Masken des Bösen

In der Regel kommt das Böse nie zu sich selbst. Es setzt Zeichen, inszeniert sich, äußert sich symbolhaft. Doch wehe, wenn es die Masken fallen lässt.

I. Banalität, vor der Wort und Denken versagen
(Hinführung zum Thema)

1.1 „Banalität des Bösen“

Vor wenigen Wochen erschien die Nachschrift einer Vorlesungsreihe von H. Arendt, der vor 100 Jahren (Okt. 1906) geborenen Jüdin, die 1940 der Gestapo gerade noch entronnen ist, in die USA emigrierte und sich ein Leben lang mit dem Unausdenkbaren, dem nicht Nachvollziehbaren des deutschen Faschismus auseinandergesetzt hat. Gegen ihren Willen wurde der Untertitel ihres vielleicht bekanntesten Buches zum Schlagwort: „Von der Banalität des Bösen“ stand 1963 auf dem Buchdeckel ihres Buches über Eichmann in Jerusalem (s. Literaturliste). Sie meinte eben keine banale, sondern eine schreckenerregende Banalität, die sich im Bürokraten Eichmann zeigte, dessen obrigkeitshöriges Verwaltergewissen, wie Arendt meinte, mit sich im Reinen war. Es ist eine Banalität, „vor der das Wort versagt und das Denken scheitert“ (S 371). Wie ist das möglich? Kann es gemäß dem philosophischen Gedächtnis der westlichen Kultur überhaupt eine menschliche oder physische Realität geben, vor der das Denken scheitert? Gewiss, menschliches Denken wird sich nie des Unendlichen selbst bemächtigen können; gemäß gut philosophischer und theologischer Tradition bleibt es Geheimnis.

1.2 Dritte Wirklichkeit

Mag sein, dass das kontradiktorische Gegenteil der Seinsfülle, das Nichts nämlich, ebenfalls in die Nähe des Geheimnisses rückt, vielleicht eines dunklen Geheimnisses, das uns wegen seines Mangels, nicht wegen seines überhellen Lichts in Ratlosigkeit stürzt. Plotin gibt zu dieser Sicht Anlass, der von der Materie als der untersten, an das Nichts grenzenden Stufe des Seins geradezu ungehalten und verärgert spricht. Aber mit dem Bösen steht es ungleich schwieriger. Es steht dem Sein eben nicht in symmetrischer Weise gegenüber. Zwar wird es seit Ammonios Sakkas als [sterhsis tou agaqou] privatio boni debiti, als Mangel eines geschuldeten Seins begriffen (wir kommen später darauf zurück), aber diese Präzisierung des Geschuldeten wurde gerne vergessen, oft moralisiert oder von einer neutralen Seinshierarchie her begriffen. Aber sowohl für Philosophen als auch für Theologen wurde immer wieder neu klar, dass das Böse sich zur Wirklichkeit in einem absoluten Sinn quer, unauflösbar verhält. Trotz aller Ordnungstheorien zeigte sich, dass es sich letztlich nicht einordnen lässt. Trotz aller Freiheitsmetaphysik mussten wir lernen, dass es nicht einfach einem moralisch zuzurechnenden „bösen Willen“ eines Menschen anzulasten ist. Die Theorien von einer allgemeinen Gerechtigkeit versagten ebenso wie jede Systematik von Sinn oder Sein. K. Barth, für den Gottes siegreiche Macht in jedem Fall das letzte Wort hat, hat das sehr gut gesehen, indem er das Böse die „dritte“ Wirklichkeit neben dem Sein und dem Nichts nannte, wohl wissend, dass es für unseren Verstand neben dem Nichts und dem Sein nichts Weiteres geben kann. In der Seinsordnung ein Drittes zu postulieren, ist – jedenfalls aus der Perspektive einer objektivierenden, aber auch einer rational sortierenden und kommunizierenden Vernunft, Unsinn:
* Destruktivität um ihrer selbst willen, sei es als Willensakt, sei es als Charakterstruktur (E. Fromm),
* das radikal Böse als eine unausrottbare Neigung zum Bösen (E. Kant),
* satanische Dynamik im Sinne einer apokalyptischen Zukunftserwartung (Geh. Offenbarung),
* der Rausch des Folterns um des Folterns willen (Sofski),
* Zerstörung und Abgründe, um deren Verstehen man sich überhaupt nicht mehr bemühen muss, weil sie einen mitten ins „Herz der Finsternis“ führen, gleich, ob wir es im Afrikanischen Dschungel (J. Conrad), in den Grauen des Vietnamkriegs (F.F. Coppola: Apokapypse now), in der Faszination eines Kannibalen (J. Demme, Schweigen der Lämmer) finden,
* eine Brutalität der Menschen, mit der nichts mehr verbinden kann und das uns dennoch nicht loslässt (das Schweigen der Lämmer)
* die mathematische Herzlosigkeit eines zweckgerichteten Funktionierens, das buchstäblich über Leichen geht (die saubere Technik moderner Kriege).

1.3 Abgrund des Grauens

Dabei haben wir weder über die großen Unmenschen der neuesten Geschichte und deren Handlanger gesprochen, noch über die abscheulichen Kriege, die spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts mit technisch immer perfekteren und immer unmenschlicheren Waffen geführt werden, die mehr und mehr den Schein technischer Sauberkeit suggerieren, weil sie sich selbst steuern, über weite Strecken ihre Ziele erreichen und genau berechnet Wirkungen erreichen können.

Aber was soll’s: Die Begriffe „Auschwitz“ und „Schoa“ allein schon genügen, um zu zeigen, dass inzwischen etwas möglich wurde, das man bislang technisch und moralisch für unmöglich hielt. Von dieser Selbstdemütigung hat sich unsere Kultur bislang noch nicht erholt; es scheint, als sei sie geradezu lernunfähig geworden. Dieses Ereignis hat mehr Vertrauen und Glaubensfähigkeit zerstört, als zuvor je zerstört worden ist. Dagegen wirkt der viel besprochene Schock des Erdbebens von Lissabon (1755) wie ein Kinderspiel. Auschwitz scheint die Folge der Aufklärung zu sein, genau so, wie der aktuelle elende Zustand einer zwischen christlicher und muslimischer Kultur zerrissenen Welt, mit den unheilsvollen Phantasien von Kreuzzug und Achse des Bösen die Folge der großen Versöhnung von 1989/1990 zu sein scheint. Der Atem der Freiheit scheint zu Aggression zu führen. Dabei führt Aggression eben nicht zur Freiheit, sondern zu weiteren Aggressionsspiralen. Ein Ausweg scheint unmöglich zu sein. Mehr noch: Je mehr eine junge Generation friedliche Verhältnisse erlebt, umso mehr Aggressionspotential sucht es in fiktionalen Welten, in der gehobenen Literatur, im Film, in Computerspielen. Wie ist das alles zusammenzukriegen?

1.4 Die Faszination, vom Bösen verschont zu sein

Man könnte auch sagen: Gerade wir Deutschen haben so viel über das Böse nachgedacht, uns mit ihm auseinandergesetzt und sind dafür geradegestanden (und die Hälfte unseres Landes hat ihren Preis verdoppelt), dass wir endlich eine gelassene Perspektive einnehmen sollten. Was haben wir mit dem allem zu tun? Warum aber, so die Gegenfrage, findet man es dennoch so interessant? Der Journalist Gregor Dotzauer verweist auf einen gängigen Weg. In einem Vortrag in Berlin (10.03.2005) sagte er: Die billigste – und gängigste – Faszination des Bösen besteht darin, von ihm verschont geblieben zu sein. Die in England und Amerika weit mehr als in Deutschland grassierende true crime-Literatur – im Fernsehen als importiertes Reality-TV – verdankt ihre Massenauflagen einer Art St. Floriansprinzip: Verschone mich, tu Gewalt dem Anderen an. Es korrespondiert mit einem zwischen Neugier und Ekel schwankenden Schauder vor allen Phänomenen abseits der Norm. Das Böse ist in diesem Zusammenhang nur eine Abart des Hässlichen. (vgl. den Blick auf Krüppel). Man arrangiert sich mit dem Bösen, – Hauptsache, es lässt mich in Ruhe. Vielleicht macht es sich diese Folgerung zu einfach. Der Topos der Davongekommenen hat auch eine sehr ernste Seite – und Funktion. Es ist seit Homers Ilias die Person, die ein schreckliches Geschehen von der Krone der Stadtmauer aus betrachtet (Teichoskopie) oder es ist der Bote, der von den schrecklichen Ereignissen einer Schlecht oder eine anderen Katastrophe berichtet. Ein solcher Bote übermittelt nicht nur Fakten, möglicherweise noch zu Zwecken der Unterhaltung (schon damals konnte man Entertainment und Katharsis nicht unbedingt unterscheiden), sondern um die Katastrophe selbst zu vermitteln, durch seine Worte in Szene zu setzen und die gebotene Erschütterung zu erreichen.

Böses hat also schon vor dem Zeitalter der Medien viel mit Hässlichkeit zu tun, – oder mit Schönheit? Wir können das nicht leugnen. Was aber machen wir daraus? Allerdings habe ich weder den Auftrag noch die Kompetenz, hier eine Ästhetik des Bösen vorzutragen; auch vom vorgeschlagenen Titelbegriff der Maske lasse ich mich nicht dazu verführen. Ich will aber versuchen, die klassische Defizienz- oder Mangeltheorie des Bösen zu ergänzen, vielleicht auch zu unterlaufen. Ich halte sie für sehr klug, aber für uns ist sie von begrenztem Erklärungsvermögen, weil wir in ontologischen Denkschemata nicht mehr zu Hause sind. Aber nicht nur das: Im Grunde sah sich schon Augustinus gezwungen, die Mangeltheorie schon des Augustinus zur erweitern, nachdem es sie als Schüler von Ambrosius propagiert hatte. Denn er fügte ihr zwei eindrucksvolle(re) Perspektiven hinzu:
(1) die Perspektive der menschlichen Freiheit, in der das „Übel“ die Dimension des moralisch Bösen hinzugewinnt, gewinnt Böse eine ganz neue Qualität,
(2) die Perspektive menschlicher Geschichte, die sich als aktiver und Unheil stiftender Kampf zwischen Gut und Böse entfaltet.

1.5 Dasjenige, das schadet

Auch diese moralische und diese theologiegeschichtliche Perspektive sind in der Neuzeit (spätestens in der Moderne) zerbrochen. Dagegen kamen wir auf sehr elementare Betrachtungsweisen zurück. Zum tödlichen Problem wurden systemisch anonyme Kräfte, die uns Menschen entglitten sind oder zumindest entgleiten möchten, die sublim und oft unmerklich unseren Lebensraum oder unsere Lebensplanung, unseren Organismus oder unser Hirn infizieren. Mehr denn je versteckt sich das Böse hinter Masken, – wahren, hocheffizienten Masken, weil sie nicht einmal mehr als solche erkennbar sind, sogar ihren Pferdefuß zu verbergen wissen.

Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Übel und Böse. Angesichts der gegenwärtigen Situation ist darauf hinzuweisen, dass das Böse, von dem wir reden, das Übel unbedingt einschließen sollte, denn es geht in erster Linie um dessen Wirkung nicht um eine unmoralische Intention. Auch dafür hat der junge Augustinus schon vorgesorgt. Er umschreibt das malum (vorgängig zu dieser Unterscheidung  noch elementar als dasjenige, das schadet (id quod nocet).

Elementarer und besser kann man es nicht umschreiben. Das Böse ist eben keine Substanz oder Entität, es sei denn wir wählen einen dualistischen Ausgangspunkt. Es hat seinen Ursprung auch nicht einfach im bösen Willen der Menschen, es sei denn wir werden zu Moralisten. Es ist eine Eigenschaft im Sinne der Wirkung. Wenn wir diesem Gesichtspunkt folgen, dann hat es überhaupt keinen Sinn, einem Wesen des Bösen nachzuspüren. Insofern hat die klassische Metaphysik mit ihrer überzeitlichen und a-historischen Tendenz in Angelegenheiten des Bösen schlechte Karten.

Sprechen wir aber nicht auch im Alltag von dem Schlechten, von dem Üblen oder von dem Bösen? Darf man nicht mehr fragen, was genau denn das Übel oder die Bosheit ist? Wir reden auch von der Schönheit von Mozarts Klarinettenkonzert. Aber wir kämen nicht auf die Idee, ein Wesen namens Schönheit im Konzert zu suchen. Wir sollten Verführung und die objektivierende Kraft der Sprache und ihrer Worte durchschauen; nichts wäre heute gefährlicher als das, denn es verführt dazu, das Böse – geradezu anthropomorph – an bestimmten Orten zu lokalisieren und seine Komplexität zu übersehen. Das wäre Wasser auf die Mühlen jener, die alles Böse der Welt einer Welt von Dämonen oder schlechten Energien, vielleicht einem kosmisch agierenden Teufel, einer antigöttlichen Weltregierung in die Schuhe schieben möchten.

Auch sollten wir nicht moralisieren, als läge das Böse schlicht und einfach im menschlichen Willen selbst. Spätestens die Psychoanalyse hat uns da eines Besseren belehrt und dem Postmodernismus verschriebene Philosophen haben uns alle Illusionen von einem frei verfügenden Subjekt ausgetrieben (was dazu aus christliche Perspektive zu sagen ist, soll uns später beschäftigen).

