glaube als ein „Erlösungsglaube“[2]. So sehen in der Geschichte Christen sich selbst und das hat sich in modernen religionswissenschaftlichen Qualifikationen nicht geändert. Sie zählt in erster Linie die monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) zu den Erlösungsreligionen. Ich persönlich meine, dass diese Qualifikation auch anderen Religionen, etwa dem Buddhismus zukommt. Doch soll es hier nicht um diese Vermutungen gehen. Beschränken wir uns auf die klassische christliche Theologie, die den Erlösungsgedanken zudem als das Kennzeichen einer legitimen Religion sieht. Der christliche Glaube hat nämlich klarzustellen, dass wir Menschen uns nicht selbst „erlösen“ können. Wir bedürfen der Erlösung von Seiten Gottes, also einer Erlösung „von außen“ (ab extra), wie Luther sagt. Das besagt schon etwas über die Grundidee von Erlösung, die nicht in der Fähigkeit des Menschen liegt.
In der Neuzeit des westlichen Kulturraums erhielt dieser christliche Erlösungsgedanke zwei grundlegende Vollzugsgestalten, die – obwohl aggressiv verteidigte Konkurrentinnen – einander ergänzen. Die eine Vollzugsgestalt ergibt sich aus dem lutherisch-reformatorischen Ansatz der Rechtfertigungslehre. Sie stellt sicher, dass wir Menschen uns nicht selber ins Recht setzen können, weil wir schon immer der Anerkennung und Vergebung bedürfen. Zu fragen bleibt nur, wodurch genau wir uns ins Unrecht gesetzt haben. Die andere Vollzugsgestalt ergibt sich aus dem katholisch-kirchlichen Ansatz. Dieser geht davon aus, dass wir das Erlösung, das Heil und eine neue Freiheit letztlich nur über die Sakramente der Kirche erhalten können. Von Bedeutung ist auch der Ansatz der östlich-orthodoxen Kirchen, die sich durch eine offenere, anthropologisch weniger fixierte Lösung auszeichnet, weil er auch Kosmos und Natur mit großem Nachdruck in das Erlösungsgeschehen einbezieht. Im Grund hat man im Osten die katholisch-reformatorische Erlösungskontroverse nie verstanden. Trotz dieser inneren Unterschiede und Kontroversen treffen sich die christlichen Konfessionen nach außen aber in der gemeinsamen Überzeugung, dass die Erlösung – der Welt, des Menschen, des Sünders – nur in Jesus Christus vollzogen und neu möglich ist. Dies hat im westlichen Kulturraum, der so gerne aufs ganze geht, wiederum zum berühmten Satz geführt: „Außerhalb des Glaubens an Jesus Christus, außerhalb der Kirche kein Heil.“ Wenn schon Heil und Erlösung in anderen Religionen möglich ist, dann höchstens über einen „außerordentlichen“ Heilsweg, der voraussetzt, dass diese Erlösung allein für allemal und ausschließlich in Jesus Christus geschehen ist[3].
Doch birgt die prinzipielle und apodiktische Redeweise: „(allein) in Jesus Christus sind wir erlöst“ ihre Gefahren in sich. Ich nenne hier nur die erkenntnistheoretische: Obwohl gläubige Christen sich ihrer Erlösungsbedürftigkeit sehr sicher sind, weiß in der Regel niemand so richtig, was denn Erlösung, Schuld oder Freiheit bedeuten. Wir brauchen darüber nicht zu erschrecken, aber wir sollten es wissen. So bekannte auch Augustinus zur Frage der Zeit: „Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht“ (Conf. XI, 14). Dennoch (oder gerade deshalb) konnte er einer der tiefsinnigsten Analysen über die Zeit vorlegen, die unsere westliche Geschichte überhaupt kennt. Vielleicht kann mit dem Eingeständnis unseres Nichtwissen auch eine fruchtbare Auseinandersetzung mit den hier zu besprechenden Fragen beginnen. Was aber heißt in unserem Zusammenhang nicht wissen, und wie könnte ein neuer Erkenntnisweg beginnen?
Ich möchte diese Frage – indirekt wenigstens – mit einem kleinen linguistischen Exkurs zum Erlösungsbegriff beantworten. Der englisch Philosoph John R. Searle, der sich u.a. mit dem Begriff der Freiheit auseinandersetzt, unterscheidet zwischen analytischen Definitionen und Common-sense-Definitionen[4]. Die analytische Definition von Wasser etwa lautet H2O. Diese Definition ist nicht selbstverständlich aber kaum zu bestreiten. Sie ist sozusagen als richtig bewiesen, denn sie steht am Ende einer analytischen, methodisch streng kontrollierten Untersuchung, stellt also das Ergebnis einer komplizierten Forschungs- und Wissensgeschichte dar. Dem entgegen stehen die alten, alltäglichen, unsere Erfahrung und uns Leben bestimmenden Common-Sense-Definitionen. Sie greifen allgemein verbreitete, idealtypisch vielleicht verallgemeinerte Erfahrungen auf, die oft einer ganzen Kultur, vielleicht menschlicher Lebenserfahrung überhaupt gemeinsam sind. Wasser erscheint dann vielleicht als eine klare, farblose, bisweilen aber auch farbige Flüssigkeit, in der Regel ohne Geruch, die als Regen vom Himmel fällt, sich in Flüssen, Seen oder Meeren befindet, die lebensnotwendig ist und lebensbedrohlich werden kann. Wir können in ihm schwimmen oder in ihm untergehen. Es ist lebensnotwendig, kann aber auch das Leben ganzer Gebiete auslöschen. Die analytischen Definitionen machen es möglich, mit den definierten Dingen genau und zweckdienlich, funktional gerichtet umzugehen. Sie sind nur bedingt lebensnotwendig, denn Hunderttausende Jahre Kulturgeschichte kamen wir ohne sie aus. Dagegen entziehen sich die Common-Sense-Definitionen oft jedem funktionalen Gebrauch. Aber sie schaffen Gespräch, Gemeinschaft, fassen gemeinsame Erfahrungen in Worte. Oft entziehen sie sich jeder weiteren Genauigkeit und Definition, aber wir alle verstehen sie, denn sie sprechen elementare, innere und äußere Grunderfahrungen an, die einfach allgegenwärtig sind.
Auch bei Erlösung und Schuld haben wir es mit solchen breiten und ungreifbaren common-sense-Definitionen oder konsensuellen Definitionen zu tun. Sie leben davon, dass sie Gespräche und globale Übereinstimmungen über Erfahrungen, Hoffnungen und Lebenszusammenhänge ermöglichen. Weil solche Begriffe nicht in sich stehen, sondern auf Lebenssituationen reagieren, sind sie zugleich responsorisch, weil sie die Konturen der besprochenen Erfahrungen zugleich aufsaugen, wiedergeben und interpretieren. Sie geben also eine erste – gewiss voranalytische, dem objektivierenden Bewusstsein zunächst entzogene – Antwort auf Situationen. Daraus ergibt sich, dass sich diese Begriffe und deren Erstinhalte mit den Situationen selbst ändern. Um es jetzt schon zu sagen: vermutlich verstehen wir unter Schuld, Freiheit oder Erlösung heute etwas anderes als das, was man vor 2000 Jahren darunter verstand, obwohl dadurch die Kontinuität mit früheren Zeiten nicht abgebrochen ist, weil und sofern sie immer wieder an eine Grundsituation des Menschen anknüpfen[5]. Deshalb kann aktuelle theologische Arbeit nicht darin bestehen, die alten Bedeutungen einfach zu restaurieren. Dies gilt umso mehr, als mit ihnen immer auch institutionelle Geltungsansprüche verbunden sind. Wir haben nichts und niemanden zu verteidigen, sondern die erfahrene Wirklichkeit unserer Gegenwart zur Kenntnis zu nehmen[6].
Mit diesem Konsens- und Antwortcharakter ist aber eine dritte Eigenschaft verbunden, die wir in Glaubensfragen gerne übersehen. In der dogmatischen Tradition der westlich christlichen Theologie, die immer nach unverrückbar objektiven Wahrheiten fragt, werden wir geradezu dazu angehalten, diese spannende und höchst dynamische Eigenschaft zu leugnen. Indem wir solche Begriffe aussprechen, vielleicht sogar zum Zentrum unseres Denkens und Redens machen, ordnen und interpretieren wir ja ständig die Wirklichkeit. An diesem Punkt lässt sich religiöse Sprache gut mit guter Literatur vergleichen. Gute Literatur will nicht einfach Wirklichkeit abbilden. Dazu gibt es die empirischen Wissenschaften. Literatur dagegen spielt mit Möglichkeiten, schafft Phantasieren, greift voraus. Sie bewegt sich im Spannungsfeld von Wirklichkeit und Fiktion. Sie beginnt sozusagen mit der Fiktion von Wirklichkeit und bewirkt (wenn sie Erfolg hat und interessierte Leser findet) die Wirklichkeit ihrer Fiktionen. Genau dasselbe geschieht in der Sprache von Religionen, das Christentum eingeschlossen. Die Sprache greift etwa voraus auf die noch ausstehenden, sehr fernen Fiktionen Freiheit und Erlösung. Indem ich mich aber auf diese Fiktionen einlasse, beginnen diese Fiktionen schon, Wirklichkeit zu werden; es geht um die „Affirmation von Freiheit durch Freiheit“[7]. Solche Begriffe verändern also Wirklichkeit[8]; sie haben eine performative Kraft. Diesem Prozess vergleichbar kann sich ein Mensch etwa dann von Grund auf ändern, wenn er zum ersten Mal auf seine Freiheit, auf Schuld oder Verantwortung angesprochen, wenn er ihm Respekt erwiesen, wenn er belohnt, gelobt, getadelt oder bestraft wird. Wir werden sozusagen dadurch frei, dass wir auf unsere Freiheit angesprochen und uns dieser Freiheit bewusst werden[9]. Wir wissen auch, dass das Freiheits- und Verantwortungsprinzip in unseren Rechtssystemen immer mit einen fiktionalen Charakter beginnt; die Verantwortlichkeit eines Individuums in seiner Gesellschaft ist zunächst eine Behauptung, eine Fiktion. Dann aber – und das ist erstaunlich – erweist diese Fiktion ihren Realitätswert, denn in der Regel sind Menschen in einem Rechtsstaat frei und können sie verantwortlich handeln; auch hier entwickelt die vorausgreifende Setzung von Freiheit die darauf folgende Erfahrung von Freiheit. Vor diesem Hintergrund erweisen sich auch im religiösen Zusammenhang Worte wie Schuld, Freiheit oder Erlösung als performative Begriffe, weil sie nicht nur etwas behaupten oder mitteilen, sondern dafür sorgen, dass ihr Inhalt zur Wirklichkeit wird.[10] Dies ist der Grund weshalb sich diese Begriffe der klassischen Unterscheidung von Subjektivität und Objektivität entziehen. Sie sind genau zwischen beiden angesiedelt, weil sie Subjekt und Objekt, Zukunft und Gegenwart aufeinander beziehen. Was sie zeigen, ist dies: Die Wirklichkeit existiert nur als unfertig offene, das Subjekt kommt nur unter vorläufig gegenwärtigen Bedingungen zu sich. Jeder Perfektionismus ist nicht aus spezifisch religiösen, sondern aus allgemein anthropologischen Gründen ausgeschlossen.
Diese Begriffe und deren Inhalte sind also nicht festgestellt, sondern bestehen in Beziehung und Interaktion. Sie leben wie Lebewesen in fließenden Gleich- und Ungleichgewichten, bleiben nur am Leben indem sie sich ständig verändern[11]. Sie lassen sich – bei aller rationalen Klarheit, die sie haben können – nicht als Dinge festlegen. Sie sind in komplexe Zusammenhänge (Ereignisse, Beziehungen, Intertexte, Lebensinterpretationen) eingebettet, also abhängig von den genannten Konsensen, Antworten und performativen Wirkungen, die sich ihrerseits endlos in ihren Zirkeln fortentwickeln. Man kann diese Eigenschaft auch mit dem Bilde der Verworbenheit in Kontexte ausdrücken. Solche Begriffe sind in einem konstitutiven Sinne kontextuell. Sie leben mit uns aus ihren Kontexten.
Ich beende hier den Exkurs, der darauf hinweisen, einige Gründe dafür zeigen (und den Schrecken davor nehmen) sollte, dass und warum die Diskussion um Erlösung, Freiheit und Schuld heute so schwierig ist und vielleicht gar keine endgültige Lösung erwarten sollte. Es sind nämlich die überlieferten Kontexte, die sich auflösen.
In unserer Epoche ist es, als würden die menschlichen Grunderfahrungen vorhergehender Generationen, die einer tiefen Transformation unterliegen, einfach zusammenbrechen. Deshalb scheinen die genannten Grundbegriffe unserer Religion ihre Verankerungen zu verlieren. Die Elemente, aus deren Zusammenfügung unsere religiöse Sprache entstanden ist und sich im Verlauf der Jahrhunderte zu einem festen Konstrukt konsolidierte, explodieren geradezu; sie fallen auseinander. Für das Innenforum der Kirche bringt das schwere Probleme mit sich, weil diese Erdbeben in der Glaubenssprache zu schweren religiösen Verunsicherungen führen. Für das Außenforum der Gesellschaft weckt dieser Zusammenbruch aber ein neues Interesse, weil auch viele Begriffe von alten Verkrustungen und institutionellen Interessen freigesetzt werden. Wenn ich schließlich noch zur Kenntnis nehme, dass sich das innerkirchliche und das gesellschaftliche Forum inzwischen stark überschneiden (was in unseren Kirchen soll noch innen, was außen sein?), betrachte ich diese Entwicklung nicht als Katastrophe, sondern als eine ungeheure Chance, Sie zwingt uns dazu, über Erlösung, Freiheit und Schuld grundsätzlicher nachzudenken als frühere Generationen das getan haben. Erst jetzt wird Theologie wieder interessant, weil sie gezwungen ist, ihre institutionellen und lehrhaften Schutzpanzer abzulegen. Anders gesagt: wer heute über den christlichen Glauben und dessen elementare Inhalte nachdenkt, sollte sich auf den institutionellen Selbstschutz der Kirchen und einer traditionellen Dogmatik nicht mehr verlassen. Im Gegenteil, auch die Kirchen sind darauf angewiesen, dass wir uns neu in die Bewegungen unserer Kulturen einreihen und versuchen, Gott und die Welt von diesen aus neu zu versehen. Es kommt darauf an, in unserer Epoche einen neuen Konsens zu finden, der nicht auferlegt wird, sondern sich von selbst ergibt. Nun dadurch werden wir neue Interpretationen und Wirkungen (im Sinne des besprochenen Responsorischen und der Performanz) erzielen können. Von diesem Ausgangspunkt aus gehen wir einen weiteren Schritt, der für unsere Voraussetzungen wichtig ist.
1.2 Zuspitzung: Bezogen auf zwei Pole
Nun umschreibt der Begriff der Erlösung einen in sich abstrakten Grundgedanken. Er weist ja nur darauf hin, dass wir erlöst werden oder sind, dass also ein befreiendes (heilendes, rettendes, beglückendes) Geschehen in Gang gesetzt wird. Die Verankerung dieses Gedankens in der Tradition eröffnet aber ein weites Feld. Wie nämlich soll sich Erlösung konkret vollziehen und worauf können sich Christen gemäß ihrem Selbstverständnis berufen? Wie handelt – nach christlichem Verständnis – Gott in Geschichte und Welt, und wie sollen wir in diesem umfassenden Geschehen den individuell menschlichen, den geschichtlichen, den kosmischen und den göttlichen Anteil aufeinander beziehen? Die Unbestimmtheit der Erlösungsmetaphorik ist schon daraus ersichtlich, dass sich sogenannte Erlösungsreligionen gegenseitig ihr Erlösungsverständnis streitig machen, es also keine transkulturelle Klarheit über den Begriff selber gibt, der – wie wir sahen – doch von einem Grundkonsens abhängig ist.
Nun steht, geschichtlich gesehen, diese Frage für die christliche Glaubenstradition in einem besonderen, ja einzigartigen Spannungsfeld von zwei Polen, die in jedem Fall zu berücksichtigen sind und der uns von vornherein zu großer Behutsamkeit aufruft. Der erste Pol christlicher Erlösungstradition ergibt sich ja nicht aus einer spezifisch christlichen, sondern aus der weit umfassenderen jüdischen Tradition, Sie umfasst die uns bekannten Schriften Israels, also ein in sich schon gewaltiges Netzwerk von Texten, die vielfältig ineinander verworben sind, einander kritisieren und bestätigen, aber zu keinen endgültig fixierbaren Ergebnissen führen. Diese jüdische Tradition präsentiert uns nicht nur einen weiten Entwicklungsgang des Erlösungsgedankens, sondern bietet uns auch verschiedenste Erlösungsmodelle an. Diese haben sich für unsere Gegenwart entweder als weniger tauglicher Versuch oder als großer Wurf erwiesen. Tendenziell steuern die Schriften Israels seit ihrer prophetischen Epoche auf einen geschichtlich-messianischen Schwerpunkt zu, der seinerseits auf eine apokalyptische Endstimmung hinstrebt. Erlösung hat mit Zukunft und mit dem Kommen eines Messias zu tun. Zugleich ist sie in gegenwärtiges menschliches Handeln verwoben, das sich immer wieder an dieser Messianität messen lassen muss. Spannend ist diese Quelle deshalb, weil sie gerade für ein säkulares Denken neue, durch und durch humane Inspirationen enthält. Sie können auch ohne eine traditionell religiöse Folie überzeugen.
