Die Dynamik des Heiligen in den Religionen
Einleitung: „Das ist mir heilig“
Seit einigen Monaten veröffentlicht die Wochenzeitung DIE ZEIT wöchentlich einen kleinen Beitrag unter der Rubrik: „Das ist mir heilig“. Autorinnen und Autoren jedweder Couleur kommen zu Wort, darunter viele, die sich nicht religiös nennen. Umso erstaunlicher ist es zu lesen, was diesen Männern und Frauen wirklich heilig ist. Sie preisen die Freiheit und die Gerechtigkeit, die Menschenrechte oder ihre Familie, den Sonntag oder den Segenswunsch „Friede sie mit euch“, das Urvertrauen oder die Freiheit des Wortes. Sie schreiben gerade nicht über konventionell religiöse Werte, also nicht über die großen Worte, die die Religionen seit Jahrtausenden verehrt, für heilig oder für unaufgebbar erklärten, schon gar nicht über Gott. Im Gegenteil, manche Beiträge dokumentieren geradezu, dass das Heilige gegen deren religiösen Missbrauch geschützt werden soll. In jedem Fall sind Religion und Heiliges in der Wahrnehmung vieler auseinandergefallen. So erfährt der Titel „Heiliger Vater“ immer mehr auch innerkirchliche Kritik.
Dabei hat sich nicht einfach der Frömmigkeitsstil, sondern die Welt der Sprache, unserer Vorstellungen und Weltinterpretation geändert. Gerade aus der Redewendung, dies oder jenes sei mir heilig, ist die Frömmigkeit ja ausgewandert. Ganz offensichtlich hat sich die Sprache des Heiligen ihrer Definition durch die Religionen entzogen. Paradoxerweise ist auch dies ein Prozessstück der kulturellen Säkularisierung. Denn nach wie vor gilt, dass die Religion in unserer Wissenschafts- und Alltagssprache ihre Verankerung verloren hat. Sie wurde ortlos, abstrakt, in einem schlechten Sinn jenseitig, degenerierte im besten Fall zu einer verinnerlichten bildungsbürgerlichen Kultur. Das Wort „heilig“ macht diesen Prozess offensichtlich nicht mit. Man vergisst es nicht spätestens mit Konfirmation oder Firmung. Nein, es hat einen eigenständigen Platz behalten. Wer sagt, die freie Rede, sein Familienleben oder das Engagement für die Gerechtigkeit sei ihm heilig, gilt gerade nicht als ein Phantast, sondern als realitätsbezogener Beobachter, der/die weiß, was er/sie will. Offensichtlich hat sich der für alle Religionen konstitutive und zentrale Begriff des Heiligen als säkularisierungsresistent erwiesen. Warum ist dies der Fall? Warum eignet dem Heiligen eine Dynamik, die sich als Zeichen des Unzerstörbaren und des unbedingt Gültigen behauptet?
Der berühmte Religionswissenschaftler Rudolf Otto umschrieb das Heilige als das tremendum et fascinosum, als das Erschreckende und Verlockende zugleich.[1] Vielleicht müssen wir die Kultur des Erschreckens und der Begeisterung neu lernen. Und da ich in diesem Referat den Zusammenhängen von Religion und Heiligem nachspüren möchte, beginne ich mit der Hypothese: Religion und Religiosität sind in unserer Gesellschaft so ermüdet, sie sind in unserer Kultur so „erkaltet“ (R. Safranski[2]), weil ihnen die vitale Erfahrung des Heiligen weithin abhanden gekommen ist – genauer gesagt: weil sie sich der Erfahrung des Heiligen nicht mehr stellen. Vielleicht hat auch der Begriff der Erfahrung seine Zugkraft verloren. Deshalb formuliere ich meine Hypothese etwas zugriffiger (und angreifbarer): Die Religion des Christentums, unser Christsein also, ist deshalb so müde geworden, weil wir ihm – in einem langen und konsequenten Prozess – die Leidenschaft für das Heilige ausgetrieben haben.
Ich spreche deshalb in einem ersten Teil von der Leidenschaft (als dem Kennzeichen der Religion), im zweiten Teil vom Heiligen (als der letzten Triebfeder aller Leidenschaft), im dritten Teil von der Religion als den Orten heiliger Leidenschaft und im vierten Teil – in abschließenden Andeutungen – von Bedeutung und Stellenwert des Heiligen in verschiedenen Religionen und Konfessionen.
1. Leidenschaft als Kennzeichen der Religion
1.1 Religionskritik – Kritik an gewalttätigen Religionen
Leidenschaft und Religion stellen für die meisten von uns keine neuartige Kombination dar. Nach aller historischen Erfahrung gehören Leidenschaft und Religion zusammen; ihr Zusammenwirken ist unserem kollektiven Gedächtnis bekannt. Wir kennen diese Leidenschaft im Gewand der Begeisterung, leider auch im Gewand des Fanatismus und der Gewalt, der Religionskriege und der Ausrottung der Gegner. Wir kennen die Exkommunikation im Namen des Wohlverhaltens, die Scheiterhaufen im Namen der Wahrheit, die Religionskriege im Namen der wahren Konfession. Diese Geschichten verblendeter Leidenschaft bleiben nicht auf Europa, auch nicht auf die monotheistischen Religionen beschränkt. Überall können wir auf sie stoßen: wenn etwa innerhalb von Religionen kritisiert oder reformiert wird, wenn sich in Religionen (und deren Kulturen) ein tiefgreifender Identitätswandel abzeichnet, wenn zwischen Religionen Verdrängungswettbewerbe stattfinden (ein jüngeres Phänomen), wenn sich Religionen und religiöse Motive zur Durchsetzung politischer, ökonomischer oder ideologischer Ziele instrumentalisieren lassen. Sobald eine Religion ins Spiel von Auseinandersetzungen kommt, geht es immer ums Ganze, werden Gewalt, Folter und Tod in Kauf genommen. Das historische Wissen um diesen tödlichen Zusammenhang hat die Religionen weitgehend in Misskredit gebracht. Seit der Aufklärung wird er massiv kritisiert und für viele Zeitgenossen bieten die ständigen Gewaltausbrüche einen hinreichenden Grund für die Ablehnung von Religion überhaupt. Auf den ersten Blick mag diese Reaktion verständlich sein. Ist sie aber nicht zu einfach? Denn nicht leugnen lässt sich, dass Religion genau so oft zur Gewaltlosigkeit aufruft und Versöhnung herbeiführt. Dies gilt nicht nur für das Christentum, sondern genauso für den Islam, jene Religion der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit, die in unserem Kulturraum im Augenblick als der prominenteste Gewaltkandidat gilt.
Trotz ihrer tiefen Berechtigung wird die Religionskritik im Namen der Gewaltkritik ja meistens inkonsequent, wenn nicht gar unehrlich gehandhabt. Denn die Gewaltbereitschaft wird in der Regel nicht bei der eigenen, sondern bei den anderen Religionen entdeckt. Viele Christen charakterisieren ihre eigene Religion als Religion der Liebe („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ [Mt 22,92]), das Judentum aber als Religion des Gesetzes und der Rache („Aug’ um Auge, Zahn um Zahn“ [Ex 21,14; vgl. Mt 5,38]), und den Islam als eine Religion von Feuer und Schwert. Christen finden Muslime gewalttätig, Hindus die Sikhs und nichtreligiöse Menschen Religionen überhaupt. Christen schwören für sich auf die versöhnende Kraft des Leidens, dem Islam unterstellen sie ein Streben nach Weltherrschaft.
Immerhin gibt es einen wichtigen Fortschritt: Angesichts der bedrohlichen Weltsituation schwören die gegenwärtigen Weltreligionen jeder Gewalt programmatisch ab – ich nenne Judentum, Christentum und Islam, die verschiedenen Formen des Hinduismus und des Buddhismus und die Bahai-Religion. Östliche Religionen beziehen Tiere, bisweilen die gesamte Natur ausdrücklich in dieses Programm ein. Die meisten Religionen verstehen sich geradezu wörtlich als Religion der Liebe, der Barmherzigkeit und des Mit-Leidens, viele entweder als Religionen der Versöhnung und der Vergebung oder als Weg des selbst- und interesselosen Aufgehens im All-Einen. Das schafft zwar ein hohes Maß an ehrlich gemeinter Selbstverpflichtung und die Möglichkeit zu gegenseitiger Kontrolle; man nimmt einander beim Wort. Aber gerade diese hehren Ideale gelten dann schnell auch als Alleinstellungsmerkmale, die ihren Träger – implizit oder ausdrücklich – über andere Religionen erheben. So redet man gerne von den eigenen Idealen und übersieht deren Gefährdungen, zu denen vor allem die Gewaltneigung aus Leidenschaft gehört, weil eben die Leidenschaft blind machen kann. Das gilt für Europa ebenso wie für Indien oder Thailand, für buddhistische Gemeinschaften ebenso wie für muslimische Stammes- oder Staatsgebilde. Im theokratischen Tibet hat es sie genauso gegeben wie zwischen afrikanischen oder südamerikanischen Ethnien. Wie kommen diese Deformationen von Achtsamkeit, von Nächstenliebe oder des Willens zur Gerechtigkeit zustande?