Was bleibt also übrig? Soweit möglich, sollten wir nüchterne Analyse und Ursachenforschung betreiben. Aber wir sollten das nicht als heiter Davongekommene tun. Es wäre geradezu unmoralisch im Sinne des Floriansprinzips (Dozauer) mit großen Katastrophen umzugehen, so etwa mit den Fliegerangriffen auf Dresden (13.-15. Februar 1945) mit ihren vermutlich 35.000 Toten; die Diskussionen um den neuesten Hitlerfilm („Mein Führer“) von Dany Levy noch im Ohr, die um die Frage kreist, wo die Grenze liegt zwischen einer „Lachnummer“ (Giordano) und erlösendem Humor (denken Sie an den Film „Das Leben ist schön“ von Roberto Benigni). Berichten können wir aber als Davongekommene, die von der Situation betroffen sind, die also von der Bedrohung Dritter, ihrer selbst oder kommender Generationen wissen und bei denen kein Zweifel darüber bestehen kann, dass sie alle Zerstörung und Vernichtung von Erde, Kultur, Leben und Mensch verachten.

Aber genau diese (bewusste oder unbewusste) Betroffenheit macht uns auch verständlich, dass und warum uns nüchterne Analysen allein nicht viel weiterbringen. Die ungesteuerte performative Potenz solcher Berichte ist enorm. Sie können zur Besinnung, zur Resignation oder Verzweiflung, aber auch zu noch mehr Vernichtung führen. Sie sind deshalb instrumentalisierbar, wie man an der Perfektion von Folterpraktiken auf Grund von Folgerberichten sieht (Sofski), aber auch an all der Aggression sieht, die schon vor 600 Jahren dem Karfreitag in all den Fällen folgte, wie die Karfreitagsliturgie in Judenprogromen endete, – nicht nur dort, wo während des Gottesdienstes ein Jude in den Altarraum gezerrt und feierlich geohrfeigt wurde. Fragen wir also auch bei allem Willen zur sachlichen Analyse nicht in unreflektierter Neugier einfach danach, was das Böse ist, sondern: Was bewirkt es; wie realisiert sich in unserer Wirklichkeit; wie es wäre, wenn es uns selbst – als Täter oder als Opfer – trifft. In einer technisch und rational durchorganisierten Zeit ist das Böse vielleicht banal geworden. Solche Banalität aber hat aber einen abrundtief schrecklichen Sinn bekommen.

II. Die Maske der Endlichkeit (vom Kleid zur Verkleidung)

Dass die Welt endlich und vom Unendlichen zu unterscheiden sei, ist der westlichen Tradition tief eingeprägt. Weniger klar bleibt, was das Unendliche selbst ist. Ist es
– religiös-monotheistischer Tradition zufolge – Gott, also der Unendliche, der ganz Andere schlechthin, der uns bis ins Letzte hinein ein Geheimnis bleibt?
– philosophisch-hellenistischer Tradition zufolge – das Sein, die Fülle alles Denkbaren, in der Ewigkeit als Idee, Schweigen oder Licht?
– Feuerbachs Theorie zufolge – die Projektion menschlicher Sehnsucht nach Erkenntnis, Liebe, Zeit, Freiheit oder Macht in unendlichen Dimensionen?
– anthropologischer Phänomenologie zufolge – all dasjenige, das uns unsere menschlichen Grenzen überschreiten lässt?
– E. Bloch zufolge – jene verborgene Tendenz, die in uns allen steckt, aber in diesem Leben nie erreichbar ist?
– J. Moltmann zufolge – das Messianische, von dem eine jede Selbstüberschreitung im Menschen getragen ist?

2.1 Das Böse als Seinsmangel

Machten wir uns klar, dass solche Fragestellungen bis ins 19. Jahrhundert hinein zwar auf die strikt theologische beschränkt waren, dass aber auch sie nicht konsequent durchgehalten wurde. Neben er Güte Gottes war dem Bösen – angemaßt aber doch zugestanden – ein „Sonderplatz“ eingeräumt. Nahezu substantialistisch, in jedem Fall personalistisch stand das Böse als Kontrahent und Gegner dem Göttlichen gegenüber. Dem Menschen und der Welt bietet sich ein übermenschliches Schauspiel, in dem wir als Statisten oder als Mitspieler den uns zugewiesenen Part übernehmen. Unsere Freiheit schrumpft in dieser Perspektive zu einem Ja oder Nein gegenüber Gott-oder-Teufel zusammen. Eigentlich wählen wir nicht mehr, sondern geben wir nach. Plotin lieferte einen Gegenimpuls: in seinem rational durchkonstruierten hierarchischen Modell wird das Böse irgendwo ganz unten angesiedelt. Es selbst ontologisch wird de-potenziert, zugleich aber einem Strudel von Verstehensschwierigkeiten ausgesetzt. Es wird zum U-Menschlichen und zur Un-Person. Es lebt von Destruktion und Selbstdestruktion, von Betrug und Selbstbetrug, von Verharmlosung und Selbstverhüllung zugleich.

2.2 Endlichkeit als „metaphysisches Übel“

Einen Ausweg boten ordnungstheoretische Analysen, auch wenn die Theologie ihnen immer misstraute. Solche Erklärungen wurden immer wieder dem Vorwurf der Verharmlosung ausgesetzt, denn bei solchen Überlegungen gleitet die Ablehnung des Bösen kontinuierlich in dessen Verständnis hinüber. Um neuem Leben Platz zu machen, müssen wir eben sterben. Ohne schmerzliche Prozesse der Selbstfindung und der Ablösung wird man nicht erwachsen. Wer kein Leid erfahren hat, wird schwerlich zu einer weisen Lebenshaltung finden. Fortschritt hat seinen Preis. So verschwimmt die Grenze zwischen Gutem und dem was inakzeptabel ist.

Erwachsen solche Konstrukte aus dem Verrat an der Wirklichkeit oder liegen in der Struktur der Wirklichkeit selbst? Ich glaube, dass wir zum Verständnis des Bösen die Grundstruktur unserer Wirklichkeit ernster nehmen müssen. Wir müssen (1) akzeptieren, dass das uns umgebende Wirkliche endlich ist. Leibniz hat dafür den beklemmenden Begriff des „malum metaphysicum“ (metaphysches Übel) geschaffen. In der Regel wird er damit erklärt, dass das Endliche eben immer begrenzt und kontingent sei, also immer mit der Last des Begrenzten zu tun hat. Nun mag man aus Gründen menschlichen Grundvertrauens darauf bestehen, dass wir unsere Grenzen zu akzeptieren haben. Sind sie aber von vornherein klar? Zeigen sie sich uns wie selbstverständlich, wie dies in einem bürgerlich geordneten, im Alltag wohl abgegrenzten Welt- und Gesellschaftsverständnis vielleicht noch der Fall war? Natürlich sind und bleiben moralische Grenzüberschreitungen auch heute verboten (Tötungsverbot, Ausbeutungsverbot, Verbot der Lüge und Manipulation, sexuelle Ausbeutung und Diskriminierung’). In vielen Fällen, vor allem im Rahmen gesellschaftlichen und politischen Handelns, ist das Modell der klaren Grenzüberschreitungen heute nicht mehr wirksam. Die meisten Überschreitungen werden entdeckt, wenn es zu spät ist. Wenn komplexe Zusammenhängen in die Katastrophe führen (z.B. Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch eines Gesundheitssystems, das Auftauchen eines Karzinoms) ist die entscheidende Grenzüberschreitung oft nicht mehr auszumachen. Denn so ist unsere physikalische, gesellschaftliche und menschliche Wirklichkeit nun einmal konstruiert. Grenzen werden nicht durch einschichtige Erweiterung überschritten („schneller, höher, stärker“[„citius, altius, fortius“], sondern durch koordinierte Komplexität, die immer neue chaotisch anfällige Elemente enthält. Genau darin, dass chaotische Elemente, Elemente des Scheiterns, nur noch statistisch beherrschbare Ereignisse in Kauf zu nehmen sind, liegt das Risiko des Bösen. Das Böse hat die übersehbaren und beherrschbaren Räume des Menschen schon längst verlassen. Verkehrstote werden zum Preis eines schnellen Autoverkehrs, seelisch gestrandete Mitmenschen zum Preis einer offenen und hochdifferenzierten Gesellschaft, verarmte Länder zum Preis einer dynamischen Weltwirtschaft, Amokläufer zum Preis einer virtuellen, aggressionsbeladenen Geisterwelt.

2.3. Zerrissenheit zwischen Geist und Leib

Ich gehe einen Schritt weiter und behaupte: Das Endliche – Menschen zumal – ist nie in sich aufgehoben, nie mit sich identisch, sich selbst nie durchsichtig. Leben, Erweiterung, Selbstüberschreitung. Wirklichkeit schlechthin geschieht durch Information, durch Mitteilung und Selbstmitteilung [[s. Kommunikationstheorie]. In unserem von humanem Wissen durchsetzen Alltag formulieren wir diese Erfahrung
* als Spannung zwischen Geist und Materie,
* als das Problem eines Ichs, das immer in seinen Leib zerstreut bleibt,
* eines „freien“ Wollens, das immer von Strebungen gegängelt wird,
* eines Ichbewusstseins, das immer neu vor seinen Abgründen erschrecken muss,
* eines personalen Ichs, das zu sich nur durch Andere und durch Anderes kommt.

Mit der Ablösung eines metaphysischen Weltbildes, das nicht in kruden Materialismus zurückfallen möchte, ist die umfassende Einheit des Vielfältigen zur Leitlinie schon des modernen Denkens geworden. Das zeigt sich schon
* in der – noch sehr optimistischen – Metapher des Leibniz vom großen, prädestinierten Zusammenwirken aller Wesen (Menschen) zum einen Drama der Geschichte,
* im Gedanken von der „regulativen Idee“ Kants, oder
* im System der Dialektik Hegels,
* an seiner List der Vernunft,
* in der göttlichen Hand das Adam Smith, die alle Konkurrenz zum Positiven lenkt um nur einige zu nennen.

Die Einheit des Guten zeigt sich nur in und als Pluralität von Beziehungen, von Netzwerken und Geflechten. Nichts ist es selbst und deshalb zeigt sich auch nicht als es selbst, kann sich nicht als sich selbst zeigen.

2.4 Im Verstand und in den Sinnen

Diese Denkstruktur taucht in ungezählten anthropologischen und erkenntnistheoretischen Ansätzen auf. Ich beziehe mich hier auf ein für unsere Thematik besonders illustratives Beispiel. Das ist Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“. Er führt Kants Erkenntnistheorie weiter und zeigt, dass alle unsere Denkweisen, Denkformen sind, als keine abstrakte Logikprodukte, sondern von sinnlichen Erfahrungen durchsetzte Produkte menschlichen Verstehens. „Nichts ist im Intellekt, das nicht zuvor in den Sinnen gewesen wäre.“ (Thomas von Aquin: „Nil est in intellectu, quod non prius sit in sensu“, De veritat2 2,3,19). Wir können keinen geistigen Gedanken fassen, und sei er noch so vergeistigt und abstrakt, der nicht von einer Welt materieller Vorstellungen geprägt wäre. Alles Denken hat eine symbolgeprägte Struktur, ihrerseits im Mensches verankert, der sinnlich erfährt und kommuniziert.

Bei jeder Wahrheit, die wir denken oder aussagen berühren wir also Zusammenhänge, Strukturen, Netze. Wenn unser Denken wahrheitsfähig sein soll, hat es sich Gedankenwelten und in Intertexte zu begeben, die vor uns da sind. Wahrheit ist immer innerer Zusammenhang. Das bestätigt von jeher schon der Alltag. Der Geist ist gegenwärtig in körperlichen Ausdrucksformen (in Gesichtszügen und Bewegungsformen, in der Stimme und im Handeln), in den kulturellen Äußerungen einer Gemeinschaft (in Kunst und Umgangsregeln, in ökonomischem und sozialem Handeln, in Rechtsetzung und Strafe). Wir können gar nicht anders als uns mit Zeichen zu umgeben, sie nach allen Richtungen auszusenden. U. Eco hat vor Jahren einen Essay über die Jeans als eine Signalmaschine geschrieben. Ich sehe nur ihre Oberfläche. Diese Oberfläche aber kann Welten enthüllen.

4.5 Symbolisierung als Keim der Entfremdung

Diese elementare Gegenwart des Einen in seinen Teilen geht aller Denk- und Wahrheitsfähigkeit, also aller bewussten Erkenntnis- und Mitteilungsfähigkeit voraus. Wir nennen sie „Symbol“ und „Symbolisierung“. Später wird K. Rahner, bei Heidegger geschult, auf diesen symbolischen und symbolisierenden Charakter menschlicher Existenz überhaupt abheben: Ich teile mich anderen in der Sprache meiner Worte und meines Körpers mit, in denen ich immer schon gegenwärtig bin. Ich zeige ihnen, wer ich bin, indem ich mich zu ihnen in Gebärden und Konventionen verhalte, indem ich mich enthülle oder kleide, indem ich mich ihnen in einem hochkomplizierten Geflecht von archaischen Gebärden und kulturellen Konventionen, von orts- oder zeitgebundenen Erinnerungen und persönlichen Bezügen in Intertexte einfüge und in dieser Einfügung Akzente setze. Ich enthülle meine innerste Identität, indem ich Geschichten, als sehr äußerliche Ereignisketten von mir erzähle.