Der zweite Pol des christlichen Erlösungsgedankens ergibt sich aus dem spezifisch christlichen Grundakt des christlichen Glaubens. Das ist die Erinnerung an Botschaft, Leben, Tod und bleibende Gegenwart des Jesus von Nazareth, in dem wir Christen den (im Judentum verheißenen) Messias erkennen. Wir sprechen von seiner Erweckung aus dem Reich des Todes und wir sprechen davon, dass wir durch ihn zur Freiheit befreit sind.
Von Bedeutung ist schon die Tatsache, dass diese Konzentration auf einer Person der Geschichte der Gestalt des christlichen Glaubens ein personales Gepräge gab. Jesus Christus bildet die zentrale Figur, Heilsverläufe bleiben von ihm abhängig und auf ihn bezogen. Er, in dem nach dem Johannesevangelium (12,45) Gott sich ein Antlitz geschaffen hat, spricht und handelt an Gottes Stelle. Dies wird bis hin zum Grenzbegriff von Jesu Gottheit durchgespielt. Eine der gefährlichen Folgen dieses Denkstils ist der Gedanke, in Jesus, einer Person der Geschichte, sei die Erlösung schon vollendet. Wozu brauchen wir also noch Geschichte und Schriften Israels? Im Gegenzug zu solcher Einseitigkeit wurde das Bild vom Messias entwickelt, der am Ende der Zeiten wiederkehrt. Doch herrscht über diese Endzeit heute mehr Unklarheit denn je. Ich nannte dieses Spannungsfeld noch aus einem weiteren Grund einzigartig, denn diese Erinnerung führt einen sehr seltsamen, geradezu kontraproduktiven Inhalt in den christlichen Glauben ein. Es ist der Bericht von einem erfolglosen Leben, vom sinnlosen Schicksal dieses desaströs endenden Jesus, der sich zum Schluss von seinem Gott verlassen wusste (Mk 15,34)[12] und zum Fluch geworden ist (Gal 3,13). Während andere Stifter oder zentrale Identifikationsfiguren großer Religionen (denken Sie an Buddha, Kung-Fu-tse oder Moses) als geehrte, erfolgreiche Führer, Staatsmänner oder Weisheitslehrer gestorben sind, ist der „Gründer“ der christlichen Glaubensbewegung schlicht gescheitert, zum Opfer von macht-, rechts- und religionspolitischer Interessen, vielleicht einer kriminellen Justiz geworden. Dieses zugespitzte Bosheitsproblem, diese schonungslose Konfrontation mit Liquidation und Destruktion hat die christliche Erlösungsidee in besonderer Weise angeschärft und auf einen unbarmherzigen Punkt gezwungen. Einerseits spricht die christliche Glaubenstradition von einer messianisch verstandenen Erlösung in der letztlich Gott der Handelnde ist. Andererseits spielt beim Weg zu dieser Erlösung Jesu Tod, also der absolute Gegenpunkt einer Erlösung, eine konstitutive Rolle. Natürlich können (und sollten) wir die Jesuserinnerung nicht als Kontrast zur jüdischen Tradition, sondern als dessen Interpretation, als eine Perspektive seines Verständnisses begreifen; Jesu Schicksal muss uns zunächst als jüdisches Schicksal begreiflich werden. Zugleich überschreiten die Todeserfahrung und die damit verbundene Unrechtserfahrung – Erfahrungen, die allen Menschen und allen Kulturen gemein sind – alle spezifischen kulturellen und religiösen Grenzen. Es sind universale Erfahrungen; sie erhalten als Bücken vom und zum Menschlichen in einer säkularen Kultur besondere Bedeutung. Welche Rolle spielt also Jesu Tod? Was bedeutet er? Ist er Beispiel, Vorbild, warnende Erinnerung, von kulturell begrenzter Bedeutung oder (denken wir an die performative Funktion religiöser Sprache) prinzipiell mehr? Diese Fragen mussten und müssen beantwortet werden. Vor dem Hintergrund dieser Grundfrage sind die bisherigen und sind neue Erlösungsmodelle zu begreifen und zu beurteilen. Dabei sollte nicht verwundern, dass manche christliche Erlösungsmodelle gerade an dieser Frage scheitern. Das wäre wohl keine Schande. Ein solches Scheitern zuzugeben wäre allemal besser als der selbstgerechte Schein hochtrabender Lösungen, in denen gleich die ganze Menschheit bemüht ist.
So haben sie die beiden Pole unversehens auf einen dritten Pol ausgeweitet. Das ist die gegenwärtig akute Frage nach dem Sinn eines solchen Todes im Spiel von Freiheit und Erlösung. Der breite Erfahrungshintergrund der jüdischen Schriften bietet also Auftakt und Gesprächsbeginn, die Erinnerung an Jesus von Nazareth einen geschichtlich konkretren Brennpunkt; die Unrechtserfahrungen der Gegenwart geben schließlich den Rahmen vor, in den neue Antworten einzufügen sind.
Doch blieb bislang ein entscheidender Gesichtspunkt ausgeblendet. Es sind die Begriffe von Erlösung, Freiheit und Schuld, die unser gegenwärtiges christliches (katholisches) Erlösungsverständnis bestimmen. Ob wir es wollen oder nicht: in aller Bescheidenheit haben wir uns an ihnen abzuarbeiten, wenn wir in unserer Epoche Christen und Nichtchristen sowie diejenigen überzeugen wollen, die sich (in postchristlicher Unbefangenheit) weder als das eine noch als das andere erkennen.
1.3 Konkretisierung: Die Antworten der europäischen Tradition
Aus verständlichen Gründen hat sich die christliche Glaubenstradition in ihren wichtigsten Strömungen (also in der östlich-orthodoxen, in der westlich-römischen sowie in der reformatorischen Ausprägung) stark auf die Erlösungsfrage konzentriert, ein dominierendes Bild von Jesus Christus dem Erlöser herausgearbeitet und dogmatisch in Grundzügen festgelegt, die seit dem 5. Jahrhundert im Grunde nie mehr korrigiert wurden. Erstaunlich dabei ist: Jesu Tod blieb – ich sage es pauschal – immer weniger ein Durchgangsweg der Erlösung, sondern wurde immer mehr zum Punkt ihrer Vollendung. So schreibt der offizielle „Katechismus der Katholischen Kirche“ (1993) zwar: „Das Pascha-Mysterium des Kreuzes und der Auferstehung Christi ist das Herz der Frohbotschaft, welche die Apostel und in ihrer Nachfolge die Kirche der Welt verkünden sollen.“ Aber er fährt fort: „Im Erlösungstod seines Sohnes Jesus Christus ging der Heilsplan Gottes ‚ein für allemal’ in Erfüllung.“ (Nr. 571) „Durch seinen Tod befreit uns Christus von der Sünde, durch seine Auferstehung eröffnet er uns den Zugang zu einem neuen Leben. Dieses besteht in der Rechtfertigung, die uns wieder in die Gnade Gottes versetzt … Die Rechtfertigung besteht im Sieg über den durch die Sünde verursachten Tod und in der neuen Teilhabe an der Gnade.“ (Nr. 654). Die Erlösung wird also auf die Rechtfertigung konzentriert, die Rechtfertigung erwirbt uns aber der Tod Jesu.
Sünde Adams
Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Konstellation von Einzelaussagen (Tod, Auferstehung, Rechtfertigung) ist außerordentlich komplex. Denn einerseits ist dieser auf Jesu Tod zentrierte Erlösungsglaube intensiv in dogmatische Festlegungen eingebettet, so dass man beim Stichwort „Erlösung in Jesus Christus“ vom ersten Augenblick an ein breites Wurzelwerk von Aussagen rührt, die engstens miteinander verflochten sind[13]. Andererseits führte unser Denken seit der Aufklärung zu starken dogmatischen Vorbehalten, die leider keine Rückwirkung auf die traditionelle Lehre hatten, sondern eher zu deren Verschärfung führten. Wir sind also in einen Zirkel geraten, der sich immer schneller drehte. Ich erinnere nur stichwortartig an die schweren Auseinandersetzungen mit den Anfängen der historisch kritischen Exegese, an die unselige Periode des Antimodernismus und an die Entmythologisierungsdebatte nach dem 2. Weltkrieg. Je nach Entwicklung der naturwissenschaftlicher Theorien und Forschungsergebnisse haben sich im katholischen Raum und im Umfeld dieser Thematik immer neue Kontoversen und Disziplinierungen ergeben[14], angefangen von der unrühmlichen Isolierung und Verbannung des Teilhard de Chardin (1881-1955), der seit 1947 unter Zensur stand, später Europa verlassen musste und in den USA einsam starb, bis hin zu neuesten Debatten zur Beurteilung der Evolutionstheorie[15] , bis hin zur Zensurierung der Bücher von Jacques. Dupuis (2000)[16] und des amerikanischen Jesuiten Robert Haight (2002)[17]. Genannt sind hier diese Verurteilungen, weil nach römischer Auffassung alle drei die zentrale Heilsbedeutung des Todes Jesu Christi relativieren. Man könnte auch sagen, dass Rom in diesen Fällen die katholische Definitionshoheit in Sachen Erlösung bedroht sieht. In der Regel sind – ähnlich wie schon bei Hans Küng – die Begründungen für die Zensuren ungenau. Allgemein bringen sie aber ein Unbehagen bei der Vermutung zum Ausdruck, die klassische Erlösungsidee könne aus dem Zentrum des christlichen Glaubens gerückt werden. Übrigens stellt sich das Bild in den reformatorischen Kirchen nicht viel anders dar, in denen die objektive Erlösungshoheit der Welt durch den Gottmenschen Jesus Christus nach wie vor propagiert wird[18], ganz zu schweigen von jungen evangelikalen und pentekostalischen Bewegungen, auch wenn dort manche Rede nur aus dem Überschwang sprachlicher und emotionaler Ekstase verständlich wird. Man ist dann geneigt, zur Interpretation psychologische und ästhetische Kategorien zu Hilfe zu nehmen.
Kommen wir zurück zu Teilhard de Chardin. Einerseits verstand er sich als rechtgläubiger und kirchlicher Christ, zeigte sogar mystische Züge, die sich aus einigen seiner Schriften erheben lassen. Sein Bild vom kosmischen Christus scheut sich nicht vor den Höhenflügen einer kosmischen „Christifikation“. Andererseits waren ihm, dem hochgebildeten Jesuiten, der Diskurs der modernen Archäologie und Evolutionstheorie zu eigen. Ihm war klar, dass sich eine Entwicklung von Welt und Kosmos von unten her vollzieht, dass diese Entwicklung auch die Heraufkunft des menschlichen Geschlechts aus der Welt der Säugetiere beinhaltet, dass sich die Erzählung vom Sündenfall also nicht mehr wörtlich übernehmen lässt. Unter diesen Voraussetzungen ist auch vom Unheil und vom Bösen zu reden. Was es im glaubenden Verständnis auch immer sei, es muss im Entwicklungsprozess von Welt und Mensch verorten lassen, also den Mut finden, die mythisch narrative Einkleidung einer archaischen Unheilserfahrung neu und plausibel zu entschlüsseln. Erforderlich war schon damals ein naturwissenschaftlich ausgerichtetes Schwestermodell zu den Vorschlägen von Kant und Kierkegaard.
Ein Verständigungsproblem war somit vorprogrammiert; es ist bis heute nicht ausgeräumt. Das Bewusstsein von einer Menschheit, die von Unheil beladen ist und die Unheil teilt, gab es ja schon länger und gibt es in vielen Religionen. Bis heute kann sich dieser Erfahrung wohl niemand verschließen. Aber seitdem Augustins seine Theorie von der Erbsünde als universaler Schuld entwickelt hat, ist die Frage zu beantworten, ob jener Apfelbiss Adams nun wirklich die in Freiheit vollzogene Sünde aller Menschen schlechthin sein kann[19]. Wie ist der Apfelbiss zu interpretieren? Und selbst wenn man davon ausgeht, Adam habe mit der schönen Eva geschlafen, mit welchem Recht wird diese menschliche Tat, die der Zukunft von uns allen diente, als Sünde gedeutet? Kann Adam als erster Mensch frei gesündigt haben? Kann seine Schuld als frei gesetzte Schuld der gesamten Menschheit verstanden werden? Ich will dem Lehramt durch die Jahrhunderte hin keinen Opportunismus unterstellen, wenn es daraus den Schluss zieht: Die Interpretation der Ursünde macht deutlich, dass die Kirche mit ihren Sakramenten heilsnotwendig bleibt. Aber spätestens seit Augustins hatte sich eben das Axiom von der Erb- oder Ur-sünde herausgebildet, das die heilsnotwendige Taufe sogar der Säuglinge legitimiert[20]. Taufe und Sakramente haben jetzt nicht nur eine, sondern die zentrale und heilbringende Funktion schlechthin, die alle aktuellen und historisch präzisierten Kontexte übersteigt. Nichtchristen wird das Heil abgesprochen, sofern sie es unter bestimmten Bedingungen nicht doch von Christus erhalten. Im Rahmen metaphysischen Denkens hatte dann mit Anselm von Canterbury die unverrückbare und sinnlose Objektivität von Jesu Tod endlich eine befriedigende Antwort gefunden. Unendliches Unrecht gegenüber Gott konnte von Gottes Sehn selbst gesühnt werden. Schuld und Sünde waren damit über das Handeln individueller Menschen hinaus objektiviert. Jesu Tod wurde – ebenso universal und merkwürdig kontextfrei – als vollzogene, vollendete Erlösung von einer objektiven unendlichen Schuld begriffen. Christus aber war jetzt endgültig der Befreier von je individueller Sündenschuld um den Preis eines grausam blutigen Geschehens. Der Christusfilm von Gibson „The Passion of Christ“ illustriert dieses Konzept sehr getreu: „Unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen; wir aber wähnten, wir seien gestraft, von Gott geschlagen und geplagt. Und er war durchbohrt um unserer Sünden, zerschlagen um unserer Verschuldungen willen; die Strafe lag auf ihm zu unserem Heil, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53, 4-5), so das Motto dieses blutrünstigen, im Grund aber konsequenten Films. Es ist letztlich der Zusammenhang von Sühne und Schuld, der zu diesem grausamen Modell geführt hat, das alle westlichen Kirchen bestimmt.
Gott und die Seele
Wichtig für die Entwicklung in der westlichen Theologie war ein weiterer Gesichtspunkt: Das skizzierte Erlösungskonzept entwickelte sich seit Augustins als ein rein innerliches Geschehen zwischen Mensch und Gott. Zur Debatte stehe eine „reine“ Sünde; durch ein übernatürlich interpretiertes Todesopfer wird innere, „reine“ Vergebung vermittelt. Es war wohl dieser bestechende Aspekt, der bis heute dem sakramentalen Geschehen vor dem Geschehen der Verkündigung einen qualitativen Vorrang verschaffte, jedenfalls nach katholischem Verständnis. Hinzu kam die berühmte Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury (1033-1109), die dem Erlösungsmodell noch einen rechtstheoretischen Unterbau lieferte. Zu Recht mag man Anselm Ende der siebziger Jahre als sadistischen Erlösungstheoretiker rehabilitiert haben. Sein Ziel war es nämlich nicht, dem Sünder auch jedes Selbstbewusstsein zu nehmen, – eine Situation, die beim jungen Luther eine wichtige Rolle spielte, der an sich selbst verzweifelte. Er wollte umgekehrt zeigen, dass wir Menschen vor Gott wieder aufrecht, als wirklich freie Menschen stehen können. Aber der Stolperstein eines unendlich beleidigten Gottes blieb auch nach dem wichtigen, als Befreiung gedachten Vorstoß von M. Luther bestehen. Nach wie vor war der vom Leistungszwang befreite und in Christus vorbehaltlos erlöste Mensch direkt mit Gott konfrontiert, da ihm die nur Alternative von Schuld oder Vergebung geblieben ist. Es blieb ihm nichts anderes übrig als sich als Sünder zu bekennen.
