Folgerungen für ein universales Naturverständnis
I. Vorbemerkungen
Weltethos ist einer jener gefährlichen Begriffe, den Interessierte auf Anhieb zu verstehen glauben, bis sie im Getümmel der Diskussion entdecken, dass ihre Gedanken entweder an Mauern des Unverständnisses abprallen oder den Eindruck banaler Selbstverständlichkeiten erwecken. In der Regel haben sie dann zwar keinen Unsinn geredet, aber doch einige Klarstellungen versäumt, ohne die ein sinnvolles Gespräch nicht in Gang kommen kann. Sowohl der Begriff Welt als auch der Begriff Ethos sind hier klärungsbedürftig. Zudem erfuhr der Doppelbegriff in dem von Hans Küng formulierten „Projekt Weltethos“ [PW] eine spezifische Ausprägung. Im Folgenden verwende ich den Begriff in diesem Sinn, versuche allerdings, ihn in einem breiteren Diskurs zu verankern.
1. Konkreter Anlass
Die ersten Bausteine zu Idee und Projekt gehen auf ein Symposion der UNESCO in Paris (1989) sowie auf einen Vortrag beim World Economic Forum in Davos (1990) zurück. Beide Male stand in Monaten des weltweiten Umbruchs die Frage zur Debatte, nach welchen moralisch verantworteten Normen und Standards aus der Sicht der Religionen, von Wirtschaftsführern und von Politikern die Zukunft der Welt zu gestalten sei[1]. 1993 kam auf dem Parlament der Weltreligionen in Chicago schließlich die ausdrückliche Frage hinzu, was die Weltreligionen zu diesem Problem beitragen könnten; das Parlament antwortete mit einer Erklärung zum Weltethos [Erklärung], das zum klassischen Text des PW werden sollte[2]. Von Anfang an war klar, dass uns nach dem Zusammenbruch des Weltkommunismus (1989) der Weltfriede nicht in den Schoß fallen würde. Denn alle Parteien waren sich in der globalen Analyse der bleibenden Weltbedrohung einig. Ganz im Sinne der Charta der Menschenrechte, aber auch ganz im Sinne der großen religiösen Weltvisionen sind für die gesamte Menschheit zu gewährleisten: ein elementarer Lebens-Schutz, die Verfügbarkeit der elementaren Lebensvoraussetzungen und Lebens-Mittel, der Schutz und die Aufrechterhaltung lebensnotwendiger Kommunikation sowie die gleiche unveräußerliche Würde und Gleichberechtigung aller Menschen, seien sie Mann oder Frau, erwachsen oder Kind, stark oder schwach.
Bei allem Realismus, der vor zu viel Optimismus warnte, ging das PW in Distanz zu zwei aufsehenerregenden Deutungen der neuen Situation: zu F. Fukuyama, für den der Zielpunkt historischer Entwicklung möglicherweise erreicht war und vor allem zu S. Huntington, für den das 21. Jahrhundert auf einen Kampf der Kulturen hinsteuert[3]. Von Anfang an setzt das PW auf die Möglichkeit eines Menschheitsfriedens. Dieser ist allerdings von Bedingungen abhängig, die noch zu nennen sind. Von zentraler Bedeutung ist für Küng das Motto, das die Thematik der ersten UNESCO-Veranstaltung aufnimmt und das er oft wiederholt: „Kein Frieden unter den Nationen ohne Frieden unter den Religionen.“ Ein Vergleich der umfassenden Analysen von Fukuyama und Huntington mit dem erstgenannten kleinen Buch von Küng oder mit der genannten Erklärung zum Weltethos zeigt sogleich auch den ganz anderen Charakter der Ansätze. Das PW versteht sich nicht als hochdifferenziertes Analyseinstrument, sondern als Beginn eines konkreten Prozesses. Am Beginn stehen keine umfassende Theoriebildung, sondern programmatische Texte mit knapper Problembeschreibung der Weltsituation und einer Strukturierung gebotener Lösungswege. Diese sollen entsprechende Theoriebildungen und ein praktisches Handeln initiieren, die uns dem Weltfrieden näher bringen.
2. Epochenumbruch
Das PW reagiert auf eine Weltsituation, die sich seit den neunziger Jahren nicht geändert hat: Weltweite Bedrohung durch militärische Waffen, durch Hunger und Verarmung, durch Korruption und Manipulation sowie durch die Auflösung elementarer Formen des Zusammenhalts in Familien, zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Diese Bedrohungskategorien sind nicht neu[4], aber der aktuelle Globalisierungsschub hat universale Züge angenommen, weil er von keinen räumlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Grenzen mehr begrenzt wird[5]. Auch heute sind Globalisierungsprozesse nicht einfach vom Übel, aber sie verschärfen und universalisieren eine ererbte, moralisch nie bewältigte Ambivalenz von Machtpolitik, kapitalistischem Wirtschaftsgebaren, der umfassenden Meinungslenkung sowie der Instrumentalisierung intimer Lebensverhältnisse. Hemmende und zur Vorsicht mahnende Gegenkräfte bleiben nicht aus[6], aber ihr hinreichender Erfolg mag füglich bezweifelt werden. Es gibt nahezu keine Kultur und keine Zivilisation, keine Ausbildung und keine Staatenpolitik, keine anspruchsvolle Zukunftsplanung mehr, die sich nicht im Umfeld der aktuellen ökonomischen und fiskalischen, medialen und politischen Globalisierungsprozesse vollzieht.
Dass in diesem Kontext die Zukunftsfrage interkulturell zu reflektieren und die neue Rolle der Religionen interreligiös zu beantwortet ist, bedarf keiner näheren Begründung. Deshalb muss die Menschheit in einer kulturüberschreitend gemeinsamen Weise auch die neuen Gefahren erkennen und durch die Schaffung eines neuen gemeinsamen moralischen Bewusstseins darauf reagieren. Um diesen weltethischen Kontext geht es, auf den man in verschiedener Weise antworten kann. Deshalb hat das PW hier nur exemplarische Bedeutung, weil es m. E. kein vergleichbar ausgearbeitetes Modell gibt.
3. Induktiv-empirischer Ansatz
Exemplarisch für eine weltethische Theorie- und Praxisbildung scheint mir auch dies zu sein: Das PW hat nicht den Ehrgeiz, eine neue Anthropologie oder einen bestimmten Begriff vom Wesen des Menschen zu entwickeln. Es versteht Universalität als empirisch wahrgenommenes und induktiv weitergeführtes Phänomen. Die Rede von der menschlichen Natur kommt also nicht als philosophisch reflektierte Kategorie in Betracht, sondern als Benennung von Eigenschaften, ohne die – empirisch gesehen – ein menschliches Leben nicht lebbar wäre. Was man vom PW lernen kann, das sind die Einbeziehung des Ziels in die Überlegungen, von denen das Projekt geleitet wird sowie die strategischen Entscheidungen, die zu diesem Ziel führen sollen. Kurz gesagt: Das PW führt zu einem interreligiösen Dialog (Ebene 1), der in einen säkular interkulturellen Dialog einmündet (Ebene 2) und sich auf rational sowie universal einsehbare Wertorientierungen verständigt (Ebene 3). Für eine widerspruchsfreie Grundlegung dieses Ziels ist die globale Geltung universaler Grundwerte mit deren pluraler Gestaltung innerhalb einzelner Kulturen und Religionen zu versöhnen. Wie also kann das PW im Rahmen seines Ansatzes begründen, dass den erarbeiteten Grundwerten (Gewaltfreiheit, soziale Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung) eine universale Geltung und zugleich eine plurale Realisierung zukommen kann? Bei der Beantwortung dieser Frage wird von der Goldenen Regel zu sprechen sein.