Was hat das alles mit den Masken des Bösen zu tun?
Es soll in die Welt einführen, in der sich (auch) das Böse darstellt und ohne die es sich nicht darstellen kann. Maske ist nämlich alles. Diese Struktur hat aber eine Kehrseite, die in naiv-optimistischen Theorien gerne übersehen wird und dies hat wieder viel mit unserer Endlichkeit zu tun:

Es gibt keine Identität an sich; ich kann mich überhaupt nicht direkt, sozusagen nackt und in brutaler Unmittelbarkeit mitteilen. Identität und Wahrheit, abstrakt und statisch begriffen, sind immer Täuschung. Schon die Wahrheit, als überzeitliches Resultat oder abstraktes Basiskonstrukt begriffen, trägt schon den Keim der Lüge in sich. Eine Gemeinschaft, die als unstrukturiertes Zusammensein von (in sich und vorbehaltlos) unabhängigen Individuen gelenkt oder verstanden wird, führt zu totalitären Verhältnissen. Lebensnotwendig sind Differenz und Unterschiedlichkeit, die Notwendigkeit von Übersetzung und Interpretation, leiblich-materielle Perspektiven also, die jeweils zum Nullpunkt neuen Denkens werden und damit zur Konkurrenz anderer Wahrheiten führen. Andere und anderes zu entdecken und zu verstehen, kostet immer die Mühe der Entdeckung, der Aneignung und der Empathie. Alles was einfach es selbst ist, schließt sich in sich ein und verliert jede Identität. Nichts weiß sich besser zu verbergen als das Atom, ebenso wie ein jeder Mensch sein Geheimnis in sich trägt, ob er will oder nicht. Nichts will sich vielleicht intensiver und konsequenter verbergen als das Böse, die Lüge selbst.

4.6 Möglichkeiten des Scheiterns

Diese Erkenntnis ist nicht einfach für das neuzeitliche Denken nicht einfach. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist die westliche Kultur von einem geistigen Monopoldenken, einen „Logozentrismus“ (Derrida) ausgezeichnet. Alle innere Differenz und Differenzierung von Wirklichkeit und Erkennen wurde streng auf ihre Einheit, auf Versöhnung hin ausgelegt, auf die große Harmonie des kosmisch begriffenen Seins. Alles wurde im Einen begründet, das es selbst ist; Erkennen wurde auf Systeme reduziert, die in sich schlüssig sind und widerspruchsfrei funktionieren. Autoritäres und rechthaberisches Denken waren die Folge. Wenn man den Kritikern moderner Rationalität glaubt, muss ein jedes Erkennen scheitern, das sich seiner eigenen Dialektik nicht bewusst ist. Der Keim des Bösen liegt dann in der Unfähigkeit, seine eigene Bosheit zu entdecken.

Nun waren Religion und Theologie ganz besonders auf ein einheitlich harmonisches Denken bedacht. Man Hat Ketzer diagnostiziert und Hexen auf dem Lebensraum des Guten verbannt. Inquisition und Voltaire lebten aus derselben terrorbereiten Eigenschaft. Eine Erweiterung wurde erkennbar, als die Theologie im vergangenen Jahrhunderts die Bedeutung des Symbols erkannte. Das „Symbol“ wurde (von R. Guardini bis K. Rahner) nicht nur zu einem fundamentalen, sondern auch zu einem höchst positiv gefüllten Begriff. Man begann jetzt, Leiblichkeit und Sinnlichkeit des Menschseins ernst zu nehmen, ebenso die Materialität der Wirklichkeit und die Geschichtlichkeit unseres Daseins. Allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass das Sein nicht ohne Pluralität zu denken ist. In der christlichen Theologie (in der katholischen zumal) erhielt die Bedeutung des Sakraments einen enormen Stellenwert. Es ist bezeichnend, dass Benedikt XVI. sein gesamtes Kirchenverständnis um Praxis und Verständnis des Sakramentes zu orientieren scheint; dies könnte der Beginn einer sehr sinnlichen Kirchenerfahrung sein. Die leiblichen Sinne verstellen die Wirklichkeit nicht mehr, sondern ermöglichen den Zugang zu ihr. Der Leib und Materie erlegen uns keine inakzeptablen Grenzen auf, sondern machen uns ein menschliches Dasein erst möglich und vollziehbar. Natalität und Mortalität (H. Arendt) demonstrieren keine Lebensarmut, sondern eine unbändige Lebensfülle. Kurz, die Wirklichkeit selbst wird nicht von Verzeichnungen verfälscht, sondern sie ist in Zeichen gegenwärtig. So fügt sich der Gedanke der Menschwerdung Gottes voll und ganz in diese Erfahrungen einfügt, denen zufolge das Eine in allem gegenwärtig ist.

Doch bleibt einer ernste Frage:
Ist das die ganze Wahrheit, oder hat sie auch eine Kehrseite? In der Regel wird ja nicht bestritten, dass diese symbolische Struktur der Wirklichkeit auch negative Deutungen zulässt, aber vorschnell fangen wird diese Kehrseite mit Hilfe einer moralischen Forderung auf. Wir müssten, so lautet der Appell, diese plurale, oft konflikthafte Wirklichkeit von einer positiv gestimmten Wirklichkeitsdeutung her deuten, der Wirklichkeit insgesamt also ein Grundvertrauen entgegenbringen. Nicht als ob diese Zumutung falsch wäre, aber sie verführt ihrerseits oft zu einem fatalen Umkehrschluss, der den Aufruf zum Grundvertrauen instrumentalisiert. Er lautet: wer die Wahrheit und Erfüllung in seiner Wirklichkeit nicht entdeckt, setzt sich dem Verdacht aus, er wolle ihr nicht zustimmen, er verweigere dieses natürliche Grundvertrauen, er habe zur tieferen Wahrheit also keinen Zugang. Man wirft ihm dann Pessimismus, Nihilismus oder Oberflächlichkeit vor: er übersehe, dass der symbolischen Struktur der Wirklichkeit letztlich eine göttliche Wahrheit innewohnt (denken Sie an Dostojewski, Nietzsche oder Sartre, um nur einige zu nennen).

Dieser Umkehrschluss ist nicht nur falsch, sondern auch höchst gefährlich, denn hinter dieser plural-hermeneutischen Symbolstruktur verbirgt sich ein dunkler Abgrund. Denn die angedeutete Symbolstruktur bietet zugleich die Möglichkeit des Scheiterns. Pluralität und Vermittlung werden dann überdehnt. Sie holen sich nicht mehr (oder noch nicht) ein.
* Vielleicht fehlt ihnen die Zeit, ans Ziel zu kommen.
* Vielleicht fehlen die Voraussetzungen zur symbolischen Integration.
* Vielleicht sind eine Gesellschaft oder Kultur in sich zu gespalten, um zum einen Selbstvollzug, zu einer Erkenntnis fähig zu sein.

Kleidung gerät dann zur Verkleidung. Keine Kleidung (und sei sie noch so ehrlich), kann dieser negativen Kehrseite entgehen. Wahrheit verlangt Schleier; sonst würden wir sie nicht ertragen. Zugleich trägt jeder Schleier zu einer Verschleierung bei, die das Notwendige vorenthält und zur Lüge führen kann. Deshalb zeigt uns die symbolische Struktur der Wirklichkeit – im ontologischen und im erkenntnistheoretischen Sinn – einen unlösbaren Zwiespalt. Sie ermöglicht Scheitern, Kommunikationsabbruch, Misslingen der Kooperation sowie das, was wir böse nennen. Die Zeichenhaftigkeit des Wirklichen ist auch das Einfallstor des Bösen in unserer Welt. Dabei beginnt das Böse (ebenso wie das moralisch Gute) nie als es selbst, sondern immer als Möglichkeit, als Gefahr, als eine unmerkliche Dissonanz zwischen Angebot und Erwartung. Dieses unvermeidliche Differenzproblem geht dem Bösen an sich voraus, es sei denn, die endliche Wirklichkeit enthielte immer schon etwas in sich, das vom Übel wäre.

III. Das Böse als Maske (Verschleierung und Betrug)

3.1 Beispiele aus der religiösen Tradition

Paradiesgeschichte:
Die Symbolstruktur unserer Wirklichkeit bildet das Einfallstor aller Mitteilung und allen Handelns, also auch des Bösen. Die religiöse Tradition macht sich diese Struktur zunutze. Nehmen wir die Paradiesesgeschichte als Beispiel. Zunächst spielt in dieser Geschichte die Frage der Doppelung eine Rolle: Wir haben zwei fruchtbringende Bäume, ein Gebot wie ein Verbot. Es gibt Verdacht und Vermutung, Mann und Frau, Nacktheit und Verbergen, Paradies und Paradiesesvertreibung, das Scheitern des Menschen in der Entscheidung (Ellen van Wolde). Unbefangen treten Wahrheit und Güte in den Zeichen, den Mitteilungen von Baum, Frucht, Garten, Nacktheit und Paradies auf, die alle eine Unentschiedenheit in sich tragen. Allmählich wurde die Geschichte vom Gehorsamsgedanken in Beschlag genommen. Das Böse wurde als Sünde begriffen, später gar zur Erbsündentheorie verdichtet.

Doch schon am Anfang taucht in der Welt dieser Zeichen ein „Zeichen in den Ziechen“, eine Verkleidung, das Modell der Maske auf. Es ist eine Schlange (als Verhüllung des Teufels gedacht), die Eva verführt. Es ist ein Apfel, das gesunde und wohlschmeckende Nahrungsmittel, das zur Quelle des Gifts wird. Es ist Eva, die als Frau (nicht als selbst schon Verführte) Adam verführt. Schon in dieser Ursachenkette wird der Mensch selbst, der doch Gottes Ebendild ist, in ein böses Spiel eingebunden (an einem der Portale von Notre Dame in Paris erhält schon die Schlange die Gestalt einer verführerischen Frau). Eine Kette von Masken, von Verschleierungen hat die Unheilsgeschichte in Gang gebracht.

Versuchungsgeschichte Jesu und Apokalypse:
Nennen wir als zweites Beispiel aus der christlichen Tradition die Versuchungsgeschichte Jesu im Lukasevangelium: dort tritt der Teufel auf. Jesus gegenüber zeigt er sich als helfender Schmeichler („Bist du Gottes Sohn, so gebiete diesem Stein, dass er Brot werde“) als Herr der Welt („Dir will ich alle diese Macht und Herrlichkeit geben“), als Durchbrecher menschlicher Gesetze („Stürze dich von hier hinab …“; vgl Lk 4,1-13). Verführung ist das tragende Grundmotiv, das in der Symbolstruktur unbemerkt die Verantwortung des Handelns verschiebt. Zu Metaphern werden die Symbole in der Geheimen Offenbarung, wo von der Hure, von Babylon, vom Tier mit den zwei Hörnern und sieben Köpfen die Rede ist, wo sich das Böse hinter den Schalen des Zorns, in Unterwerfung, Feuer und Krieg verbirgt. Die spirituell-asketische Literatur der ersten Jahrhunderte ist voll von den Künsten der Verstellung und Verführung. Sie alle kennen die „Versuchung des hl. Antonius“ von Matthias Grünewald: Verlockung und Versprechen, aber auch Qual, Einschüchterung und Drohung sind seine Waffen.

3.2. Schichten der Präsentation

Zeichenstruktur – Sinnüberschuss – bewusste Verkleidung – Inszenierung als Rekonstruktion
Diese Tradition satanischer Selbstpräsentation wird im Mittelalter bereichert und intensiviert. Dass die Gestalt des Satans selbst schon die Folge eines Maskenspiels ist, wird kaum mehr wahrgenommen; Satan selbst wird schon als Person gesehen, wenn auch mit Bocksfuß und Rauch. Damit sind wird schon bei drei Schichten des Maskenspiels angekommen:
Die erste verbirgt sich in der symbolischen Struktur der Wirklichkeit selbst, die das Böse erste ermöglich.
Die zweite spielt sich um Umgang mit Dingen und Personen ab, die in ihrem Sinnüberschuss faktisch zu Masken werden: der Baum, der Apfel, die Frau, der Tyrann, Babylon, des Auto, die Droge.
Die dritte Schicht stellt sich im Menschen ein, sobald die faktische zur bewussten Verkleidung wird.
Die vierte Schicht stellt sich bei der bewussten Inszenierung des Bösen im Spiel oder auf der Bühne ein.

Doch zurück zu dritten Schicht. Menschliche Personen sind eben diejenigen Wesen, in denen Realität und Präsentation, Verstelltsein und Verstellung ineinander übergehen. Eine andere Konstellation stellt sich in der Figur des Dr. Faustus ein, dem gemäß der ersten Darstellung) der Teufel zunächst als Schatten(!) oder in zottiger Bärengestalt erscheint, der seinen Pakt mit dem Teufel schließt und nach Vertragsabschluss in der Nacht vor Anbruch des 25. Jahres vom Teufel geholt wird. Als seine Studenten – nach Tosen, Schreien und Höllenlärm in der vorhergesehenen Nacht – morgens in Fausts Stube gehen, kleben Blut und Hirnmasse an der Wand, „weil ihn der Teufel von der einen Wand zu andern geschlagen hatte“. Was schon in der asketischen Literatur der Alten Kirche dargestellt wird, passiert auch hier: das Maskenspiel geht in bittere Realität über. Den Leichnam finden sie vor dem Haus auf dem Mist, „gräulich anzusehen“, da ihm „der Kopf und alle Glieder schlotterten“ (J. Spiess, Historia von D. Johann Fausten; 1587 verfasst, nahezu 50 Jahre nach seinem Tod).