Wir könnten moralisierend mit dem Hinweis antworten, dass alle Religionen den Splitter im Auge des Anderen tadeln, aber den Balken im eigenen Auge übersehen (Mt 7,3). Wir könnten auch in nüchterner Wahrnehmung der Verhältnisse darauf hinweisen, dass keine Religion besser ist als ihre Anhänger. Doch sollten wir auch auf eine Schieflage in unserer Wahrnehmung von Religion überhaupt hinweisen. In der Regel übersehen und verdrängen wir eine wichtige Tatsache: Das Christentum und die anderen Religionen lassen sich nicht auf moralische, kognitive oder liturgische Prinzipien reduzieren. Sie sind immer mehr als ein moralisches System, mehr als eine rational überzeugende Weltinterpretation und mehr als ein Regelwerk zur wahren Gottesverehrung. Religionen entspringen elementaren Erfahrungen der Sehnsucht und der Hoffnung; sie beginnen mit dem Protest gegen alles Unfertige und Böse; sie erwarten eine widerspruchsvolle Versöhnung mit der Wirklichkeit. Widerspruchsvoll ist sie deshalb, weil wir hinter einer begrenzten und mangelhaften Wirklichkeit immer noch eine weitergehende Verheißung, einen noch ausstehenden Überschuss herbeiwünschen. Aus diesen Gründen – Gründen der Sehnsucht, der Hoffnung, des Protests und des Wünschens – haben Religionen immer mit Leidenschaft zu tun, bevor sie in Gewalt abgleiten, und sie neigen immer wieder deshalb zur Gewalt, weil es leidenschaftliche Unternehmungen sind. Die Gewalt ist aber nur eine der Möglichkeiten, zu denen die Leidenschaft verführt.
1.2 Religiöse Leidenschaft als Gefahr
Es wäre hier nicht schwer, eine Phänomenologie der Leidenschaft in den Religionen zu entfalten. Die religionswissenschaftliche Literatur ist voll von deren Schilderungen und Analysen. Ich persönlich denke an die Darstellungen all der mythischen, der wilden und zügellosen Ekstasen, die ich in den südindischen hinduistischen Tempeln finden konnte, auch an die – ebenso leidenschaftliche – Anti-Leidenschaft, die der Buddhismus in seiner Abkehr von allen weltlichen Erscheinungen präsentiert und die alles Leiden zum falschen Schein erklärt. Was anderes als eine tiefe Leidenschaft mag die Mönche in allen Religionen dazu bringen, sich tagelang und in höchster Disziplin nur auf das Eine und Unbegreifliche zu konzentrieren. Ich erinnere an die kollektive Leidenschaft der Muslime, die bei ihrer Pilgerfahrt nach Mekka aufblitzt, wenn sie die Kaaba umrunden und in heiliger Wut den Teufel steinigen. Mit Gänsehaut erinnere ich mich noch immer an eine Gruppe junger Muslime, die sich am Geburtstag des Propheten in Kairouan (Tunesien), der heiligen Stadt des Maghreb, nahe der ältesten Moschee Afrikas unter Trommelrhythmen und Weihrauchschwaden in Ekstase sang und so sehr in zuckende Verzückung geriet, dass wir Europäer uns ängstlich zurückzogen, um nicht zu stören oder in unabsehbare Konflikte verwickelt zu werden. Auch im Islam gibt es zugleich eine Innenlenkung dieser Ekstase bei den Sufis oder in der muslimischen Mystik, von der Annemarie Schimmel ein so schönes Zeugnis abgelegt hat.[3]
Dabei wurde mir klar, wie sehr die Tradition des christlichen Westens dieses Element der leidenschaftlichen Ekstase zurückgedrängt, der Religion geradezu ausgetrieben hat. Spätestens seit fünf Jahrhunderten wurden wir – von katholischer wie von evangelischer Seite – an die Kandare genommen, in ein streng diszipliniertes, rational geglättetes und allem Überschwang abholdes, in Schriftlesung, Gebetsübungen und Musik eingehülltes Christentum eingeübt. Auch daraus hat sich eine höchst emotionale und verinnerlichte Anti-Leidenschaft ergeben, und doch ist damit der christlichen Religion etwas abhanden gekommen, denn Judentum und Christentum sind aus geradezu ungezügelter Leidenschaft für eine gerechte Welt geboren. Man lese nur die Bergpredigt mit ihrer unnachgiebigen Utopie, die den Trauernden Trost verheißt, die Leidenden zu Glücklichen und die Friedensstifter zu Kindern Gottes erklärt. Man setze sich mit der Geheimen Offenbarung, ihren ausufernden Imaginationen und Phantasien der Angst und der Hoffnung, der Schrecken und der Erlösung auseinander, um diese Macht all der Emotionen zu erfahren, die allein schon in den neutestamentlichen Schriften zusammengeballt sind. Da geht es nicht um rational schlüssige Interpretationen, sondern um alles, was uns im Innersten bewegt: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Das was früher war, ist vergangen.“ (Apk 21,4)[4]
Leider ist das neuzeitliche Christentum diesen Sonderweg gegangen, obwohl noch im Mittelalter die offen ausgetragene Leidenschaft das religiöse Leben prägte und obwohl die Ereignisse der Reformation nicht ohne die Leidenschaft aller Beteiligten zu verstehen sind. Bald bahnte sich eine Entwicklung an, die zur höchsten Disziplinierung führte. Eine große Rolle spielten die Schrecken der Religionskriege mit ihren Gewaltexzessen, aber auch die konsequente Verinnerlichung des evangelischen Glaubens, die mit der konsequenten Regulierung katholischer Glaubensvollzüge in eine spiegelbildliche Wechselwirkung trat. Schließlich war es die Aufklärung, die auf eine strenge Rationalisierung des Lebens überhaupt hin tendierte. Die damit verbundenen politischen Ziele waren gut und anzuerkennen: An die Stelle von Macht- und Gewaltpolitik hatten der Diskurs und eine interessenfreie Rationalität, also eine möglichst leidenschaftslose Kommunikation zu treten. So wurde die Religion auf ein intellektuelles Lehrsystem, auf eine leidenschaftslose Unternehmung reduziert. R. Safranski sprach, wie ich schon sagte, vor Kurzem von einer erkalteten Religion.
Eine Religion, die sich von den Quellen der Leidenschaft abschneidet, verliert, wenn man so will, ihre Lebensqualität. Denn erstens trennt sie sich von allen vitalen Lebenssektoren, die immer mit Leidenschaft besetzt sind. Man denke an die Erfahrungen der Liebe, den Willen zur Weltgestaltung, die Inspirationen der Kunst. Zweitens fällt eine leidenschaftslose Religion unweigerlich auf Systeme rationaler Welterklärung, auf bürgerliche Bildungssysteme im Sinne der westlichen Tradition zurück, denn jeder Überschuss von Motivationen, Erwartungen und Imaginationen schwindet; sie gerät in eine unfruchtbare Konkurrenz zu den Wissenschaften. Drittens verliert eine leidenschaftslose Religion ihre Stimme bei der Integration einer Kultur und bei der Thematisierung ihrer Zukunft.
Vermutlich hat das westliche Christentum diese Zusammenhänge noch nicht begriffen. In der Regel suchen wir die Gründe für die gesellschaftliche Schwächung der Religion bei der Gesellschaft. Sie habe die Gesellschaft abgewiesen und von außen geschwächt. Aber die Zusammenhänge sind weit komplizierter. Zumal die christliche Religion ist immer noch Teil dieser Gesellschaft, wird ohne eigenes Zutun also nicht einfach zum Opfer. Sie verlor in dem Maße ihre gesellschaftliche und kulturelle Wortführerschaft, als sie selbst alle Leidenschaft verpönt, selbst ihre Kraft gedrosselt und sich selbst aus der Gesellschaft zurückgezogen hat. Immer mehr hat sich das Christentum der Neuzeit in seine eigenen Nischen zurückgezogen. Nach außen hat es sich einem geradezu stoischen Ideal der inneren Ausgeglichenheit und Seelenruhe verschrieben und damit sogar die Stoa missverstanden. Denn diese Seelenruhe (ataraxia genannt) meinte die Spiegelglätte einer See, die all ihre unterirdischen Bewegungen nicht leugnet, sondern zu bändigen weiß.