So gründet das PW weder auf einer abstrakt-philosophischen noch auf einer humanwissenschaftlichen Grundlagenerörterung. Sein Beginn ist induktiv-empirischer, sein Ziel (im weitesten Sinn des Wortes) politischer oder (wenn Sie so wollen) eschatologischer Art. Sein Feuer schlägt es aus der Konfrontation zwischen einerseits der drohenden militärischen, ökonomischen und sozialen Weltkatastrophe und andererseits dem erstrebten Weltfrieden für eine versöhnte Menschheit. Auslöser der Überlegungen ist die Sorge um den beispiellosen Niedergang einer sich selbst zerstörenden Menschheit. Mit ihr verknüpft sich die Frage nach globalen Grundorientierungen zur Abwendung der großen Gefahren, die der Zukunft der Menschheit drohen. Seine Plausibilität erhält die Fragestellung aus dem Bewusstsein eines Epochenumbruchs, der seit den neunziger Jahren bis in die Gegenwart hinein anhält. Eine allgemeine, mehrdimensionale Bedrohung geht mit einem Gefühl der Hilflosigkeit einher, das wir schon seit Jahrzehnten kennen[7]. Von hoher Dringlichkeit ist nicht nur die Frage, was zu tun ist, sondern auch die Frage, woher wir die Orientierung und die Kraft nehmen, um erkannte Ziele sachgemäß anzusteuern und durchzusetzen. Es geht also um die Benennung von Zielen und Ressourcen im Kontext einer ernüchternden Erkenntnis: Die westliche Wissenschaftspraxis, die sich in einer ungeheuren Komplexität von Detailfragen abarbeitet und sich darin erschöpft, hat es bis heute zu keinen tragfähigen Konsensen gebracht, vielleicht gar nicht bringen können.
II. Interreligiöser Dialog
1. Grundkonsens bezüglich verbindlicher Werte
Da die dichte ökonomische, fiskalische, technische und mediale Vernetzung der Welt dichte kulturelle Vernetzungen nach sich zieht, interessiert sich das PW von Anfang an für den interreligiösen Dialog, der immer in interkulturelle Dialoge verwoben ist.
Auch dabei geht das PW, wie ich sagte, einen phänomenologisch induktiven Weg, den es strategisch ordnet. Das bedeutet zunächst die Suche nach gemeinsamen Grundregeln für eine versöhnte Weltzukunft. Wird es möglich sein, den Weltreligionen einen Grundkonsens bezüglich „verbindender Werte, unverrückbarer Maßstäbe und persönlicher Grundhaltungen“ [Erklärung I] abzuringen? Können die Weltreligionen mit einer Stimme sprechen und wie weit reicht diese Übereinstimmung? Dass eine Antwort eine intensive Kenntnis der Religionen sowie das kontinuierliche Gespräch mit ihnen voraussetzt, war für H. Küng zu Beginn der neunziger Jahre selbstverständlich. Spätestens seit Beginn der achtziger Jahre hat er sich ausführlich mit ihnen beschäftigt[8]. Die Suche nach Antworten hätte sich inhaltlich und methodisch höchst kompliziert gestalten können, möglicherweise hätte das gegenseitige Einverständnis in einer so zentralen Frage versagen können. Aber zur großen Überraschung brachten die Vorarbeiten zur Versammlung von Chicago trotz intensiver Detailarbeit einen unerwarteten Durchbruch[9]: einen Konsens in vier Grundregeln oder Prinzipien, auf den sich die große Mehrheit der Teilnehmer des Parlaments einigen konnten[10].
2. Vier Weisungen
Im Kern bezieht sich dieser Konsens von Chicago auf vier „Prinzipien“, mit deren Analyse ich hier beginne. Sie lauten:
- Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor allem Leben,
- Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,
- Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit,
- Gleichberechtigung und Partnerschaft von Mann und Frau.
Was bedeutet und wie erklärt sich dieser Konsens? Er bedeutet zunächst, dass die Angehörigen der verschiedenen Religionen diese Prinzipien in ihren normativen Schriften wiederfinden konnten und dass sich diese Entdeckung seitdem bewährt hat; er ist seit 1993 vielfach dokumentiert und dargestellt[11]. In der biblischen Tradition finden sich die vier Prinzipien im Dekalog, der sie – im Kontext einer vormodernen und relativ undifferenzierten Gesellschaft – in Form von vier Verboten ausspricht: nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, kein Missbrauch der Sexualität. Natürlich erklärt sich dieser Konsens auch dadurch, dass er schon Teil seiner Übersetzung in die Gegenwart ist. Es lässt sich nicht etwa behaupten, dass die vier Prinzipien in allen Religionen denselben prominenten Stellenwert haben wie etwa in der biblischen Tradition oder dass alle zustimmenden Religionen ihnen bei sich zu Hause allerersten Vorrang einräumen; das ist wohl auch im Christentum nicht der Fall[12]. Aber heute gibt ein gemeinsames globales Bedrohungspotential den Religionen einen einheitlichen hermeneutischen Horizont vor. Dieser stellt sie in Fragen der globalen Situation nicht mehr gegeneinander, sondern zwingt sie nach Möglichkeit zu einer gemeinsamen Haltung, sofern sie für die ihnen gemeinsame Zukunft überhaupt Verantwortung übernehmen.
Das PW ist also kein Rundumprojekt der Religionen mit Totalanspruch, vielmehr bezieht es sich zunächst auf jene alle berührenden Weltprozesse, die eine globalisierte Form zeitgenössischen Zusammenlebens hervorbringt. Ich nenne etwa die wachsende Einbindung der Staaten in internationale Organisationen, eine weltweit vernetzte Macht- und Militärpolitik, eine weltweit vernetzte Weltwirtschaft und globale Fiskalsysteme, aber auch alle elementaren Formen menschlichen Handelns, die globale Auswirkungen haben[13]. Schließlich ist nicht zu vergessen: Dieser Prozess gemeinsamer Überlebensfragen steht erst am Anfang. Der empirisch induktive Charakter des PW versteht sich nicht im Sinne naturwissenschaftlicher Empirie auf fertige, ein für allemal erhärtete und verfügbare Ergebnisse, sondern sind auf die Zukunft ausgerichtet, also unmittelbar in aktuelle Prozesse verwoben. Deshalb haben sie sich – sozusagen täglich – neu zu bewähren und zu differenzieren. Für die konkrete Arbeit bilden sie eine solide Arbeitshypothese, die bis zum Erweis des Gegenteils das Denken und Handeln bestimmt. Sobald sich Gründe dafür zeigen, sind sie neu auszuformulieren, gegebenenfalls zu korrigieren. Die vier gefundenen Pfeiler eines ethisch verantworteten Handelns bleiben also in die hermeneutischen Prozesse ständiger Selbstinterpretation verwoben, weil wir die konkreten Auswirkungen eines Handelns nie voll abschätzen können.
Kommen wir zum interreligiösen Konsens zurück. Es geht um Partizipation an der Weltverantwortung. Über diesen Umweg hat das PW wichtige Rückwirkungen auf die Gestaltung und ein zeitbezogenes Selbstverständnis der Religionen, vieler Gemeinschaften innerhalb ihrer und individueller Lebensgeschichten, denn ethische Forderungen wie Lebensschutz, Gerechtigkeit, Fairness und Gleichberechtigung führen zu einer Relecture der religiösen Grundlagentexte, weil sie nicht teilbar sind. Dabei zu hoffen, dass sich das Selbstverständnis einer Religion kurzfristig verändern ließe, wäre jedoch naiv. Aber es kann sich in dem Maße ändern, als im Rahmen tiefgreifender kultureller Metamorphosen auch die Identität von Religionen einem steten Wandel ausgesetzt ist. Zunächst wird es sich wohl bei den Religionsangehörigen wandeln, die auf globaler Ebene agieren und bei der Lösung globaler Fragen mitarbeiten.