Diese Situation hat sich auch in der späteren Diskussion gehalten – vom Konzil von Trient bis hin zu den ökumenisch geöffneten Rechtfertigungs-Diskussionen, die 1957 mit Hans Küng begannen und 1998 schließlich bis zum vorläufigen Konsens von Augsburg führten. Hans Küngs Vorschläge zu einem offenen und menschlicheren Heilsverständnis wurden nicht akzeptiert; seine spätere Verurteilung ist von diesem Beginn nicht zu trennen. Das Problem der Augsburger Übereinstimmung ist hingegen, dass diesen Konsens kaum mehr jemand versteht. Sprache und Grundfigur der traditionellen Erlösungslehre haben ihren Kontext der reinen Innerlichkeit und Übernatürlichkeit überlebt. Die Frage nach der menschlichen Freiheit ist kaum mehr zu beantworten, weil die Rede einerseits von der menschlichen Freiheit (die Adam besaß und die die Erlösten wieder besitzen sollen) und andererseits der menschlichen Unfreiheit (die allen Unerlösten vor Gott zukommt) in einem antiken Sprachgewand verblieben ist. Luthers Paradoxie eines „gerecht und Sünder zugleich“ wird nicht mehr aufgelöst. Je säkularisierter unsere Kultur (was nicht mit einer gott-losen oder a-religiösen Kultur zu verwechseln ist), umso mehr verselbständigen und relativieren sich darin die mythischen, quasi absoluten Anteile des antiken Erlösungsdenkens[21]. Da sich dieses Unheil und diese Erlösung auf ein übersinnliches Geschehen reduziert haben, da sie geradezu dualistisch im Raum einer über-natürlichen Welt gedacht und durchstrukturiert sind, haben sie Ort und Kontexte im gegenwärtigen Weltgeschehen verloren. Das ist für die Plausibilität des christlichen Erlösungsgedankens eine Katastrophe. Da selbst der Versuch einer symbolischen Interpretation – wie es Haight unternimmt – abgewehrt wird, bleibt auch ein Erkenntnisprozess blockiert, der allmählich Wege der Neuinterpretation zulassen und anstoßen könnte.
Das ist die aktuelle, die sozusagen offizielle Situation. Ungezählte Menschen haben sich aus diesen Gründen von der Kirche abgewandt, sich von der christlichen Tradition verabschiedet. Die neue postchristliche Welt hat sich u.a. diesem Zusammenhang verdanken. Seit Beginn der Neuzeit kannte Europa schon einen Kampf um Würde und Stellung des Menschen. Er wurde zum Streit um die menschliche Freiheit, die die Kirche im eher absprach als für sie einzutreten. Ich bin weit davon entfernt, in diesem Streit Recht und Unrecht einseitig zu verteilen. Aber unbestreitbar ist, dass sich die christliche Erlösungslehre immer kompromissloser in einen Käfig eine Selbstinterpretation eingesperrt hat, die sich nach außen nicht mehr vermitteln lässt. Der einzige Ausweg ist der Versuch eines großen Perspektivenwechsels. Wir müssen versuchen, den Diskurs derer aufzunehmen, die elementar nach der Sache selbst fragen. Was also ist zu tun?
Es kann nicht darum gehen, das Problem mit moralischen Appellen zu lösen. Weder der Vorwurf moralischen Versagens noch die Anmahnung wissenschaftlicher Reflexion helfen weiter. Zudem scheint die Lage so aussichtslos zu sein, denn die Theologie hat in den vergangenen Jahrzehnten mehrere Wege versucht, – Bausteine vielleicht zu einem neuen Verständnis von Problematik und christlicher Antwort. Wir können hier nicht alle Wege rekonstruieren. Ich möchte sie hier kurz – vielleicht allzu verkürzt – in drei Modelle zusammenfassen. Mit wachsendem Nachdruck kommt dabei die Tatsache zur Sprache, dass die Moderne in unser Weltverständnis ein prinzipiell neues Element eingeführt hat. Es ist das Bewusstsein dafür, dass Kosmos, Natur und organisches Leben nicht einfach ein vorgegebenes Produkt sind. Sie haben vielmehr eine Geschichte, die sich in ungeheuer lange Zeiträume erstreckt. Entschieden zu kurz greift deshalb die vormoderne Vorstellung einer fertig geplanten und dem Menschen zur Verfügung stehenden Natur, wenn wir die Welt und uns selbst (Schuld und Freiheit eingeschlossen) angemessen verstehen wollen. Zwar ist früheren Epochen und ihren Erlösungsvorstellungen daraus kein Vorwurf zu machen, aber für die Gegenwart sind endlich Revisionen, sorgfältige Re-Konstruktionen angesagt. Dabei wird sich die Frage zu beantworten sein, was Freiheit und Schuld eigentlich bedeuten.
II. Historische De- und Re-Konstruktionen (Modell 1)
Es wäre also nicht sinnvoll gewesen, wäre die dogmatische Theologie in der Aporie des klassischen Ursündemodells hängen geblieben. Das Ungenügen an den überlieferten Antworten führte – klassischer Theologiearbeit gemäß – zu erneuten biblischen Rückfragen. Sie haben für den Ausbruch aus den traditionellen Schemata erste und unersetzliche vielfältige Hilfen gebracht. Ich nennen sie hier: Geschärfter Blick auf die christliche Ursprungserfahrung und eine neue Freiheit der Interpretation.
2.1 Vielfalt im Neuen Testament
Erstaunliche Öffnungen bieten schon die neutestamentlichen Texte. Sie zeigen, dass man in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod eine Vielfalt von Symbolen und Bildern heranzog, um die Bedeutung von Jesu Leben, Geschick und Auferweckung sowie die Ausgießung des Geistes deutlich zu machen. Wichtig war die Entdeckung, dass das schuldbezogene Erlösungsmodell nicht am Anfang stand. Zu Beginn wollte man vielmehr verdeutlichen, dass und in welchem Sinn jetzt die Endzeit angebrochen und doch noch verborgen ist, in welchem Sinn das Gottes Reich in dieser Welt also Wirklichkeit wird. Das Reich Gottes ist nicht nur nahe (wie bei Johannes dem Täufer), sondern schon an seinem Anfang. Es ist genau jetzt dabei, sich zu verwirklichen. Die Frage dessen, was man später „Soteriologie“ ( = Heilslehre) nennen wird, ist noch völlig offen, in Bewegung. Am Beginn steht ganz sicher kein Erlösungsmechanismus, auch keine Erlösungsanthropologie, sondern ein an Geschichte und Kosmos orientierter messianischer Vorausblick, eine geradezu ekstatische Jetzt-Erwartung. Die Fragen nach Freiheit und Schuld werden in erster Linie in soziale Zusammenhänge eingebettet. Sündenmodelle stehen deshalb als Ausdruck und im Dienst politisch-geschichtlicher Erfahrungen; man lese nur die apokalyptischen Texte. Dass die Symbolisierungen von Sünde, Schuld und Sühne bald so wichtig wurden, mag verständlich sein, denn im religiösen Kontext der Antike spielten die Fragen von Opfer und Sühne, von Tötung und Blut eine wichtige Rolle. Aber in der frühen Jesusbewegung ging es gerade nicht um deren Intensivierung, sondern um deren Überwindung, so jedenfalls die scharfsinnige, meis missverstandene Beobachtung des Hebräerbriefs, für den es in der Zukunft kein Priestertum mehr geben wird.
Bibel Israels
Noch interessanter wurde im 20. Jahrhundert die Neuentdeckung der jüdischen Bibel mit ihren vielfältigen geschichtlichen, spirituellen und sozialkritischen Perspektiven. Schon in den ersten Kapiteln des Buches wird vom dramatischen Einbruch des Bösen in die Welt berichtet, das sich wie eine Lawine über die Menschheit ergießt und zur ersten großen Strafe, der Sündflut führt. Von diesem Beginn an bedeutet Erlösung Führung, Bewahrung und Befreiung des jüdischen Volkes aus der Knechtschaft, zugleich aber die prophetische Entdeckung vielfältiger, aber konkreter schuldhafter Gründe für das gegenwärtige Unheil – bis hin zur Paradoxie eines Unheil verhängenden Gottes im Hiobbuch und in manchen prophetischen Texten. Die erste Jesusbewegung lebt aus dieser Inspiration. So war im 20. Jahrhundert neu zu lernen, dass der christliche Glaube ebenso intensiv in der geschichtlichen, geradezu politisch orientierten jüdischen Tradition steht. Der unklare Begriff der Freiheit war durch den Begriff der Befreiung zu ersetzen,
Paulus
Neu entschlüsseln lässt sich vor diesem Hintergrund schon das Erlösungsmodell des Paulus, bei dem Augustinus leider den schicksalsreichen, aber in fataler Weise falsch übersetzten Satz über den Stammvater „Adam“ gelesen hat, „in dem“ alle sündigten (Röm 5,12). Das war aber nicht des Paulus Gedanke. Dieser argumentierte, wie man heute sagen würde, empirisch, denn für ihn war ausschließlich die (schon jüdisch biblische) Feststellung wichtig, dass alle Menschen sündigen, was er griechische Urtext und sachgemäße Übersetzungen auch klar belegen[22]. Doch hatte Paulus eine enorme Leistung zu vollbringen. Er hatte die religiösen Grundfragen nach Befreiung, Sünde, Erlösung und Heil aus der jüdischen Vorstellungswelt zu lösen und den ersten kulturellen Aus- und Umbruch zu verarbeiten, den die jüdisch-christliche Tradition in Angriff nahem. Zum, ersten Mal tauchen Überlegungen auf, die um ihre Unabhängigkeit von der konkreten jüdischen Erinnerung ringen. Deshalb werden biblische Kernbegriffe wie Adam/Mensch, Tora/Gesetz, Bund/Verheißung, Jerusalem oder Himmel ausgeweitet. Man kann ihnen noch keine philosophisch allgemeine Bedeutung zusprechen, wie es später die griechische Philosophie leisten wird, aber der Zug zur radikalen Universalisierung ist deutlich. Paulus entspricht damit den Sehnsüchtigen jener „Gottesfürchtigen“, die schon zuvor nach dem Einen Gott suchen, oder sich den partikularen Bestimmungen der Tora unterwerfen[23]. Darin musste er, etwas distanzierter ausgedrückt, als erster „Christ“ über die universale Entgrenzung des jüdischen Heils in einem multikulturellen Weltimperium nachdenken und ein Modell entwickeln, das sich weitgehend als geschichtsunabhängig und zeitlos gab und zudem bei mystisch orientierten religiösen Strömungen seiner Zeit Anleihen machte[24]. Je mehr uns dieser transkulturelle Kern seines Anliegens deutlich wird, umso klarer entschlüsseln sich auch die Signale, die er mit seinen neuen mythisch-mystischen und narrativen Impulsen setzen will. Einerseits kann er deutlich machen, dass der – durch und durch jüdische – Jesusimpuls von universaler und transkultureller Bedeutung ist, andererseits wird die christliche Botschaft selbst – anfanghaft jedenfalls – zu einem Glaubenssystem umgeformt, das sich von konkreten (kulturellen, historischen, leiblichen) Faktoren unabhängig macht. Sünde, Schuld und Erlösung werden immer zeitloseren Begriffen; das Erlösungsverständnis nähert sich einem Perfektionismus, der sich über das Judentum erhebt; die Tora wird deutlicher Kritik aus. Die Rede von Gesetz und Evangelium, von Freiheit und Schuld wird einer Tendenz zur Abstraktion ausgesetzt, die sich über Jahrhunderte hin fortsetzen wird. Aus christlicher Perspektive ist das Verdienst des Paulus ungeheuer groß; er hat es zu einer Weltreligion werden lassen. Aus kultureller Perspektive ist der Paradigmawechsel, den er einleitetet, enorm. Dies bringt für uns die Erlaubnis mit sich, neue Wege der Inkulturation mit Freimut anzupacken. Eine neue Inkulturation und eine neue Kommunikation können nur gelingen, wenn wir uns die genannten zentralen Begriffe neu erarbeiten.
2.2 Weg in den Hellenismus
Vor diesen Hintergründen lassen sich die späteren Entwicklungen deuten, die durch eine politische Wenige beschleunigt wurden. Das Judenchristentum verschwand und das ostjordanische Christentum (dessen Erinnerung der Koran fragmentarisch bewahrte) wurde für den Westen bedeutungslos. So wuchs die christliche Botschaft allmählich und ohne Widerstand in den hellenistischen Kontext jener Zeit hinein und unterzog sich dabei einer tiefgreifenden Metamorphose, die diese Religion zugleich staat- und damit machtfähig machte. Wir kennen das hervorstechende Merkmal jener griechischen Metaphysik[25], die jetzt den Rahmen für die christliche Theologie bieten und jetzt wie ein magnetisches Feld auf den neuen Denkstil wirken sollte. Auf der Spur von Platon, mit den Mitteln des Aristoteles, sowie auf den Spuren der Stoa suchte man jetzt nach dem, was sich über Zeit und Vergänglichkeit erhob, was sich als zeitloses Wesen von Mensch und Welt erweisen und in einem ewigen Bezugsfeld verankern ließ, was sich auf ein personal und doch als unbeweglich gedachtes letztes Wesen, also einem ewigen Gott beziehen ließ. Man kann verstehen, dass die menschliche Freiheit vor diesem ewigen, über alle Zeit erhobenen, allmächtigen und unbeweglichen Gott zu einem Nichts zusammenschrumpft und nur noch als Gehorsamsakt gegenüber Gottes Willen Bedeutung erhält. Man kann deshalb auch verstehen, dass über Schuld oder Schuldverhängnis nur noch global und nicht unbedingt menschenfreundlich gesprochen wird. Denn wer fühlt sich angesichts dieser Gesamtsituation noch dazu berufen, die Würde, die Rechte, oder doch wenigstens die angemessenen Freiheitsreste des Menschen zu verteidigen. Ein Moralist und Weltverbesserer wie Pelagius kann da nur noch dem Verdikt des großen Gottesschauers Augustinus verfallen, der allen israelischen Freiheitsimpuls im Verdikt des Überholten versinken lässt.
In diesen Zusammenhang stellt man jetzt auch das Unheil, in dem sich die Menschheit vorfindet und das uns alle von Beginn an bestimmt. Das Buch Genesis erzählt da eine archaische Geschichte, die uns alle in ihre Dynamik verwickeln will. Schuld, Verhängnis und ein Sinn für geschichtlich umfassende Zusammenhänge sind in ihr so miteinander verwoben, wie dies in unserem Leben eben tausendmal geschieht. Man braucht die Paradiesgeschichte nicht einmal als eine Sündengeschichte zu interpretieren[26]. Aber die christliche Theologie formt sie jetzt in einen Bericht vom Menschheitsbeginn sowie in ein Zustandsmodell des unerlösten Menschen mit zwei überzeitlichen Ankern um. Der erste Anker lautet: unbedingte und individuell freie Verantwortung gegenüber Gott. Der zweite Anker lautet: eine Schuld, die – wenn auch selbst verschuldet – zum Wesen (sagen wir: zur „zweiten Natur“) des Menschen geworden ist. Das Spannende und immer neu Herausfordernde an diesem Modell ist die Tatsache, dass man die beiden Pole, die einander eigentlich ausschließen, jetzt konsequent zusammendenken will. Freiheit wird zur unbedingten Verantwortlichkeit des Einzelnen vor Gott; deshalb bleibt der individuell anzurechnende Schuldcharakter ungeschmälert bestehen. Das Schuldverhängnis hingegen wird universal als allgegenwärtiges Merkmal des Menschen gedacht, dass es der Tat des Einzelnen immer schon vorauseilt. Wie kann aber diese Ur-schuld wirkliche Schuld des Einzelnen sein? Zu den oft unerkannten Merkmalen der klassischen Erlösungslehre gehört die innere Widersprüchlichkeit des Freiheitsbegriffs. Einerseits wird dem Menschen eine radikale Freiheit zugesprochen, so radikal, dass er sogar gegenüber Gott seine Freiheit behält Anderseits wird der Kern des menschheitlichen Zustands geradezu als Freiheitsmangel definiert. Dieser Widerspruch wurde in der Theologie lange verdrängt und hat das neuzeitliche Menschenbild auch in seinem säkularen Gewande immer wieder bestimmt. Deshalb ist auch die Frage, die wir hier besprechen, nicht nur ein theologisches, sondern auch ein eminent säkular-anthropologisches Problem. Es geht darum, die absoluten Begriffe von Freiheit und Unfreiheit, von Schuld und Verhängnis in konkrete Zustandbeschreibungen aufzulösen, die der konkreten Situation der Menschen in Geschichte, Gesellschaft und Selbstkonfrontation Rechnung tragen
2.3 Eine Sackgasse?
Völlig zu Recht hat Rudolf Bultmann – im Wissen um die tiefgreifenden Verwerfungen einer hellenisierten Theologie und zugleich bedrängt vom Vermittlungsproblem seiner Epoche -das Programm der „Entmythologisierung“ entworfen. Lange hat man darüber provinzielle und verängstigte Diskussionen geführt, statt die fruchtbare Provokation dieses Programms zu entdecken. Bultmann versuchte nämlich, Jesu Appell (sein „Kerygma“) für unsere Zeit zur Sprache zu bringen, also die hellenistisch verfremdete Glaubenslehre wieder in bezeugendes Glaubenshandeln zu überführen. Er entdeckte also nicht ein, sondern zwei Probleme. Instinktiv fühlte er wohl, dass die beiden zusammengehören. Es gilt in der Tat, eine hellenisierte Botschaft auf ihre biblischen Ursprünge hin, die biblische Botschaft auf einen säkularen Denkhorizont hin zu entschlüsseln. So ist verständlich, dass Bultmann in den vierziger und fünfziger Jahren an eine Grenze stieß, die sich mit den Mitteln von Textkritik und historischer Rekonstruktion nicht mehr voll lösen ließ. Aber es waren die ungezählten biblischen und historischen Rekonstruktionen der Thematik in all ihren Details, die das Tor zu neuen Interpretationen öffneten.