1.3 Erkaltete Religion?
Vor wenigen Tagen stand ich auf dem Ruinenfeld von Laodizea (gelegen im alten Phrygien, im Südwesten des Türkei) und es war der muslimische Führer, der uns dort aus dem Sendbrief der Geheimen Offenbarung an diese Gemeinde von Laodizea die Zeilen vorlas: „Ich kenne deine Werke. Du bist weder kalt noch heiß. Wärest du doch kalt oder heiß! Weil du aber lau bist, will ich dich ausspeien aus meinem Mund. Du behauptest: Ich bin reich und wohlhabend, und nichts fehlt mir. Du weißt aber nicht, dass gerade du elend und erbärmlich bist, arm, blind und nackt.“ (Apk. 3, 15-17) Lange habe ich diesen Sendbrief moralistisch missverstanden und übersehen, dass er von der fehlenden Leidenschaft der Gemeinde spricht. Ihr Glaube erreichte die Tiefe ihrer Emotionen nicht mehr; er ist ihr zu selbstverständlich geworden. So hat sie keine Sensibilität, kein Gespür mehr für ihre Erbärmlichkeit und Nacktheit, für die Sehnsucht nach dem Wahren, dem Gerechten und dem Unbedingten.[5]
Geraten wir mit dieser Forderung nicht in ein Dilemma? Können wir die Leidenschaft herausfordern und der Gewalt zugleich abschwören? Wie soll sich ein wohltuendes und wohlreflektiertes, ein empathisches und ein gewaltfreies Verhalten aus einer elementaren und authentischen Leidenschaftlichkeit, also aus den vitalen Strebungen des Menschseins ergeben? Wie passen Leidenschaft und Ideale der Nächstenliebe zusammen?
Leidenschaft (Passion) meint ein heftiges Streben. Sie beschreibt die Intensität einer Emotion, die den Menschen packt, also umfassend ergreift. Hingewiesen wird auf eine ambivalente Situation, denn wer leidenschaftlich handelt, ist von einer Passion ergriffen; er „erleidet“ sie. Gewiss, in der Regel umfasst eine Leidenschaft die volle Zuwendung zum Objekt des Begehrens, zugleich aber die ungezügelte Abwehr aller Hindernisse, die sich zwischen das Subjekt und sein Ziel stellen. Sie kann entmenschlichend wirken, denn nicht immer stimme ich meiner Leidenschaft aus freiem Willen zu. „Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse.“ (Röm 7,15) Zugleich ist sie a-moralisch, denn Leidenschaft umfasst Formen der Liebe ebenso wie Formen des Hasses. Sie kann sich auf sehr persönliche, aber auch auf ideelle, moralische oder politische Ziele richten. Allerdings schwingt in konfliktreichen und in dramatischen Situationen oft etwas Zerstörerisches mit, denn die überwältigende Entschiedenheit für eine Sache lehnt Alternativen ab und Widerstand reizt zu entschiedenem Durchsetzungswillen.
Genau das schafft den Religionen Probleme. Denn wer sich mit aller Macht dem Bösen entgegenstellt, neigt zu neuer Gewalt, weil er sein eigenes Handeln in jedem Fall für das geringere Übel, vielleicht gar für Gottes gerechte Strafe hält. So führt seine Leidenschaft erst Situationen herbei, zu deren Überwindung sich Religionen berufen fühlen. Nun ruft Jesus dazu auf, dem Bösen nicht zu widerstehen (Mt 3,39) und das Unkraut zwischen dem Weizen wachsen zu lassen (Mt 13,29). Offensichtlich reagiert er auf genau dieses Problem, auf die sensibelste Falle aller religiösen Begeisterung. Doch auf den ersten Blick klingen diese Anweisungen inkonsequent; sie wiegeln ab, weichen aus, spielen den Elan einer jeden Leidenschaft herunter. Hat das moralische Gründe? Warnt uns das Neue Testament etwa davor, vorschnell unserer eigenen Begeisterung zu trauen?
Nein, das Problem reicht tiefer. Es geht um die Frage, ob wir religiöse Leidenschaften von anderen unterscheiden können. Das wird sicher nicht einfach sein, denn Leidenschaft gibt es überall dort, wo Menschen vorbehaltlos mit Zielen mitgerissen werden oder sich vorhaltlos mit ihnen identifizieren, also auch außerhalb der Religionen. In einer säkularisierten Kultur müssen wir mehr denn je betonen, dass die Übergänge von nichtreligiösen zu religiösen Sektoren unseres Lebens, also auch von religiösen zu nichtreligiösen Leidenschaften, gleitend sind. Denn ein Spezifikum von Leidenschaft liegt immer darin, dass unsere Emotionen voll dabei aktiviert sind. Allerdings lebt auch eine jede Leidenschaft von Zielen, die letztlich deren Qualität bestimmen. Im Sinn dieser Ziele ist deshalb zu fragen, wie sich religiöse Leidenschaft denken lässt. Wann hat eine Leidenschaft, dieses zutiefst menschliche Phänomen, wirklich religiöse Qualität? Dahinter steckt natürlich die entscheidende Frage, die bis jetzt noch unlösbar scheint: Können wir – wenigstens im Rahmen der Religionen – vielleicht zu einer Leidenschaft gelangen, die nicht mehr in Gewalt umschlägt? Oder vorsichtiger formuliert: Können wenigstens die Religionen der Neigung aller Leidenschaft Herr werden? Treffen wir dort vielleicht Bedingungen an, die im Glücksfall die Gewaltneigung der Leidenschaft neutralisieren oder zumindest beherrschbar machen? Haben wir es dort mit einem Motiv zu tun, das den Kampf mit der Gewaltneigung aller Religionen aufnehmen kann?
Um dies zu erkunden, wende ich mich im zweiten Teil meines Referats der Frage der Heiligkeit zu; doch zuvor komme ich auf einen Gedanken zurück, den ich schon angedeutet habe. Wie die condition humaine überhaupt bewegen sich auch Leidenschaften in einem polaren Feld. Sie lassen sich zugleich als menschliches Handeln und als menschliche Betroffenheit, als treibende Emotionen und zugleich als Getriebensein, also als einen aktiven und einen passiven Anteil des Menschseins beschreiben. Beide Anteile vertragen sich mit dem Anspruch menschlicher Freiheit, solange ich sie nicht statisch als einen absoluten Zustand, sondern dynamisch und prozessual betrachte. Konkrete Freiheit zeigt sich ja als eine ständige Spannung und als ein fortwährendes Beziehungsgeschehen, das immer wieder gelingt oder missglückt. Gleichermaßen meint Leidenschaft nie einen statischen Zustand. Leidenschaften kommen und gehen. Sie werden bald von inneren Stimmungen oder psychischen Energien, bald von äußeren Zielen oder leuchtenden Werten bestimmt. Mal flauen sie ab, mal verstetigen sie sich zu einer prägenden inneren Haltung. Und wie ich bei der Freiheitsproblematik immer genau fragen muss, wozu und wovon ich denn frei bin, genau so habe ich mich auch bei meinen leidenschaftlichen Emotionen zu fragen: Welches Engagement liebe ich aus Gründen meiner subjektiven Neigung (es gibt z.B. religiös begabte und religiöse „unmusikalische“ Menschen) und von welchen Sachgründen lasse ich mich leiten?
Auf analytisch abgezirkelte Antworten werden wir dabei nicht stoßen, denn bei solchen Fragen tauchen wir in eine Tiefe unserer Existenz ein, die unserer Beobachtung immer schon voraus ist; wir bekommen uns nicht in den Griff. Wir kennen dieses Problem von den (theologischen) Auseinandersetzungen um Freiheit und Gnade, die uns ja auch immer paradoxe Antworten geben. So haben wir bei Paulus und bei M. Luther gelernt, Gottes Gnade mache uns vorbehaltlos frei, obwohl wir in allem von dieser Gnade abhängig sind. Damit vergleichbar ist es gerade die Leidenschaft, die uns zu unserem Engagement und zu unserer Identität zu führen vermag, obwohl uns dieselbe Leidenschaft von uns entfremdet, uns zu Getriebenen und zu Gejagten macht. Im Mittelalter und bis weit in die Neuzeit hinein sprachen die Asketen und die Mystiker nicht von den Leidenschaften, sondern von den guten und den bösen Geistern, die uns unterjochen oder befreien, und Luther behauptet in mythischem Sprachgewand noch gegen Erasmus, wir seien entweder von Gott oder vom Teufel geritten (de servo arbitrio). Das war keine glückliche Formulierung, weshalb uns die säkularisierte Sprachwelt zu anderen Kategorien geführt hat. Ich rede hier von „Passion“ (Leidenschaft) und deute damit an, wie nahe die Leidenschaft – wegen ihres vorbehaltlosen „Ja“ oder „Nein“ – zum Brandherd des Göttlichen oder des Satanischen führen kann.