Diese Perspektive kann auch eine erste Antwort auf die oft gestellte Frage geben, ob die Erklärung von Chicago und das Konzept des PW nicht „westlich“ konzipiert sind[14]. In erster Linie, so meine persönliche Antwort, muss die Erklärung für alle am Prozess beteiligten Teilnehmer verständlich sein, gleich welche Religion sie geprägt hat. Sie müssen die Anliegen ihrer eigenen Religion wiedererkennen. In zweiter Linie sollte die Erklärung denjenigen Diskursen nahe kommen, die sich in den Prozessen globalen Handelns faktisch bewähren. Drittens ist Folgendes nicht zu vergessen: Die Angehörigen einer jeden Religion, die dieser weltethische Ansatz überzeugt, haben das Recht und die Pflicht, dessen zentrale Inhalte sowie deren Folgerungen in die Mentalität und die Sprache ihrer je eigenen Religion zu übersetzen und von deren Spiritualität her zu füllen. Die vorliegende Erklärung versteht sich als den ersten Anstoß für einen globalen Verstehensprozess, dessen umfassende Füllung noch aussteht.
3. Ethos
Die vier genannten „Prinzipien“ sind nicht theoretisch konstruiert, sondern als interreligiöser Konsens vorgefunden, deshalb ist auf die spezifische Bedeutung des Begriffs Ethos hinzuweisen. Schon in den ersten Interpretationen wird er vom Begriff der Ethik unterschieden. Weder will noch kann er die wissenschaftliche Erarbeitung oder Legitimation von globalen Verhaltensregeln ersetzen; dies wird immer die Aufgabe einer wissenschaftlich reflektierten Ethik bleiben, welcher Art sie auch immer sein mag. Der Akzent liegt vielmehr auf der Suche nach kulturell tief verankerten (und akzeptierten) Lebenserfahrungen, die in bestimmten Lebenshaltungen und Lebensregeln zum Ausdruck kommen. Ethos meint eine faktisch gelebte, eine grundsätzlich internalisierte Moral, die ihr angestammtes Zuhause hat[15]. Chicago spricht von „Werten, Maßstäben und Grundhaltungen“, die in einer Religion bzw. in deren Kultur allseitig erprobt, durch Jahrhunderte hin konkret ausgestaltet und in verschiedenste Intensitätsgrade ausgefächert wurden. In vorwissenschaftlicher Weise ausgedrückt: Ein Buddhist, ein Moslem oder ein Jainist geht mit anderen Menschen so oder anders um, für ihn bedeutet Wahrheit dies oder jenes. Wenn es um eine globale Weltordnung geht, sind ihm diese oder jene Regeln wichtig.
Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass solche grundlegenden Antworten für die konkrete Gestaltung höchst variabel sind und sein müssen. Ich nenne hier nur vier Gesichtspunkte: (1) Zunächst werden solche Regeln eines bestimmten Ethos, so selbstlos sie auch klingen, immer im Rahmen der eigenen partikularen Probleme formuliert. Die Kritik der religiösen Androzentrik hat dies auf breiter Linie illustriert. Auf bestimmte Aspekte ist also erst hinzuweisen, bevor sie sich durchsetzen. (2) Ein geltendes Ethos bedeutet nicht, dass es nicht massiv verletzt werden kann; das Phänomen des „Sünders“ ist in allen Religionen zu Hause. Es kommt vielmehr darauf an, dass sich Angehörige einer Religion an den geltenden Maßstäben messen, gegebenenfalls auch kritisieren lassen. (3) Zunächst führt das Ethos einer Religion zu allgemeinen und gut lebbaren Standards. Innerhalb der Religionen bildet es aber auch höchst kreative Sonderformen und hochethische Gestalten aus; man denke an Formen des Mönchtums und an die Hochschätzung der Märtyrer. In unerwarteten, eventuell lebensbedrohlichen Situationen kann dieses Ethos zur Entlarvung des Inakzeptablen, zur bedingungslosen Ablehnung eines bestimmten Verhaltens führen. Es kann (in religiöser Terminologie ausgedrückt) zu prophetischen Zeichen und Antworten führen. (4) Ein Ethos im normativen Sinn des Wortes spiegelt, wenn es denn leben soll, den vitalen und ganzheitlichen Charakter einer Religion wider. Es geht den Rechtekatalogen (denken Sie an die modernen Menschenrechte), den Pflichtkatalogen (denken Sie an unsere alltäglichen Verpflichtungen), den Verboten (denken Sie an den Dekalog), aber auch den verinnerlichten Gesinnungen (denken Sie an die Hochschätzung von Tugenden) voraus. Zudem weist die Erklärung von Chicago auf den „Wandel des Bewusstseins“ und auf die „Umkehr der Herzen“ hin [Erklärung IV]. Dieses Ethos bereitet also auch auf Situationen vor, die unseren normalen Alltag überfordern und den unverrückbar kategorischen Charakter eines solchen Ethos zum Tragen bringen.
4. Dynamische Aspekte
Die vier genannten Prinzipien sind nicht in sich, sondern als Elemente und Ausfluss eines religiösen Ethos (genauer: als Ausfluss eines religiösen Ethos schlechthin) zu verstehen. Dies muss gesehen werden, will man den Weg in eine neue rigide, endgültig abgeschlossene Form religiöser Moralbildung vermeiden. Es geht um fundamentale Anweisungen, die in jeder neuen Wirklichkeitskonstellation von den einzelnen Religionen und innerhalb ihrer von einzelnen Menschen neu auszuschöpfen sind. Zur Konkretisierung der Regeln gehört notwendigerweise Pluralisierung, Anpassung an verschiedene Herausforderungen und Lebenssituationen. Auch dies wird im PW nicht als analytischer Akt, sondern als empirisch wahrnehmbarer Prozess begriffen, der sich immer neu darstellt und an den Wirklichkeitsänderungen einer Religion abzulesen ist.
Im Unterschied zu einer vergleichenden Religionsphänomenologie bzw. Religionsethik gibt das PW einigen dynamischen Aspekten ein besonderes Profil. Das ist die Erfahrung einer neuen Situation. Sie schafft keine neuen Regeln, aber verleiht den geltenden Regeln eine neue Geltung. Hinzu kommt die Erfahrung der Erschütterung und der Dringlichkeit. Wir können weder auf neue Konzepte noch auf bessere Zeiten warten; Handeln ist hier und jetzt angesagt. Schließlich geht es um die Erfahrung einer hohen Komplexität, die nur durch eine globale Perspektive, durch umfassende Kooperation und den Umgang mit komplementärem Handeln zu bewältigen ist. Dies alles erhöht nicht nur den Handlungsdruck. Es geht also nicht nur darum, dass wir bessere Christen, Juden oder Hindus werden, sondern es macht auch ein gemeinsames Handeln erforderlich. Dies schließt das gegenseitige Kennenlernen und Lernen ein. Nur unter diesen Bedingungen können die genannten Prinzipien zum Erfolg führen[16].