3.3. Dr. Faustus

Das Böse wird zum Kernthema – Anthropologische Wende – Inszenierung der menschlichen Situation:
Angesichts dieser Geschichte und ihrer ungeheuren literarischen Wirkung wäre es müßig und oberflächlich, heute auf den historischen Unsinn zu verweisen, den man sich damals und später ausgedacht hat. Wir alle nämlich können von dieser Geschichte ergriffen werden. Mit und in ihr wurde Faust (als ihr Zentrum und ihre treibende Kraft) als Repräsentant menschlicher Allmachtsphantasien inszeniert, die zum Verderben und zur Selbstzerstörung führen. So wird er zum Zeugen gegen menschliche Hybris und für die vanitas der Welt, gegen Wissenschaftsgläubigkeit der Welt und für den Sinn des Glaubens, gegen schrankenlosen Lebensgenuss und eigensüchtigen Eros; bis ins 19. Jahrhundert hinein erobert er sich zugleich die Bühnen des Grotesken und der Kasperletheater. Obwohl Faust schon vor Goethe in andere Sprachen übersetzt und dort rezipiert wurde, bleibt er ein primär deutschsprachiges Ereignis. Wir sollten ihn also nicht überschätzen, doch eröffnet er uns Deutschen zur Grundfrage einen ausgezeichneten Weg. Jetzt, in einer säkular werdenden Welt wird der Teufel von Faust vertreten, der Bericht von einer historischen Person wird seine historischen Fesseln ab. Er wird als Topos inszeniert.

Dürfen wir uns vom Fauststoff also beeindrucken lassen oder haben wir uns seiner Faszination zu entziehen? Der Provokation sollten wir uns in keinem Fall entziehen. Man kann Fausts wachsende Bedeutung als anthropologische Wende deuten und als Vorläufer dessen, was wir heute „Säkularisierung“ nennen, denn im Mittelalter ging es massiver und in einer religiös unmittelbaren Vorstellungswelt zu. Teufel und böse Geister, Gottes böses Gericht und seine dunkle Seite waren noch ungeschminkt gegenwärtig. Jetzt verschlingen sich Menschsein als Täter und als Opfer zugleich. In Faust II weitet ihn Goethe aus zum Repräsentanten weltweiter Zusammenhänge, eines Scheiterns, dem letztlich Erlösung zuteil wird: „ … das ewig Weibliche zieht uns hinan“.

Man wird hier noch auf einen anderen Zusammenhang verweisen müssen. Blicken wir auf die Zeit des Barock (ca. 1600-1750), begegnen wir einem enormen Pathos, das in Kunst und Literatur entwickelt wird. Die Menschen sollen von den großen Menschheitsfragen überwältigt werden: inszeniert werden die Vergänglichkeit der Welt und die Gegenwart des Todes, die Dialektik von Gegenwart und Unendlichkeit, von Schein und Sinn. In der Predigt überwiegen Allegorien und Metaphern, im Theater wird die Kulissenbühne eingeführt; das Jesuitentheater arbeitet mit dem Stilmittel der Inszenierung von Überwältigung. Es ist, als hätte die Barockzeit in ihrer Praxis all das vorweggenommen, was wir heute über die Sinnbezogenheit unseres Erkennens, über die Wahrheitskraft der Symbole und darüber wissen, dass die Wahrheit – auch die Wahrheit von Gut und Böse – sich im Bild und im Drama übermitteln lässt. Nahezu bruchlos kann die aktuelle Medienwelt an jener Zeit anknüpfen.

Unversehens sind wir in den Bereich der Ästhetik hinübergewechselt. Allmählich lösen Inszenierungen und Präsentationen die große abstrakt analysierende Scholastik ab, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts noch ein tapferes Nachgefecht liefert. Das öffentliche Spektakel des Schauspiels wird zum bevorzugten Ort seiner Selbstpräsentation. Gewiss, noch lange bleibt es von jener geschichtslosen Reflexion durchsetzt, die sündige Freiheitstat und sündige Grundhaltung des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Vor diesem Hintergrund gerät die Auseinandersetzung des Bösen immer wieder ein vereinfachtes Maskenspiel der Verkleidung und Vortäuschung. Man weiß schon von vornherein, wer und was das Böse ist. Der Teufel wird nicht, er fungiert immer schon als der Antipode Gottes. Der Mensch sündigt nicht nur im Umgang mit Welt und Mitmensch, er wird nicht zum Sünder und Feind aller Menschlichkeit, sondern er ist er schon immer. Lange Zeit gilt noch, was M. Luther in der kräftigen Metapher ausdrückte: der Mensch sei ein Reittier, von Gott oder vom Teufel geritten. Dr. Faust schließt noch den Pakt mit dem Teufel selbst, der ihm –wider besseres Wissen – Weisheit und sexuelle Erfüllung verspricht.

3.4 Folgerungen

„Das also ist des Pudels Kern“, wer kennt dieses Goethewort nicht, nachdem sich der kleine Pudel in Mephistopheles verwandelt hatte. Auch hier taucht das Motiv der Verkleidung und Metamorphose auf: der Wolf im Schafspelz, in bürgerliche Verhältnisse verfremdet, das Böse im Vertrauten, der Abgrund im Spiel unschuldiger Annäherung, das katastrophale Ende in der Euphorie eines vielversprechenden Beginns. Schon in der antiken Tragödie erscheint die Welt als Maskenspiel; das Wort scheint vom arabischen maskharat (Narr, Posse, Scherz) abgeleitet zu sein. Der antike Begriff für Maske leitete sich vom etruskischen phersu,  von dem sich der Begriff Person ableitet. So verstanden meint „Person“ eine bestimmte Rolle, die einem Menschen in seinem (privaten und öffentlichen) Lebenszusammenhang zukommt. Der Schauspieler, der in der Antike eine bestimmte Maske trägt, mag seiner Persönlichkeit beraubt sein. In Wirklichkeit wird er auf eine bestimmte Rolle zugeschnitten, in einer bestimmten Rolle wahrgenommen, – genau dasselbe sagt die Soziologie von den Menschen in einer Gesellschaft, dass sie nie als sie selbst, sondern immer in ihrer Funktion wahrgenommen werden, die sie erlernen, verinnerlichen und ausfüllen; alles andere wäre abstrakter Idealismus (G.H. Mead, R. Dahrendorf; G. Simmel).

Diese These verträgt sich m.E. gut mit dem, was ich weiter oben über die Symbol- und Zeichenhaftigkeit menschlicher Existenz vorgetragen habe. So schließe ich mich noch einmal bei der alten und im 20. Jahrhundert erneuerten Erkenntnis an, dass Wahrheit und Erfahrungen sich ihre sinnliche Präsentation suchen. Sie müssen dargestellt werden, darstellbar sein. Daraus ergibt ich, dass Wahrheit und Erfahrung nie unvermittelt bei sich selbst sind, sondern einer Vermittlung bedürfen. Zwar kann Erkenntnis zu einer unvermittelten Unmittelbarkeit führen, aber solche Unmittelbarkeit lässt sich nie absichern, nie objektivieren. Immer bleibt ein unabgegoltener, ein nicht darstellbarer, ein stummer Rest, der zu Ungenauigkeit, zu Verfälschung und Dissipationen führt. Es kann sogar geschehen, dass sich in Epochen eines tiefgreifenden Umbruchs diese Differenz verstärkt.

In den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts trat ganz offensichtlich der Fall ein, dass die klassische Verdrängung dieser Differenz versagte. Weltanschauliche und ideologische Erklärungssysteme brachen gleichermaßen zusammen. Das Ende der Moderne mit ihrem Logozentrismus wurde propagiert; eine relativierende Hermeneutik scheint die Wahrheitsfrage zu verdrängen. Man hat diesen Neuansatz postmodern genannt. Mir liegt daran, dass er – so sehr man in ihm einen Bruch mit der Moderne entdecken kann – Formen intensiver Kontinuität in sich trägt. Es ist die Hermeneutik des frühen und der Mitte des 20. Jahrhunderts, die schon allen Nachdruck auf die vermittelte Unmittelbarkeit und auch darauf legt, dass sich Wahrheit nie auf eine einzige Auslegung fixieren lässt, also auch nicht auf die Frage, was denn gut und was denn böse ist. Zugleich liegt mir daran, dass sich das Programm der Geschichtlichkeit von Mensch und Kultur einer jeden Vereinheitlichung der Wahrheit auf die eine Wahrheit schlechthin widersetzt.

Es ist also höchste Zeit, sich des symbolisch-zeichenhaften Charakters von Erkennen und Erfahrung zu erinnern. Die Erfahrung der Wirklichkeit lässt sich nicht exakt als das beschreiben oder analysieren, was sie ist. Sie enthält Relationen der Unbestimmtheit, wechselnd wie das Spiel gebrochener Lichtstrahlen in einem gläsernen Prisma. Immer neu erweist sie sich als chaotisches System, dessen relative Stabilität unter bestimmten Bedingungen ausbrechen und verfallen kann. In mehr pathetischen Zusammenhängen sprechen wir von Tiefendimensionen (warum nicht?), die oft mehr enthüllen, als uns lieb sein kann. Diese Offenheit und Unberechenbarkeit gilt auch für die Frage, was denn nun böse, gar das Böse ist. Denn was letztlich (gewollt oder wider Willen) zerstört, hängt nicht nur von diesem Sachverhalt (diesem Wirkmechanismus, dieser Tendenz, dieser Systemsprengung) ab, sondern von den Kontexten, in denen es zur Wirkung kommt. Vielleicht ist das Böse überhaupt nie einschichtig, sondern nur systemisch zu bestimmen. Ich meine: vielleicht hat auch hier Goethe recht, der letztlich vom Fehlen des „geistigen Bands“ spricht und ein organisches (wir würden heute sagen: ein ganzheitliches) Denken einfordert. Vielleicht besteht der Grund menschlicher Bosheit in der Weigerung, sich –aus Egoismus oder anderen Gründen – dem Ganzen als solchem zuzuwenden. Wir müssen aber wissen, dass sich auch solche Weisheiten nie einschichtig, sozusagen mechanisch anwenden lassen, denn auch das Ganze (die Konstellationen einer Gesellschaft oder Kultur, die organische und psychische Situation eines Menschen, die klimatische oder ökologische Gesamtsituation einer Umwelt) kann und wird sich unaufhaltsam ändern.

So sind wir täglich mit Erfahrungen und mit Problemen konfrontiert, deren Tragweite uns nicht bewusst sind, nicht einmal bewusst sein können. Und selbst wer sich unerwarteter Möglichkeiten oder mangelhaft erkennbarer Hintergründe bewusst ist, kann durch sein sorgsames Nichthandeln zur Ursache von Katastrophen werden. Weder der ungehinderte „Macher“, noch der zögernde Hamlet kann sich gegenüber dem Bösen schützen. Erfahrungen also können uns überfallen. Sie können widerspenstig sein, normaler Rationalität widersprechen, die Regeln bürgerlicher Wohlanständigkeit sprengen. Dennoch kann ich nicht von vornherein wissen, ob sie mich/andere/die Menschheit fördern oder zerstören.

Ich vermute deshalb Folgendes: Auch die Übergänge von der Wahrheit zur Lüge, von der Identität zur Selbstentfremdung, von einem lebensförderlichen zu einem lebensschädigend-destruktiven Verhalten sind nicht distinkt. Sie sind in den entscheidenden, vor allem in den elementaren Anfangsstadien fließend, wie wir es in analogen Fällen aus der Evolutionstheorie, aus psychologischen sowie aus soziologischen Theorien kennen. Aber wo Anfangsstadien verlassen und bestimmte Verhaltenstendenzen eingeschlagen sind, wo sich also Wirkungen einer Entwicklung oder einer systemischen Konstellation erwarten lassen, da kann die Frage nach Gut oder Böse (lebensförderlich oder lebenszerstörend?, der Würde einer Person angemessen oder sie missachtend?) wenigstens vorläufig beantwortet werden. Die Sicherheit einer Beurteilung verdichtete sich dort, wo bestimmte Verhaltensweisen oder systemische Konstellationen schon Wirkungen erzielt haben. Aber auch dann ist Böses und lebenszerstörendes nur in seltenen Fällen in jeder Hinsicht böse. Dem einen kann schaden, was dem anderen nützt. Meine Generation kann Vorteile aus einem Verhalten ziehen, wofür andere bezahlen. Die Beurteilung von Gut und Böse setzt also Vorzugsentscheidungen voraus, die sich nicht immer aus sich selbst ergeben.

Fügen wir nun zu diesem reichlich komplizierten Sachverhalt die Tatsache hinzu, dass sich (von Grenzfällen abgesehen) in einer Gesellschaft alle Wahrheit und alle Werte (nur) zeichenhaft vermitteln, dann können wir mit der Unterscheidung zwischen Gut und Böse nur sinnvoll umgehen, wenn wir uns den Zeichen und Codes selbst zuwenden, die ein bestimmtes Verhalten signalisieren. Es ist die Frage zu stellen:
* Wann werden Kleider faktisch, wann werden sie bewusst zu Verkleidungen?
* Wann werden stabilisierende Konventionen zu leeren, wann zu betrügerischen Floskeln?
* Wann führt die Liebes- und Solidaritätsbezeugung zu einer Person oder Gemeinschaft zur Zerstörung einer anderen Person oder Gemeinschaft?
* Wann sind Selbstdarstellungen notwendig und stabilisierend, weil eine jede Gemeinschaft und Gesellschaft sich darstellen muss, um zu einer Identität zu finden?
* Wann werden sie zu dem, was wir „Masken“ nennen?
* Wann inszeniert eine Religion Güte in authentischer Weise und ab welchem Augenblick manipuliert sie ihre Anhänger, andere, sich selbst?

