Die katholischerseits blockierte Ökumene mit den evangelischen Kirchen birgt unberechenbare Risiken. Binnen kurzer Zeit kann der anhaltende Exodus der Kirchenmitglieder alle Anstrenungen zu Ökumene überflüssig machen.
Thesen
1. Eine komplexe Angelegenheit
Die Ökumenische Bewegung begann vor gut 100 Jahren mit Einzelinitiativen kirchlicher Gruppierungen und Organisationen. Nach dem zweiten Weltkrieg nahm sie einen ungeahnten Aufschwung von gesamtkirchlicher Relevanz. Auf katholischer Seite setzte sie sich mit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965) als erklärte Aufgabe der Gesamtkirche durch; für die katholische Kirche bedeutete das ein Meilenstein. Seitdem lässt sich die Ökumenische Bewegung nicht mehr zu einem sektoralen Problem herunterstufen; es gehört zu den unentbehrlichen, alles durchdringenden Lebenselementen auch der katholischen Kirche.
Aus diesem positiven Grund sind die Ziele und Probleme der Ökumenischen Bewegung jedoch so komplex geworden wie die Ziele und Probleme der Kirchen selbst. Dazu gehört die Tatsache, dass man in der katholischen Kirche die wirkliche Tragweite einer Annäherung an die evangelischen Kirchen erst allmählich erkannte. Seitdem werden ökumenische Bemühungen (in Verbindung mit anderen Gründen) von einer unausgesprochenen Identitätsangst überdeckt. Daraus resultiert der kontinuierliche Versuch der Kirchenleitungen, ökumenische Theologien, Begegnungen und Aktivitäten auf allen Ebenen unter Kontrolle zu halten, notfalls stillzustellen.
Umso wichtiger ist eine theologische, von historischen und von soziologischen Überlegungen begleitete Reflexion.
2. Schritte der Annäherung
Die uns allen gemeinsame biblische Botschaft vorausgesetzt, haben sich (nach Jahrzehnten intensiver theologischer Arbeit, eines wachsenden Verstehens auf Gemeindeebene, gemeinsamer geistlicher Erfahrungen und einer beginnenden gemeinsamen Kirchenpraxis) für die katholisch-evangelische Annäherung praktikable und theologisch plausible Modelle herauskristallisiert. Als Nahziel gilt keine institutionelle Wiedervereinigung im globalen Wortsinn. Vielmehr sind verschiedene Schritte zu unterscheiden.
Anzustreben ist in einem ersten Schritt eine „versöhnte Verschiedenheit“ der Konfessionen. Gemeint sind damit:
* die gegenseitige Bejahung der Glaubensgemeinschaften als vollgültiger Kirchen,
* die gegenseitige Akzeptanz von Zielen, Qualitäten und innerkirchlichen Strukturen,
* eingeschlossen die gegenseitige Anerkennung qualifizierter Gottesdienstformen (Eucharistie/Abendmahl) und Ämter (Leitung von Gemeinden, Regionalbereichen und Gesamtkirchen).
Dieser erste Schritt ist von höchster Dringlichkeit und bedeutet den entscheidenden Durchbruch.
Relativ mühelos könnte mit der Regelung konkreter Details ein zweiter Schritt folgen. Er beinhaltet allgemeine Absprachen: über den regelmäßigen Besuch gemeinsamer Gottesdienste, über regelmäßigen oder situationsgegebenen „Kanzeltausch“ sowie über eine (institutionell geregelte, vorbehaltlos gegenseitige) eucharistische Gastfreundschaft.
Erst in einem dritten Schritt ließe sich dann die Frage besprechen, ob und inwieweit es sinnvoll ist, dass wir uns auch institutionell und/oder organisatorisch als wirklich eine Kirche verstehen und darstellen.
In einem vierten Schritt ließen sich schließlich – abhängig von den vorhergehenden Schritten – Fragen von gesamtkirchlicher Relevanz besprechen. Dazu gehören: eine gemeinsame bzw. vergleichbare Amtsstruktur, gemeinsame Beratungsgremien, beschlussfähige Synoden auf regionaler oder universaler Ebene, die Gestalt eines gemeinsamen Petrusdienstes.
3. Sakramentale Struktur
Schwerwiegende Probleme im Verhältnis der beiden Konfessionen ergeben sich aus einem spezifisch katholischen Kirchenbild. Das katholische Verständnis von Amt und Eucharistie ist in einem ungerochenen Sakramentsverständnis verankert; nach offizieller katholischer Überzeugung ist es unaufgebbar. Deshalb gilt jede Annäherung an die Kirchen der Reformation, die dieses Verständnis berührt, als bedrohlich und tabu. Dass es auch andere, biblisch verantwortete und spirituell tragfähige Modelle von Amt und Sakrament gibt, wird nicht zur Kenntnis genommen.