Schließlich mag auch schon aufgefallen sein, dass im PW einerseits mit Nachdruck von einem gelebten umfassenden Ethos, also einer ganzheitlichen Perspektive die Rede ist, dass andererseits die Aufmerksamkeit immer wieder auf vier Regeln gelenkt wird, die als vier spezifische Aspekte aus dem Gesamtverhalten der Religionen herausgelöst werden. Wie ist diese Diskrepanz zu verstehen? Wir lösen diesen Widerspruch nur auf, wenn wir die vier Regeln als ganzheitliche Werte entschlüsseln, die ihrerseits im Prinzip der Menschlichkeit begründet sind. Darauf komme ich später zurück.
5. Dialog zwischen den Religionen
Die Fragen nach einer gemeinsamen Zukunft führen als zu einer vielfach verschränkten Situation, die die Religionen nicht nur zur gegenseitigen Toleranz, sondern auch zu einer verständnisvollen Kooperation zwingt. Gegenseitige Annäherung kann sich also nicht in Einbahnstraßen erschöpfen, denn so sehr die Weltreligionen Erfahrungen – um des gegenseitigen Wissensgewinns willen – austauschen und voneinander lernen sollen, so sehr dürfen und müssen sie sich – um der gemeinsamen Zukunft willen – gegenseitig auf ihre Regeln, ihr Handeln und ihr Versagen ansprechen. Vermutlich gehört dies langfristig zu den heikelsten Aspekten des Projekts, denn bislang waren Religionen daran gewöhnt, dass sie ihre Situation selbst bestimmten, während wir dabei sind, die Anderen als Andere zu respektieren und uns ihnen mit Respekt zu nähern. Die anderen Religionen sind in eigenen Kulturräumen gewachsen, haben in ihnen höchste Kompetenz erworben. Zu Recht gehen sie in ihnen von ihrer kulturellen Definitionshoheit aus und halten an dieser eifersüchtig fest. Es wäre nicht korrekt, wenn sich die eine Religion aus formalen Erwägungen über die andere erheben würde. Umgekehrt können wir von keiner Religion erwarten, dass sie sich einer anderen Religion mit dem Argument unterordnen müsse, diese andere habe ein besseres Ethos. Wenn es Überlegenheitsansprüche gibt, dann sind sie aus Sachgründen auszudiskutieren.
Die einzige Weise der Begegnung lautet deshalb Dialog. Er hat von der Tatsache auszugehen, dass wir politische und kulturell in globale Handlungsraumsräume eingetreten sind, in denen sich jede Definitionshoheit relativiert. Der hier angezielte Dialog hat sich also nicht mit der Identität einer jeden Religion auseinanderzusetzen. Es geht um die Fragen, die uns gemeinsam berühren und in denen wir voneinander abhängen. Das PW kann nur als institutionalisierter Dauerdialog, als Katalysator eines solchen Dauerdialogs zwischen den Religionen zu Fragen der gemeinsamen Zukunft funktionieren. Dies gilt insbesondere für das PW als solches. Nichts wäre kontraproduktiver, als wenn sich eine Institution selbst als der große Korrektor der Religionen präsentieren würde. Zu Recht riefe es damit einen Widerstand hervor, der seinen Zielen nur schaden würde[17]. Nein, das PW kann seine Aufgabe nur als Katalysator des Gesprächs und eines wachsenden Problembewusstseins erfüllen, das sich – unabhängig von den Religionen selbst – auf die Weltsituation bezieht. Aber gehen wir einen Schritt weiter.
III. Interkultureller Dialog
Das PW ist auf Orientierungssuche für die Zukunft einer versöhnten Menschheit angesichts einer globalisierten Welt. Zwar beginnt es seinen Weg im Dialog der Weltreligionen, die es als die großen moralischen Agenturen für die Zukunftsgestaltung betrachtet. Deshalb haben die Weltreligionen keinen Dialog um ihrer selbst, sondern um der genannten Potentiale willen zu führen. In einer sich globalisierenden Welt ist die allgegenwärtige Problematik religiöser Selbstanpreisung und Nabelschau endlich zu durchbrechen. Neu am PW ist, dass es die Religionen für ein durch und durch weltliches Ziel in Anspruch nimmt. Das verlangt eine genauere Klärung. Erschöpfen sich die Weltreligionen jeweils in ihrem Innenleben, das ihren Anhängen Heil, Erlösung, Antworten auf ihre großen Fragen verspricht, oder haben sie in ihren langen Geschichten, Erfolgen und Paradigmenwechseln nur vergessen, dass sie ursprünglich alle auf durch und durch weltliche Probleme bezogen waren? Geht es also nur darum, dass die Weltreligionen in säkularisierten Kontexten ihr Verhältnis zur Welt neu justieren, also ein Selbstverhältnis finden, das ihrem Weltverhältnis zugute kommt? Wie hängen Religionen und Welt zusammen?[18]
1 Religion als kulturelle „Sinnform“ (Luhmann)
Der neuzeitliche Religionsbegriff hat zu weitreichenden Missverständnissen geführt, denn er betrachtet Religionen als primär geschlossene, in sich funktionierende Systeme. In der Regel werden sie als Sinnsysteme verstanden, die sinnlichen Grenz- und Kontingenzerfahrungen transzendente Bezüge zuschreiben und ansonsten die Welt sich selbst überlassen. Dagegen hat N. Luhmann Religion als eine bestimmte „Sinnform“ definiert, deren zentraler Code die Wirklichkeit in die Kategorien der Transzendenz und Immanenz einordnet[19]. Damit bekommt Religion einen ganz anderen Akzent. Sie formt (formuliert und praktiziert) eine Differenzerfahrung, deren andere Seite das ganz Andere, die uns nicht mehr verfügbare Transzendenz ist. Ich gehe auf die verschiedenen Unbekannten dieser Definition nicht im Einzelnen ein. In unserem Zusammenhang scheint mir wichtig, dass sich Religion gerade nicht auf bestimmte Entitäten konzentriert (und sich dadurch vorrangig für das Jenseits zuständig erklärt). Sie konzentriert sich vielmehr auf den Umgang mit der ganzen Wirklichkeit, dies vom Standpunkt einer bestimmten Sinngebung aus, die die Wirklichkeit nicht mehr in ihrer Existenz (so die klassische Religionskritik), sondern in ihrer Bedeutung verdoppelt.
Bislang hat das PW keinen Versuch unternommen, Religion selbst zu definieren. Aber die selbstverständliche Art und Weise, mit der sie Übergänge und Interaktionen zwischen Religion und Religion, zwischen Religion und „Welt“ voraussetzt und bespricht, erlaubt wenigstens als Hypothese die Folgerung: Das PW betrachtet Religion als ein kulturell fassbares Phänomen, das der gesamten Wirklichkeit von einer bestimmten Sinnperspektive her eine theorie- und praxisbezogene Deutung gibt. Sie bearbeitet die aporetischen Fragen von Menschen und ihrer Kultur. Zu Jahrhunderte lang gewachsenen, ausgereiften und kulturell wirksamen Religionen gehören im Blick auf die Gegenwart m.E. vier Eckpunkte: (1) Religionen sind in ihren Kulturen verankert, also ein Teil von ihnen; ohne diese Verankerung könnten sie nicht existieren. (2) Religionen verleihen diesen Kulturen in deren Aporien eine wirksame Differenzerfahrung, in der sich das Heilige und Unverrückbare nicht mehr als Gegenstand, sondern als unverfügbarer Sinnkern äußert. (3) Religionen, so meine Folgerung, erweisen sich dadurch als wirklich und effektiv, dass sie in und gegenüber diesen Aporien eine wirksame Sinn- und Identitätserfahrung schaffen. Sie kommen nur zu sich in Weltlichkeit, d.h. der Auseinandersetzung mit ihrer Kultur. (4) In einer Welt mit intensiven, global sich ausbreitenden Globalisierungseffekten[20] erweisen sich Religionen dadurch als wirklich, dass sie die neuen Aporien einer in ihrem Überleben bedrohten Welt wirksam bearbeiten.