2. Das Heilige als Motiv religiöser Leidenschaft
Seit Rudolf Otto gilt in der Religionswissenschaft als unbestritten, dass sich alle Religionen auf das Heilige hin orientieren. Es ist das Objekt ihrer Motivationen und ihres Bemühens, des Respekts und der Verehrung, in den monotheistischen Religionen gar der ungeteilten Anbetung. Viele Religionen sprechen das Heilige als Gott wie eine Person an, andere sprechen vom Geheimnis oder vom Unnennbaren, vom Ein-Allen (Nirwana) oder vom Ungewordenen. Heilige nennen sie neben diesem Göttlichen alles, was mit ihm in einer besonderen Beziehung steht, wenn es das Göttliche etwa repräsentiert, von ihm auserwählt oder in Beschlag genommen ist. Dieses Heilige ist ein merkwürdiges und doch unverwechselbares Phänomen.
2.1 Undefinierbar – unverwechselbar – verbindlich
Das Heilige wird offensichtlich als Heiliges erfahren, ist aber nie eindeutig definierbar. R. Otto spricht von etwas, das zugleich Furcht erregt und anziehend wirkt, uns also im Schaudern und in der Verlockung (Verzauberung) nicht loslässt. Das Heilige kann sich – wie in Jesaja 6 – als das Erhabene und Mächtige, oder – wie in vielen Psalmen – als das Unscheinbare und Stille, als das Niederschmetternde oder das Geschmähte zeigen. Es zeigt sich in der machtvollen Ekstase der Theophanie oder in der nach innen gerichteten Ekstase des Mysteriums. Israel erfährt es im grausamen Blutdurst eines Elia, der 450 Baalspriester niedermetzeln lässt (1 Kön 18, 36-40), oder im säuselnden Lufthauch, den derselbe Elia später erspüren muss (1 Kön 19,13). Das Heilige manifestiert sich für die eine Religion in ekstatischer Sexualität und Sinnlichkeit[6], für die andere als strikte Enthaltsamkeit[7], in der einen als überbordende Schönheit in Sprache, Darstellung oder Musik, in der anderen als strenge Konzentration auf das individuelle Selbst. Für die eine Erfahrung erscheint das Heilige im Du des Mitmenschen oder im göttlichen DU schlechthin, für die andere im Eintauchen in einen Rausch, der uns entgrenzt und ent-individualisiert. Das Heilige kann sich zeigen in heroischer Tugend oder in einem Narrentum, das alle Selbstverständlichkeiten stört oder zerstört. Das Heilige nähert sich uns unvermerkt in einem unschuldigen Kind oder mit Pauken und Trompeten im Anspruch politisch überwältigender Macht. Was also ist das Heilige selbst? Gibt es dieses Heilige überhaupt? Kann das Heilige überall auftauchen, weil alle Wirklichkeit die Spuren des Göttlichen enthält, oder ist es nur eine nichtdefinierbare, beliebig flottierende Eigenschaft, die je nach Kultur verschiedene Gestalten annimmt?
Dennoch muss das Heilige unverwechselbar sein; das ergibt sich aus der Kulturphänomenologie. Es beinhaltet nicht nur etwas Unbedingtes und Bindendes, also eine Wesensmitte, der ich mich nicht entziehen kann und das ich – schon um meiner selbst willen – nicht verlieren möchte. Diese Unverwechselbarkeit des Heiligen – das in den polynesischen Religionen „tabu“, also ganz bei sich und die Mitte des Weltverstehens ist – zeigt sich darin, dass wir die in Jahrtausenden gewachsenen Religionen immer auch als Religionen erkennen, so verschieden sie auch sind. Man gehe nach China oder nach Italien, zu den Indios oder auf die Osterinseln, in die Kulturen des Buddhismus oder nach Israel, zu den animistischen Religionen des Amazonasgebiets oder in die äußerst nüchternen Tempel des Kung-fu-tse in China: bei all ihrer Verschiedenheit wird man das Gemeinsame der Religionen erkennen. Da ist die Unterscheidung in sakrale und profane Räume und Zeiten; das Heilige zeichnet sich als das Andere, das Abgeschiedene und Unterscheidende aus. Da sind die Schönheit eines Shinto-Tempels mit seinem Stein-Garten, die kosmische Ordnung eines Mandalas, die Gliederung einer südindischen Tempelstadt in der Vierzahl von Türen, Toren und Mauern, die zahllosen wohlgeordneten Rituale der Weltinterpretation.
Überall finden wir einen zwecklosen, aber in sich schönen, sinnbeladenen Selbstausdruck in Kleidung, Gebet und in oft phantastischen Projektionen. Da ist schließlich der Anspruch religiöser Systeme, die Wahrheit, den Sinn und den Wert von Mensch und Wirklichkeit darzustellen, Leben zu gestalten, Kontingenzerfahrungen zu reduzieren und Antworten auf die großen Lebensfragen (nach Beginn und Ende, nach Beschenktsein und Scheitern, nach Glück und Unglück) zu geben. Diese unterschiedlichen Eigenschaften sind in den Religionen höchst verschieden ausgeprägt und einander zugeordnet, aber im Grunde sind alle in allen Religionen, auch im Christentum, irgendwie präsent. Dazu gehört auch die Ausstrahlung dieses unberührbaren Heiligen in den profanen Alltag. Die Unterscheidung zwischen sakraler und profaner Wirklichkeit wirkt höchst dynamisch. Bisweilen lässt sie keine Verbindungen mehr zu, bisweilen bildet sie fließende Übergänge. Denken Sie an die Feier des Sonnenuntergangs in Benares, die unvermerkt in die alltägliche und doch wieder geheilige Nacht eingeht, oder an die Feier des Sonnenaufgangs in den ägyptischen Tempeln, die die neue Ankunft des tödlich bedrohten Sonnengottes immer erwartet und unbemerkt in den sonnenbeschienenen Alltag überwechselt.
All diesem Heiligen wohnt zugleich eine selbstverständliche Verbindlichkeit inne, die in den Religionen drei Wirkungen aus sich entlässt: Da ist erstens eine Verpflichtung, die zum Gehorsam, zum Ja von unbedingten Geboten führt. Und ich füge gleich hinzu, dass sich all diese Gebote letztlich auf eine universale Vierzahl zurückführen lassen, über die im Projekt Weltethos nachgedacht wird. Gemeint sind die Gebote der Ehrfurcht vor dem Leben, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Treue. Das Heilige zeigt sich in einem Kosmos von Normen.
Da gibt es zweitens ein inneres universales Engagement, eine Verbundenheit also, die zu einer gegenseitigen Verantwortung führt und in die alle Rechte eingebettet sind. In der Erfahrung des Heiligen identifizieren wir uns mit den Normen; sie werden als ein Kosmos von Werten übernommen.
In Geboten und Verantwortung zeigen sich drittens eine gegenseitige Empathie und ein Vertrauen, die zur Relativierung aller Unterschiede und zur Erfahrung des gegenseitigen Austauschs führen. Sie führen dazu, dass wir uns als Glieder einer Familie, als Kinder des einen Göttlichen, als Sucher der einen, von Gott verfügten Gerechtigkeit fühlen. Ausgerechnet diese tiefste und mystische Stufe der Heiligkeitserfahrung, die gerne auch als eine ozeanische Einheitserfahrung umschrieben wird, hat auch eine höchst rationale, der Wirklichkeit zugewandte Seite. Sie findet ihren Ausdruck in der – in allen Weltreligionen bekannten – Goldenen Regel, die zu einem Bund unverbrüchlicher Gegenseitigkeit und zur Erfahrung des Göttlichen in den Mitmenschen führt.