III. Theologisch „moderne“ Interpretationen (Modell 2)
„Modern“ nenne ich solche Interpretationen, die den Prozess der Erlösung – wie schon angedeutet – vor dem Hintergrund der Metaphysikkritik Kants formulieren. Neuansätze des Idealismus, später dann eines geschichtlichen sowie eines hermeneutischen Denkens spielen dabei eine Rolle. Zumal in der katholischen Theologie haben solche Interpretationen den Anteil von Kirche und Tradition im Erlösungsprozess oft unkritisch akzentuiert oder erneut verdinglicht; davon sei hier nicht gesprochen. Dabei gibt es viele, oft recht pragmatische, deshalb auch sympathische Versuche, die Polarität von Schuld, Freiheit und Erlösung vor einem biblischen Hintergrund verständlich zu machen. Von ihnen sei im folgenden nicht die Rede. Ich greife hier eine Gruppe von Interpretationen heraus, die im Augenblick – jedenfalls im deutschsprachigen Sprachraum – unser innertheologisches Denken stark dominiert. Sie hat ihre Wurzeln in der katholischen Theologie des (noch vorvatikanischen) 20. Jahrhunderts, als man mit dem Versuch begann, die Neuscholastik zu überwinden und zugleich das kantsche Erkenntnisproblems aufzuarbeiten[27]. Dieses Denken hat mit K. Rahner eine stilbildende Prägung erhalten; sein Stichwort lautet: „transzendentaltheologisches“ Denken. Es tritt mit dem Anspruch auf, traditionell dogmatisches Denken aufzunehmen und zugleich auf der Höhe modernen Denkens zu agieren. Mit seiner eifrigen Kritik an einem kirchenkritischen Denken (das es gerne aufgeklärt, liberal oder funktionalistisch nennt) empfiehlt es sich als kirchlich, mit seinem Rückgriff auf transzendentalphilosophische Modelle will es zugleich zeitgemäß sein. Ich persönlich halte den nachhaltigen Erfolg dieser Denkschule nicht unbedingt für einen Glücksfall der Theologie.
Ausgangspunkt dieser Interpretationen ist E. Kant. Er versuchte, die Erbsündenthematik neu zu formulieren, und zwar so, dass im Menschen eine prinzipielle Freiheit gewahrt blieb, zugleich aber eine grundlegende Unordnung zugestanden wurde. Aber ähnlich wie später Kierkegaard lehnte Kant den Gedanken einer historisch ersten, von den Stammeltern gesetzten universalen Sünde ab. Adam war nicht der erste Mensch (den es nicht gab), „Adam“ steht jeweils für mich. Interessant ist deshalb nicht das Ergebnis eines vermeintlichen Sündenfalls, sondern seine endlos wiederholte Dramatik, also der erstaunliche und bestürzende Sachverhalt, dass die Menschheit ihre Bosheitsgeschichte nicht hinter sich lässt. Ich habe in mir einen „Hang“ zum Bösen; mit Kant genauer gesagt: Menschen haben die unausrottbare Neigung, andere Menschen für „verachtungswürdig“ zu halten. Damit laden wir uns noch keine Schuld auf, aber diese zutiefst unlautere Neigung wird eben schnell zum Ausgangspunkt von Bösem[28]. Es gibt also eine Tendenz zur Schuld; aber ich bin nicht schuldig, bevor ich zu meinem Selbst gelange. Später wurde dieses Modell entwicklungspsychologisch erweitert. Denn vielleicht sind (wie bei Kierkegaard[29], bei tiefenpsychologischen Ansätzen oder bei P. Tillich[30], gar bei Irenäus von Lyon) Erwachsenwerden und Freiheitserfahrung ohne Schulderfahrung überhaupt nicht möglich. Wenn Schuld aber einen notwendigen Durchgang zur Reife bedeutet, dann ist der Schuldbegriff erheblich modifiziert. Er ist dann Ausdruck einer fehlenden Identität mit sich selbst und seinen Zielen, vielleicht einfach auch ein mangelndes Selbstverhältnis, bevor er sich zu einem verantwortlich falschen Handeln steigern kann. Beginnende Freiheit beinhaltet ja zumindest die Frage, was ich von Menschen halten, ob ich der Wirklichkeit trauen, ihr gar vertrauen soll. Denn (um mit Kierkegaards berühmter Analyse zu sprechen) die beginnende Freiheitserfahrung führt mich vor einen Abgrund, vor ein Nichts, vor dem mir schwindlig wird. Mit diesem Schwindel, dieser Angst, muss ich fertig werden, weil ich mich dem Scheitern aussetzen muss, wenn ich frei sein will. Zudem ist es immer einfacher, in dieser Angst zu verharren und zu erstarren. Während nun die traditionelle Dogmatik die Ursünde in paradoxer Weise als Unfreiheit beschreibt, ist nach Kierkegaard die eigentliche Sünde in dieser Erstarrung zu suchen, die das Wagnis der Freiheit nicht eingehen will.
So gesehen ist Ursünde also Freiheitsblockade, Verharren in der Freiheitsangst, die mir einen unbefangenen Zugang zum Guten verwehrt, weil Freiheit erst hinter jener naiven Selbstverständlichkeit beginnt, die uns an Kindern so fasziniert. Also geht der ausdrücklichen Schuld, die eine kirchliche Erbsündentheorie einfordert, eine Grundspannung voraus, die sich der Alternative „gut oder böse“, „schuldig oder nicht“ entzieht. Sicher war die traditionelle Theologie diesem Problem auf der Spur, da sie im Laufe der Neuzeit immer nachdrücklicher erklärt, die Erbschuld sei nur im analogen Sinn eine Schuld. Aber seit Augustinus fühlte sie sich eben nicht mehr dazu berechtigt, diese Grundkategorie aufzugeben, denn vor dem anthropomorph gedachten personalen Gott stehe in jedem Fall der Mensch als freie und erwachsene Person, also mit oder ohne umfassende Schuld. Das ist, wie schon gesagt, die griechisch metaphysische Grenze des amtlichen Gottesbildes in der christlichen Tradition.
In den transzendentaltheologischen Ansatz floss allerdings eine weitere Vorentscheidung ein, die uns heute schon gar nicht mehr auffällt. Im Grunde haben die Philosophen Kant und Kierkegaard ja, wie später auch die Tiefenpsychologie, säkulare (d.h. im Grunde: anthropologische) Modelle vorgelegt. In diesen Modellen wird Gott allenfalls zum Hintergrundfaktor, der die Sachlage verschärft oder unausweichlich macht, vielleicht auch zum Gott, der sich von diesen Menschenbildern her neu beleuchten lässt. Schuld und vorgegebenes Unheil vollziehen sich jetzt nicht mehr einfach auf der Bühne eines übernatürlichen Jenseits, sondern auf den Bühnen von Mensch, Geschichte und Welt. Dass ein gläubiger Mensch das Ganze dann immer noch als Sünde und Unheil vor Gott interpretiert, dass er damit die Frage nach Vergebung mit der Frage nach einem jenseitigen Lohn- und Strafensystem verbindet, das ist dann sekundär – ein erster Tribut an eine säkulare Welt. Ich komme darauf zurück.
Vergleichbare und ausgesprochen theologische Analysen sind dann bei P. Schoonenberg und beim schon genannten K. Rahner zu finden. P. Schoonenberg thematisiert – für viele damals überraschend und erhellend zugleich – die kollektiv-geschichtliche Dimension der ursprünglichen Schuld. Er versteht diese Neigung zum Bösen konkret als eine Trübung des moralischen Sensoriums, des menschlichen Gewissens, – eine Trübung, die vom frühesten Alter an in unserer Sozialisation verankert ist. Wer etwa in einer Familie groß wird, in der wie selbstverständlich gestohlen oder gelogen wird, sieht darin vielleicht die selbstverständliche Maxime seines eigenen Handelns. Überzeugender noch: Für einen Menschen, der sich von der Gesellschaft schon immer als bestohlen und als ausgenützt erfährt, werden Diebstahl und Egoismus geradezu zu Taten der ausgleichenden Gerechtigkeit. Er hat ja – anders als bei Kants Exempel – hinreichende Gründe dafür, die Menschen für verachtungswürdig zu halten. Ich finde die Erwägungen dieses immer genauen und auf konkrete Transparenz bedachten Theologen richtig, auch wenn man sie noch grundsätzlicher aufnehmen und durchspielen könne. Er hat nämlich versucht, in die Analysen von Schuld und Sünde einen Zeitpfeil, ein Element der Entwicklung einzubringen, das uns früher oder später zur Frage veranlasst, ob es nicht in Freiheit und Schuld graduelle und kontextbedingte Entwicklungen geben kann. Wir werden uns im Zusammenhang der Evolution daran erinnern müssen.
Faktisch setzt P. Schoonenberg das Konzept von K. Rahner voraus, den er immer als seinen Lehrer betrachtet. K. Rahner spricht durchgängig von Unheilsverhängnis und Unheilssituation, in die wir alle hineingeboren sind und die unser Gottesverhältnis unmittelbar betreffen. K. Rahner hatte ja von seinem oft vergessenen Lehrer, dem Existentialphilosophen und Hermeneutiker M. Heidegger, einen wichtigen Aspekt übernommen. Es ist der Aspekt der Situation, des Situiertseins mit seinen leiblichen, sozialen und kulturellen Komponenten. Meine Situation oder Gestimmtheit, die die moderne Philosophie sagt[31]) ist mir immer wie vorgegeben und deshalb auch das mir Selbstverständliche, dessen Problematik mir kaum bewusst werden kann. Deshalb bestimmt es mich und meine Freiheit in einer Tiefe, die dem Ich, meiner Freiheit, dem Bewusstsein und Wollen immer schon vorausgeht. So konnte K. Rahner ein Bewusstsein dafür wecken, in welchen Urgründen diese Unheilssituation eigentlich zu suchen ist. Sie ist nicht ein Aspekt, der zu vielen anderen Aspekten (dem Erkennen, der Freiheit zum Du oder der Liebe) eben hinzukommt und sich in moralischen Erwägungen erschöpft. Nein, sie liegt diesen vielen anderen Aspekten immer schon zu Grunde. Sie wirkt gerade in ihrer Verborgenheit und Selbstverblendung elementar, in allem und durch alles hin, auch im Erkennen, im Wollen, in Grundhaltungen und in unserer Emotionalität. Diese Unheilssituation ist dort angesiedelt, wo – so derselbe Karl Rahner – die prinzipielle Offenheit des Geistes auf Gott hin (die „potentia oboedientialis“) zur Diskussion steht.
Wo aber ist dieser Ort, wo zeigt sich die unendliche Offenheit des Geistes, wo und wie also wird unsere Schuldgeschichte geschrieben und überwunden? Seit Kant denken „transzendentale“ Entwürfe von den Möglichkeitsbedingungen her, denn sie gehen davon aus, dass das „Ding an sich“, die Sache selbst also, nicht sichtbar wird. Für Rahner wurde diese Verborgenheit des Eigentlichen – ganz anders als bei Kant und dessen Intentionen entgegengesetzt – Anlass zu einer Öffnung im Denken und zu einem neuen Vertrauen in die eigene zerbrechliche Erfahrung. Zwar war dies ein außerordentlich fruchtbares Missverständnis, aber auch dessen Aufdeckung sollte betrieben werden. Wir sollten es, kurz gesagt, nicht bei Rahners transzendentalem Denken belassen, wenn wir die Wirklichkeit eines Geschehens belegen und Anschluss finden wollen an einen Diskurs, der Wirkliches plausibel macht und sachgemäß interpretiert. Die kantsche Denkfigur der Möglichkeitsbedingung lässt ja die Frage der Wahrheitserkenntnis sowie die Frage nach dem Absoluten definitionsgemäß offen. Kant bewegt sich nämlich in einer merkwürdig doppelten Negation. Er gibt der Skepsis recht und versucht sie zugleich zu überwinden – nicht indem er sie positiv widerlegt, sondern indem er fragt, wie sie denn möglich wird.[32] Die auf dem Gedanken der Möglichkeitsbedingung gründenden Wirklichkeitsaussagen können so den Status eines reinen Postulats nicht überschreiten, weil sie zum „Ding an sich“ nicht vordringen können.
Diese Zweideutigkeit konnten auch K. Rahner und seine Schüler (J. Maréchal hin oder her) nicht überwinden. Sie haben Kants Instrumentarium doch sehr gedehnt für ein Erkenntnisziel, das sie nie und nimmer bezweifelten. Während sich K. Rahner also auf den Schultern von Kant und Heidegger (also mit Hilfe des transzendentalen Denkens) von der Neuscholastik freischwimmen wollte, beanspruchen Rahners Schüler in der zweiten Generation auf den vorgeformten Spuren, Wahrheit und Freiheit absolut zu setzen und als absolut zu denken. Sie tun dies auf dem Wege der Selbstreflexion, unabhängig von anthropologischen, geschichtlichen oder sozialen Kontexten. Thomas Pröpper[33] und seine Schüler, insbesondere Georg Essen[34], haben diesen transzendentalen Denkmodus auf die Freiheitsfrage umgepolt. Wer aber maßt sich an, Freiheit je als absolute Größe, als das Denkbare zu Gesicht bekommen[35]?
Diese Theorie will nicht nur die vermeintlichen Schwächen der Aufklärung überwinden, sondern zieht daraus auch harte Konsequenzen. Gemäß einer weit verbreiteten theologischen Überzeugung sind ja nicht unbedingt alle Menschen in Christus befreit, sondern nur derjenigen, der ihre Unfreiheit begriffen haben und sich der christlichen Befreiung öffnen, sie also glaubend akzeptieren, sich das Heil in Wort und Sakrament zusprechen lassen. Voraussetzung der Erlösung ist also der Glaube an Jesus Christus; außerhalb der Kirche kein Heil. Im Prinzip können nur Glaubende und Erlöste die theologische Qualität ihres Unheils erkennen und erfahren. Es gehört gemäß dieser traditionellen Theorie ja gerade zur Verblendung der Nicht-Erlösten, dass sie ihre heillose Situation nicht begreifen wollen. Wer die Theorie also leugnet, setzt sich automatisch dem Verdacht aus, dass er in seinem Unglauben sein eigenes Elend nicht begriffen hat. Angesichts des von den Hirnforschern diskutierten Freiheitsproblems kommt Georg Essen deshalb zum Schluss, der Diskurs über eine jede Freiheit lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht verbürgen könne. Dem will ich nicht einfach widersprechen. Essen meint aber noch grundsätzlicher, Antwort auf Fragen der Freiheit könne nur ein Blick auf Jesus Christus bieten. Nur in ihm könnten wir erkennen, was wahre Freiheit ist[36]. Wer nicht an Jesus Christus glaubt, könne also Unheil und Erlösung nicht richtig begreifen. Ich kann diese Folgerung nicht nachvollziehen. Sie überzeugt nur, wenn man die anstehenden Probleme auf die Ebene einer (transzendental genannten) Reflexions-Simulation gehoben hat. Es ist eine Simulationsmethode, die der Wirklichkeit noch weniger traut als ein Skeptiker, denn dieser lässt sich von ihren Täuschungen noch wenigstens irritieren. Er denunziert die Beschäftigung mit der empirischen Wirklichkeit nicht von vornherein als „Naturalismus“ und weist sie nicht als „desaströs“ ab. Transzendentale Theologie wird so zur Fluchtreaktion vor einer weltlich gewordenen Welt, wenn auch auf hohem Niveau. Erlösung ist für transzendentales Denken nach wie vor (mit einem klassischen Begriff ausgedrückt) ein übernatürliches, einzig von Gott in Christus geschenktes Ereignis. In ihr hat sich die traditionelle Freiheits- und Schuldtheorie endgültig von ihren empirischen Voraussetzungen verabschiedet. Es ist endlich wieder Zeit, die konkreten und alltäglichen Erfahrungen von Unheil und Verderben ernst zu nehmen.
IV. Erfahrungen der Unfreiheit (Modell 3)
Können wir unseren Erfahrungen trauen? Geraume Zeit kreiste das theologische Denken um diese Frage. Karl Barth hatte gegen den Hermeneutiker F. Schleiermacher den weitreichenden Vorwurf erhoben, dieser habe eine Erfahrungstheologie in Gang gesetzt, die Gottes Wahrheit mit der eigenen Erfahrung verwechsle. Diese Erfahrungstheologie könne sie zwischen menschlicher, allzu menschlicher Sehnsucht und Gottes Wort nicht mehr unterscheiden. K. Barth reagierte damit auf die unheilbringende Verliebtheit deutscher Kirchen in Nation und Gewalt; dies verlieh der Dialektischen Theologie von Karl Barth ihre Kompromisslosigkeit und kritisch polemische Zuspitzung. „Erfahrung“ wurde so (vor allem in der evangelischen Theologie) zum großen Unwort, das man aus dem theologischen Erkenntnisprozess verbannte. Etwas anders verlief die Frontstellung in der katholischen Theologie. Dort ging man gegen die neuscholastische Intellektualisierung eines zu Formeln geronnenen Glaubensgebäudes an. Der große Ruf nach einem aggiornamento zu Beginn des II. Vatikanischen Konzils schloss dann die Bereitschaft ein, die Erfahrungen von Menschen in- und außerhalb des christlichen Glaubens wieder zuzulassen.