2. Streng auf Kultur und Welt bezogen
Nun stehen Religionen immer in Gefahr, sich mit sich selbst zu beschäftigen, also in eine ineffektive Nabelschau zu versinken, denn ihnen fehlt ein wirklich verfügbares Objekt; sie nehmen ihr Objekt immer und notwendig als Geheimnis wahr. Dies zeigt sich besonders in differenzierten Gesellschaften, die ihre Teilsektoren in Eigengesetzlichkeiten entlassen und ihre gemeinsame Aporie verdrängen. Sie tun sich mit der fundamentalen Entlarvungs- und Entdeckungsarbeit schwer, wofür ihnen früher Jahrhunderte blieben. Deshalb ist es für sie lebenswichtig, dass sie ihre Sinnarbeit in den neu zu formulierenden Lebens- und Überlebensproblemen ihrer Kulturen, Gesellschaften und Individuen entdecken.
In einer Epoche wachsender Globalisierung kommt ein entscheidender (und die Religionen irritierender) Gesichtspunkt hinzu: Bislang geschlossene Denk-, Handlungs- und Lebensräume einzelner Kulturen werden aufgebrochen und auf ein gemeinsames kultur- und religionsübergreifendes Problem bezogen. Daraus ergibt sich für die Religionen – gemäß den neuen interkulturellen Anforderungen – die Notwendigkeit, einen gemeinsamen Gesprächs- und Handlungsraum zu entwickeln. Natürlich schließt er einen interreligiösen Dialog im engeren Sinn ein, aber letztlich zielt er auf eine fruchtbare Begegnung von ganzen Kulturen und umfassenden Lebensräumen, gleich ob sie sich religiös oder säkular definieren. Dies ist eine Bewusstseinsfrage, die für die Religionen nur eine sekundäre Rolle zu spielen hat. Diese Kulturen und Lebensräume müssen einen neuen gemeinsamen Simulationsraum zur Lösung ihrer Probleme, zur Vorwegnahme ihrer Gefährdungen, zum Experiment neuer Denk- und Lebensstile schaffen. Darauf will das PW hinweisen.
3. Kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden
Wer diese „Welt“ (hier als polarer Gegenbegriff zu Religion verstanden) in das Religionsgespräch einbezieht, sie mit deren Erwartungen und Bedürfnissen konfrontiert, relativiert die Religionen nicht, sondern praktiziert ihnen gegenüber höchstes Vertrauen. Er macht damit ernst, dass sie selbst ein Stück Welt sind und diese Polarität nicht einfach nach außen projizieren können. Er anerkennt, dass sich in ihren Religionen die Kulturen selbst immer schon ihren ernstesten Ausdruck geschaffen haben. Hans Küng hat deshalb programmatisch, wie wir sahen, den Frieden zwischen den Religionen zur Bedingung eines Weltfriedens erklärt; die Religionen können, wenn sie nur authentisch handeln, als Repräsentanten und Interpreten ihrer Kulturen auftreten. Für die oben genannten Prinzipien heißt das: So sehr die Religionen die Prinzipien von Lebensschutz, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gleichberechtigung auch tragen und propagieren, so sehr diese Prinzipien auch in den Religionen unverrückbar festgelegt und von einer transzendenten Instanz her begründet sind, es sind und bleiben doch durch und durch weltliche und in der Welt zu realisierende Werte, Maßstäbe und Grundhaltungen. Deshalb ist der interreligiöse Dialog über eine menschenwürdige und zukunftsfähige Gestalt der Menschheit, über die Überwindung von Gewalt und ungerechten Strukturen nur wirksam zu führen, wenn er als weltlicher und weltbezogener Dialog darüber gestaltet wird. Formell kann er deshalb nicht auf eine Programmatik göttlicher Gebote ausweichen, sondern muss mit den Mitteln menschlicher Rationalität geführt werden. Der interreligiöse Dialog muss sich also bewähren, indem er interkulturelle Dialoge initiiert, inspiriert und gegebenenfalls selbst führt. Er muss (um auf Luhmann zurückzukommen) zeigen können, was die bedachte Differenz zwischen Immanenz und Transzendenz zur Gestaltung einer durch Selbstzerstörung bedrohten Welt beiträgt.
Deshalb hat das PW von Anfang an weltbezogene Diskurse ausgebildet und solche initiiert. Neben den religionstheoretischen Diskursen und den Diskursen zu einer interkulturellen Ethik sind Diskurse zu Fragen der Wirtschaftsethik, der Rechtswissenschaft, der Politik (insbesondere der Friedenspolitik), der Erziehungswissenschaft und Pädagogik ausgebildet worden. Dabei werden zwischen religiösen und nicht-religiösen Diskursen keine differentiellen Akzente gesetzt; es geht um Akzente intellektueller und praktischer Kooperation. Ziel ist keine theologische Arbeit im engeren Sinn des Wortes, sondern eine interdisziplinäre Arbeit mit angemessener – auch hier dialogischer – Rollenverteilung. Gegenstand bleibt das durchaus weltliche Ziel einer befriedeten Menschheit. Dass dies eines der zentralen Anliegen von Religion sein kann und sein muss, lässt sich zumal aus der biblisch messianischen Tradition leicht aufzeigen.
4. Goldene Regel – Regel der Humanität
Im Blickpunkt des PW steht also die konstitutive Weltbezogenheit der Religionen, deren intensive Symbiose mit ihren Kulturen[21]. Dieser Aspekt wird durch die global interkulturelle Perspektive intensiviert. Über die genannten vier Prinzipien hinaus legt sich deshalb die Frage nahe: Lässt sich das Gesamt der genannten Prinzipien an einer ethisch relevanten Leitlinie ausrichten und könnte diese als Kriterium für den Fall dienen, dass diese Prinzipien im interkulturellen Dialog unterschiedlich interpretiert werden? Hier ist endlich jene eine zutiefst säkulare „Grundforderung“ zu nennen, die – jedenfalls im ethischen Diskurs der westlichen Kulturen – bis heute ihre religiösen Wurzeln erkennen lässt und ohne die eine Weltreligion nicht zu denken ist[22]. Gemeint ist – säkular ausgedrückt – das Grundprinzip der Humanität, mit den Worten umschrieben: „Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden.“ [Erklärung] Natürlich wird auch diese Regel in den einzelnen Religionen unterschiedlich, teils verdeckt, teils offen formuliert. Doch ist sie im interreligiösen Austausch und unter dem Problemdruck der Gegenwart als ein und dieselbe Forderung erkennbar. Unbestritten geht es auch hier um eine gemeinsame, von keiner Religion bestrittene, wenn auch oft missachtete Überzeugung, dass das Wohl des Anderen in dem Sinn zu achten sie, als ich das eigene achte[23].