2.2 Transzendenz
Hinzu kommt schließlich eine Eigenschaft, die besonders in den Hoch- oder Weltreligionen thematisiert wird. Es ist die Erfahrung der Grenzerweiterung, des Überschreitens, der Transzendenz. Allerdings sollten wir nicht zu früh auf den speziell theologischen Transzendenzbegriff zurückgreifen. Er besagt ja, dass Gott als der absolut Transzendente jenseits aller weltlichen Verfügbarkeit existiert; er ist uns in allem überlegen und kann von der geschaffenen Wirklichkeit nie eingeholt werden. Doch meint diese Transzendenz schon das Ende einer langen Gedankenkette. Religionen konfrontieren uns ja nicht einfach mit dem absolut Transzendenten, das über allem thront, sondern leben aus der Erfahrung ständiger, kleiner und großer Grenzüberschreitungen. Zunächst leben und erleben wir das Heilige im eigenen Überschreiten, in dem sich unser faktisches Selbst und unsere faktische Wirklichkeit ständig erweitert. Was passiert bei einem meditierenden Innehalten, was beim Gebet oder beim Gottesdienst? Zerstreute erfahren Sammlung, Erniedrigte erfahren Erhöhung. Trotz der Hässlichkeit unserer Niederlagen begegnet uns Schönheit. Es gelingt uns sogar, uns über uns selbst zu erheben: Gescheiterten wird gesagt, dass ihr Handeln in keinem Fall sinnlos und einfach verloren ist, dass Schuld sogar vergeben wird. Die Isolierten und Individualisierten finden Zugang zum Du und zum Wir. Der Gedanke der Schöpfung, der Menschheitsfamilie und eines von Gott geordneten Kosmos werden zu unendlich kostbaren Chiffren, denn sie ermöglichen uns das Überschreiten von Grenzen, die für unsere Alltagsrationalität als unüberschreitbar gelten.
Es ist wichtig, auf diese durch und durch menschlichen Grenzüberschreitungen zu achten, denn nur in ihrem Rahmen gewinnen wir Zugang zu einer letzten und radikalen Grenzüberschreitung, die wir als Begegnung mit Gott oder Gegenwart Gottes umschreiben können. Gottes reine und unvermittelte Gegenwart, eine Nähe von Angesicht zu Angesicht gibt es wohl nicht; denn Gott kommt uns nur im Geheimnis nahe. Christen lassen sich zudem darauf ein, dass ihnen Gott dann in außerordentlicher Weise nahe ist, wenn sie ihren Nächsten begegnen und dass sie das Entscheidende über Gott erfahren, wenn sie sich auf Jesus von Nazareth als Gottes Sohn einlassen.
Doch ist noch eine Frage zu besprechen. Zu Beginn habe ich etwas vorschnell behauptet, das Heilige sei „säkularisierungsresistent“, denn der Begriff sei in der säkularen Sprachwelt nicht ausrangiert. Danach habe ich das Heilige aber ganz und ohne Vorbehalt in den Rahmen der Religionen, also in eine Welt eingeordnet, die von vielen als mythologische Projektion oder als Produkt einer vormodernen Wirklichkeit betrachtet wird. Wie soll es zugleich gelingen, dieses „Heilige“, also eine Kernerfahrung aller Religionen, aus dem Relativierungssog der Säkularisierung herauszuhalten? Ist das Heilige wirklich eine so menschliche Angelegenheit, dass es von der Säkularisierung nicht verschlungen wird?
2.3 Eine bleibende Suche
Auch diese Frage ist nicht neu, sondern immer wieder besprochen worden. Ich nenne Augustinus, der – im durchaus psychologischen Sinn – von der ständigen Unruhe des Menschen spricht, bis es in Gott, dem Ziel seines Lebens ruht.[8] Ich nenne W. Pannenberg, der sein ganzes Menschenbild im Gefolge von M. Scheler von säkularen Thesen ausgehen lässt, dass der Mensch nämlich weltoffen (J. von Uexküll), ein Mängelwesen (A. Gehlen), und exzentrisch (H. Plessner) sei.[9] Er kann ein Verhältnis zu sich selbst entwickeln, er ist Leib (der ihm ein Stück seiner Identität gibt) und hat zugleich einen Körper (über den er verfügen und von dem er sich geradezu distanzieren kann). Deshalb will er seine Grenzen immer und grenzenlos überschreiten. Es ließen sich zahllose Psychologen und Therapeuten verschiedenster Couleur nennen, die dieses Thema der ständig neuen Sinnsuche und der ständigen Selbstüberschreitung endlos variieren. Vor genau 50 Jahren hielt K. Jaspers seine große Abschiedsvorlesung mit dem Titel „Chiffern der Transzendenz“[10], in denen er nachdrücklich die Denkerlebnisse der Selbstüberschreitung (auf Gott und das All hin) analysierte. Und für mich ist noch immer die These des sich atheistisch nennenden Anthropologen Erich Fromm wichtig. Um überleben zu können, schreibt er, brauche der Mensch „einen Orientierungsrahmen und ein Objekt der Verehrung“.[11]
Ich gehe jetzt nicht der klassischen Frage des 19. Jahrhunderts nach, ob mit dieser Ausrichtung auf ein Unendliches, auf eine Sinnorientierung oder auf ein außerhalb mir liegendes Ziel wirklich „Gott“ gemeint sei. Könnte es sich nicht im Sinne von L. Feuerbach einfach um eine Projektion handeln, die ein entsprechend programmierter Mensch sich einbildet oder einfach ersehnt? Aus solchen Analysen ließe sich ohnehin kein Gottesbeweis führen. Aber die oben beschriebene Transzendenzstruktur stützt stark die Vermutung: Religionen werden nie einfach verschwinden. Die Erfahrung des Heiligen – gleich ob ich es allgemein anthropologisch oder spezifisch religiös fasse – geht in jedem Fall den Religionen voraus. Gewiss, im Augenblick mögen wir uns in einem kulturellen Umbruch ungeahnten Ausmaßes befinden. Daraus lässt sich aber folgern: Die „Säkularisierung“ der westlichen Zivilisationen bedeutet kein Verdampfen, sondern eine tiefgreifende Metamorphose von Religion und Religiosität. Für die Vertreter der aktuellen Religionen in Theologie und Seelsorge ist es also wichtig, dass sie die tiefe Verankerung aller Religiosität in Kultur und menschlicher Existenz erkennen. Alle Sinnfragen, die heute außerhalb der Religionen gestellt werden, haben eine religiöse Grundierung. Alle hilflosen, oft auch aggressiven Suchsignale und alle dramatischen Orientierungskrisen bestätigen die Bedeutung von Religionen. Auch wenn viele Fragen nach Normen und Werten oft oberflächlich, klischeehaft daherkommen und politisch missbraucht werden, sollten wir sie nicht als platte Religionsleugnung oder anmaßenden Religionsersatz, sondern als den Beginn einer konstruktiven Religionskritik begreifen.
Wir werden uns damit abfinden müssen: Die Erfahrung des Heiligen und die Suche nach ihm finden in dem Maße außerhalb der klassischen Religionen statt, als die Religionen selbst den Zugang zum Heiligen brach liegen lassen, denn elementare menschliche und gesellschaftliche Erfahrungen, nicht die etablierten Religionen konstituieren die Gegenwart der Heiligen. Religionen bilden vielmehr kulturell verfasste Gestalten dieser Erfahrung. Sie bieten tragfähige Formen der Lebenspraxis, des liturgisch-symbolischen Selbstausdrucks und der Weltinterpretation, die unsere Erfahrungen der Überschreitung zum Göttlichen hin anschaulich und wiederholbar machen. In jedem gelungenen Gottesdienst können wir uns dieser Transzendenz vergewissern. So konnte auch die Gestalt Jesu von Nazaret zum Kerninhalt einer Religion werden, weil zahllose Menschen in ihm die Gegenwart Gottes selbst erfahren. Doch vergessen wir, wie schon gesagt, dabei nicht: Die elementare Erfahrung des Heiligen, diese wahre Energiequelle allen Gottesglaubens, ist den Religionen selbst voraus, auch wenn es immer wieder Religionen nach sich zieht. Obwohl wir das Heilige also in unseren Gottesdiensten – im Gebet, in der Feier, im gemeinsamen Mahl – erfahren, und obwohl gerade Gottesdienste die Bedingungen für dieses Ereignis bereitstellen, so erfahren wir dieses Heilige – implizit oft und unbemerkt – immer schon zuvor im Alltag mit seinen Herausforderungen und Freuden.
Kommen wir wieder zum Hauptthema des Vortrags zurück. Wir haben das Heilige mit dem Überschreiten unserer Alltagswelt in Verbindung gebracht. Dabei geschieht immer etwas Neues. Es ist überraschend und staunenswert, weil es unsere Existenz anrührt, bisweilen sogar verändert. Solche Erfahrungen der Transzendenz wecken in uns immer Emotionen. Umgekehrt gesagt, wir werden uns dieser Erfahrungen immer nur dann bewusst, wenn wir ihre Emotionen und die Leidenschaften zulassen, die daraus erwachsen: Staunen und Erschrecken, Trauer und Jubel, Abwehr und Empathie, Selbstbejahung und Hingabe. Die Erfahrung das Heiligen schafft Leidenschaft und wer meint, er müsse sich diese Leidenschaft verbieten, verdrängt die Erfahrung des Heiligen. Das Heilige, das wir erfahren, erhoffen und vor dem wir uns manchmal fürchten, kann und muss das entscheidende Motiv religiöser Leidenschaft sein. Deshalb werden die Leidenschaften in dem Maße zu einem religiösen Phänomen, als sie sich an der Erfahrung des Heiligen entzünden.