Dabei war nicht mehr an Erfahrungen des Triumphs und des Größenwahns gedacht, sondern mit wachsendem Nachdruck an die Alltagserfahrungen zumal der Opfer und Verlorenen, die später dann in der Befreiungstheologie einen zentralen Ort erhielten. Gewiss, Erfahrung verlangt immer Reflexion und die Kunst der Unterscheidung. Es gibt auf der einen Seite eine in frommer Eitelkeit oder unkritischer Innerlichkeit domestizierte Erfahrung, auf der anderen Seite steht die alles sprengende und provozierende Kraft zumal negativer und unerwünschter Erfahrungen des Leidens, des Unrechts und des Tods. „Erfahrung“ ist ja immer auch der Weg, in der das bedrohliche Andere der Außenwelt zu uns durchdringt, wie wir schon bei Husserl lernen konnten.
Das dritte hier vorgestellte Modell[37] schlägt folgenden Weg vor: Die Rede soll nicht mit der apodiktisch dogmatischen Behauptung von Schuld, Freiheit oder Erlösung beginnen, um daraus die spezifisch christliche Beurteilung von Mensch und Gesellschaft abzuleiten. Beginnen soll die Rede mit den beunruhigenden und bedrohlichen Erfahrungen, Schrecken und Leiden, von denen Menschen heute wie ehedem gequält, erniedrigt und zerstört werden. Die Erinnerung an die Opfer geht also der Schuldzuweisung an die Täter voraus. Um das Ausmaß menschlicher Katastrophe auch vor Gott richtig einschätzen zu können, bedarf es also keiner Zusatzinformationen. Vielleicht erlag die klassische Theologie einem großen Missverständnis, als sie diesen alltäglichen Welterfahrungen einen Überbau von spezifisch religiöser Offenbarung überordnete. Wegen ihres Moralismus und Pessimismus fördert eine solche Theologie ja genau das, was sie bekämpfen wollte, nämlich eine Welt, die sich von Gott verabschiedete, weil er nicht zur Welt gehöre, sondern über ihr thront und bisweilen als Tyrann wahrgenommen wird[38]. Wenn Gott aber in dieser Welt gegenwärtig ist (wofür Christus nicht der Ermöglichungsgrund, sondern ein herausragendes Realsymbol ist), dann sind auch die entscheidenden Fragen von Schuld und Erlösung unmittelbar und mitten in dieser Welt gegenwärtig. Sie werden direkt verstehbar und wir brauchen sie nicht als Bestätigung, sondern können sie als Herausforderung für den christlichen Glauben formulieren. Es kann doch nicht so schwierig oder gar unmöglich sein, die Unheilssituationen dieser Welt wenigstens im Ansatz zu beschreiben. Warum sammeln wir die Bausteine unserer Unheilserfahrungen, der Erfahrungen der Opfer, die Wut der Benachteiligten, den Zorn der Vergessenen nicht einfach ein? Allerdings kostet das empirische, u.U sogar wissenschaftliche Mühe. Eine zeitgemäße Theologie kann nur als ein interdisziplinäres Geschäft bestehen, das die Komplexität einer Wirklichkeit aushält, in der Kosmos, Natur und biologisches Leben, Kultur und Gesellschaft sowie der Mensch in alle seinen Dimensionen in Interaktion sind. Tunnels der Quantifizierung sind zu durchschreiten und wir werden uns mit einigen Dimensionen des Wirklichen zu beschäftigen haben, in denen die hehre Gestalt der reinen Wahrheit und der absoluten Freiheit nicht zu finden sind.
Um diesen komplexen wissenschaftlichen Diskurs nicht von vornherein lahm zu legen, teile ich ihn in vier grundlegende Dimensionen auf, die im wissenschaftlichen Umgang bekannt sind, in denen wir leben und die miteinander in engster Interaktion stehen. Aber wir können sie nicht aufeinander zurückführen. Gerade die Tatsache, dass diese Dimensionen auch in den Unheilserfahrungen einander bedingen und dennoch autonom bleiben, führt dazu, dass die Bewältigung des Unheils unser höchster Engagement einfordert und zugleich übersteigt. Ich nenne als die vier Dimensionen: individuelle Freiheit, gesellschaftliche Verantwortung, geschichtliche Bindung sowie das Geschick der Natur.
4.1 Individuelle Freiheit – Verantwortung übernehmen
Die biblisch-christliche Tradition hat unser Menschenbild Kultur bis hinein in die Gegenwart geprägt. Der Mensch bestimmt sich als ein freies Wesen, das vor Gott und sich selbst in einer unableitbaren Verantwortung steht. In diesem Zusammenhang spielen der Schöpfungsbericht und die sogenannte Fallgeschichte eine prägende Rolle. Sie geben den Gründen des Unheils einen klaren und eindeutigen Namen. Die von Gott geschaffene Wirklichkeit ist gut, zumal ist der von Gott geschaffene Mensch sehr gut“. Einfallstor des Bösen ist jedoch der Ungehorsam gegenüber Gott, der (in Gen 2-12) einer Lawine des Bösen Eingang gewährt, vom Brudermord bis hin zur Hybris, sein zu wollen wie Gott. So ist der Mensch ist böse von Jugend an (Gen 8,21). Paulus greift diese Linie auf. Er zeichnet Adam als den Beginn einer Kette von Sünde. In seinem berühmten Anakoluth schreibt er: „Gleichwie durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde der Tod und so der Tod auf alle Menschen übergegangen ist …“ (Rom 5,12). Das ist für ihn das entscheidende Faktum, wie man es auch im einzelnen erklären mag. Das Böse überrollte die Welt und der Tod kam über alle, „weil“[!] eben alle sündigten. Mit „allen“ sind die ungezählten Einzelnen gemeint, die in unverwechselbarer Verantwortung vor Gott stehen. Das ist die Linie, die dann Augustinus in scharfer Überspitzung aufgenommen und systematisiert hat. Der Begriff der verantwortlichen und sanktionsfähigen Freiheit, die im den jüdischen Schriften zunächst als geschichtliche Größe wahrgenommen wurde, erscheint hier als je individuelle Qualität.
Zugleich überdehnt Augustinus diesen Gedanken in bedenklicher Weise. Mit Adam beginnt nicht nur eine Geschichte in der Nachahmung des Bösen, sondern auch eine Geschichte veritabler Schuld, die schon auf uns liegt, bevor wir zu einer eigenen Entscheidung kommen. Wir fragen, wie Augustinus zu diesem Überschuss der Schuldzuweisung kommen konnte. Offensichtlich war es nicht einfach ein Trick, mit dem sich Gott angesichts des Bösen rechtfertigen ließ, sondern zugleich eine Erfahrung der Schuld, die sich gegenüber der eigenen Freiheit verselbständigt hatte. Es ist eine Erfahrung, die gerade in einer „Schuldkultur“ dazu neigt, sich selbst zu überziehen.
Ein genauer Blick in die Wirklichkeit kann hier zur Differenzierung helfen. Natürlich werden in der Regel wir alle schuldig; in der Rechtfertigungslehre eines Paulus und eines Luther steckt also eine tiefe Weisheit. Keiner von uns sollte glauben, dass er sich selbst aus dem Sumpf seiner Schuld ziehen kann. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Zahllose psychologische Theorien weisen auf ein viel erschreckenderes Phänomen hin: In unserem Werdeprozess könnten wir die Freiheit nie ganz gewinnen, oder sie in der Verstrickung des Bösen unwiederbringlich verlieren. Der verantwortlichen Freiheit geht also die Fähigkeit zur Freiheit voraus, oft folgt ihr Freiheitsverlust. Christlichen Denken war für dieses Phänomen immer sehr wach. Mit der Ursünde ist klassischen Sinne im ja die Freiheit gegenüber Gott verspielt. Genau deshalb bedarf es ja der erlösenden Tat Jesu und der Taufe. Es sind zudem gerade die „großen“ Theologen (Paulus, Augustinus, Thomas von Aquin, M. Luther, J. Calvin, B. Pascal, K. Barth), die vor einer naiven Freiheitseuphorie warnen.
Damit gerät aber ein jedes modernesFreiheits- und Schuldverständnis in Konflikt, denn Freiheitsmangel schließt schuldhafte Verantwortung dementsprechend aus. So führt die klassische Erbsündentheorie zur Frage, was wir mit Schuld und Freiheit eigentlich meinen. Wir müssen uns damit abfinden, dass beide Begriffe einander ausschließen und dass sich jeder für sich quantifizieren lässt. Mit einer unerlaubten „Naturalisierung des Geistes“ hat das alles nichts zu tun. Vielmehr hat die metaphysische Seelenlehre zu einer leiblosen Spiritualisierung der Begriffe geführt. Genau deshalb nehmen Freiheit immer noch sehr zwiespältig wahr: einerseits als große Erlösungsgabe Gottes, andererseits als eine gefährliche Eigenschaft des Menschen, die zu Anarchie und Willkür verleitet. Wirklich demokratiefreundlich sind unsere Kirchen nie gewesen. Erlösung besagte eine Befreiung zu Gott. Ob diese Befreiung aber ihren irdischen Widerschein erlangen durfte, das galt lange Zeit als umstritten. Für uns ist aber nicht mehr ersichtlich, ob wir unser Unheil als wirkliche Schuld oder als Freiheitsmangel zu verstehen haben.
Heute muss deshalb klar sein, dass beide Erfahrungen, also Schuld und Unfreiheit, dass vorenthaltene und nicht wahrgenommene Freiheit für unser Menschsein ebenso tödlich ist wie verspielte Freiheit oder die andere, die man anderen Menschen genommen hat. Es gibt zudem Hinweise dafür, dass die Erfahrungen von Schuld und von Unfreiheit ineinander übergehen. Freiheitsprozesse spielen sich im „Zwischenraum“ von Geist und Leib ab; sie sind deshalb immer schon an die Orte ihres Vollzuges gebunden. Ohne einen Leib mit dessen Möglichkeiten und Relativierungen bliebe Freiheit ein idealistisches Konstrukt. Es gibt deshalb, Gott sei’s geklagt, Legionen von Gescheiterten und Verbitterten, von Verzweifelten und Destruktiven, von Zynikern und Verantwortungslosen, aber auch von solchen, die sich selbst im Wege stehen und sich vor dem Gesicht fürchten, das sie selbst geschwärzt haben, wie Pascal sagt, die alle an ihrer Existenz nicht schuldlos sind. Zugleich tragen sie, sosehr sie für sich verantwortlich sind, eine dunkle Kehrseite von Verletzungen und Benachteiligungen, von Enttäuschungen und bitterem Verachtetsein, von Zerstörung ihrer Zukunft in sich. Es sind Übeltäter und zugleich Gescheiterte. Bei allen ist bloße Selbsthilfe hoffnungslos, weil die Gefängnisse ihrer Freiheit wirkliche Schuld kaum mehr zulassen, weil zugleich die Gefängnisse ihrer Schuld keine wirkliche Freiheit mehr zulassen.
Dabei zeigt sich, dass konkrete Freiheit nicht nur zu quantifizieren ist (sogar unser Inneres kennt ein Mehr oder ein Weniger an Freiheit; absolute Freiheit vor Gott erscheint als Fiktion). Konkrete Freiheit ist auch qualitativ zu differenzieren. Es gibt die Würde und die Verachtung, die Armut und die Scham, den Hunger und den Kampf ums nackte Leben. Eugen Drewermann hat sich diese Dimensionen zerbrechlicher und zerbrochener Freiheit auf die Fahne geschrieben. Freiheit ist ja keine geist-seelische, sondern eine geist-leibliche Erscheinung. Deshalb muss heutige Theologie auch für die vielfältigsten Phänomene der Freiheitsschändung empfänglich sein und sensibel machen. Was demgegenüber die Quellen jesuanischer Erlösung sind, ist leicht ausgemacht. Es sind die Erinnerungen und Berichte, die Herausforderungen und Ermutigungen, die in diesen Berichten zu lesen sind. Deshalb ist christliche Erlösung kein abgeschlossenes Faktum, sondern ein fortlaufender Prozess, der auf Aneignung wartet.
Was hat das für den individuell-personalen Aspekt der Erlösungsfrage zu bedeuten? Für mich bleibt nach allen Differenzierungen und Paradoxien eine letzte Frage: Wie stellen sich diejenigen, denen es vergönnt ist, Freiheit zu haben, zu ihrer Freiheit? Freiheit meint im individualontologischen Zusammenhang ja immer sein Selbstverhältnis. Wie also stelle ich mich, sofern mir Freiheit gegönnt ist, zu mir selbst? Verkrampfe ich mich? Lasse ich mich von der Angst und vom Eindruck der auf mich einstürmenden Mächte beherrschen? Oder wie kommt etwa der Kolosserbrief zur Behauptung, die Mächte und Gewalten seien überwunden? (Kol 1,16; 2,10; 2,15) Wer die Freiheit vollziehen will, weiß, dass sie als Qualität einer Person kein objektiver und kein objektivierbarer Begriff ist. Ich bin in dem Maße frei, als ich mir Freiheit nehme – das heißt konkret: als ich Verantwortung übernehme für meinen Umkreis und für das, womit ich mich identifiziere.
So gesehen kann ich der alten Erbsünden- bzw. Erbschuldidee einen Sinn abgewinnen, der auch heute akzeptabel ist. Unheil ist um mich von Anfang an; Unheil steckt immer in mir, ob ich es nun Hang zum Bösen, ungelebtes Leben, Ichsucht oder Besitztrieb nenne. Aber jeder Erkenntnisschritt, der mir die Bedrohungen und Verengungen meiner Freiheit verdeutlicht, muss ja nicht zum Fatalismus, sondern kann auch dazu führen, dass ich mich neu zu dieser meiner Situation verhalte, dass ich sie als die meine akzeptiere. Deshalb hat das Bekenntnis zur „Ur-sünde“ m.E. nicht zum Inhalt, wir Menschen hätten – kollektiv und je einzeln – vor Gott eine objektive Schuld, von der uns die Taufe reinigen müsse. Vielmehr geht es darum, dass wir uns – in Freiheit und ohne jedes Verdienstbewusstsein – dazu bereit erklären, für die Situation der Menschheit Verantwortung zu übernehmen. Wir lassen uns darauf ansprechen, was die Menschheit mit und aus Gottes Schöpfung gemacht hat. Die christliche Tradition muss aus ihren objektivistischen Denkspuren ausbrechen und neu begreifen: Dogmen sind in Bekenntnisse zurück zu verwandeln, Bekenntnisse sind aber keine Feststellungen oder Weltbeschreibungen, sondern Sprachhandlungen. Bultmann sprach vom „Kerygma“. Wir erfahren Freiheit, indem wir eine Freiheit schaffen, die sich als Verantwortung bewährt. So gesehen ist die Bereitschaft, sich auf eine aussichtlose Welt einzulassen, die Rückseite christlicher und allgemein menschlicher Freiheitserfahrung. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit; darum steht fest und lasst euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft bringen.“ (Gal 5,1) Erlösend wirkt deshalb die Erinnerung an diesen Menschen, der Verantwortung für die Schuld der anderen übernommen hat und so selbst – um mit der Schrift zu sprechen, schuldig geworden ist.
4.2 Gesellschaftliche Einbettung – füreinander da sein
Die Entdeckung des Individuums und seiner personalen Würde gehört zu den großen Errungenschaften der biblischen Tradition; deshalb können wir die Einzelnen nie aus der Verantwortung entlassen, die sich aus ihrer Freiheit ergibt. Ohne den Index Freiheit und Verantwortung würde unser Zusammenleben zusammenbrechen. Zugleich entdecken wir in der Regel im persönlichen Scheitern, nicht etwa im Scheitern einer Gemeinschaft (etwa von geschichtlichen, politischen oder kulturellen Projekten) das entscheidende Misslingen. Das liegt wohl im Phänomen der “Individualisierung“ begründet. Auch in der theologischen Tradition hat dies seinen Niederschlag gefunden. So liegt die Hauptproblematik der Ursündentheorie in der Tatsache, dass sie in einen individualistischen Bezugsrahmen übernommen wurde. Wir denken Menschen ja nicht nur als Individuen, sondern auch von ihrer Individualität her. Schon die Entwicklungspsychologie könnte uns eines besseren belehren und zeigen, wie ein Kind nicht nur der Symbiose mit der Mutter entwächst, sondern seine Individualität in ihr und als Gegenüber der Mutter entdeckt. Das Individuum ist grundsätzlich von der Gemeinschaft her und auf sie hin zu denken. Individuum und Gemeinschaft sind wechselseitige Spiegelbilder. In der Erfahrung des Du liegt der erste Appell eines Unverfügbaren, in der Erfahrung des Wir der erste Appell zum planenden Handeln. Individuum und Gemeinschaft sind gleichursprünglich aufeinander bezogen. Deshalb kann kein Mensch eine Gemeinschaft nach Belieben verändern; sie schlägt zurück. So verwundert es nicht, dass Gemeinschaften und Gesellschaften jeweils ihre autonome Dynamik und ihr eigengesetzliches Leben entwickeln. In den modernen Gesellschaften ist dies auch für ungeschulte Augen mit Händen zu greifen.