Dem Leser der Erklärung von Chicago (II) mag auffallen, wie intensiv sich diese bei dieser grundlegenden Humanitätsforderung aufhält. Dabei interessiert weniger die inhaltliche Explikation, sondern deren Tragweite für die Religionen. Die Erklärung soll keine Unterschiede verwischen, aber „öffentlich … proklamieren, was uns bereits jetzt gemeinsam ist“. Religionen, so die Erklärung, können keine ökologischen, wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Probleme lösen. Sie können aber etwas erreichen, was offizielle Regelungen offensichtlich nicht erreichen können, nämlich „die innere Einstellung, die ganze Mentalität, eben das ‚Herz’ des Menschen zu verändern und ihn zu einer ‚Umkehr’ von einem falschen Weg zu einer neuen Lebenseinstellung zu bewegen. Die Menschheit bedarf der sozialen und ökologischen Reformen, gewiss, aber nicht weniger bedarf sie der spirituellen Erneuerung.“ Im folgenden Satz ist von spirituellen Kräften, von Grundvertrauen und einem Sinnhorizont, von letzten Maßstäben und einer geistigen Heimat die Rede. Das letzte Kapitel der Erklärung greift diese Tonlage unter dem Titel „Wandel des Bewusstseins“ noch einmal auf. Kurz gesagt: Gerade die säkularste der entfalteten Regeln wird mit hoher Intensität auf die innerste, analytisch nicht mehr erreichbare Motivation des menschlichen Verhaltens bezogen, die nur noch in religiöser Terminologie angesprochen wird. Hier liegt m. E. die angestrebte Spannungsbreite des PW offen zutage. Hier zeigt sich auch, dass selbst die vier genannten Prinzipien nicht als sich selbst regelnde Normen betrachtet, sondern in den umfassenden Sinnhorizont humanen Handelns und einer humanen Haltung integriert werden. So gesehen entlarvt die Humanitätsregel mögliche Missbräuche etwa der Gerechtigkeits- oder Wahrheitsforderung ebenso wie sie hilft, gegen indirekte oder implizite Rückfälle auf jede Form von Klassendenken, Rassismus, Nationalismus, Sexismus, Naturausbeutung oder Klimaverschmutzung einzuschreiten[24].
Keine Grundregel verklammert Religion und weltliches Verhalten also intensiver als diese Grundforderung, die sich in allen Religionen als „Goldene Regel“ identifizieren lässt. Im christlichen Kulturkreis ist sie vor allem in ihrer negativen Wendung bekannt: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Oder positiv formuliert: „Was du willst, dass man dir tut, das tue auch den Anderen.“ In der ethischen Reflexion ist der Stellenwert dieser Maxime nicht unumstritten. P. Ricoeur etwa zieht ihr den kategorischen Imperativ Kants eindeutig vor[25]. Für die Ebene der distanzierenden Reflexion und im Rahmen hoch differenzierter Gesellschaftsformen mag man diese These unterstützen. Sie ist für unsere Überlegungen aber sekundär, denn das PW streitet diesem Ansatz seine Legitimität nicht ab. Unverzichtbar scheint mir die Goldene Regel aber als eine elementare, zugleich performative Aussage sowie unter der Voraussetzung, dass sie nicht auf den Kontext einer bürgerlich domestizierten Existenz abgedrängt wird. Faktisch ist sie für diejenigen Kulturen, in denen die Weltreligionen zu Hause sind, von ungeheurer Bedeutung. Sie kommt – einen explizit religiösen Sinnhorizont einmal vorausgesetzt – dem Gebot der Nächstenliebe gleich.
Gelegentlich führt die Frage, ob das „Humanum“ als religiöse, speziell als christliche Grundregel menschlichen Verhaltens akzeptabel ist, zu intensiven Diskussionen[26]. Auf den komplexen Sachverhalt ist hier nicht einzugehen. Schon 1974 hat H. Küng etwas auf Grund einer exegetisch begründeten und systematisch reflektierten Rekonstruktion der christologischen Frage Christsein als radikales Menschsein dargestellt[27]. Für das PW ist das Humanum das unverzichtbare Schlüsselkriterium aller weiteren Gesprächsprofile, Gestaltungsvorschläge und Zielvorgaben. Zur Klärung mögen noch einige Hinweise dienen.
(1) Natürlich beansprucht dieses „Humanum“ nicht, alle anthropologischen und ethischen Probleme zu lösen, die in ethischen und anthropologischen Diskursen wohl bekannt und anerkannt sind. Menschlichkeit und Humanität sind weder apriorische noch analytische Definitionen, sondern elementare, immer auch kontextabhängige Erfahrungsbegriffe. Deshalb hat auch das PW streng darauf zu achten, dass diese Begriffe nicht ideologisch oder zu Zirkelschlüssen missbraucht werden, deren Ergebnis das von Anfang an Gewünschte ist. Aus gutem Grund bringt die Erklärung von Chicago immer wieder die Opfer von Hass und Gewalt, von Folter und Diktatur ins Spiel. Es spricht von den Hungernden, den Brot- und Arbeitslosen, den Opfern eines ungezügelten Kapitalismus. Genannt werden Manipulation und Fanatismus, Hass und Glaubenskriege. Gegeißelt werden sexuelle Ausbeutung und Entwürdigung. An solchen Erscheinungen hat sich Menschlichkeit zu messen.
(2) Dieses „Humanum“ wäre auch missverstanden, würde es die hochethischen Ansprüche nivellieren oder ersetzen, die sich in den Hochreligionen herausgebildet haben und weiterhin ihr Daseinsrecht verdienen. Nicht ohne Grund kennt die christliche Moraltheologie die Diskussion über hochethische Herausforderungen, die man aus allgemeiner Perspektive als Überforderung begreifen kann. Die Situationen außerordentlichen Handelns (der Opferbereitschaft, der absoluten Gewaltlosigkeit, der Vergebung, der Regeln des Bergpredigt) dürfen nicht aus dem Blick geraten. Es sind Konkretisierungen des Humanum in außerordentlichen Situation und als solche unverzichtbare Zeichen für den inneren Grund allen humanen Verhaltens. Aus diesem Grund ist das Humanum aus der Perspektive der Religionen nicht zu entlassen.
IV. Universale Werte?
Hiermit sind die Voraussetzungen für die entscheidende Frage dieses Referates geschaffen: Kann ein Weltethos, exemplarisch in den vorgetragenen Konturen beschrieben, als Werteorientierung für Kulturen gelten und was ist daraus für ein universales Naturverständnis zu folgern? Der Begriff der Werte[28] bedürfte einer umfassenden Klärung. Hier sind nur einige stichwortartige Hinweise möglich.
1. Werte
Werte und Normen: Einer ersten Klärung dient die Unterscheidung zwischen Werten und Normen. Normen sind messbare Verhaltensregeln, auf das Richtige bedacht, nicht auf ethische Fragen beschränkt, formal als Gebot, Gesetz oder Regel von außen auferlegt und im Kontext eines Gehorsamsverhältnisses zu befolgen. Damit muss kein autoritäres Verhältnis gemeint sein, wohl aber ein Verhältnis der Unterordnung, wie begründet es auch immer sein, auf welche konsensuellen Wurzeln zurückgehen und an die Freiheit appellieren mag. Werte dagegen sind schwieriger zu definieren. Auf das menschliche Individual- und Zusammenleben bezogen erscheint als wertvoll alles, was für die Existenz eines Menschen, einer Gemeinschaft oder Gesellschaft eine positive oder förderliche Bedeutung hat, also als gut wahrgenommen wird[29]. Auch hier ist vor einer vorschnellen Verengung des Begriffs zu warnen. Immerhin spielt der Begriff des Wertes gerade in der Finanz- und Konsumwelt eine wichtige Rolle. Genau besehen sind Werte, um die sich niemand kümmert, keine Werte, allenfalls Alibigrößen, Wertprojektionen oder gewesene Werte, museale Erinnerungen. Entscheidend ist für den Wertbegriff immer die subjektive und aktuell vollzogene Komponente, gleich ob sie sich auf eine faktische Entscheidung, einen Wunsch, ein Bedürfnis oder auf eine als sinnvoll oder wichtig akzeptierte Notwendigkeit bezieht.