Wir sind mit unseren Überlegungen also ein Stück weitergekommen, haben aber auf den Zusammenhang von Leidenschaft und religiöser Gewalt noch keine befriedigende Antwort gegeben. Die Leidenschaft wurde als Emotion beschrieben, die das Gemüt, die menschliche Haltung, den gesamten Komplex seiner Strebungen und Gefühle völlig umgreift und ergreift. In diese gefährliche Radikalität scheint uns auch die Erfahrung des Heiligen zu führen. Sie ist nämlich in einer Tiefenschicht des Menschen verwurzelt, die der distanzierenden Reflexion und einem reflektierten Pflichtbewusstsein ebenfalls vorausgeht. Auch das Heilige ergreift mich, und zwar mit Leidenschaft. Daraus scheint mir nur zu folgen, was wir von Anfang an voraussetzten: Eine lebendige, eine kulturell wirkmächtige, eine vital vollzogene Religion nimmt die menschliche Leidenschaft in Beschlag, weil sie an den entscheidenden und nachhaltigsten Erwartungen des Menschen ansetzt. So kommt also die Frage noch nachdrücklicher zurück: Sind Religionen nicht ein brandgefährliches Unternehmen, da sie die menschlichen Leidenschaften mit all deren Abgründen aufwühlen, wenn nicht gar zum Sieden bringen? Wie steht es also mit den Religionen als den Orten heiliger und zugleich heilender Leidenschaft?
3. Religionen als Orte heiliger Leidenschaft
3.1 Gefahr der Verdrängung
Leidenschaftslosigkeit ist zwar ein Ideal moderner Wissenschaften und der aufgeklärten Welt, dennoch haben sich im 20. Jahrhundert die fürchterlichen Abgründe leidenschaftlicher Gewalt gezeigt. Offensichtlich trieben sie unter der Oberfläche ihr Unwesen, bis sie sich in zwei Weltkriegen, im Faschismus und in anderen Nationalismen, im Totalitarismus verschiedenster Staaten ihren Weg bahnten. Leidenschaft lässt sich offensichtlich nicht verdrängen, wie die Aufklärung einst meinte. Eine leidenschaftsfreie Religion käme deren Selbstfesselung gleich. Diese Feststellung bedeutet eine Kampfansage gegen ein professoral intellektuelles Christentum ebenso wie gegen ein naives Religionsvertrauen, das auf dessen Selbststeuerung baut. Wenn nämlich die Leidenschaft (religiös oder nicht) konstitutiv zu einer vitalen Religion gehört, wie ich es beschrieben habe, dann können Religionen keine fertigen Systeme mit absoluten Heilsrezepten sein. Nein, es sind offensichtlich Systeme, die für sich selbst in jeder Epoche neue Wege suchen müssen, weil sie bei jeder neuen Herausforderung ihre Leidenschaften zu klären und vor der Versuchung zur Gewalt zu schützen haben. Religionen sind so gut und so schlecht wie die Menschen, die sie prägen und mit Leben füllen, die sich dem Heiligen stellen oder es missbrauchen, ihre Transzendenzerfahrungen als eigene Leistungen präsentieren oder als unverdientes Geschenk annehmen. Deshalb sind vitale Religionen höchst gefährliche Kultursysteme, weil sie mit dem Feuer menschlicher Leidenschaften spielen und das Heil der Welt mit Leidenschaft vorantreiben wollen. Deshalb bleibt ein schwerwiegendes Dilemma. Trotz dieser Gefahren kann es nicht Aufgabe der Religionen sein, Leidenschaften einfach zu zähmen oder zu leugnen, etwa die Sexualität zu ignorieren oder alle Freude zu diskriminieren. Nein, offensichtlich kommt es darauf an, mit Leidenschaften umzugehen, sich ihnen zu stellen.[12]
Die Lösung des Problems kann auch nicht darin liegen, dass wir uns einfach vom irdischen Leben abwenden und uns unserer weltflüchtigen Sehnsucht nach dem Heiligen überlassen, denn das Heilige ist allgegenwärtig, also nicht weltfrei zu haben, und ein Stück Welt dringt selbst in das strengste Trappistenkloster ein. Zudem hat das Heilige prinzipiell keinen Ort, auf den es sich fixieren lässt. Wer das Heilige an und für sich sucht, wird scheitern und in einem Fundamentalismus des Wortes, der Moral und der Autoritäten enden.
Was also ist zu tun, wenn radikale Lösungen nicht weiterführen? Enden wir in der großen Resignation, sobald uns klar wird, dass auch die Religionen keine endgültigen oder nur doppelbödige Lösungen anbieten? Ich erinnere an die Schriften Israels, mit denen sich Eroberungszüge ebenso legitimieren lassen, wie das Eingeständnis der Schwäche und die Bitte um Vergebung. Ich erinnere an die Geheime Offenbarung mit ihren abgründigen Schreckensszenarios, in denen sich Angst-, Rache- und Rettungssituationen unentwirrbar durchkreuzen. Trotz der Bergpredigt und trotz der unendlich kostbaren Botschaft vom versöhnenden Tode Jesu haben auch Christen kein einfach funktionierendes Lösungsangebot. Gewaltausbrüche können und konnten wir in keiner Epoche zielsicher verhindern. Ich erinnere schließlich an die abendländische Geschichte des Christentums, das sich erst nach Jahrhunderten zu einem gewaltfreien Gottesverständnis durchringen konnte. So gerät die Erfahrung des Heiligen auch in der Gegenwart nicht einfach zur Versöhnung, sondern allenfalls zu einem komplexen Weg der Selbstreinigung.
Ein wichtiger Grund für unsere Hilflosigkeit liegt, wie mir scheint, deshalb nicht in unserer Verdrängung aller Leidenschaft. Nein, wir gehen unreflektiert mit ihr um. Wir meinen, wir könnten Gewaltfreiheit durch Distanz zu aller Leidenschaft erreichen. Wenn ich recht sehe, hat uns I. Kant diese Leidenschaftsferne nachdrücklich eingeprägt. Er entwickelte, wie wir wissen, eine strenge Pflichtmoral, die um ihrer Reinheit willen von allen Emotionen ferngehalten wird. „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich es leider mit Neigung“, bemerkte Goethe zu diesem Problem.[13] Aus guten Gründen ist Kants Einfluss bis heute noch enorm, nur hat er unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf den kategorischen Pflichtcharakter, nicht auf unsere emotionale Verwobenheit mit Visionen und Werten gelenkt. Dabei entschwindet die Akzeptanz moralischer Regeln heute nicht aus mangelnder Einsicht, sondern aus emotionaler Überforderung. Die Theologie hat sich schon lange gegen diese Engführung gewehrt; was aber hat sie diesem moralischen Regelwerk hinzuzufügen? Die gängige Rede von „Normen und Werten“ ist hohl geworden. Sie wird innerhalb wie außerhalb der Kirchen mit Nachdruck gefordert. Was aber haben das Christentum und die anderen Religionen in dieser Situation zu bieten?
3.2 „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“
Zur Beantwortung dieser Frage hat mir in den vergangenen Jahren der Soziologe und Religionsphilosoph Hans Joas mit einem Buch geholfen, das inzwischen in den Rang unverzichtbarer Standardliteratur aufgerückt ist.[14] Es geht der Frage nach, wie Werte entstehen, antwortet aber zugleich auch auf andere Fragen. Joas leugnet in keiner Weise, dass es klarer, notfalls strafbewehrter Normen bedarf und dass sie rational zu begründen sind. Der Dekalog kann mit seinen zehn Verboten als ein Musterbeispiel eines solchen Normensystems gelten, das aus negativen Erfahrungen und aus deren Reflexion entsteht. Grenzwälle, die auf keinen Fall zu überschreiten sind, werden aufgeworfen und den möglichen Tätern entgegengesetzt. Ähnlich wie bei Kants Pflichtethik zeigt sich auch bei diesen negativen Grenzziehungen schon das Problem der Äußerlichkeit, der erzwungenen Blockade. Gäbe es im moralischen Verhalten der Menschen nicht auch eine innere Anknüpfung und Akzeptanz, müssten solche Systeme in dem Augenblick zusammenbrechen, in dem sie zu Diskussion gestellt werden.