Wir wissen ja: Letztlich gilt bei einer Selbst- oder Sachinszenierung nicht der signalisierte Inhalt, sondern allein deren Wirkung, weil auch Masken des Guten destruktiv wirken können und die Inszenierung des Zerstörerischen kathartisch, heilsam sein kann. Ich bin überzeugt, dass es das Böse an sich nicht gibt, auch nicht im Sinne der Seinsprivation. Das Böse konstituiert sich als Beziehung, und der Weg von der Sache zu ihrem Symbol, vom Zeichen zur Sache selbst, ist darin eingeschlossen. Ein jedes Zeichen also, auch die Symbole des Göttlichen, können schließlich zu Masken des Zerstörerischen werden. Dort, wo das Böse zum Ziel kommt, ist es eindeutig. Dort aber, wo es vermutet, beschworen und repräsentiert wird, ist es eine hermeneutische Größe, ein geschichtlicher Begriff, der nicht aus sich selbst, sondern aus seiner Konstellation heraus seine Bedeutung erhält.

IV. Von der Maske zur Inszenierung (Selbstdarstellung und Präsentation)

4.1 Darstellung als Weg der Bewältigung

Deshalb muss, wir sagen es noch einmal, ein entzeitlichtes, ein nacktes Böses scheitern, damit auch ein Bosheitsbegriff, der nicht in Kontexte verwoben ist. Das Böse ist etwas Wirksames und kann nur in seiner Wirksamkeit erfasst werden. Wie also sollen wir es besprechen? Nach all dem Gesagten folgere ich: Eine sachgemäße Darstellung und eine angemessene kulturelle Verarbeitung des Bösen verlangt das Medium menschlicher Kommunikation, das den komplexen Geschehensverläufen der Wirklichkeit entspricht. Wir brauchen seine sinnlich-symbolische Präsentation und narrative Rekonstruktion. Dort, in der Darstellung und im Bericht, in der Dramatisierung ist es bei sich selbst. Dort lassen sich die gleitenden Skalen seiner Entstehung, die Komplexität seiner Abläufe, die Ausmaße seiner Zerstörung, darstellen, möglicherweise auch die Wege seiner Überwindung. Dort lassen sie sich im buchstäblichen Sinn des Wortes nachvollziehen.
* Nicht ohne Grund behandelt die hebräische Bibel die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung des Bösen nicht in einer dualistischen Schöpfungstheorie, sondern im Bericht von Adam und Eva, zwei Menschen also, die die Folgen ihrer ersten Entscheidungen auf sich nehmen mussten. Schon die späteren jüdischen sowie die christliche Interpretation scheinen diese Geschichte zu verengen.
* Nicht ohne Grund wird dort das Theodizeeproblem nicht in einer theoretischen Verhandlung, sondern ebenfalls in einer narrativen Symbolisierung, d.h. in der paradigmatischen Präsentation der Geschichte von Ijob, also eines ungerecht Leidenden dargestellt, – mit einem Ausgang, der gerade die theoretische Fragenden im Ungewissen lässt.
* Nicht ohne Grund schließlich besteht der Kern der christlichen Botschaft weder in einer theoretischen Weltinterpretation noch einfach in einem theoretischen Weltappell, sondern im Bericht von der Botschaft, vom Handeln und Geschick Jesu, also einer Geschichte der Grausamkeit, des Scheiterns und von dessen möglicher Überwindung. Sie zeigt, wie aus guten Absichten Böses wurde und wie dieses Böse wieder zum Guten führen kann.
* Nicht ohne Grund sind es keine Dogmen oder Bosheitstheorien, sondern ist es die „gefährliche Erinnerung“ an dieses Geschehen, aus dem das Christentum seit jener ersten Zeit lebt.
Deshalb bin ich als Theologe der Überzeugung: Die humanisierende Kraft des christlichen Glaubens hat nur dann eine Zukunft, wenn und soweit die narrativen Ströme der Erinnerung weitergetragen, in jeder Epoche neu verstanden und interpretiert werden.

Daraus folgt m. E. auch dies zwingend: Eine solche Neuinterpretation steht immer im Disput mit neuen zeitgemäßen Interpretationen des Bösen, gleich aus welchen Quellen sie schöpfen. Sie sind ebenfalls und ebenso Teil des großen Intertextes, der sich über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende hin durch eine Kultur ziehen kann und faktisch auch zieht. Wer sich auf angemessenem Niveau mit dem Bösen auseinandersetzen will, kann sich dem Gespräch mit Buch, Bühne, Film (demnächst auch Internet) nicht entziehen. Wir werden uns den Erzählungen, den Inszenierungen und Dramatisierungen des Bösen stellen und von ihnen lernen müssen. Wir werden dies zur Kenntnis nehmen müssen: Gute Literatur und Dramatik lebt von der Konfrontation mit denjenigen Erfahrungen, aus denen faktisch oder moralisch Böses erwachsen kann oder die schon Böses im Doppelsinn des Wortes bedeuten: Immer geht es um Gefahr und Bedrohung, um Krise oder Untergang, um Friede oder Zerwürfnis, um Heilung oder Destruktion, um Schuld oder Versöhnung, um die Frage vielleicht, wie es mit der Menschheit weitergeht. Dass die Dimensionen und das Ausmaß des Bösen ebenso ins Endlose gewachsen sind wie die Hilflosigkeit bei der Suche nach allgemein überzeugenden Antworten, gehört dabei zu den Standarderfahrungen, denen wir uns stellen müssen. Orientierungslosigkeit und intellektuelle Ratlosigkeit, die Angst vor der großen Brutalisierung und Chaotisierung von Staaten und globalen Zusammenhängen gehört ebenso dazu wie die Frage, ob es sich überhaupt noch lohnt, sich gegen die Abgründe zu stellen oder trotz ihrer zu leben.

Wie also sollen wir damit umgehen?
Vielleicht liefert das Ijobbuch gar kein so schlechtes Modell, denn auch dieses Buch stellt eine miserable Situation dar, ohne eine Antwort zu liefert. Es kommentiert damit nur das bekannte Motto des Koheletbuchs – auch dies Teil der kanonischen Bücher: „Windhauch, Windhauch“, sagte Kohelet, „das ist alles Windhauch“ (Koh 1,2). Das ist, wohlgemerkt, eine sehr bürgerliche und wohlanständige Übersetzung für das, was Kohelet meint. In den Folgeversen schlägt er einen resignierten Ton an: alles gehe am Menschen vorbei. Auf der Erde geschieht mit Sonne, Wind und Wasser, was schon immer geschehen ist. Glück stellt sich nie ein; nichts Neues wird es je geben. Die Zeiten kommen und gehen. „Nur“, heißt es in 1.11, „gibt es keine Erinnerung an die Früheren, und auch an die Späteren, die erst kommen werden, auch an sie wird es keine Erinnerung geben bei denen, die noch später kommen werden“. Das ist, wie ich finde, ein schreckliches, geradezu ein böses Wort, denn die Erinnerung an die Vergangenen und der Blick auf die Kommenden sind die wirksamsten, vielleicht die einzigen Wege eines nachhaltigen Widerstands gegen das, was wir böse nennen. Aber Kohelet, der das sagt, sagt es ja als Problem, sodass die Hörer und Leserinnen damit auseinandersetzen. Dramatisierung und Inszenierung sind die Medien, die diese Aufgabe leisten. Sie sind wichtiger denn je. Wird diese Aufgabe geleistet?

Es ist hier nicht meine Aufgabe, Medienkritik zu leisten und das große Vergessen, die unbeschreibliche Oberflächlichkeit anzuprangern, die uns in Presse und Fernsehen täglich begegnet. Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass andere Kräfte am Werke sind, die mit den Mitteln der Ästhetik – mit Artikeln und Büchern, auf der Bühne, in Fernsehen und Film – tagtäglich den Kampf gegen Vergessen und Vergesslichkeit aufnehmen. Wer genau hinschaut, wird auch entdecken, dass die Masken des Bösen überall gegenwärtig sind. Eine grobe Klassifizierung kann zeigen, welche Funktionen sie erfüllen.

4.2 Inszenierung 1: Verführung und Gefährdung

Sex (Mann und Frau) – Geltung (Statussymbole) – Macht (Verfügungsgewalt) – Ideologie (Definitionsgewalt)
Das Böse ist kein Seiendes, sondern – wenn man so will – die Qualität eines Endprodukts. Zu behaupten, Menschen wollten das Böse um des Bösen willen, scheint mir unrealistisch und inhuman dazu. Selbst dort, wo Menschen „aus reiner Bosheit“, wie wir dann sagen, zerstören wollen, reagieren sie auf Enttäuschungen und Unrechtserfahrungen; die Bosheit wird ihnen zum verzweifelten Mittel, ihre eigene Ordnung wieder herzustellen. Beginn und Einfallstor allen Bösen und Zerstörerischen ist das scheinbar Vermeintliche, oder das kurzsichtige Gute, das – die Situation des Menschseins vorausgesetzt – zu destruktiven Verhältnissen führt.

Deshalb scheint mir die wichtigste und verbreitetste Maske des Bösen die der Verlockung und der Verführung zu sein. Schon die spirituellen Traditionen der Religionen sind voll davon. Es ist dasjenige, das Macht, Reichtum oder Genuss verspricht. Genau genommen ist es Damit will der Teufel Jesus in der Wüste verführen, damit hat die Frau des Fischers in Grimms Märchen die Katastrophe in Gang gesetzt. Mit dieser Hoffnung auf Grenzüberschreitung lassen sich Goethes und Th. Manns Faust zum Teufelspakt verlocken. Die Maske des Verführers hat sich Don Juan aufgesetzt, der letztlich sich selbst ins Unglück reißt. Die Verführung präsentiert Güte, Erfolg, Genuss und verdeckt den Blick auf die Konstellation, innerhalb derer Güte, Erfolg und Genuss lebensförderlich sind, also zur Liebe, zum Glück, zur Freude führen.

Ich habe darauf hingewiesen, dass das Böse in seinem Kern dynamisch, als Prozess, in keinem Fall als fixierte Qualität zu sehen ist. Natürlich sind Masken und Symbolisierungen ebenfalls in Gefahr, dieser Vereinfachung und Fixierung zu erliegen. In der europäischen Kultur wurde die Frau zum Signal der Verführung schlechthin, als Verführerin instrumentalisiert. Aus Gründen der Vorsorge wird hier die mögliche Gefahr zur verwirklichten Gefahr. Anders gesagt: Der Vertrauensvorschuss gegenüber einer – zugegeben – zutiefst ambivalenten Welt gerät zu kurz. Der Wille zur Freiheit ist der einzige Weg, um auch die Masken des Bösen mit ihrer Wahrheit zu verwechseln.

Es ist keine Frage, dass die Masken der Verführung enorm vielfältig, variabel und wirksam sind. Sie können sich widersprechen und tun doch ihre Wirkung. Das Auto wird zur Maske eines ungezügelten Kapitalismus, das Model zur Maske eines destruktiven Schönheitsideals, die Uniform zur Maske menschenverachtender Macht, die Aktie zur Maske grenzenlosen Besitztums. Die Zigarette wird zum Symbol tödlicher Selbststimulation. Manche möchten den Islam zur Maske religiös motivierter Brutalität stilisieren, andere die USFlagge zum Willen ungezügelter Weltdominanz. Die Masken der Verführung sind Legion. Sie alle signalisieren Gefährdungen, denen Menschen gerne zu erliegen drohen. Die Kenner der Literatur und der Filmkunst könnten dafür zahllose Beispiele anführen.

4.3 Inszenierung 2: Betrug und Bedrohung

Im Anfangsstadium ist das Böse nie Böse, sondern Verlockung. Oft genug aber entwickelt Verlockung eine Eigendynamik, die ihre Grenzen verkennt. Der Junge isst Eis, bis er sich übergibt. Aus der Wirkung des Bösen selbst ergeben sich heilsame Erfahrungen. Die Schere zwischen Reich und Arm öffnet sich immer mehr, bis der Protest unüberhörbar wird. Die zerstörte Ozonhülle beschleunigt Sonnenbrände und Karzinome; junge Mädchen sterben wegen eines Schönheitsideals; Nikotingenuss führt zu früherem Tod. Werden Verlockung und Verführung dennoch, also wider besseres Wissen aufrecht erhalten, dann werden die Masken betrügerisch. Es hat seine guten Gründe, dass die Alltagssprache den Begriff der „Maske“ nicht mit Verschönerung, Profilierung oder abgesprochenem Rollenspiel assoziiert, sondern mit Verstellung. Wem die Maske vom Gesicht gerissen wird, der zeigt sein wahres Gesicht. Im privaten und im gesellschaftlichen Leben mag das auch der Normalfall sein. Wer mit der Verführung von Billigflügen wuchert, hat etwas zu verbergen. Und wer als Aktionär das Loblied der Ölindustrie singt, der weiß, warum er nicht von verschmutzten Meeresstränden redet. Mediengesellschaften leben in einer hochdifferenzierten und unübersichtlichen Welt; sie sind auf umfassende und ideologiekritische Informationen angewiesen. Wer deshalb Interesse an Prozessen hat, die an sich zerstörerisch sind, wird alles daransetzen, diese Gefährdungen zu vertuschen.