Elementare Bedeutung: Im ethischen Bereich versteht man unter Werten diejenigen Ziele, Standards oder Grundsätze, an denen sich eine Gesellschaft, eine Menschengruppe oder ein Individuum faktisch ausrichtet oder ausrichten will. Es geht also um eine elementare Faktizität, die von keinen Normen abhängt, in vielen Fällen jedoch Normen zugrunde liegt, die ihrerseits Werte schützen oder durchsetzen sollen. So gesehen gehen Werte den Normen voraus, da sie zunächst in subjektiven Entscheidungen begründet sind. Sie existieren also nicht in sich, sondern sind Beziehungsgrößen. Wir entscheiden uns für Verhaltensweisen oder Haltungen, die wir als nützlich, sinnvoll oder als gut erkennen.
Doch bevor wir uns den Vorwurf des Subjektivismus einhandeln, ist genauer hinzusehen. In der Regel entscheiden wird uns für Eigenschaften, Verhaltensweisen oder Ziele, weil wir in ihnen selbst etwas Sinnvolles erkennen. Die Entstehung eines Wertes setzt im Selbstverständnis der Betroffenen etwas voraus, das sie für sich selbst und/oder für Andere als sinnvoll erkennen, zumindest als solches zu erkennen meinen[30]. Daraus erklärt sich, dass wir die von uns akzeptierten Werte in der Regel als eine objektive, weil eine vorgegebene und in der Sache selbst begründete Größe erfahren und geneigt sind, die Werte anderer als Ergebnis willkürlicher Entscheidung zu verstehen. Werte entstehen also in einem fundamentalen hermeneutischen Prozess, der – vorgängig zur Unterscheidung zwischen einer subjektiven und einer objektiven Ebene – subjektive Präferenz und objektive Erkenntnis in gegenseitigen Einklang bringt[31]. In diesem elementaren Sinn sind Werte immer hermeneutische Größen, die es nicht an sich gibt und die nie an sich zur Sprache kommen, sondern die in Mensch und Gesellschaft wirken. Deshalb ist die Rede von „den Werten“ immer klärungsbedürftig[32].
Situationsbezogen: Ferner ist der Begriff des Wertes wegen seines elementaren Charakters ein eminent kontextueller und situationsbezogener Begriff, so vielfältig wie die elementare Welt der provozierten Reaktionen, der darauf folgenden Reflexionen und der thematisch geordneten Erfahrungen. Die differentiellen Ebenen der Werteerfahrungen lassen sich geradezu beliebig vervielfältigen. Sie unterscheiden sich nach kulturellen und sozialen, nach geschlechtlichen und nach Altersgründen; sie pluralisieren sich nach biographischen und charakterlichen, nach religiösen und vitalen Gesichtspunkten. Jede Familie und jede Partnerschaft, jede Kommune und jede Region, jedes Alter und eine jede Generation entwickelt ihre eigenen Werte, kann sie abstoßen und ändern. Gerade in den interkulturellen Diskursen der vergangenen Jahrzehnten hat sich das Gespür für diese elementare Vielfalt stark geschärft. Der Wertepluralismus ist also zu respektieren. Anders gesagt. Auch keine noch so scharfsinnige Wertereflexion darf diese Vielfalt relativieren und in einen apriorisch vorgelegten Wertemonismus hineinzwingen[33].
Plural: Deshalb ist die Behandlung von Werten nie voraussetzungslos, sondern nur in jeweils abstrakter Eingrenzung möglich. Im Rahmen thematisch bestimmter Diskurse tritt der Wertebegriff immer in hermeneutisch unterschiedliche Bezugsrahmen ein. Es ist also ein Unterschied, ob ich von den Werten meiner Partnerschaft oder meines Berufslebens, den Werten Europas oder eines freiheitlichen Rechtsstaats, den Werten meiner deutschen Staatsbürgerschaft oder von den notwendigerweise generalisierten Werten spreche, die ein friedvolles, gar globales Zusammenleben ermöglichen[34]. Selbst im letzten Falle drängen sich kulturell unterschiedliche Modalitäten mit Nachdruck auf. So lässt etwa das Tötungsverbot je nach Kulturen ebenso verschiedene Ausnahmen zu wie seine Begründung sich auf verschiedene Argumente stützt. Wenn wir in unserem Zusammenhang also von Werteorientierungen sprechen, dann –zunächst! – nur von den Werteorientierungen, in denen sich verschiedene Kulturen im Blick auf eine friedvoll versöhnbare Menschheit treffen können. Diese einschränkende Voraussetzung gilt es vor dem Hintergrund einer globalen Fragestellung im Auge zu behalten.
2. Vier Weisungen als Werte
Unter dieser Voraussetzung kehren wir zur Erklärung von Chicago zurück. Exemplarisch wird in ihr das Bemühen deutlich, die dort beschriebenen vier Standards („Werte, Maßstäbe, Grundhaltungen“) nicht als faktische, von Gott gegebene Normen zu präsentieren, sondern sie in ihrer inneren Legitimation als sinnvolle Werte so zu begründen, wie es die verschiedenen Religionen in verschiedener Intensität tun. Bei der Besprechung der vier Regeln finden sich in logisch streng durchgeführter, also bewusst vollzogener Parallelität folgende Schritte:
(a) Die negativ formulierte Regel wird in eine positive überführt.
(b) Sie wird mit gesellschaftlichen Problemen von globalem Ausmaß konfrontiert; so erweisen sich die Regeln als sinnvoll und für das Überleben als unverzichtbar.
(c) Die Regel wird auf umfassendere Dimensionen des Zusammenlebens und der Welt ausgeweitet.
(d) Verwiesen wird auf die omnipräsente Grundlagenbedeutung der genannten Regeln.
Die Folgerung aus (d) ist eindeutig: Letztlich geht es nicht um isolierte und isolierbare Regeln, die auf Einzelfälle anwendbar und in konkrete Normen umzumünzen sind, sondern – wie die Erklärung formuliert – um eine Kultur der Gewaltlosigkeit, der Solidarität, der Toleranz und der Gleichberechtigung. Gemeint ist eine gesellschaftlich wirksame Grundhaltung, die sich stetig auf die Gestaltung des Lebens und des Zusammenlebens auswirkt. Sofern eine Kultur immer von faktisch akzeptierten Werten lebt (sonst wäre sie keine lebendige Kultur), schließt sie die genannten „Maßstäbe und Grundhaltungen“ immer als tragende Elemente ein.
Diese Maßstäbe gehen also allen äußeren, rechtlich einklagbaren Regeln und Verpflichtungen voraus. Sie funktionieren nur dann und sie können nur dann eine kreative Dynamik entfalten, wenn sie von innen her akzeptiert werden und wenn man ihre Legitimität im konkreten, jeweils unterschiedlichen Zwischenspiel von Akzeptanz und Forderung erkennt. Deshalb weist die Erklärung auch daraufhin, dass diese Regeln in den verschiedenen Kulturen bzw. Religionen verschiedene Realisierungen erfordern (IV.3) und dass sie innerhalb derselben Gesellschaft je nach Berufs- und Aufgabengruppe zu verschiedenen Standesregeln u. ä. führen können (IV,2). Bei diesen vier als Werte analysierten Maßstäben geht es also nicht um abschließende Verhaltensregeln, sondern um eine je vergleichbare Dimension, die sich in der Vielzahl konkreter Werte durchhält. Man könnte deshalb von abstrakten oder abstrahierten Grundwerten sprechen, die mehrheitlich auch mit abstrakten Begriffen umschrieben werden (Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit, Gleichberechtigung). Diese abstrakten oder generalisierten Werthaltungen verwirklichen sich nur in höchst verschiedenen und als verschieden erfahrenen konkreten, auf konkretes Handeln bezogenen Werten und Wertungen. Zwar führen verschiedene generalisierende Diskurse – etwa der religiöse, der philosophisch ethische, der juristische oder der historische – dazu, dass die vier Grundwerte als solche herausgearbeitet, besprochen, propagiert, möglicherweise sogar erfahren werden. Aber für das vorreflexe Bewusstsein des Alltags muss das nicht der Fall sein. Es genügt, wenn sie in konkreten „Kultur“ gewordenen Codes präsent sind. Deshalb hängt die Beantwortung des Pluralitätsproblems von der gewählten Perspektive ab.