So stellt sich Joas bei der Entwicklung seines eigenen Konzepts die Frage, wie es zu Werten überhaupt kommen und wie deren Verpflichtungscharakter entstehen kann. Dabei geht er einen doppelten Weg. Auf der einen Seite knüpft er bei den vielfältigen Entdeckungen von Religionswissenschaftlern an, die das enge, intellektuell orientierte, abstrakte theologische Verständnis von Religion und christlichem Glauben aufgebrochen haben. Diese Theologie war, vereinfachend gesagt, an der wahren Moral und der reinen Lehre sowie an deren rationaler Verteidigung gegenüber ihren Kritikern interessiert. Ein solches Religions- und Glaubensmodell ist nicht nur uninteressant für eine säkularisierte Gesellschaft, sondern es hat sich immer mehr von der neuzeitlichen Wahrnehmung von Religion und christlicher Glaubenspraxis entfernt.
In der Tat haben die Religionswissenschaften ihre Aufmerksamkeit auf ganz andere Aspekte gelenkt: Der einflussreiche Spezialist Clifford Geertz (1926-2006) etwa versteht Religion als ein kulturelles Symbolsystem, das im Menschen nachhaltige Stimmungen, Motivationen und Werteerfahrungen zu erzeugen vermag.[15] Auch Joas akzentuiert mit Nachdruck die emotionale Vitalität und den ekstatischen Charakter von Religionen, für ihn gehört die intensive Prägung von Individuum und Individualität religiöser Menschen ebenso zum Analysepaket wie die religiöse Präsentation ganzer Gemeinschaften und die Bildung von Gemeinschaft überhaupt. E. Durckheim kennzeichnet Religion als das entscheidende Bindemittel für Gesellschaft und gesellschaftliche Identität[16] und schließlich arbeitet Joas die für ihn wichtigste Eigenschaft von Religion heraus: Sie mobilisiert, wie schon besprochen, in Individuen und in Gemeinschaften gleichermaßen eine innere Grenzüberschreitung, in der Menschen und Gemeinschaften über sich hinauswachsen. Genau damit ist das Kerngeschehen von Religion und Religiosität umschrieben.
Aus psychologischer Perspektive vollzieht sich damit ein hochemotionaler, wenn man so will, ein leidenschaftlicher Prozess. Aber er beinhaltet auch ein vielschichtiges Geschehen. Er führt über uns hinaus und zugleich zu uns selbst hin, denn nur wer über sich hinauswächst, kann lernen, mit sich selbst umzugehen, nur Grenzüberschreiter bekommen sich selbst in den Blick. Auf dem Gebiet zwischenpersönlicher Beziehung hat uns die Entwicklungspsychologie diesen Zusammenhang schon lange vorgeführt: Zur Erfahrung des Ich kommt nur, wer zum Du findet und von diesem als Du angesprochen wird. Wir müssen dieser zwischenpersönlichen Transzendenzerfahrung nur noch konsequent den kosmischen und den streng religiösen Bezug hinzufügen. Joas tut dies; er nennt „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ öfters in einem Atemzug.[17]
3.3 Keine Kreativität ohne Leidenschaft
Allerdings ergibt sich daraus noch eine dritte Dimension: Diese „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ bliebe ja ein egozentrischer und fruchtloser Prozess, wenn er unser Selbst nur auf sich konzentrieren, nicht wirklich zum Anderen und zu Anderem hinführen, uns also wirklich öffnen würde. Eine Entgrenzung, die ihren Namen verdient, bricht nicht nur Zäune nieder, sondern schafft neue Orte und Beziehungen, an die ich mich hingezogen fühle, weil sie bereichern. Hier liegt das Geheimnis neuer Bindungen, die für unsere Identität wichtig sind und die wir gemeinhin „Werte“ nennen. Umgekehrt formuliert: Nur wer sich auf Werte einlässt und sich an sie bindet, überschreitet wirklich Grenzen.
Kommen wir von den Werten noch einmal auf das Problem der Leidenschaft zurück. Die traditionellen moralischen und ethischen Systeme pflegen zur Leidenschaft ein eher distanziertes Verhältnis. Im ihrem Mittelpunkt stehen rationale Reflexionen und die Frage nach den Pflichten, die uns von Gott oder unserem Gewissen auferlegt sind. Wer auf ihrem unbedingten Gewicht besteht, muss zugleich vor der störenden Intervention unberechenbarer, wenn nicht gar anarchischer Emotionen warnen. Im Mittelalter und selbst in der Zeit des Barock war das noch nicht der Fall. Man hat die innerlich aufwühlenden Geister damals nicht vertrieben. Vielmehr versuchte man, die guten und die bösen Geister zu unterscheiden.[18] Auch das hat nach Joas seine guten Gründe. Er zeigt nämlich die Grenze moderner ethischer Systeme (insbesondere der Diskursethik von J. Habermas) auf. Diese Systeme wissen trefflich, das faktische Handeln ethisch zu bewerten. Wie aber kann ich überhaupt konkrete Handlungsmodelle finden? Unser Handeln ist ja immer konkret und je nach Situation muss es immer anders sein, kann also nie einfach unseren Reflexionen entstammen. Woher also kommt die Kreativität unseres konkreten Handelns?
Machen wir die Antwort kurz: Die Kreativität unseres Handelns, deren vor-reflexive Impulse, kommen aus unseren Emotionen und Leidenschaften. Wir bedürfen der Leidenschaften, um für unsere Kreativität, für die konkrete Weltgestaltung die Schleusen zu öffnen. Und wir bedürfen außerordentlicher Leidenschaften, wenn wir die enorm breiten, die kosmisch dimensionierten Handlungsräume der Weltreligionen in Gang halten, neu in Gang setzen wollen. Die Säkularisierung unserer Kultur hat vielfache Gründe. Einer liegt darin, dass die Religionen ihre Kreativität im Umgang mit der Wirklichkeit verloren haben. Wenn Religionen eine Zukunft haben, dann diese: Sie tragen in sich die Kraft, uns für die kreative Weltgestaltung fit zu machen. Das Projekt Weltethos ist dabei, die vielfältigen Anstöße dafür freizulegen.
Also doch wieder eine Ehrenrettung der Leidenschaft, dieses so gefährlichen und berechenbaren Phänomens in der Geschichte der Menschen? Soeben war von der Unterscheidung der Geister die Rede. In säkularer Übersetzung heißt dies: Wir müssen lernen, auch die Leidenschaften zu unterscheiden, denn eine jede Leidenschaft wird von ihren Zielen her bestimmt. So gesehen, kommt einer jeden Religion eine doppelte Aufgabe zu. Sie hat erstens dafür zu sorgen, dass die leidenschaftlichen Emotionen der Ekstase geweckt werden. Es sind die Emotionen der Selbstüberschreitung, der Öffnung zum Andern und der Bindung an Werte; ohne sie verkommen Religionen zu leblosen Hülsen unserer Kultur. Eine Religion hat aber zweitens genau und immer neu zu klären, was genau die Motive und die Ziele einer Leidenschaft sind. Zur Kultur der Leidenschaften gehört deren Unterscheidung. Aus diesem Grund ist die Frage nach dem Heiligen so wichtig. Denn nur das Heilige selbst, das wir als das Unbedingte erfahren können, kann unseren Leidenschaften eine gute Richtung geben. Zugegeben, es bleiben die Gefahren der Selbsttäuschung, des Fanatismus und einer Leidenschaft, die nur auf das eigene ungelebte Leben reproduziert. Umso stärker aber ist die Hoffnung darauf, dass das Heilige, dieses göttliche fascinosum selbst, diese destruktiven Leidenschaften immer wieder aus ihren eigenen Fesseln befreit.
IV. Das Heilige in Konfessionen und Religionen
Ein guter Vortrag erweckt zum Schluss den Eindruck, alle Fragen seinen gelöst. Heute ist das nicht der Fall, denn die Intention, eine gemeinsame Eigenschaften aller Religionen herauszuarbeiten, hat mich dazu verführt, eines der Hauptprobleme auszuklammern: Trotz aller gemeinsamen Grundzüge des Heiligen gehen die verschiedenen Religionen und Konfessionen mit ihm recht unterschiedlich um.[19] Verliebt in ihre spezifischen Heiligtümer sind sie alle; alle sind der Gefahr der Selbstbestätigung und der Selbstidealisierung ausgesetzt, aber sie gehen verschieden damit um.