Eine zweite Gefahr ist in diesem Zusammenhang zu besprechen. Es ist die Haltung des Abwartens und des Erwartens, das die Situation des Abenteuers – gerade des Gefährlichen – mit sich bringt. Zu den mächtigsten Bundesgenossinnen des Bösen gehört die Faszination. Sie kann aus gesunden Quellen gespeist sein: Gelingt es vielleicht doch noch, eine Gefahr zu überwinden? Kann ich den Bogen der Selbst- und der Fremdbelastung vielleicht noch weiterspannen? Die Situation der bedrohlichen und sich verstellenden, des opaken Bösen ist dem Rennfahrer vergleichbar, der es darauf ankommen lässt, ob die Reifen standhalten oder Geschwindigkeit ihn aus der Kurve trägt. Doch je näher er sich dem kritischen Punkt der Katastrophe nähert, umso schärfer wird sein Unterscheidungsvermögen gefordert. Wie lange ist von bewunderungswürdigem Mut, von welchem Punkt an von waghalsigem Leichtsinn die Rede?

Unbestritten ist auch: Das wirklich bedrohlich Böse überwindet und seine Lüge entlarvt nur, wer sich ihm existentiell stellt; in der ernst gemeinten Auseinandersetzung spielen wir alle mit dem Feuer, sind wir alle Dompteure, die dem Krokodil in den Rachen schauen. Aber an diesem Punkt können – individualpsychologisch gesehen – eigene Todeswünsche ausbrechen, sich unerfüllte Triebe ihr Recht verschaffen, sich Erfahrungen eines ungelebten Lebens bemerkbar machen. Dasselbe kann – kollektiv psychologisch gesehen – mit einem ganzen Volk geschehen, dessen verletzter Stolz es in einen selbstmörderischen Krieg treibt. Religionspsychologisch gesehen kann dasselbe auch eine Glaubensgemeinschaft in eine fanatische Selbstbehauptung treiben, an deren Ende nur Vernichtung steht. An diesem Punkt kann die Selbstmaskierung der Gewalt ihre tödlichste Spitze erreichen, weil sie den Ausschluss und die Tötung der andern durch die Abwehrung projizierter Erstgewalt sanktioniert. „Ausländer raus, weil wir sie bedrohlich finden!“ Die grauenhaften Spiralen von Mord und Gegenmord und die stetige, wenn auch völlig absurde Behauptung, immer hätten die Anderen angefangen, sind aus der jüngsten Geschichte bekannt und werden in großem Stil durch die aktuelle Machtpolitik der USA vorgeführt, die sich – wohlgemerkt – auf christliche Werte beruft.

Deshalb ist es wichtig, nicht nur die bestehenden Gefahren, sondern auch die Verharmlosungen anzuprangern, also die Masken des Fortschritts, der Wellness, der ewigen Jugend, der grenzenlosen Wissenschaft zu zerstören und zugleich darauf hinzuweisen, wie sich der harmlose Beginn eines gefährlichen Spiels mit der Attraktion brutaler Gewalt und Selbstdestruktion verbinden kann, – allerdings wohl wissend, dass wir auch dann nie die “nackte Wahrheit“ erfahren werden. Sie gibt es auch dann nicht, wenn wir sie aus Gründen der Selbsterhaltung wissen möchten. Den betrügerischen Masken können wir keine symmetrisch agierenden Gegenmasken, sondern nur die überschreitenden und umfassenden, die eingewurzelten, in uns verwurzelten und empathischen Erinnerungen gegenüberstellen. Auch wäre der Ort, umfassende Belede aus der Welt der Literatur und des Films anzuzuführen.

4.4 Inszenierung 3: Zerstörung und Vernichtung

Kampf mit der Hoffnung
Natürlich lebt unsere Kultur in keinem Gleichschritt der Entwicklungen. Entwicklungen beginnen und führen zu ihrem Höhepunkt; Zerstörungen sind zu ihrem Höhepunkt gekommen und bedürfen keiner Verstellung mehr. An diesem Punkt ist ein letzte Klärung der Begriffe notwendig. Wir haben von verführerischen Masken sowie von Masken der Verstellung gesprochen. Sie leben davon, dass das Böse – streng genommen – sehr spät zu sich selbst kommt, oft lange verborgen bleibt, oft nie ganz offenkundig wird und von der Ungleichzeitigkeit zwischen Beginn und Erfüllung lebt. Auch im Bösen lebt die Dynamik dessen, was man in der Theologie einmal „zwischen den Zeiten“ genannt hat. Es gibt eine Verborgenheit des Bösen, die von der Hoffnung auf Besserung, auf Wenden, auf die Offenbarung seiner Güte lebt, so wie manche Deutsche noch in der Endkatastrophe des Zweiten Weltkriegs auf die Wunderwaffe und nach dem Motto auf den Endsieg hofften: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“

Die Maske fällt
Es gibt aber Katastrophen, die unweigerlich ans Ziel, zu kollektiven Katastrophen gekommen sind. Meistens reden wir von ihnen in der Vergangenheit. Ich habe den Zweiten Weltkrieg genannt und füge den Nationalsozialismus mit den vielen Symbolen des Grauens hinzu, die er uns hinterlassen hat: Auschwitz und die anderen Konzentrationslager, Stalingrad und Leningrand [= Petersburg], Archipel Gulag, die SS und die Rote Khmer, dazu den Tyrannen Hitler, den ehemaligen Theologiestudenten Stalin, und den ehemaligen buddhistischen Mönch Pol Pot. Diese Liste ließe sich endlos fortführen, bis hinein in die aktuelle Gegenwart der Kriegsschauplätze, verarmter Ethnien und Nationen. Die Symbolisierungen werden, je nach Lage der Inszenierung oder Analyse paradigmatischer oder abstrakter, von so konkreten Gestalten wie Lessings Patriarchen von Jerusalem („Tut nichts! Der Jude wird verbrannt!“) oder dem Spezialisten für industrialisierte Judenvernichtung, Adolf Eichmann, bis zu so abstrakten Begriffen wie autoritärer Charakter (E. Fromm), Kapitalismus oder instrumentelle Rationalität, bürokratisches Denken oder technische Mentalität, religiöse Verarmung oder religiöser Fanatismus, Egoismus oder Sadismus. Das alles sind Symbolisierungen, die oft unschuldig klingen, aber eine unendliche Vielfalt des Grauens benennen, das über die Menschheit, über Einzelne oder Menschengruppen gekommen ist.

Hier ist in der Tat eine Stufe erreicht, in der das Böse die Maske des Betrugs fallen lässt und fallen lassen kann. Es kennt ja keine Kriterien mehr, lässt sich also an nichts mehr messen, außer an sich selbst. Es lebt entweder vom ungezügelten Hass gegen das Hassenswerte (etwa einer verkommenen Welt) oder es versinkt in sich selbst. Robespierre ist das Beispiel für das Eine, Richard III. nebst herrschsüchtiger Gemahlin (Shakespeare) für das Andere. De Sade hat diese Perversion an sich (vermutlich aus gesellschaftskritischen Motiven) durchformuliert, Georges Bataille (1897-1962) greift das Motiv etwa in der Schilderung des grauenhaft-grausamen Kindermörders Gilles de Rais auf.

Was steckt dahinter?
Zwei Fragen sind dabei zu stellen:
(1) Wurde am Beginn des Referats nicht behauptet, das Böse an sich gebe es nicht? Wie kann es also in dem Maße zu sich kommen, dass es sogar seine Masken fallen lassen kann? Vielleicht, weil es solche Macht über seine Täter hat, dass sie in einer entpersönlichten Rage, im Blut- und Vernichtungsrausch handeln (Sofski), vielleicht deshalb, weil es in anderen Fällen inzwischen eine Technik gibt, die Feldzüge der Vernichtung durchführt und Menschenopfer nur noch als Kollateralschäden betrachtet? Vielleicht auch deshalb, weil die Opfer überhaupt keine Möglichkeiten mehr haben, das Blatt zu wenden? Es scheint in der Tat Menschen zu geben, die Vernichtung um ihrer selbst willen suchen, und es scheint Dynamiken in einer Gesellschaft zu geben, denen um seelenloser Ziele willen alles Leben im Weg steht. Entscheidend ist und bleibt aber keine wesenhaft böse Entität an sich, sondern der Akt der Zerstörung, der sich in seiner letzten Tendenz enthüllt. Schließlich scheint es sogar Gottesbilder zu geben, in denen die Hölle der Verdammung als Triumph der Gnade gepriesen wird. Welche Variationen man auch immer bevorzugt, mir persönlich bleibt es ein Geheimnis, dass in Gottes Schöpfung solches möglich ist. Dieses mysterium iniquitatis kann (und muss) auch frommen und „gottergebenen“(?) Menschen das Vertrauen auf Gott schwer machen. Niemandem werden so viele Stolpersteine auf den Weg des Glaubens gelegt als demjenigen, der auf Gottes umfassende Liebe setzt.

(2) Es hat sich gezeigt, dass sich gerade im und seit dem 20. Jahrhundert die Masken der Zerstörung vervielfältigt haben. Die Bilder wurden nicht nur der Psychologie und der Geschichte, sondern auch der Soziologie, der Staatstheorie und der Linguistik entlehnt. Sie alle signalisieren Verführung, Verblendung und die Zerstörung selbst. Kennt diese Destruktion und Menschenverachtung eine Mitte? Was denn ist ihr Abgrund, aus dem sie (wenn diese Metapher überhaupt erlaubt ist) lebt oder (besser vielleicht) in den sie hineingerissen wird? Ich glaube, dass die Antwort auf diese Frage von kulturellen, weltanschaulichen und/oder religiösen Voraussetzungen abhängig ist.

Mangel an Glaube, Vernunft, Humanität
In der vormodernen Zeit hätten wir gesagt: Kern des Bösen ist der Mangel an Glaube, ist die Empörung gegen Gott. Ich glaube, dass diese Antwort nicht falsch geworden ist, aber wer weiß noch, was man damit gemeint hat: Sie wurde immer missverständlicher und zu viele menschliche Institutionen gaben vor, in Gottes Namen zu sprechen. Sogar Hitler berief sich auf die Vorsehung.

In der Moderne bekamen die Berufung auf Vernunft und auf Wissenschaft einen wachsenden Stellenwert. Bosheit erwächst im Kern also aus Unvernunft, aus unaufgeklärter Dummheit und wissenschaftlicher Unkenntnis. Auch diese Antwort ist nicht falsch. Seit einiger Zeit versucht Benedikt XVI., sie mit der ersten Antwort zu kombinieren. Aber das Scheitern der „reinen“ Vernunft ist nur zu offensichtlich. Am Ende des Vernunftglaubens stehen auch die unmenschliche Entzauberung der westlichen Gesellschaften, die technische Beherrschung der gesamten Welt, eine rigide Bürokratie im Namen eines Staates, der alle „Anderen“ ausschließt. Auch der Papst müsste da vorsichtiger sein.

Eine weitere Antwort ist der Nachdruck auf Toleranz und Humanität. Man findet sie schon in Lessings Aufklärung. Sie wird auch aus religiösen Quellen gespeist und sie ist gültig. Bosheit besagt immer Inhumanität, Intoleranz, Verachtung der Anderen. Es fällt nur auf, dass ausgerechnet die Religionen mit ihr ihre Schwierigkeiten haben. Einer der Gründe ist wohl die moderne, abstrakt reflektierende Begrifflichkeit. Ein weiterer Grund fällt immer mehr ins Gewicht: sie ist auf Menschen zentriert; sie droht, das Leben der Tiere, die Bedeutung der Pflanzen, die Zukunft der Erde zu vernachlässigen.

Deine Leben soll kalt sein
Eine letzte Antwort ist in Thomas Manns Dr. Faustus zu finden, sie ist für den Westen in seiner Zeit, aber auch in der Gegenwart von entscheidender kulturkritischer Bedeutung. Adrian Leverkühn, der Held des Romans, hatte sich bei seinem Teufelspakt auf nur eine Bedingung zu verpflichten: Er, der Dr. Faustus im Deutschland des 20. Jahrhunderts, habe sich aller Liebe zu enthalten. Der Teufel verspricht dem Künstler die Kraft, die lähmenden Grenzen seiner Gegenwart/Kultur zu durchbrechen. Der Teufel verspricht ihm wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und gläubige Inspiration. Er werde „die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen“. Er schafft Kompositionen in einem Zustand „höchster Freiheit und staunenswerter Macht ungehemmter, um nicht zu sagen hemmungsloser, jedenfalls unaufhaltsamer und reißender, fast atemloser Hervorbringung“, obwohl – paradoxerweise und doch folgerichtig – sein letztes Werk das Werk der Verzweiflung eines rettungslos Verdammten ist. Diese triumphale Karriere, die zum Schluss in die Katastrophe führt, gelingt aber nur unter der satanischen Verheißung gegenüber dem Syphilitiker: Der teuflische Charakter dieses Genies besteht in Gefühlskälte, Stolz, Hochmut: „Dein Leben soll kalt sein – darum darfst du keinen Menschen lieben.“ Es ist ein Leben in der Hölle, die nur äußerste Kälte oder unerträglichste Hitze zu bieten hat, und dessen Symbole lauten: „unterirdisch, Keller, dicke Mauern, Lautlosigkeit, Vergessenheit, Rettungslosigkeit“. In ihr hört alles auf: „jedes Erbarmen, jede Gnade, jede Schonung, jede letzte Spur von Rücksicht auf den beschwörend ungläubigen Einwand: ‚Das könnt und könnt ihr doch mit seiner Seele nicht tun’: Es wird getan, es geschieht, und zwar ohne vom Worte zur Rechenschaft gezogen zu werden, im schalldichten Keller, tief unter Gottes Gehör, und zwar in Ewigkeit.“ [Th. Mann lässt später wissen, dass er bei diesen Worten an den Gestapokeller in Leipzig dachte.]
Ich hoffe, dass wir uns darauf verständigen können. Der Ort der Bosheit ist der Ort der Lieblosigkeit, der Raum ihrer Folgerungen, die Dynamik liebloser Wirkung.