Auch hier lassen die empirischen Tatbestände keinen Zweifel aufkommen. Unsere Gesellschaften leben in tödlichen Widersprüchen. Sie können weder gerecht noch auf den Schutz des Lebens gerichtet sein. Viele Theorien wurden entwickelt, die versuchen, diese Abgründe auf den Punkt zu bringen. Bekannt, wichtig und beliebt bei Theologen ist die Mimesis-Theorie (Nachahmungs-Theorie) von René Girard. Nach ihm werden genau dieselben Kräfte, die eine Gesellschaft zusammenbinden und ihr Identität verleihen, auch zur Quelle von Spaltung und Gewalt. Und natürlich sind auch die Religionen in diesen Mechanismus eingebunden. Bekannt und wichtig ist Erich Fromm, der die Theorie von der Nekrophilie moderner Gesellschaften entwickelt hat. Sie zeigt, dass unsere Gesellschaften einen Trieb zum Tod entwickeln, weil das Leben von einem bestimmten Punkt an zum Störfaktor wird. Man produziert den Tod, gerade weil man ihn verbannen will. Bekannt und richtig sind schließlich die vielen Theorien, die den Kreislauf von Aggressionen in Gesellschaften beschreiben, vom ersten Machtwort des Vaters über das Gewaltmonopol der Staaten bis hin zum atomaren Erstschlag. Vergessen sollten wir nicht die ideologie- und gesellschaftskritischen Theorien, die seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelt und bekannt wurden. Solche Theorien lassen sich vermutlich deshalb ins Endlose steigern, weil keine einzige, noch so umfassende Theorie die Produktion von Unheil und Tod in Gesellschaften einholen kann. Menschliches Zusammenleben ist ein umfassendes Praxissystem, deshalb in seiner Ganzheit nie theoretisierbar.
Zudem sollten wir uns bei unserer Lektüre der Schrift nicht auf die „Fallgeschichte“ fixieren, die sich auch als eine Einführung in das ständige Ja-und-Aber, in die Grenzen irdischen Lebens verstehen lässt. Ferner sind die biblischen Bücher und Dokumente durchzogen von Unheilsgeschichten und von katastrophalen Zusammenhängen, die sich eben nicht auf Individuen beschränken, sondern das Individuum – oft gegen deren Willen – zum Mitspieler, zum Täter und Opfer von politischen und sozialen Zusammenhängen machen. In den Büchern des Moses und in den anderen „Geschichtsbüchern“ werden politische Machtspiele, Eifersuchtsgeschichten und Beziehungsgeflechte ausgebreitet, die immer wieder zur Verwüstung von Städten, zur Demütigung von Völkern und zu schlimmstem Elend führen.
An diesem Punkt ist denn auch ein Erstaunen darüber angebracht, dass die westlich christliche Tradition die Frage nach Urschuld und Erlösung seit der Antike so intensiv auf das Heil des Individuums verengt hat – Folge zugleich einer metaphysischen Jenseitsidee, die sich in der Bibel so nicht finden lässt. Ganz anders ist die Frage nach der Erlösung in beiden Teilen der Schrift (dem jüdischen und dem spezifisch christlichen Testament) auf Volk und Gemeinschaft, auf gesellschaftliche Versöhnung und Gerechtigkeit ausgerichtet. „Reich Gottes“ ist eine durch und durch gesellschaftliche, politische Utopie. Erlösung bedeutet im biblisch-christlichen Sinne deshalb Neugestaltung der Gemeinschaft und eines politischen Gemeinwesens. Die vorgängige Frage ist also nicht: Wie werden wir von unseren individuellen Sünden gegenüber Gott befreit?, sondern: Wer hilft uns, zu einem friedvollen und versöhnten Zusammenleben zu kommen? Daran ist auch unser Reden von Jesus Christus zu messen.
Um dieses Ziel des Reiches Gottes zu erreichen, bedürfen wir einer jeden Hilfe und Selbsthilfe, der humanen und wertorientierten Kooperation aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Kräfte. Aber nach aller politischen und gesellschaftlichen Erfahrung bringt uns eine jede Selbsthilfe zugleich (sagen wir es metaphorisch) auf asymptotische Linien, die einander nie, weil erst im Unendlichen, berühren. Angesichts des 20. Jahrhunderts und einer sich globalisierenden Gesellschaft hat diese Überzeugung keine weitere Begründung nötig. Die Ausweglosigkeit der Situation mit ihrem unvorstellbaren und doch möglichen Grauen – kulturell, gesellschaftlich, machtpolitisch, gesellschaftspolitisch, weltwirtschaftlich – ist mit Händen zu greifen. Deshalb erweist sich der Begriff der „Erlösung“ als eine Metapher, die ihre mythischen Konnotationen getrost abstreifen kann; die Wirklichkeit ist schlimm genug. Sie wirkt ohne weiteres als Matrix unserer Welterfahrung.
Aus der Geschichte Jesu aber, die sich in seiner Ermordung konzentriert, bleibt für mich vor diesem Hintergrund ein Aspekt übrig, der Erlösungsprozesse in Gang setzt und als solche qualifiziert. Das ist der Gedanke einer selbstlosen, notfalls zum Tod bereiten Stellvertretung, die sich nicht als heroische Leistung, sondern als Selbstverständlichkeit begreift. „Wer sein Leben verliert, wird es gewinnen.“ (Mt 10,39; 16,25). Vor dem beschriebenen gesellschaftlich-geschichtlichen Hintergrund wird dieses Wort zur Wegbeschreibung für einen Weg, der sich bis zum Ende widerspruchsfrei durchhalten lässt.
4.3 Geschichtliche Bindung
E. Schillebeeckx spricht von insgesamt sieben Lebensdimensionen, in denen sich das menschliche Leben und seine Heilssuche bewegen[39]. Dazu gehört (als 4. Dimension) die Einbettung in eine Raum-Zeit-Struktur. Wir Menschen sind verortet in bestimmte Räume und Zeitpunkte, die sich durch das auszeichnen, was Menschen aus ihnen gemacht haben. Es geht also um Geschichte und Kultur. Je mehr wir in den vergangenen Jahrzehnten zu metaphysischen Grundoptionen Distanz gewonnen haben, umso mehr tritt die Bedeutung der Geschichte (der Kontexte, des Vergangenen, des Gegenwärtigen und einer erwarteten Zukunft) ins Bewusstsein.
Für eine rein „aufgeklärte“, individualontologische Betrachtung hat Freiheit mit dem Gang der Geschichte ja nicht viel zu tun. Freiheit schafft Neues, durchbricht die Bande des Vergangenen und verhält sich zum Gewohnten kritisch. Doch wissen wir inzwischen, dass und wie umfassend wir von Erinnerungen, von übernommenen Wertungen und Kategorien, von vorgefertigten Deute- und Beurteilungsschemas, von Ideologien und gesellschaftlichen Strukturen bestimmt sind. Unser Verhältnis dazu ist nicht ausgegoren; nicht ohne Grund sind die gesellschaftspolitischen Positionen unserer Kultur (seit dem 19. Jahrhundert) immer wieder neu in Konservatismus und Progressismus gespalten. Es ist das Verdienst einer kritischen Exegese und geschichtsbewussten Philosophie, dass die Theologie die enorme Bedeutung der Erinnerung und der Zukunftserwartung neu entdeckte. Ich erinnere einerseits an die Neuentdeckung der Eschatologie in der Bibel mit ihrer Messiaserwartung und dem Bewusstsein, dass der Gott der Schrift kein statisch vergangener, sondern ein kommender Gott ist. Ich erinnere andererseits an Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung, die von J. Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ übernommen wurde und von der die Neue Politische Theologie profitierte. Als bleibendes Verdienst ist der Entwurf von H. Peukert zu werten. Er hat gezeigt, dass Solidarität auch eine anamnetische Dimension hat[40]. Entscheidend für die Zukunft ist es, die Bosheit und die Opfer der Vergangenheit nicht zu vergessen.
Empirisch wiederholt sich eine Beobachtung, auf die ich schon hingewiesen habe. Ungezählt sind die Beispiele, die unsere Bindung an Unrechtszusammenhänge der Vergangenheit belegen, illustrieren und zeigen, wie ausweglos und schicksalhaft die Welt von einer Katastrophe in die andere treibt. Wer diese hoffnungslosen Zusammenhänge und sozialen Katastrophen auch nur einmal begriffen hat, den wird keine Theologie mehr überzeugen, die immer noch behauptet, nur aus dem Glauben heraus sei das wahre Unglück der Welt zu begreifen. Nein, dieses Unglück vollzieht sich hier und jetzt. Dabei beruft sich jede Gruppe für ihr destruktives Handeln auf Geschichte und Erinnerungen, auf die scheinbare Korrektur früheren Unrechts durch neues Unrecht.
Deshalb ist es notwendig (und darin ist die christliche Inspiration auf gutem Wege), die uns bestimmenden Erinnerungen selbst zu korrigieren. Es gibt nämlich nicht nur die öffentlich akzeptierte Erinnerung an das Unrecht der Täter und an das selbst erlittene Unrecht, sondern auch die meist verdrängte Erinnerung an das Schicksal der Opfer und an die eigene Täterschaft. Indem die christliche Glaubensbewegung die gefährliche Erinnerung an Jesu Leiden und Tod ins Zentrum ihrer Weltdeutung stellt, hat sie – das ist christliche Überzeugung – einen erlösenden Schritt gesetzt. Erlösung erfährt hier ihre geschichtliche Komponente. Es geht nicht um die abstrakte Alternative von Freiheit und Knechtschaft, sondern um die konkret prozesshafte Alternative von Verknechtung und Befreiung. Vielleicht ist dies der Hauptfehler der christlichen Tradition, dass sie Freiheit als wesenhafte Eigenschaft verstand, objektivierte und dabei den geschichtlichen Prozesscharakter verfehlte.
Nun endet nach christlicher Überzeugung die Geschichte Jesu nicht im Tod, sondern in einem neuen Leben. Damit wird ein Erlösungsprozess in die Geschichte eingesenkt und als Gegenprozess gegen die Mechanismen der Unterdrückung gestärkt. Das ist das Ziel einer nachhaltigen Erinnerung an die Opfer, denen im Nachhinein – und wenigstens im Gedenken vor Gott – recht geschehen muss. „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und Deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“ Allerdings zeigt dieses liturgische Wort auch, dass das christliche legitime Erlösungsmodell dem traditionellen Bild von Gott und Erlösung eine kritische Note hinzufügt. Sind wir in Jesus Christus erlöst? Nicht unbedingt, denn offenbar wird diese Erlösung jefenfalls erst am Ende der Zeiten. Es ist der Verrat der christlichen Tradition an ihren jüdischen Wurzeln, dass sie den messianischen Zeitpfeil der Erlösungsidee vergessen hat. Erlösung ist und bleibt ein messianisches, auf Zukunft gerichtetes Geschehen, wie der biblische Gott in jedem Fall auch ein Gott ist, dem die Zukunft gehört und der erst in der Zukunft erscheinen wird. Freiheitserfahrung enthüllt sich als Erfahrung einer erst zukünftigen Befreiung.
4.4 Natur und Evolution
Ich komme zum schwierigsten Aspekt, der – auf den ersten Blick jedenfalls – vom klassischen Freiheits- und Schuldgedanken der Erbsündenlehre am weitesten entfernt ist. Doch sollten wir nicht vergessen dass schon der Epheser- und der Kolosserbrief Natur und Freiheit zusammendenkt. In Jesus Christus, so heißt es, seien die unterdrückenden Gewalten überwunden. Mit dem Beginn der Neuzeit trat dieser Gedanke in den Hintergrund, aber kosmische Aspekte haben eine neue Bedeutung erreicht. Die naturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kosmos, Leben und Welt findet heute ihre große Zusammenfassung ja in der Evolutionstheorie, die zur Megatheorie der gegenwärtigen Welterklärung schlechthin avanciert ist. Wir sollten die Leistung dieser Denkwelt nicht unterschätzen. Zwar hatte sie seit Darwin viel, viel Zeit, um sich zu entwickeln, aber sie hat auch Enormes geleistet. Es begann mit der Abstammungslehre des organischen Lebens, erweiterte sich zu einem Evolutionsverständnis, das alles Leben umfasst, zeigte mit der Entdeckung und der Analyse des Gens viel von der inneren Struktur aller biotischen Vererbungsprozesse. Inzwischen wurde die Frage der Selbstorganisation zu einem prinzipiellen Thema der Naturwissenschaft überhaupt. So erreichte, wie ich finde, der Evolutionsgedanke in den faszinierenden kosmologischen Theorien zum Anfang der „Schöpfung“ eine umfassende Theorieebene.
Ich habe schon Teilhard de Chardin genannt, den fachkundigen und international bekannten Archäologen, zugleich Mystiker der Materie, der den ganzen Kosmos in den großen Prozess einer Entwicklung eintauchte, die er „Christifikation“ nennte, – ein Prozess, der schließlich in den „Punkt Omega“ der großen Einung in Gott eingeht. Davon sei hier nicht die Rede. Es geht in unserem Zusammenhang um die schlichte Tatsache, dass der Jesuit und Theologe Teilhard de Chardin auch die klassische Erbsündentheorie in Voraussetzungen und Inhalt modifizieren musste. In der Mitte des vorhergehenden Jahrhunderts haben Theologen die Thematik unter den Stichworten „Hominisation“ und „Monogenismus“ diskutiert[41]. Man fragte, ob es am Beginn der Menschheit überhaupt einen einzigen Stammvater bzw. ein einziges Stammelternpaar gab. Denn es war schließlich der eine Adam, so Paulus und (je nach Interpretation) die Fallgeschichte, von dem aus die Sünde über die ganze Menschheit kam. Paläontologen reden hingegen von der „Mensch-Werdung“ einer ganze Population, die einen längeren, vielleicht sogar einen langen Zeitraum in Anspruch nahm. Man nehme nur die verschiedensten und verschiedenartigsten Hirnfunktionen, die Hirnforscher heute speziell im Menschenhirn entdecken. Man stelle sich vor, dass diese Funktionen in langen Zeiträumen, oft nacheinander, entwickelt wurden.
Es kam, wie es kommen musste: Die Frage wurde nicht ausdiskutiert, sondern verdrängt; nach dem II. Vatikanum stand anderes auf der Tagesordnung. Eine ausdrückliche Korrektur der dogmatisierten Theorie fand nie statt und wird heute nur ungern memoriert. In scheinbarer Unschuld steht noch im offiziellen katholischen Katechismus von 1993: „Vom Teufel versucht, ließ der Mensch in seinem Herzen das Vertrauen zu seinem Schöpfer sterben, missbrauchte seine Freiheit und gehorchte dem Gebot Gottes nicht. Darin bestand die erste Sünde des Menschen. Danach wird jede Sünde Ungehorsam gegen Gott und Mangel an Vertrauen auf seine Güte sein.“ (Nr. 397) Kurz darauf heißt es: „Adam und Eva verlieren sogleich die Gnade der ursprünglichen Heiligkeit. Sie fürchten sich vor Gott, von dem sie sich das Zerrbild eines Gottes gemacht haben, der auf seine Vorrechte eifersüchtig bedacht ist.“ (Nr. 399), so dass ein Dunkel von Vermutungen und sakralem Schleier übrig bleibt[42]. Wenn ich mir den Beginn der Menschheit aber als den Beginn von Menschenqualität in einer Population werdender Menschenwesen denken muss, dann ist auch die Frage nach dem ersten Sünder und der ersten Sünderin unangemessen.
Zudem sollte noch ein anderer Aspekt bedacht werden. Lange Zeit hielt die Erbsündenlehre noch den Anschein aufrecht, als gehe ohne Sünde auf der Erde alles gut und bestens voran, Tod und Krankheit gebe es nicht; die Naturkatastrophen wären zumindest so dimensioniert, dass die Menschheit damit gut umgehen kann. Der Katechismus sagt: „Die Harmonie, die [Adam und Eva] der ursprünglichen Gerechtigkeit verdankten, ist zerstört; die Herrschaft der geistigen Fähigkeiten der Seele über den Körper ist gebrochen: die Einheit zwischen Mann und Frau ist Spannungen unterworfen; ihre Beziehungen sind gezeichnet durch Begierde und Herrschsucht. Auch die Harmonie mit der Schöpfung ist zerbrochen: die sichtbare Schöpfung ist dem Menschen fremd und feindlich geworden. Wegen des Menschen ist die Schöpfung der Knechtschaft‚ der Vergänglichkeit unterworfen.“ (Röm 8,20) Schließlich wird es zur Folge kommen, die für den Fall des Ungehorsams ausdrücklich vorhergesagt worden war: „Der Mensch wird zum Erdboden zurückkehren, von dem er genommen ist“ (Gen 3,19). „Der Tod hält Einzug in die Menschheitsgeschichte“. (Nr. 400)
Nun sahen wir schon in unserer individual-anthropologischen, in der gesellschaftlichen und in der geschichtlichen Betrachtung, dass Bosheit nie einfach dem freien Willen, sondern immer auch einer merkwürdigen Freiheitsbeschränkung entspringt. Wir vollziehen und verlieren Freiheit ja nicht durch absolut willkürliche Akte, nicht durch die unvermutete Durchbrechung von Kausalketten. Wir handeln immer auch, indem wir verschiedensten Motiven, Inspirationen, Verlockungen, Versuchungen, gesellschaftlichen Gesetzen und Codes, kulturellen Erinnerungen oder Protesten nachgeben, also der Neigung und dem Druck nicht mehr widerstehen. Offensichtlich hat es die klassische Theorie versäumt, den Gedanken der absoluten Freiheit konsequent in das Phänomen konkreter, beschränkter, indirekter Freiheit und kontinuierlicher Freiheitsbeschränkung einzutauchen. Deshalb war mir auch der Hinweis wichtig, dass Freiheit überhaupt keine objektive Gegebenheit ist, sondern ein vorausgreifendes Handeln bedeutet. Freiheit kommt zustande, indem ich sie beanspruche. Danach beanspruche ich sie in der Erinnerung, weil sie dann als Erfahrung „besteht“. Wir fühlen uns frei, weil wir in uns eine Unableitbarkeit des Handelns erfahren, mit dem wir bei uns, mit uns identisch sind.