Aus diesem Grund gibt Rom der Ökumene mit den orthodoxen Kirchen den Vorzug, da sie in den genannten Fragen als gleichgesinnt gelten. Dadurch gerät die Annäherung an die evangelischen Kirchen unter besonderen Druck.
Aus dieser bedrängenden Situation ist im Augenblick kein Ausweg in Sicht. Innerprotestantische Widerstände gegen das Augsburger Rechtfertigungsagrement sind darauf eine erste Reaktion, weil der katholischen Zustimmung zur Rechtfertigungslehre keine angemessene Praxis folgt.
4. Ökumenischer Stillstand
Angesichts dieser Problematik, insbesondere wegen der Sorge um einen irreparablen Identitätsverlust, führten die Bemühungen um den ersten der genannten Schritte schon seit den siebziger Jahren zu einem Stillstand. Dies schädigt die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche. Es schwächt die Möglichkeiten des Glaubenszeugnisses in einer Gesellschaft, die nach Orientierung sucht. In unangemessener Weise belastet es die Situation vieler Menschen, die etwa in einer konfessionsverbindenden Gemeinschaft oder Ehe leben. Angesichts ihrer Kenntnis von Schrift und biblischer Botschaft, nicht aus irgendwelcher Bequemlichkeit können sie diese Blockade nicht mitvollziehen.
5. Qualitäten des Katholischen
Es gehört zur Tragik dieser Entwicklung, dass die katholische Kirche in keiner Weise zur ökumenischen Blockade prädestiniert ist. An sich trägt ihre Tradition ein großes ökumenisches Potential in sich. Dazu gehören
(a) die hohe (lebenspraktische) Bedeutung von Riten und Symbolen, also ihre Fähigkeit, das Heilige darzustellen, zu feiern und in die Gegenwart zu übersetzen;
(b) der hohe Stellenwert der Geschichte, die die katholische Kirche – aufs Ganze gesehen – zu einem sehr flexiblen und anpassungsfähigen Organismus werden ließ;
(c) eine ungebrochene theologische, liturgische und spirituelle Überlieferung, also ihr Vermögen, sich mit vielfältigen Äußerungen des Religiösen zu identifizieren und kreativ auseinanderzusetzen;
(d) die enorm vielfältigen und prägenden Erfahrungen einer Weltorganisation, die diese Kirche zu kulturell sehr vielfältigen Anpassungen befähigt hat und täglich neu befähigt;
(e) effektive, von der Einzelgemeinde bis hin zum globalen Weltmaßstab durchformulierte Beratungs-, Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen, denen man nur demokratische Bedingungen vorgeben und ein demokratisches Bewusstsein einimpfen müsste;
(f) eine konsequente Personalisierung von Verantwortlichkeit und Entscheidungskompetenz, die man nur mit zwei evangelischen Prinzipien unterbauen und konfrontieren müsste: dem Bewusstsein vom Priestertum aller Gläubigen sowie einer zeitgemäß ausgelegten Lehre von der Rechtfertigung.
Aus diesen Gründen lohnt es sich für Katholiken, sich neben der Unterstützung der Ökumene von unten (Nr. 4) auch leidenschaftlich für die ökumenische Öffnung der „offiziellen“ katholischen Kirche einzusetzen. Angesichts dieser Möglichkeiten lohnt es sich für Ökumeniker, katholisch zu sein, zumal jeder Personalwechsel an den Entscheidungsspitzen (Bischöfe, Vorsitzende von nationalen oder kontinentalen Bischofskonferenzen, kuriale Spitzenämter, Papstamt) zu unerwarteten Situationswechseln führen kann. Grundsätzlicher gesagt: es bedarf eines grundsätzlichen Wechsel in der Grundhaltung (theologisch gesagt: einer Bekehrung), die die katholische Kirche über Nacht zu einem wirkkräftigen Motor ökumenischer Annäherung machen könnte.
6. Ökumene von unten
Aus diesen Gründen führt die Situation offizieller Verweigerung auf anderen Ebenen zu ungewollten, aber entschiedenen Fortschritten. In wachsendem Maße sind Gruppierungen entstanden, die miteinander die Bibel lesen, beten und meditieren, die einander von ihren Glaubensformen und Glaubenserfahrungen berichten und die zu gemeinsamen Gottesdiensten zusammenkommen. Nach aller Erfahrung führt der Widerstand von Seiten der Kirchenleitungen zu wachsender Selbständigkeit ökumenisch orientierter Katholiken. Sie wird durch die aktuelle Neuordnung katholischer Seelsorge zusätzlich verstärkt. In solchen Aktivitäten und Entwicklungen liegt die Hoffnung der Ökumene.
Dabei sind die Folgen für die Kirchenleitungen nicht zu übersehen, die ihre Unfähigkeit zur Ökumene erweisen und ihre eigene Autorität dadurch schmälern. Man wird daran erinnern müssen, dass die katholische Amtsstruktur seit der Reformation keine ökumenische Kompetenz mehr gezeigt, sondern die Spaltung ausgelöst hat.