Vor diesem Hintergrund wäre es verlockend, eine neue Ontologie des Bösen zu konstruieren, denn Liebe und Bosheit sind einander so asymmetrisch und in dieser Asymmetrie wieder so spiegelbildlich im Gegensatz, dass ihr Widerspruch nicht entschiedener, nicht radikaler sein könnte. Hier und dort handelt es sich um kein substanziiertes Etwas, sondern um Handlung, die sich von ihrer Wirkung her bemisst. Hier und dort beginnt etwas nicht im qualitativen Sprung, sondern in gradueller Entwicklung, im langen Schwanken zwischen Gelingen, Gefährdung und Scheitern. Lange können beide geradezu sprungartig ineinander übergehen. Hier wie dort erreichen sie ein Endstadium, in dem sie sich aus sich selbst erklären. Hier wie dort – und das berührt wieder das Thema dieses Referats – lebt die Sache von Zeichen und Inszenierungen, werden Symbole gesetzt, Masken getragen, je nachdem – zum Schutz oder zur Verschleierung.

V. Von der Inszenierung zur Reproduktion

5.1 Verlust der Mitte

Orientierungen gehen verloren
Meine bisherige Darstellung folgt, wenn Sie so wollen, noch klassischen, wenn nicht gar konservativen Spuren, denn alle Überlegungen waren noch auf die Existenz eines Bösen, einer bösen Struktur, von Verführung oder Täuschung begründet. Bis hierher folgten wir der klassischen Moderne, christlicher Glaube und Aufklärung eingeschlossen, dass das Vernünftige gut, das Böse in jedem Fall unvernünftig sei. Diese Grundüberzeugung ist ins Wanken geraten. Grund dafür sind nicht nur die Human- und Sozialwissenschaften, die unsere Kriterien für das Böse durcheinandergerüttelt, ihre Anwendungen verunsichert wenn nicht gar negiert haben. Zwar war man schon immer der Überzeugung, dass eine Welt ohne das Böse faktisch undenkbar ist. Jetzt wird dessen Vernünftigkeit wenigstens in gewissen Rahmen behauptet. Ohne Aggression kann kein Mensch zu seiner Aggression finden, ohne sexuelle Grenzüberschreitung nicht wirklich erwachsen werde. Eine Gesellschaft kann nur in einem System Gewalt und Gegengewalt stabil bleiben. Schließlich sollte alles Böse zum „sogenannten Bösen“ entmythisiert werden. In der Regel bleibt jedoch akzeptiert, dass dem Andern ausdrücklich ein Existenzrecht bzw. seine unveräußerliche Würde eingeräumt wird.

Das Böse wird zum Prozess in sich
Allerdings entsteht bisweilen die Frage, was solches Menschenrecht noch gilt, wenn sich Ideale wie Ehrgeiz, Vaterlandsliebe, Wettkampf, körperliche Ertüchtigung, wirtschaftlicher Erfolg, Lusterfüllung, Eingliederung in die Erwartungen einer Gesellschaft allgemein durchsetzen. Wie sehr sich die Maßstäbe vermischen können, zeigt ein Zitat von O. E. Rössler: „Wenn man beispielsweise nicht die Grausamkeit sieht, die entsteht, wenn man ein kleines Kind in die Klasse mit 20 anderen steckt und davor einen Lehrer stellt, dann wird die Menschheit auch nichts gegen das Verhungern in der Dritten Welt tun können.“ (S.112).

Sadismus und Zynismus
Allerdings sind es Phänomene des Bösen selbst, die sich – von sich aus – nicht mehr auf eine bindende Ordnung, auf ein Über-Ich der Moralvorstellung beziehen, also auch keine Maske der Verstellung mehr nötig hat. Es ist der Sadismus, der in das obszöne Gegenteil des Über-Ich um seiner selbst willen abgleitet und der im Ku-Kux-Klan sowie in Nazi-Gemeinschaften und in terroristischen Systemen untersucht ist. Es bildet sich eine Solidarität-in-der-Schuld, der H. Arendt zu Recht ihre letzte Ehrlichkeit vor sich selbst abspricht. Der Zynismus wird dann zum letzten Stadium einer Destruktion, die sich der Wahrheit des Destruktiven absolut verschließt. Von hier aus fällt ein anderes Licht auf die besprochenen Masken und Inszenierungen des Bösen. Der den Sadismus bestätigende Zynismus zeigt, dass sich das „normale „ Böse“ wenigstens der kommunikativ symbolischen Grundstruktur der Wirklichkeit nicht verschließt und so – wie Goethe sagt – Erlösung immer noch möglich ist. Der Sadist bedarf keiner Erlösung. Im Blick auf Freuds Topologie unterscheidet Slavoi Žižek zwischen Ich-Bösem, Über-Ich-Bösem und Es-Bösem. Letzteres wird durch die Spannung zwischen dem Ich und elementarem Lustempfinden ausgelöst. In seiner „Primitivität“ nimmt es oft monströse Ausmaße an, wird aber zugleich zum hervorragenden Beispiel menschlicher Banalität, Schwäche und Primitivität. Das erste wird nach Žižek von „Habgier und Selbstsucht gelenkt, der heißt von der Nichtachtung universeller ethischer Prinzipien.

Selbsteinschluss und ideologische Immunisierung
Dieses „Ich-Böse“ ist das meistbesprochene aller Bosheitsarten. Es erfüllt die Kriterien der Masken und die Möglichkeiten des Inszenierung am besten, vielleicht deshalb, weil es in unserer Bildungs- und Gebrauchskultur am intensivsten besprochen wird. Am hartnäckigsten, in sich „verschlossensten“ aber ist das „Über-Ich-Böse“, von Žižek fundamentalistischen Fanatikern zugeschrieben, das „im Namen der fanatischen Unterwerfung unter ideologische Ideologie begangen wird. Problem dieses Bösen ist, dass es sich einem „Ideal“ unterwirft, das selbst schon Perversion bedeutet, sich in ausgefeilten Systemen präsentiert und sich einer schlüssigen Rationalität brüstet. Nicht ohne Grund sind auch Religionen mit ihren ausgefeilten weltanschaulichen Systemen für solchen Fanatismus anfällig – und immun gegenüber dem Appell des Guten, damit viel schlimmer als die Präsentation von Shakespeares King Lear, demzufolge das Gute nicht belohnt, sondern bestraft wird.

Man muss den hier angeführten ideologischen Systemen nur noch die Form eines komplexen gesellschaftlichen Systems (mit Staatsideologien und Staatsmacht, mit Ordnungsfunktionen und einerintensiven symbolischen Präsentation), das die Verantwortung für Mitmenschen auf die Verantwortung für die Erwartungen des Systems umlenkt, dann sind wir bei der Analyse der Nationalsozialismus mit Eichmann, der zum Prototyp einer solchen Destruktivität mit sauberen Händen geworden ist. Die Frage bleibt bei unserer Thematik, ob sich solches Böse darstellen, inszenieren und dadurch bearbeiten lässt. Ich lasse die Frage offen.

5.2 Entleerung der Inhalte

Wir sprachen von den Masken und von der Inszenierung des Bösen sowie von denjenigen Formen des Bösen, die keiner Inszenierung mehr bedürfen. Dafür gibt es zwei Gründe, die sich oft überlappen.
Entweder das Böse (im Sinne des Sadismus und des Zynismus) genügt sich so konsequent selbst, bestätigt sich so restlos durch sich selbst, dass es sich jeder Mitteilung, Vermittlung und Inszenierung verschließt.
Oder das Böse ist so sehr in Systeme, deren Selbststeuerung oder Zufälligkeit ausgewandert, dass eine jede „Zusammenfassung“ oder Systematisierung seinen Charakter verfälscht.
Ein dritter Faktor kommt hinzu, der sich – welcher Art das Böse auch sei – eine produktiv vermittelnde Inszenierung, also die Katharsis des klassischen Dramas, von vornherein unterbindet. Die Wirkung der Inszenierung im klassischen Sinn (im Drama oder im Bild) lebt von seiner Einzigkeit. Solche Inszenierung ist getragen von einem Individuum oder von einer Gruppe von Individuen; eine jede Aufführung wird zum neuen Ereignis; genau so, mit diesen Nuancen und mit dieser Dynamik wurde für den Betrachter ein Ereignis noch nie inszeniert. Deshalb wird es hier und jetzt, kraft der Symbolik der Zeichen und der Handlung inszeniert.

Mit der Technik des Films und der später folgenden Technik der virtuellen Darstellung ändert sich das zwar nicht abrupt, aber im Laufe der Zeit nachhaltig. Die Filmindustrie und die inneren Gesetze des Cyberspace beschleunigen die Produktionen und Reproduktion, vereinheitlichen die Präsenz der Zeichen (in erster Linie der handelnden Körper) und vergleichgültigen sie. Gestalten werden zu Kunstfiguren, unter dem Druck der Gewinnmaximen der Branche gerät ihre sinnliche Leiblichkeit in den paradoxen Sog von primitiver Körperlichkeit (der obszönen Sexpraxis) einerseits und einem Ekel davor, der sich in höchst destruktiven Imaginationen verdichtet. Ähnlich wie in einer eigenen Literaturgattung werden und erscheinen Körper zerstückelt. Dazu gehören die Splatter- und Gore-Filme, in denen Schädel aufgebohrt, Körper zerstückelt, Gliedmaßen zerschnitten, ein Szenario unvorstellbarer Brutalität und Obszönität gezeigt wird.

1963: Blood Feast; 1968: Die Nacht der lebenden Toten (Night Of The Living Dead); 1978: The Texas Chainsaw Massacre; 1978: Zombie – Dawn of the Dead; 1979: Cannibal Holocaust; 1980: Muttertag (Horrorfilm); 1981: Maniac; 1982: Tanz der Teufel; 1985: Re-Animator; 1985: Zombie 2 – Day of the Dead; 1985-1992: Die Guinea-Pig-Reihe; 1986: Die Fliege; 1987: Bad Taste; 1987: Hellraiser; 1990: Bride of Re-Animator; 1992: Braindead; 1996: From Dusk Till Dawn; 2003: Haus der 1000 Leichen; 2004: Shaun of the Dead, eine Parodie auf den klassischen Splatterfilm; 2004: The Night They Returned (Regie: SV Bell); 2005: 2001 Maniacs; 2005: Land of ; the Dead; 2006: The Hills Have Eyes – Hügel der blutigen Augen; 2006: Severance

Die Deutungen sind verschieden. Unleugbar zeugen sich von einer „Versachlichung“ und Verdinglichung des Körperlichen, die alles bisher Bekannte übersteigt. Zu fragen ist, was dieses Phänomen ermöglicht. Kulturkritiker sehen darin den Höhepunkt einer Leibfeindlichkeit, von der unsere gesamte Tradition gezeichnet ist und die in der hochdisziplinierten und rationalisierten Zivilisation der Moderne ihren Höhepunkt findet. So gesehen bedeuten Splatterfilme nichts anderes als Symbolisierung einer inhumanen, sinnen- und leibfeindlichen Tiefenschicht unteres Zusammenlebens. Andere verweisen auf den unbarmherzigen Trend zur Versachlichung und Objektivierung, auch Instrumentalisierung, die von einer hochindustrialisierten Gesellschaft ausgeht. Höchst umstritten, wenngleich nicht verstummend ist die Frage, ob und inwiefern solche Filme auf die Zuschauer (Jugendliche zumal) brutalisierend und gewaltfördernd wirken. Ich persönlich bin das sehr spektisch, denn unbestritten können solche hochbrutale Darstellung in einer unheilvollen Umwelt auch heiligende Wirkungen ausüben.

Warum sollte dies der Fall sein? In einer Zeit höchster Leibdistanz und höchster Disziplin, enormen Leistungsdrucks und hoher Entpersonalisierung (Sennett) können solche Darstellungen auch als Ventile tiefenpsychologischer Verletzungen und Frustrationen dienen. Das solche Bilderwelten in den Imaginationen aller Generationen zu finden sind, ist bekannt. Viele Solche Darstellungen sind auf ihre Weise so wirklichkeitsfremd, so geschichts- und geschichtenfern, dass ihr irrealer, ihr bloßer Phantasiewert mit Händen zu greifen ist, – zumal dann, wenn sie von einem unerträglich Zug zum Skurrilen getragen sind. Unerträglich ist dieser Zug nämlich auf der Ebene rationaler Rezeption und Kommunikation. Auf der Eben des Ungewussten können sie therapeutisch wirken.