Evolutionstheoretisch gesprochen ist die Freiheit des ersten Menschen deshalb eine gewagte Metaphorik, eine allzu große Re-projektion. Als glaubender Christ, als Geisteswissenschaftler und Theologe muss man sich dieses Problem unverhüllt vor Augen führen. Wo die Naturwissenschaft die Welt nach ihren objektivierenden Regeln analysiert, da ist die Entdeckung von Freiheit, von Schuld oder von Bösem schlechthin unmöglich. Begriffe wie Freiheit, Verantwortung, Gut und Böse haben dort keinen Platz. Allerdings, zwischen den beiden Sprach- und Denkwelten lassen sich vielleicht Brücken bauen. Ich nenne hier vier:
(a) Analogate der Freiheit
Wenn es uns gelingt, den Begriff der Freiheit in seine naturalen, gesellschaftlichen und kulturellen Vorbedingungen einzuordnen, dann gehen der Freiheit im vollen Wortsinn Vorformen, vielleicht Analogate von Freiheit voraus. Ich nenne Zufälligkeit und Unbestimmbarkeit, Funktionalität und Dysfunktionalität, Versagen und Anpassung, Zerbrechlichkeit und Solidität, Erfolg und Misserfolg einer Population, Kommunikation und Egozentrik. Naturwissenschaftler, die eine Brücke zum klassischen Freiheitsgedanken bauen wollen, greifen oft auf solche Analogate zurück. Teilhard de Chardin spricht angesichts dieser heraufdämmernden einzigartigen Population von der Zerbrechlichkeit dessen, was hier aus der Materie heraus entsteht, das erst einen Weg suchen und finden muss, das erst nach Fehllösungen und nach Versagen zu sich selbst findet. Teilhard wurde daraufhin vom römischen Bannstrahl getroffen – aus Unwissen und Inflexibilität, nicht aus besserer Sachkenntnis heraus. Warum eigentlich? Die Menschheit kommt, wenn Sie so wollen, von tief unten. Das ist kein Makel, sondern ein umfassendes, material und vital gesättigtes Erbe. In dieser Herkunft stecken die Fähigkeiten und die Gefahren menschlicher Vitalität zugleich
(b) Essentialistische Re-konstruktionen
Ich kann von einer Freiheit der ersten Menschenpopulation unter Voraussetzung ihrer Existenz reden, sofern und in dem Maße, als Freiheit in ihr wirklich begonnen hat. Wir müssen uns auch als Theologen endlich mit dem unangenehmen Gedanken anfreunden, dass Freiheit in quantifizierbaren Stücken und im Rahmen konsequent relativierender Kontexte zu denken ist. Freiheit beginnt vielleicht plötzlich, als Akt, als vollzogene Freiheit, aber auch dann kann sie klein, beschränkt, als erstes Dämmern ins Dasein treten. Sie wird wohl als leibliche, als gemeinschaftliche oder als politische beginnen. Das Kleinkind erfährt dann Freiheit anders als eine lebenserfahrene Frau, der aus Unterdrückung Befreite anders als der im Alter hochverehrte Buddha. Der Katechismus spricht in diesem Zusammenhang und wie nebenbei, aber essentialistisch von „der Herrschaft der geistigen Fähigkeiten der Seele über den Körper“ (Nr. 400). Damit ist wohl der Kern der Vorstellungen genannt, die uns fehlgeleitet haben. Der Mensch galt als Träger eines in sich geistigen, unsterblichen und zur Freiheit fähigen Wesensteils, den wir Seele nannten, der uns Unsterblichkeit, Wahrheitserkenntnis und einen Weg zu Gott garantierte. Das ist ein schönes, vielleicht unverzichtbares Symbol religiöser Sprache, aber keine Beschreibung der Wirklichkeit. Schuldig können Menschen also nur werden, sofern und in dem Maße, als sie sich frei nennen können. Die Frage nach der Ur-Sünde verändert sich von der Frage: „Was hat der erste Mensch getan?“ zur Frage: „Was ist aus den Menschen schon in früher Zeiten geworden?“
Hätte Rom – damals schon – sachgemäßer reagieren können? Abgesehen davon, dass man wieder einmal die Naturwissenschaft verachtete und dem Galileo-Trauma verfiel, hätte man mit Differenzierung weiterhelfen können. Man hätte darauf hinweisen können, dass das Erbsündendogma von etwas anderem spricht, nämlich von schuldhaftem Versagen. Aber dieser Hinweis hätte nur beim gleichzeitigen Zugeständnis überzeugt, dass „Adam“ nicht ein historisch erster Mensch gewesen sein kann. Man hätte unter diesen Voraussetzungen dann zugestehen können, dass es (wie gesagt) für das humane Phänomen von Freiheit und Schuld durchaus vorbereitende Analogate gibt, z.B. das Versagen und der Irrtum, die Zerbrechlichkeit und die Unentschiedenheit. Die Frage nach der Ur-Sünde verändert sich zum Erstaunen darüber, wie tief wir in unsere natürlichen Urgründe eingebettet sind.
Hat aber das Symbol von Christus, dem Erlöser, in einer solchen Denk- und Sprachwelt noch einen Sinn? Ja, man kann (nicht im Haus methodisch geregelter Naturwissenschaft, aber beim Nachdenken über deren Ergebnisse) immer noch der Überzeugung sein, dass in Jesus Christus eine Sinngebung aufscheint, die den ganzen Kosmos durchdringt. Das alte Bild von der Menschwerdung, das besser „Fleischwerdung“ genannt wird, hat ja diese kosmische Dimension immer mit aufbewahrt.
(c) Verantwortungsbewusstes Staunen
Die Frage nach dem Beginn der Menschheit erinnert daran, dass wir unser Staunen über und unsere Verantwortung für die große Evolution von Kosmos, Natur und Mensch nicht abstreifen können. Natürlich ist dies nicht als naive Aussage zu verstehen. Den Gesamtkosmos können wir wohl kaum beeinflussen, aber es steht uns wohl an, uns zu ihm in ein angemessenes Verhältnis der Bescheidenheit zu bringen, den Kosmos als Bild göttlicher Hoheit zu erkennen und zu lernen, wie klein und geradezu nichtig wir gegenüber diesen gewaltigen Dimensionen sind. Die Verantwortung beginnt auch hier allmählich; die Fragen des Weltklimas und der Ökologie sind deutliche Fingerzeige; unser Umgang mit der Welt des organischen Lebens kann nicht vernachlässigt werden.
(d) Freiheit ist Freiheitserfahrung
Ein letztes muss nun auch gesagt werden, nachdem der Geisteswissenschaftler so weit auf naturwissenschaftliche Mentalität eingegangen ist. Beim Umgang mit der Wirklichkeit fallen immer wieder auf zwei Grundperspektiven zurück, die wir wohl nicht ineinander überführen können. Das eine ist die Es-Perspektive der Beschreibung. Es ist ein Zugang zu den Dingen von außen. Von dieser Grundperspektive aus können wir nur distanziert analysieren und zeigen, wie etwas funktioniert. Das im Augenblick faszinierendste Beispiel für den Versuch, von diesem Außen nach innen vorzudringen, sind Neurologie und Hirnforschung. Gerade hier wird diese Grenze scharf fassbar und vermutlich unüberwindlich. Über das neurologische Substrat etwa der Freude, des Redens, der Farbanalyse lässt sich vieles und genaues sagen. Was mir als Individuum aber eine bestimmte Freude, was für mich ein leuchtendes Rot oder der Genuss eines poetischen Textes bedeuten, dazu kann nur ich selbst etwas sagen. Denn wenn ich meine Erfahrungen benenne, dann rede ich aus einer prinzipiell anderen, der Ich-Perspektive, die nicht ein Außen beschreibt, sondern das Innen zum Ausdruck bringt. Nun ist das keine Katastrophe. Im Gegenteil, im Alltagsleben beziehen wir die beiden Perspektiven ständig aufeinander. Wer aber Freiheit zur objektivierbaren Größe machen will, stößt an prinzipielle Grenzen. Ich will damit sagen: Es gibt keinen Grund, den Gedanken der Freiheit aufzugeben. Er muss aber immer von der Freiheitserfahrung derer gedeckt sein, denen sie zugeschrieben wird. Freiheit zeigt sich immer als Freiheitserfahrung.
V. Folgerungen
Ich fasse die Ergebnisse meines Referates zusammen:
Erstens:
Der Begriff Erlösungsreligion sowie das Bekenntnis zum Erlöser Jesus Christus setzen die jüdisch messianische Erlösungstradition voraus, die später durch hellenistische Vorstellungen massiv verändert wurde. Diese spätere, hellenistisch umgeformte Erinnerung an den Tod Jesu ist in den ursprünglichen Deutungsrahmen zu stellen, nicht umgekehrt. In analoger Weise kann Jesu Tod nicht von Jesu Leben und Botschaft isoliert werden.
Zweitens:
die biblische Erlösungstradition zielt primär auf die endgültige messianische Befreiung eines Volkes im Blick auf die gesamte Menschheit. Erlösung ist also ohne Zukunft weder zu denken noch zu realisieren und kann mit dem Tod Jesu nicht abgeschlossen sein. Die Erlösungsfunktion Jesu ist als aus dieser messianischen Funktion her zu erschließen, nicht umgekehrt. Jesus ist in erster Linie Messias.
Drittens:
Auch christliche Erlösung meint primär einen geschichtlichen, durch Gott selbst vollendeten Prozess. Zwar schließt er die Frage nach individueller Schuld und Befreiung ein, Grundsätzlich aber vollzieht er sich auf politisch-sozialer Ebene. Das bezeugen Schlüsselworte wie Gerechtigkeit, Vergebung, Versöhnung und Reich Gottes.
Viertens:
Die jüdisch messianische Heilserwartung schließt die Fragen persönlicher sowie kollektiver Schuld und Vergebung ein; dies ist ein genuin prophetischer Gedanke. Aber diese Schuld wird immer konkret benannt, nie abstrakt behauptet.
Fünftens:
Die Hellenisierung der Heilserwartung hat zu ungeschichtlich-überzeitlichen Erlösungsvorstellungen geführt. Dies hat seit dem 5. Jahrhundert (vor allem in der westlichen Kirche) dazu geführt, dass Schuld und Erlösung abstrakt, universal und losgelöst von geschichtlichen Erfahrungen gedacht und vollzogen wurde. Adam, zuvor das Symbol für eine menschliche und aktuell vollzogene Schuld, wurde jetzt zum ersten Menschen, der stellvertretend für uns alle gesündigt hat. Erlösung war zuvor ein Schlüsselwort für das Heil, das uns für die Zukunft angeboten wird. Jetzt wurde es zu einem übernatürlichen Geschehen, das sich im Tod Jesu – jedenfalls im Verborgenen – schon vollendet hat.
Sechstens:
Vor diesem Hintergrund wurde die Deutung von Jesu Tod verengt und verfremdet. In Analogie zu den Opferreligionen wurde er zum einmaligen Sühnopfer; eine spätere Theologie machte ihn zur von Gott geforderten Genugtuung für die Sünden der Welt. Gewiss spielen diese Deutungen schon im Neuen Testament eine Rolle, aber sie standen im Wechselspiel mit der messianischen Heilserwartung. Je mehr diese Deutungen den messianischen Rahmen verließen, umso mehr verfehlten sie den Kern ihres Ursprungs.
Siebtens:
Gegenwärtige Aufgabe ist es, die christliche Erlösungsvorstellung erneut in den geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhang zu integrieren. Konkret bedeutet das:
(a) Der Weg zum Heil wird dadurch eröffnet, dass Menschen es nicht bei einer unsolidarischen Menschen-, Gesellschafts- und Weltkritik belassen, sondern die Verantwortung für die Gestaltung der Welt in Freiheit übernehmen.
(b) Der Weg zum Heil wird dadurch gegangen, dass Menschen in Solidarität, Selbstkritik und Vergebung füreinander da sind, und sei es um den Preis des eigenen Todes.
(c) Der Weg zum Heil erhält dadurch Kraft, dass Menschen die Erinnerung an die früheren Opfer pflegen und einer messianischen Zukunft vertrauen.
(d) Eine umfassende Erlösungsvorstellung schließt die Frage nach der Gestalt von Welt und Natur mit ein. Dazu gehört, dass Menschen die Natur mitgestalten und sich einen allgemeinen Vertrauensbezug zu ihr erarbeiten. Vor diesem Hintergrund können mythische Deutungen des Weltursprungs eine hohe symbolische Bedeutung erhalten, ohne ein naturwissenschaftlich gesichertes Weltverständnis nicht auszuschließen.
Achtens:
Bei aller Hochachtung vor wissenschaftlich-empirischen Beschreibungen von Mensch und Welt ist nicht zu vergessen, dass die Rede von der Freiheit der unverzichtbaren Ich-Perspektive entspringen, die sich durch beschreibende Rede nicht ersetzen lässt. Freiheit ist ein performatives Wort, dass sich durch naturwissenschaftliche Forschung vielleicht differenzieren, aber nicht ersetzen lässt.
Wird durch ein solches Erlösungsverständnis die traditionelle Erlösungslehre nicht aufgegeben und relativiert? Zunächst ist die Gegenfrage zu stellen: Hat die traditionelle Erlösungslehre das biblische Erlösungsverständnis und die ursprüngliche Erinnerung an Jesus nicht mythisiert und verzeichnet? Relativierung entdeckt in diesem Konzept nur, für wen die genannten ursprünglichen Dimensionen nicht viel bedeuten: Verantwortung, Füreinander da sein, Verpflichtung gegenüber den Opfern, die Einbeziehung unseres Weltverhältnisses in einen umfassenden Vertrauensbezug sowie die Einsicht, dass die Menschheit gerade dort versagt hat, wo es um ein universales Wohlergehen geht. Diese sehr weltlichen Haltungen und Dimensionen unserer Lebenspraxis berühren letzte Lebensdimensionen, Sinnfragen und damit unser Verhältnis zu Gott.
Wenn ich sagen kann: Das sind für mich definitive Grundoptionen, die – bis hin zum Preis meines Lebens hin – unüberbietbar sind, dann weiß ich, wie die messianische Zukunft beginnt. Wenn diese Grundoptionen in Jesus möglich waren und sind, weil er sie realisiert hat, dann hat Gott in ihm gehandelt. Gott handelt eben nicht, indem er interveniert, sondern indem er unser Handeln und den Gang der Welt ermöglicht. Statt die Erlösungsfrage auf die Schuldfrage zu fixieren, sollten wir sie als möglichen Weg in eine Zukunft begreifen, in der die Frage nach der Schuld in die Frage nach der Verantwortung überführt und nach Möglichkeit unnötig wird.
(Erweiterter Vortragstext vom 15.10.2005)
Anmerkungen
[1] Da sich wichtige Entscheidungen dieser breiten Gesamtthematik schon im Bereich der hermeneutischen Voraussetzungen abspielen, gehe ich in den drei Paragraphen des ersten Teils (I, 1.2.3.) auf diese Voraussetzungen ein. Wer sich den Kernfragen sofort zuwenden möchte, kann Teil I überschlagen und die Lektüre mit Teil II beginnen. Wer wich schließlich auf den Untertitel konzentrieren möchte, kann die Lektüre mit Teil IV [Erfahrungen der Unfreiheit (Modell 3)] eröffnen.
[2] Zur Gesamtthematik siehe in P. Eicher (Hg.), Neues Handbuch theologischer Grundbegriffe (München 2005) von J. Werbick den Artikel Erlösung aus katholischer Sicht (I, 237-244) und von Ch., Janowski den Artikel Erlösung aus evangelischer Sicht (I, 244-253)
[3] Dies wurde zuletzt in dem römischen Dokument DOMUNUS IESUS vom Jahre 2000 verteidigt.
[4] J. R. Searle, The Rediscovery of the Mind (Cambridge 1994). Im Blick auf den vorgelegten Gedankengang verstehe ich “Begriff” im folgenden als eine erste Fundamentaldefinition des jeweils benannten Sachverhalts.