7. Beunruhigende Erinnerung
Die Erinnerung an Albrecht von Brandenburg im Jahr 2006 konfrontiert einen katholischen Theologen mit äußerst beunruhigenden Parallelen. Sie führen zu zwei Fragen: Wie gründlich hat die katholische Kirche den Denk- und den Lebensstil der Gegenreformation wirklich überwunden? Liegen die Gründe für den gegenwärtigen Stillstand wirklich nur am Sakraments- und Amtsverständnis?
Folgen Aspekte lassen sich nennen sind in gegenseitiger Parallele illustrieren:
(a) die unangemessene Anhäufung und Monopolisierung von innerkirchlichen, öffentlichkeitsbezogenen und öffentlichen Ämtern (bis hin zu den Privilegien des Papstes als Oberhaupt eines Staates);
(b) die damit gekoppelte Konzentration und Darstellung von sakralisierter Macht (bis hin zur Mobilisierung eines diffusen Bedürfnisses nach Religiosität);
(c) der Einsatz von enormen Finanzmitteln (mit großen Belastungen für die Kirchenmitglieder und fragwürdigen Erwartungen an die öffentliche Hand);
(e) eine maßlose, angesichts der christlichen Botschaft unangemessene, zu Events und Überwältigungsstrategien gesteigerte Prachtentfaltung in der Öffentlichkeit (gekoppelt mit der Inszenierung eines autoritären, geradezu absolutistischen Weltbildes);
(f) die Naivität, mit der man ungezügelt einen „Triumph der Gnade“ inszeniert, faktisch aber der Versuchung eines medialen Narzissmus erliegt (bis hin zur Tatsache, dass schon unter Johannes Paul II. das Medium die Botschaft geworden ist),
(g) die Instrumentalisierung menschlicher Erlösungssehnsucht durch fragwürdige Erlösungsverspechen, dies zum Vorteil der römisch katholischen Kirche (bis hin zur Erneuerung einer überholt geglaubten Ablasspraxis);
(h) die mangelnde Sensibilität für die Tatsache, dass die Gemeinde als Austragungsort des christlichen Glaubens nicht übersprungen werden kann (bis hin zur Tatsache, dass eine Mahlfeier als Massenveranstaltungen organisiert wird);
(i) der Verlust von christlich-theologischen Maßstäben, die zur nötigen Selbstbeschränkung und Selbstkritik herausfordern (bis hin zur Tatsache, dass Kritik als ungehörig diskriminiert und nach Möglichkeit verdrängt wird).
Am Fall des Albrecht von Brandenburg sollte die katholische Kirchenleitung lernen, wie schnell ihr eine Situation entgleiten kann, in der sich unglaubwürdig agiert. Die aktuelle Gefahr lautet nicht Kirchenspaltung, wohl aber schwerer Autoritätsverlust und ein irreparabler Kirchenexodus der vielen, die sich durch ein solches Verhalten verletzt fühlen. Sollte sich eine Kirche zur faktischen Herrin menschlichen Heils machen, verstößt sie gegen ihre innerste Natur. Sie beweist damit, dass sie (wie damals schon Albrecht von Brandenburg) vom genuin reformatorischen Anliegen nichts verstanden hat.
8. Ökumene unter anderen Vorzeichen
Vielleicht unterliegen die dargelegten Bedenken einem großen Irrtum. Um der Zukunft der Ökumene willen sei das gehofft und an folgender Hypothese illustriert:
Bislang setzte die evangelisch-katholische Ökumene wohl koordinierte Kircheneinheiten voraus. Die Generaldiagnose der Differenzen war einigermaßen klar und man kannte die Probleme. In relativer Stabilität arbeitete man die Vergangenheit auf; gegenseitige Interaktionen waren meistens vorhersehbar.
Inzwischen aber lassen gesellschaftliche Umbrüche diese Stabilität und Berechenbarkeit zerbrechen. Die Stichworte lauten: Säkularisierung und deren Umkehrung, Sinnkrise und Gottvergessenheit, eine unerwartete Diffusion und Metamorphose des Religiösen, Pluralisierung religiöser Wahrheit sowie eine interreligiöse Gesprächssituation.
Diese neuen Fragen und Erwartungen sind noch nicht in die ökumenische Tagesordnung eingeschrieben. So stehen wir einer Gesellschaft gegenüber, die unsere ökumenischen Fragen nicht mehr versteht. Das schafft uns die Freiheit, miteinander auf neuen, ökumeneoffenen Ebenen zu arbeiten. Sie schaffen zugleich den Raum für eine neue Gemeinsamkeit. Dadurch werden die alten Differenzen zu Nebenfragen degradiert. Unter diesen Umständen ließe sich auch über das Versagen des Albrecht von Brandenburg entspannter reden.
(Diskussionsforum 19. Sept. 2006)