5.3 Quellen neuer Gewalt?

Ob die gängigen und oft besprochenen Gewaltdarstellungen und Filmen und die brutalen Gewaltpraktiken in Computerspielen Gewalt fördern zumindest ermöglichen, sei hier ebenfalls dahingestellt. Umstritten sind auch hier die Antworten. Der Medienwissenschaftler und Psychoanalytiker Manfred Riepe rät jedenfalls zu Vorsicht. Er verweist auf das Paradox, dass ausgerechnet die Werbebranche und deren Kunden Gewalt- und „obszöne“ Sexdarstellungen im Umfeld ihrer Reklameprodukte ablehnen. Sie fordern ein ansprechendes, ein sauberes, ein perfektes Umfeld.

Sind sie also die Protagonisten einer human hochwertigen Film- und Fernsehkultur oder suchen sie ein Umfeld, in dem ihre Reklame beste Wirkung entfaltet? Letzteres ist anzunehmen. Daraus aber ergeben sich die Fragen, denn die Reklamespots entwerfen in der Regel weltfernere und irrealere Welten als ein Film, der Brutalität inszeniert und so zur Verarbeitung bereitstellt. Die Welten der Reklame sind zwar paradiesisch, unnahbar, perfekt, aber fern von allem Leben. Kreative Identifikationen mit Geschehen und Personen sind praktisch unmöglich. So schaffen sie – in der Tiefe der unbewussten Erfahrung – bei ihren Zuschauern nur Frustration, Selbsthass, Unzufriedenheit. Ich zitiere M. Riepe:

„Nicht die Gewaltdarstellung, sondern der narzisstische Terror der Werbung leistet also entsittlichender Verrohung Vorschub. Die aggressive (Selbst-)Begegnung mit dem Spiegelbild der Werbung entspricht der Besetzung des menschlichen Abbildes mit narzisstischen Imagines. Die in der Nachfolge der politischen Zensur etablierte ästhetische Zensur drückt die paradoxe Hoffnung aus, jene blutige Selbstbegegnung des Narkissos Batman am Ende harmonisch glücken zu lassen. Weil Persil immer gleich Persil bleibt, bricht aus dieser Welt selbstidentischen Glanzes plötzlich das Phantasma unerhörter Brutalität hervor. Das Gespenst der Gewalt ist ein Spuk, wobei der Spuk sich etymologisch herleitet von: Spiegel. Kein Spiegelbild besitzt der vampirisch Blut saugende Narzissmus-Zombie Patrick Bateman: weil er bereits das Spiegelbild ist.“

Sie spüren, die Welt ist komplizierter gebaut, als eine eins-zu-eins-Konstruktion von Wirklichkeit und deren Darstellung vorgibt. Wir brauchen Symbolisierung und Kommunikation. Wir benötigen die Spiegel, in denen wir uns und die Weltsituation abarbeiten können. Da die Welt nun einmal abgrundtief böse ist (und wir in diese Bosheit verwoben sind), kommt der Maske und der Inszenierung des Bösen heilende Kraft zu. Auch um unserer Gesundheit und um der Gesundheit unserer Kultur willen sind wir darauf angewiesen, dass die alten und die neuen Bosheitserfahrungen erweckt, dargestellt und so ihrer Bearbeitung geöffnet werden.

5.4 Amorphe Viskosität oder Masken der Heilung?

Das hier entwickelte Modell der Masken und Inszenierungen hat allerdings seine Grenze. Bis hin zu Thomas Mann hat das Böse, wie wir sahen, noch sein Gegenmodell. Zerstörerischem Nihilismus steht der Glaube, der Dummheit die Vernunft, der Menschenverachtung die Humanität, dem Hass die Liebe gegenüber. Was aber geschieht in einer Epoche, die sich – wenn man so will – weigert, positive Gegenkräfte überhaupt noch zu benennen, weil sie sich gegen eine jede „große Erzählung“ sträubt und weil ihr jede Konstruktion zur „bricolage“, zum laienhaften Basteln gerät? Eine belgische Literaturwissenschaftlerin hat (in einem bislang unveröffentlichten Beitrag) eine wichtige, für mich erschreckende Radikalisierung entdeckt. Das Böse wirkt dadurch, dass es sich selbst entmächtigt. Es reißt alles in seine Abgründe, weil es selbst konzept- und konturenlos ist, wie ein zum Schwarzen Loch implodierter Stern. Das zähflüssig-klebrig-Formlose, eine konturlose Zähflüssigkeit also, nennen wir es hier „das Viskose“, wird zur Maske der Destruktion. Assoziationen zum Gedanken der materia prima und der Seinsprivation, auch zum augustinischen Bild der formlosen und infektiösen „Masse“ kommen auf. Sie führt in einem Chaos, dem jedes Systemganze ausgetrieben ist, kein chaotisches System mehr, sondern ein systemloses Chaos. Das Böse wird so – wiederum Goethe – zum Geist, der stets verneint, – radikaler noch: der nicht einmal mehr verneint. Es wird zum Prinzip, das sich schlechthin verweigert, zum Schmarotzer, der allem Leben lautlos und wie selbstverständlich seine Vitalität entzieht. Es ist die Lücke, die sich – wie der Tintenfleck auf einem Papier – hineinfrisst und immer vergrößert. Dies sind Metaphern, die wir nicht mehr unter Kategorien wie Maske, Dramatisierungen oder Inszenierung einordnen können, wo in einer Kultur der totale Umbruch droht. Sobald sich die Intuition einer vollkommenen Orientierungs- und Strukturlosigkeit aufdrängt, werden wir auch gegenüber dem Bösen sprachlos. Denn Sprachlosigkeit würde zum Erstickungstod einer jeden kulturell zu organisierenden Widerstandskraft führen.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Strategie der Maskierung, der Dramatisierung und Inszenierung des Bösen als unverzichtbar. Sie wird zur Überlebensstrategie. Die Differenz zwischen Sache und deren symbolischem Selbstausdruck, von dem weiter oben die Rede war, kommt uns jetzt zu Hilfe. Diese Differenz liegt ja auch einer jeden Kultur zugrunde. In ihr erleiden wir unsere Schicksale nicht passiv, sondern wir gehen mit ihnen um. Wir besprechen und verarbeiten sie. Wir stellen uns auf sie ein und versuchen zu steuern, einer jeden Todessehnsucht Einhalt zu gebieten, Nekrophilie mit Biophilie entgegenzutreten. Es wäre weder hilfreich noch sinnvoll, in der Kunst unsere Wirklichkeit nur abzubilden. Nein, wir interpretieren und verstehen sie. In sinnlich verankerter Rezeption schaffen wir uns Inbilder, die jede Analyse überschreiten, klären wir unsere eigene Position gegenüber dem Inszenierten, erneuern wir unsere eigenen Phantasien gegenüber der Wirklichkeit. Wir verstehen und lehnen ab, über Empathie und Antipathie holen wir Kraft für unsere eigenen Deutungen und Inszenierungen. Wir schöpfen also Atem und begegnen unserer Wirklichkeit in einem kollektiven Raum, der entlastet und engagierte Distanz ermöglicht. Deshalb ist schon eine jede Inszenierung des Bösen, so fürchterlich und schrecklich es auch ist, der Beginn einer produktiven Begegnung, vielleicht seiner Überwindung. Identifikation setzt Prozesse der Mimesis mit der Ablehnung in Gang, die die Inszenierungen der Verführung, der Lüge und der Zerstörung in Gang setzen.

Die Formel, dass Inszenierungen des Bösen zur Nachfolge im Bösen aufrufen, geht also nicht auf. Untersuchungen von Fernsehspots haben erbracht, dass nicht der vorgetragene Inhalt an sich entscheidet (wenn er denn die Wahrheit sagt), sondern die Zeit und das Vermögen, sich mit ihm auseinander zu setzen. Insofern kann die Präsentation des Bösen, wenn verarbeitungsfähig, reinigend („kathartisch“, wie schon die antike Tragödie wusste), die Präsentation einer perfekten Schönheit hingegen, wenn zu kurz und so perfekt, dass Identifikationswege unmöglich sind, destruktiv wirken. Alle große Literatur und alle große Schauspielkunst, auch alle großen Filme präsentieren gerade keine Idyllen, aber sie dramatisieren, inszenieren und „maskieren“ die Ereignisse auf eine Weise, dass kritische Mimesis möglich wird. Hilflos werden wir hingegen, wenn das Böse für uns zum Amorphen und Unbesprechbaren absinkt. Dann erst kann es seine destruktive Wirkung wirklich erfüllen. Dabei interessieren nicht einmal so sehr die Täter und ihre Psychologie. Solange aber die Frage klar bleibt, wer und was die Opfer sind, ist eine konstruktive Reaktion möglich. Diese Reaktion muss sich nicht auf der Ebene rationaler Analyse vollziehen, wohl aber auf der Eben handlungsbereiter Empathie. Danken wir also den Literaten und Dramatikern, den Geschichtenerzählern und Schauspielern. Ohne ihre Mitarbeit wäre die Aktualisierung religiös-ethischer Impulse vermutlich nur die Hälfte wert. Dies gilt umso mehr für eine Epoche, die ihre Identität nur zu oft auf Presse und Fernsehen bezieht.

Schluss: Ein Wort zur Theodizee

Man mag sich darüber streiten, ob die „Theodizee“, also die Verteidigung von Gottes Güte angesichts der Übel der Welt, so alt wie die Menschheit oder ein Kind der Neuzeit ist. So alt wie die Menschheit ist die Klage über das Leid, den Tod, den fehlenden Sinn menschlichen Geschicks. Wir kennen es schon vom Gilgamesch-Epos, lange vor Bibel und christlicher Erinnerung. Nicht zu leugnen ist, dass das Ijobbuch, die „Lieder vom Gottesknecht“ bei Jesaja, der Bericht vom Leiden und Sterben Jesu diese Frage auf einer Höhe verhandeln, die später kaum, vielleicht nie mehr erreicht wurde.  Zur Debatte steht also die elementare Frage, mit der sich die Versucher zur Rechtfertigung Gottes beschäftigen. Seit der Neuzeit kam aber etwas Neues hinzu, – Grund dafür, dass Leibniz für seinen Versuch den neugeschaffenen (und unprofessionellen) Begriff „Theodizee“ einführte. Neu ist die eingeschlagene Methode. Es geht nicht mehr um die betroffene Präsentation der Klage, sondern um den Versuch, die Frage in nüchterner, rational philosophischer Weise zu lösen. Man kann heute sagen (was E. Kant schon wusste), dass dieser Versuch gescheitert ist. Am Ende dieses Referats lässt sich der Grund dafür auch in einem Punkt zusammenfassen: Das Böse (gleich, ob als physisches oder als moralisches Übel verstanden) entzieht sich einer jeden rationalen Durchdringung im Sinne der abendländischen Philosophie, weil es nie es selber ist, sich einer berechnend rationalen Analyse entzieht. Es lässt sich geradezu als dasjenige definieren, das zur menschlichen Rationalität quer steht. Es verlangt Konfrontation, Antizipation und ein Handeln, das ihm gegenübersteht. Nach vielen Analysen und einiger Resignation gegenüber dem Ijobbuch habe ich genau das gelernt: an einer eindeutigen Lösung ist es gar nicht interessiert. Es will eher als ein Schauspiel des Lebens, als eine Art „Jedermann“ (spectaculum mundi) verstanden werden, auf dessen Aussagen, Klagen, Proteste wir uns einlassen, um dann gemeinsam(!) sagen zu können: ja, das ist unser Geschick. Ihm werden wir gemeinsam(!) unsere Solidarität, unsere Option für die Opfer und unser Bestehen darauf entgegensetzen, dass die Liebe das letzte Wort hat. Unsere Wirklichkeit erfüllt sich erst dann, wenn sich Liebe und Gerechtigkeit versöhnt haben. Vielleicht ist das der entscheidende Grund für den Glauben auf ein Ewiges Leben. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Christen diese Hoffnung nicht aufgeben, obwohl noch niemand eine befriedigende Vorstellung zur Konkretisierung dieser Hoffnung geliefert hat. Das schließt nicht aus, dass wir diese Hoffnung – auch sie! – in kraftvollen Farben inszenieren können.

Literatur:
H. Arendt, Eichmann in Jerusalem: ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 41976;
H. Arendt, Über das Böse. Eine Vorlesung zur Fragen der Ethik, München 22006;
H. Häring, Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Darmstadt 1999;
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg). Das Böse. Jenseits von Absichten und Tätern, oder: Ist der Teufel ausgewandert? (Schriftenreihe Forum 3), Göttingen 1995;
J. Laube (Hg), Das Böse in den Weltreligionen, Darmstadt 2003;
P. Ricoeur, Das Böse: eine Herausforderung für Philosophie und Theologie, Zürich 2006;
R.Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, München 1997;
W. Sofski, Zeiten des Schreckens: Amok, Terror, Krieg, Frankfurt, 2002;
E. Willnauer, Heute das Böse denken: mit Immanuel Kant und Hannah Arendt zu einem Neuansatz für die Theologie, Berlin 2005.

(erweiterter Vortrag vom 01.02.2007)