[5] Ein Vergleich mit der Literatur kann das Ineinander von Kontinuität und Diskontinuität verdeutlichen. Auf weiteste Strecken unseres Textverstehens schließen sie einander nicht aus. Vermutlich werden wir Homer nie mehr so verstehen können wie seine Zeitgenossen oder die Zeitgenossen des Ovid. Dennoch können wir beanspruchen ihn auf eine gültige, wenn auch ganz andere Weise zu verstehen. Dabei können sogar Missverständnisse höchst fruchtbar sein (vermutlich war auch die Fehlübersetzung des Paulus durch Augustinus, wie wir noch sehen werden, ein solches produktive Missverständnis). Klassisch werden Texte und Interpretationen dadurch, dass sie durch alle kulturelle Diskontinuität hindurch das menschliche Welt- und Selbstverständnis immer neu erhellen können. In diesem Sinne haben sich Begriffe wie Erlösung, Schuld und Freiheit in unserem Kulturkreis als klassische Begriffe erwiesen. Umso nachdrücklicher geht es darum, in einer Zeit des Umbruchs deren Diskontinuität zu erarbeiten.
[6] Gemäß D. Tracy agiert die Theologie – ich füge hinzu: wenigstens – auf drei Foren, dem Forum der Kirche, der Gesellschaft und der Wissenschaft (D. Tracy, The Analogical Imagination. Christian Theology an the Culture of Pluralisms, NY 1981, 5. 19-24). Jedes dieser Foren erfordert einen eigenen Diskurs. Ich schlage vor, dass wir hier wenigstens den Versuch unternehmen, aus dem Innenforum kirchlicher Sprach- und Diskursbildung auszubrechen und uns in das Forum gesellschaftlicher (d.h. säkularisierter, unkirchlicher, weitgehend postchristlicher) Diskursbildung einzufügen. Das hat nichts mit religiöser Resignation zu tun. Wir können im Gegenteil davon ausgehen, dass auf dem säkularen Forum der Gesellschaft die großen Fragen der Religionen in neuer Weise verhandelt werden.
[7] H. Krings, System und Freiheit, Freiburg 1980, 65.
[8] Zum Einstieg in das säkulare Forum der Gesellschaft gehört das Eingeständnis, dass die wirklichkeitsverändernde Kraft dieser Begriffe nicht aus ihrer religiösen Qualität kommt. Nicht die Tatsache, dass sie in einer Religion verwendet werden, gibt ihnen Realitätswert, sondern die interpretierenden Inhalte der Begriffe verleihen einer Religion ihre verändernde Kraft.
[9] Diese Entdeckung verdanken wir S. Kierkegaard, für den der „Schwindel der Freiheit“ zur entscheidenden Erfahrung unseres Erwachsenwerden wird.
[10] Musterbeispiele performativen Redens sind Ausdrücke, die versprechen, loben, das Ja-Wort beim Eheschluss oder standardisierte Formeln (aus dem Munde von Befugten) wie „ich eröffne die Sitzung“ oder „ich spreche dich schuldig“ (die Sitzung ist dann tatsächlich eröffnet; der Verurteilte gilt wirklich als schuldig). Das Bewusstsein
[11] P. Ricoeur unterscheidet im Blick auf das menschliche Individuum zwischen „Idem-Identität“ und „Ipse-Identität“. Die erste verbietet eine jede Veränderung, weil schon die Veränderung eines Details (z.B. des Alters, der Gesundheit oder der Übergang vom Kind zum Erwachsenen’) die Identität zerstören würde. Die zweite geht davon aus, dass ich als Mensch meine Identität nur behalten kann, indem ich mich – je nach Alter, Umständen, Lebenssituation – ständig verändere. Ich bin mit 70 Jahren dann dieselbe Person (desselben Namens und desselben „Ich selbst“, derselbe Rechtsträger) die ich mit schon bei meiner Geburt gewesen bin, obwohl sich ungefähr alles an mir geändert hat.
[12] Formal gesprochen ist dies (a) keine allgemeine, sondern eine jüdische, (b) keine historische, sondern eine interpretative, (c) keine psychologische, sondern eine theologische Aussage. Darauf wird hier nicht näher eingegangen.
[13] Theologisch stehen unmittelbar zur Debatte die Lehre von Jesu Christi Person, die Lehren von Sünde und Ursünde, die Lehre von Jesu Christi Werk, das Verständnis von Rechtfertigung und Gnade, von Kirche und Sakramenten, insbesondere der Taufe. Je mehr zudem ein ernsthaftes Gespräch mit anderen Religionen ins Gesichtsfeld rückt, umso schärfer melden sich die Fragen nach der Heilsbedeutung von Christsein überhaupt.
[14] Ein Schlüsseltext ist die Enzyklika „Humani Generis“ von Pius XII. (1950)
[15] Neu aufgeflammt ist die Debatte als Reaktion auf einen Gastkommentar von Kardinal Schönborn in der New York Times vom 7. Juni 2005, der dort die Theorie vom „intelligent design“ in der Schöpfung verteidigte. Später hat er diese Meinungsäußerung differenziert und gegen Missverständnisse abgeschirmt. Nach meinem Urteil hat dieses Ereignis vor allem eine symptomatische Bedeutung für die unselige Debatte die heute – nicht so sehr in Europa als in den USA, und nicht so sehr von katholischer, als viel mehr von evangelikaler Seite – geführt wird. Geradezu liberal geben sich die Vertreter eines „intelligent design“. Indem sie in Kosmos, Natur und Mensch eine nachweisbare Planung oder Zielgebung Gottes erkennen, geben sie sich geradezu liberal gegenüber den „Kreationisten“, die den biblischen Schöpfungsbericht erneut als naturwissenschaftliches Protokoll lesen. Aber in der Regel lehnen auch die Vertreter des „intelligent design“ das Zufallsprinzip des Darwinismus (und Neodarwinismus) ab, indem sie – Gott erneut als direkte oder indirekte Kausalursache einführen. Die Theologie tut gut daran, sich weder auf die eine noch auf die andere Seite zu schlagen, sondern der Naturwissenschaft naturwissenschaftliche Theoriebildungen auch wirklich zu überlassen. Ein Verdienst wäre es jedoch, den Begriff völlig ungeklärten Pauschalbegriff „Zufall“ angemessen zu differenzieren. Ein zeitgemäßer Schöpfungsglaube kann dem Kosmos, der Natur und dem Menschen (als Gabe der Natur) durchaus einen in Gott behüteten Sinn zusprechen, ohne damit Aussagen zum konkreten Gang der Evolution zu verbinden. Sobald diese Offenheit erreicht ist, dürfen Evolutionstheoretiker dann darauf angesprochen werden, dass sie ihre Erklärung zu Sinn und Zufall in der Regel weltanschaulich überdehnen. Sobald also die Grundfrage von Sinn und Zufall nicht differenziert ist, machen sich beide Seiten desselben Kategorienfehlers schuldig.
[16] J. Dupuis, Toward a Christian Theology of Religious Pluralisms, Maryknoll 1999. Das Buch wurde am 24. Jan., 2001 in einer Bekanntmachung des Glaubenskongregation verurteilt.
[17] R. Haight, Jesus, Symbol of God, New York 1999. Das Buch wurde am 13. Dez. 2004 verurteilt.
[18] Dies zeigt sich in der gespaltenen Reaktion vieler evangelischer Theologen zum römischen Dokument DOMINUS IESUS (2000). Einerseits zeigen sie sich sehr unglücklich über die Tatsache, dass man ihnen den Ehrentitel einer „Kirche“ abgesprochen hat, andererseits stimmen sie der dortigen Christologie und Erlösungstheorie uneingeschränkt zu. Sie sehen nicht, dass das eine nicht ohne das andere zu haben ist.
[19] H. Häring, Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Zürich 1979, 139-148.
[20] Bei manchen italienischen Kirchen lässt sich heute noch ein Ort außerhalb des geweihten Friedhofs, z.B. beim Eingangsportal der Kirche, finden, der für ungetauft verstorbene Säuglinge reserviert und mit einer Marmorplatte abgedeckt ist.
[21] Gemäß dem responsorischen und performativen Charakter alles Reden von Erlösung steht es mir nicht zu, das antike und das mittelalterliche Erlösungsverständnis im Zusammenhang der damaligen Zeit zu beurteilen. Umso deutlicher sind die Konsequenzen für unsere Gegenwart ohne Selbstverteidigung zu bedenken und zu benennen.
[22] Rom 2,12: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil[!] alle sündigten.“ Über Art und Gründe dieser Sündenlawine wird hier ebenso wenig gesagt wie in en ersten Kapiteln von Genesis. Theorien darüber sind nicht ausgeschlossen, wie wir sehen werden. Entscheidend ist hier die Distanzierung von der rechtstheoretischen Theorie des Augustinus, dass Adams Schuld (worin sie auch immer bestehe) als persönlich anzurechnende Schuld auf die Menschheit übergegangen sei.
[23] Die „Gottesfürchtigen“ spielen vor allem in der Apostelgeschichte eine Rolle. Angesichts der heutigen, oft diffusen und höchst verunsicherten Suche nach einem letzten Ursprung und Ziel ist die Figur dieser Gottsucher für gegenwärtige Diskussion wieder von höchstem Interesse; dasselbe gilt für die „Hanife“ zur Zeit Mohammeds. Mohammed selbst nennt auch Abram/Abraham wegen seiner noch unbeantworteten und unerfüllten, umherirrenden Gottessuche einen „Hanifen“.
[24] Von hohem Interesse ist in diesem Zusammenhang die Paulusinterpretation des französischen Philosophen A. Badiou (Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997), der von einem atheistischen Standpunkt aus zu einer überraschend erhellenden Antwort auf die Frage findet, wie sich Universalität in einer pluralistischen Welt und Kultur verstehen und zur Geltung bringen lässt.
[25] Gegenüber einem gängigen und gern propagierten Missverständnis ist klarzustellen: Wer die griechische Metaphysik kritisiert, wendet sich nur gegen eine partikulare Form von (platonischer, aristotelischer, vielleicht stoischer) Metaphysik, nicht gegen Metaphysik, gar gegen Philosophie überhaupt.
[26] Es gibt Hinweise dafür, dass die Paradiesgeschichte ursprünglich als eine Weisheitsgeschichte zu verstehen ist, die den Faden des ersten Schöpfungsberichts aufgreift. Wie dort Schöpfung als ständige Unterscheidung, d.h. als Ordnen von Chaos geschieht, so ist auch die Welt des Menschen nur durch ständiges Unterscheiden, durch Grenzerfahrungen, durch die Dialektik von Freiheit und Verbot zu bewältigen. So gesehen führt die Paradiesgeschichte nicht zur Sünde, sondern zur nüchternen Erkenntnis, dass wir die Welt nicht als ein Paradies missverstehen sollten, indem wir (schon) sein könnten wie Gott (E.J. van Wolde, A Semiotic Analysis of Genesis 2-3, Assen 1989).
[27] Wichtig dafür ist der Einfluss des Jesuiten J. J. Maréchal aus Leuven (1878-1944) mit seiner Abhandlung Le point de départ de la métaphysique, v. a. Bd 5 [21949]. E. Schillebeeckx ließ sich leiten vom Entwurf des Dominikaners D.M. de Petter, Begrip en werkelijkheid. Aan de overzijde van het conceptualisme, Antwerpen 1964.
[28] Kant illustriert diese Neigung wie folgt: „Ein kontemplativer Misanthrop, der keinem Menschen Böses wünscht, wohl aber geneigt ist, von ihnen alles Böse zu glauben“. Er zweifle nur noch darüber, ob er die Menschen hassens- oder ob er sie eher „verachtungswürdig“ finden soll. Dieser Hang ist nach Kant „an sich böse, ob er gleich niemanden schadet“ und objektiv zu nichts gut ist. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Kant zwischen einer ausdrücklichen Bosheit und einer „Nichtswürdigkeit, wodurch dem Menschen aller Charakter abgesprochen wird“. Dann fasst Kant so zusammen: „Ich halte mich hier hauptsächlich an der tief im Verborgnen liegenden Unlauterkeit, da der Mensch sogar die innern Aussagen vor seinem eignen Gewissen zu verfälschen weiß. Und destoweniger darf die äußere Betrugsneigung befremden; es müsste denn dieses sein, dass, obzwar ein jeder von der Falschheit der Münze belehrt ist, mit der er Verkehr treibt, sie sich dennoch immer so gut im Umlaufe erhalten kann.“
[29] S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, Kap. 2, Par. 2: „Angst kann man vergleichen mit Schwindel. Der dessen Auge es widerfährt, in eine gähnende Tiefe niederzuschauen, er wird schwindlid. Aber was ist der Grund? Es ist ebenso sehr sein Auge wie der Abgrund; denn falls er nicht herniedergestarrt hätte. Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nur niederschaut in ihre eigene Möglichkeit.“ G. Figal, Lebensverstricktheit und Abstandnahme. „Verhalten zu sich“ im Anschluss an Hegel, Kierkegaard und Hegel, Tübingen 2001; G. Dischner, Es wagen, ein Einzelner zu sein: Versuch über Kierkegaard, Bodenheim 1997.
[30] K. Glöckner, Peronsein als Telos der Schöpfung. Eine Darstellung der Theologie Paul Tillichs aus der Perspektive seines Verständnisses des Menschen als Person, Münster 204.
[31] P. Ricoeur analysiert die „Zerbrechlichkeit des Affektiven“ in: Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg/München 1971, 110-172.
[32] Nach Th.W. Adorno ist „das Geheimnis seiner Philosophie … die Unausdenkbarkeit der Verzweiflung“. Er verbot es sich „vom Gedanken des Absoluten, das einmal so sich verwirklichen könne wie der ewige Friede, überzuspringen in den Satz, das Absolute sei darum. … In großartiger Zweideutigkeit hat er die eigene Position offen gelassen“. (Negative Dialektik, Frankfurt 1966, 378).
[33] Th. Pröpper, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte, München 21988.
[34] G. Essen, Die Freiheit Jesu: der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personenphilosophie, Regensburg 2001; ders. (Hg.), Kant und die Theologie, Darmstadt 2005.
[35] An einem wichtigen Punkt wurde K. Rahner modifiziert. Jetzt wird die „göttliche Natur“ Jesu nicht mehr als platonisches Ereignis absoluter Wahrheit oder Offenbarung thematisiert, sondern – scheinbar neuzeitlich – als Ereignis absoluter[!] Freiheit und darin absoluter Selbst-Offenbarung. Darin steckt aber auch der Widerhaken einer Theologie, die sich vorbehaltlos in eine christliche Philosophie überführen möchte. Wer am Heil Jesu Christi teil hat, hat deshalb teil an der absoluten Freiheit und ist damit aus dem Zwang (oder der „Neigung“) zur Sünde befreit. Die nach-kantsche Wende der Christologie insistiert damit ausdrücklich auf einem Absolutheitsanspruch, den die frühere Theologie noch unbefangen und wie selbstverständlich annahm, denn sie hatte die Auseinandersetzung mit anderen Erlösungsreligionen verdrängt und nahm sie nicht mehr wahr. Diese Theorie einer Erlösung durch Gottes Handeln kann nur überzeugen, wenn und weil Jesus Christus – gut chalkedonisch – der Mensch gewordene Gott ist.
[36] Konkret auf Ur-Schuld und Evolution bezogen fragt Essen, „wie sich eigentlich subjekthafte Freiheit und objektiver Determinismus … versöhnen lassen…“ Er antwortet: „Könnte es nicht sein, dass die humane Antwort auf diese Frage vorgezeichnet ist in der Christologie?“ Denn hier habe „Gott sich selbst in diesem Geschehen als ein Gott offenbart …, durch den sich die Menschen als unbedingt anerkannt erfahren und deshalb zur verbindlichen Übernahme ihrer Freiheit ermutigt wissen“. (G. Essen, Der „wahre Mensch“ und die Bestimmung unseres Menschseins. Die Christologie vor der Herausforderung des Naturalismus, in: P. Neuner (Hg), Naturalisierung des Geistes – Sprachlosigkeit der Theologie? Die Mind-Brain-Debatte und das christliche Menschenbild, Freiburg 2003, 43-56).
[37] Genau genommen handelt es sich um eine Gruppe von Modellen, die hier idealtypisch in vier Gruppen gegliedert werden.
[38] Nachdrücklich arbeitete diesen Aspekt im Anschluss an E. Bloch heraus: D. Sölle, Leiden, Freiburg 1993.
[39] Diese Dimensionen sind: I. Leiblichkeit und Einbettung in die Natur, II. Mitmenschlichkeit, III. gesellschaftliche und institutionelle Strukturen, IV. Zeit-Raum-Struktur von Mensch und Kultur, V. Polarität von Theorie und Praxis, VI. Religiöses Bewusstsein, VII. Synthese dieser sechs Dimensionen (E. Schillebeeckx, Christus und die Christen, Die Geschichte einer neuen Lebenspaxis, Freiburg 1977, 715-724).
[40] H. Peukert, Wissenschaftstheorie. Handlungstheorie. Fundamentale Theologie. Analysen zu Ansatz und Status theologischer Theoriebildung, Frankfurt 1978, 311-355.
[41] Schon früh P. Overhage, Die Evolution des Lebendigen. Das Phänomen, Freiburg 1964.
[42] Irreführend ist die verschleiernde Sprache. Geredet wird z.B. von der ersten Sünde des Menschen. Das kann u.a. gelesen werden als: (1) die Grundsünde eines jeden Menschen, (2) die historisch erste Sünde der Menschheit. Diese Unklarheit der Sprache setzt sich in den folgenden Paragrafen fort. Über die Motive solcher Verschleierung sind nur Mutmaßungen möglich.