Trotz gegenteiliger Behauptung scheint es, dass die monotheistischen Religionen für Gott und für sich selbst ein starkes Heiligkeitsbewusstsein entwickelt haben. Der christliche Bekenntnissatz „Ich glaube an die heilige Kirche“ ist höchst gefährlich, auch wenn man ihn bescheiden auslegen kann. Die katholische Kirche trägt dieses Selbstbewusstsein am deutlichsten zur Schau, in den orthodoxen Kirchen wird es in traumhaften Bildern (Ikonen, Gewänder, Gesänge) symbolisiert, die evangelischen Kirchen gehen mit dem Heiligen viel behutsamer um – ähnlich behutsam wie der Buddhismus, der sich als kritische Reaktion auf die hinduistische, oft zügellose Prachtentfaltung versteht. Wie sympathisch wirkt da die Präsentation des Heiligen etwa in animistischen und in Stammesreligionen. Bei den Hopi etwa ist der heiligste Ort in ihren unterirdischen Tempeln dessen tiefster Punkt, der der „Mutter Erde“ am nächsten ist.
Aber genau besehen sind die Verhältnisse komplizierter. Beschränken wir uns auf die christlichen Kirchen, die schon immer in Gefahr waren, mit dem Heiligen wie mit einem verbürgten Besitz zu wuchern. Ich beginne selbstkritisch mit der katholischen Kirche und ihrer aktuellen römischen Selbstdarstellung. Die katholische Kirche versteht sich primär als sakramentale Gemeinschaft. Sie bindet die Qualität der Kirchlichkeit an die Präsenz vor allem der Eucharistie und des priesterlichen Weiheamts. So wird das Heilige objektiviert, geradezu verdinglicht, verfügbar gemacht oder gar in heroischen Gestalten der Kirchengeschichte moralisiert.[20] Damit treibt die katholische Kirche eine Entwicklung voran, der sich im 13. Jahrhundert mit Reliquienkult, mit Hostienverehrung und Fronleichnamsprozession etablierte.
Zu Recht haben die Kirchen der Reformation auf diese Veräußerlichung reagiert. Zu fragen ist, ob sie mit einer vorschnellen Verinnerlichung heiliger Werte reagiert haben. Jetzt wird „das Wort“ zur vergleichbar mythischen Metapher; dem Papst von Rom wird ein papierener Papst entgegengesetzt. Beide Konfessionen können wohl nur durch eine gegenseitige Annäherung ein neues Gleichgewicht finden. Ich schließe meine Fragen an die orthodoxen Kirchen an, für die die Wahrheit des heiligen Glaubens geradezu museal an alte Formeln und Gebräuche geknüpft bleibt und das Gespräch mit der gegenwärtigen Epoche in beängstigender Weise ausgeschlossen bleibt.
Zugleich zweifle ich, ob eine solche Kritik das interkonfessionelle Gespräch und die Verkündigung des Glaubens weiterbringt. Gemessen an den hohen Erwartungen des vergangenen Jahrhunderts sind die offiziellen ökumenischen Bemühungen nicht sehr weit gediehen. Sie wollten die traditionellen Differenzen beseitigen. Ist das überhaupt möglich? Gott ist ohnehin ein Gott der Zukunft und die Vergangenheit hat Er uns ohnehin vergeben. Deshalb gibt es auch überall dort ökumenische Verständigung, wo sich Gemeinden gemeinsam um die aktuellen Fragen und Nöte des Menschen kümmern. Im Blick auf alles, war in diesem Referat gesagt wurde, schlage ich deshalb vor, dass wir es mit folgender konfessions- und zugleich religionsverbindenden Entdeckung versuchen: Das Heilige (um dessen Verehrung wir uns schließlich alle kümmern) ist den Kirchen und den Religionen nicht einfach zum Schutze anvertraut, als ob es ohne unsere Mithilfe vergehen müsste. Vielmehr geht das Heilige, das wir in täglicher Selbsttranszendenz erfahren, allen Kirchen und Religionen voraus. Es überragt uns alle um ein Weites. Dieses Heilige ist das Göttliche selbst, sofern es der Welt ihren unbedingten Sinn, ihre Tendenz, ihre Zukunftserwartungen gibt. Im Neuen Testament wird es Reich Gottes genannt, in der jüdischen, bis heute andauernden Tradition Gerechtigkeit (zedaqah). In Ägypten war es die kleine, für den Ausgleich allen Geschehens stehende Göttin ma’at, in China war (und ist) es das tao, im Griechischen die themis, im nachvedischen Indien das dharma.[21] In diesen zentralen Begriffen haben die Religionen jeweils zum Ausdruck gebracht, was für sie als Maßstab gilt. Immer kam es darauf an, dass ihr Kerngeheimnis nicht mehr verfügbar war. Vielmehr geht es der Wirklichkeit voraus, bildet es die Grenzmarkierung zum Absoluten.
Einer jeden Religion, die auf sich hält, wohnt dieser universale Gestus inne, der die Herzen zu einer bindenden Werteerfahrung führt. Wir Menschen sind zwar von diesem Sinnganzen beschenkt und wir vermögen es zu repräsentieren, aber unser Wohl und Wehe selbst hängt von ihm und seiner Gnade ab. Für das Problem der religiösen Leidenschaft, die sich in Gewalt und Rechthaberei verfangen könnte, ist diese Beobachtung von höchster Bedeutung. Solange sich meine Leidenschaft noch nicht entschieden an diesem höchsten Kriterium orientieren kann, ist sie noch nicht am Ziel. Deshalb unterliegt aller religiöser Glaube der Frage, ob er sich wirklich an diesem Heiligen orientiert.
(Vortrag vom 26. 03. 2011)
[1] R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, ungek. Sonderausgabe, München 1971.
[2] R. Safranski, Heiße und kalte Religionen. Der Islam verkündet Erlösung, die Christen haben den Glauben ans Jenseits verloren, Der Spiegel 3/2010, S. 119-121.
[3] A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, München 1992.
[4] In orthodoxen Kirchen und Kapellen kann man bisweilen heute noch eine Kurzfassung der christlichen Botschaft ausgelegt finden. Sie beinhaltet nicht etwa die Evangelien und die paulinischen Briefe, sondern die Evangelien und die Geheime Offenbarung.
[5] P. Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt/M 2006.
[6] Als Beispiel diene der Tantrismus, eine Bewegung aus dem mittelalterlichen Hinduismus; vgl. ferner die Tempeldarstellungen von Khajuraho. Zur Frage der Sexualität in der jüdischen und christlichen Tradition: N. Koltun-Fromm, Hermeneutics of holiness. Ancient Jewish and Christian Notions of Sexuality and Religious Community. Oxford 2010.
[7] In großer Radikalität in hinduistischen Bewegungen anzutreffen; vgl. ferner die mönchischen Bewegungen in nahezu allen großen Religionen. In der Regel lehnen Religionen die Sexualität nicht ab, sondern versuchen, sie nach strengen Prinzipien zu regulieren.
[8] „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir”(Augustinus, Bekenntnisse I,1).
[9] W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, S. 34-39.
[10] K. Jaspers, Chiffren der Transzendenz, München 1970 (Der Streit um die Schreibweise von „Chiffren“ oder „Chiffern“ ist seit dem ersten Erscheinen des kleinen Buches bekannt).
[11] E. Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976, S. 135.
[12] H.-M. Gutmann, Gewaltunterbrechung. Warum Religion Gewalt nicht hervorbringt, sondern bindet. Ein Einspruch, Gütersloh 2009; R. Hempelmann (Hg.), Religionen und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Göttingen 2006; H.-G. Stobbe, Religion, Gewalt und Krieg. Eine Einführung, Stuttgart 2010.
[13] J. W. v. Goethe, Xenien, Gewissensskrupel.
[14] H. Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt/M. 1997.
[15] C. Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/M., NA 2007.
[16] É. Durckheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (Les formes élémentaires de la vie religieuse), erschienen 1912, deutsche NA Frankfurt/M. 1981.
[17] Joas, S. 25, 227; 255; 257.
[18] In der katholischen Tradition gelten die „Regeln zur Unterscheidung der Geister“ des Ordensgründers Ignatius von Loyola (1491-1556) immer als Musterbeispiel für diesen Zugang. Ignatius hat diese Regeln in sein „Exerzitienbüchlein“ aufgenommen, wodurch sie die Spiritualität vor allem der katholischen Priester bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stark prägten.
[19] B. Hamm u.a. (Hg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit, Stuttgart 2007.
[20] Johannes Paul II. hat mehr Personen als alle seine Vorgänger zusammen heilig- bzw. seliggesprochen. Er kreierte insgesamt 482 „Heilige“ und 1322 „Selige“.
[21] J. Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000, S. 202.