3. Goldene Regel als Leitprinzip
Aus systematischer Perspektive führt dieser komplexe Zusammenhang zu einer weiteren Differenzierung. Wie wir aus Erfahrung wissen, sind die in den vier Prinzipien beheimateten Werte sehr verletzlich. Sie können missverstanden oder missbraucht, geradezu in ihr Gegenteil verdreht werden, so wenn im Namen des Rechts höchste Ungerechtigkeit geschieht, im Namen der Wahrheit gelogen, im Namen der Menschheit Völkermord legitimiert wird. Wie etwa ist das Gebot „Du sollst nicht stehlen!“ anzuwenden? Wann fängt der Diebstahl an und wann hört er auf? Erlaubt er Mundraub und wo sind die Grenzen der ungleichen Güterverteilung in einer Gesellschaft festzusetzen? Wie vertragen sich Gerechtigkeit und Gleichheit im Weltmaßstab mit dem Leistungsprinzip und dem Problem verschiedener Bedürfnisse? Brauchen wir nicht ein fundamentales und unhintergehbares Leitprinzip, das eine richtige Auslegung dieser Regeln ihrerseits regelt?
An diesem Punkt setzt die Funktion der Goldenen Regel ein. Das PW versteht sie nicht als ein weiteres, besonders allgemeines Prinzip, das zu den vier Prinzipien hinzukommt oder aus ihnen abgeleitet wird. Die Goldene Regel wirkt als das qualitativ unterschiedene Leitprinzip aller weiteren Regeln. Sie sagt ja nicht, wie eine bestimmte Problemdimension menschlichen Lebens konkret zu regeln ist, sondern bietet eine formale Verhältnisbestimmung zwischen Täter und Betroffenem, indem sie die Rolle der beiden in einer fiktiven Operation vertauscht. So steuert und justiert sie die konkrete Anwendung der vier genannten Standards. Sachbezüge werden durch die vertauschten Personalbezüge beurteilbar, kritisierbar und korrigierbar. Gegebenenfall macht die Goldene Regel die Anwendungen so flexibel, dass die vier Prinzipien gefahrlos auch historische und kulturelle Brücken überschreiten können.
Die Goldene Regel ist zudem das Prinzip, das den Geltungsbereich eines als religiös vorgetragenen Prinzips von innern her überschreitet. Denn bei aller religiösen Sanktion, die der Goldenen Regel anhaftet, bezieht sie sich auf den säkularen Zusammenhang, der mit dem Begriff der Humanität gemeint ist. Formal zielt Humanität auf keine Sachverhältnisse (Tötung, Armut, Belügen oder Sexualität), sondern trifft das Ich von Personen, die alle Sachdimensionen in ihrer Subjektivität integrieren. Es ist schließlich die Goldene Regel, die über den Innenweg der Selbsterfahrung an die Vernunft appelliert. Sie entdeckt das Grundprinzip menschlicher Gemeinschaft als Prinzip der zwischenmenschlichen Gegenseitigkeit und der gegenseitigen Zuerkennung von Würde. Niemand will ja in einer Gemeinschaft leben, in der er seines Lebens nicht sicher ist, die ihm die Deckung seiner elementaren Lebensbedürfnisse verweigert, ihn an der Wahrheit der Welt nicht partizipieren lässt und ihm seine Angewiesenheit auf Treue und Solidarität versagt.
Unter der Richtschnur der Goldenen Regel repräsentieren die genannten vier Standards also Wertsetzungen, die ihrem Vermögen und ihrem Anspruch nach universal sind. Denn die Goldene Regel bildet die Garantie dafür, dass ein jeder Mensch – unabhängig von Kultur und anderen Kontexten – die vier genannten und andere Prinzipien aus Überzeugung annehmen kann; unter der Vormundschaft der Goldenen Regel garantieren sie ein menschenwürdiges Menschsein. Die Geltung der Regeln in den uns bekannten Weltreligionen bestätigen ihre universale kulturelle Geltung in hohem Maße. Den Normcharakter der Goldenen Regel verstehe ich als Ausdruck menschlicher Universalität schlechthin, denn unter ihrer Ägide spielt nur noch das jeweilige Menschsein als solches die entscheidende Rolle; die Universalität hat keinen deskriptiven, sondern einen prozessualen Charakter[35]. Sie gilt als „Wert“ im hermeneutischen Zusammenhang des Menschseins überhaupt.
V. Ein universales Naturverständnis?
Die Themenstellung mit ihren „Folgerungen für ein universales Naturverständnis“ impliziert die Erwartung, dass es sinnvoll sei, von einem „universalen Naturverständnis“ zu sprechen. Wie ist dieses Naturverständnis näher zu beschreiben?.
Auf den ersten Blick führen Erwartung und Frage zu einer zwiespältigen Reaktion: Die erste Reaktion neigt zur vorbehaltlosen Bejahung eines universalen Naturverständnisses, denn unter seiner Voraussetzung ließen sich für ein Weltethos ohne weitere Komplikationen Folgerungen ziehen. Für ein die gesamte Menschheit (wenigstens in ihren gemeinsamen Fragen) umfassendes Ethos bestünde in der allen gemeinsamen Menschennatur eine gemeinsame Ansprechbasis. Geben wir diese verlockende Idee also nicht zu schnell auf.
Auf den zweiten Blick aber weckt diese universale Naturidee Widerstände, denn das PW will die Weltreligionen, deren Kulturen sowie andere nichtreligiöse Sinnsysteme gerade nicht über einen Leisten schlagen. Es geht ja darum, dass die Menschen in ihrer vielfältigsten Verschiedenheit angesprochen werden. Was also meint menschliche Natur und wie ist mit dieser Ambivalenz umzugehen? Zunächst hierzu fünf grundsätzliche Bemerkungen
1. Pragmatischer Zugang:
Erstens: Wenn das Unternehmen Weltethos einseitige Dominanzeffekte vermeiden will, sollte es schon aus pragmatischen Gründen von einem ontologisch-abstrakten Verständnis der menschlichen Natur absehen. Schon der Anschein deduktiver Operationen, wie sie vielleicht einer deontologischen Ethik zugänglich ist, verträgt sich weder inhaltlich noch methodisch mit dem induktiv zu erarbeitenden Modell eines umfassenden Ethos.
Zweitens: Ausgangspunkt eines Weltethos muss das Ethos der Menschheit in seiner vorfindlichen Vielfalt sein, die sich (in Möglichkeiten und Bedrohungen) aus der Vielfalt von Religionen, Kulturen, historischen und soziologischen Kontexten ergibt. Empirisch-induktiv gesehen ist die Menschennatur so vielfältig wie es Menschen, Ethnien, Kulturen und Religionen gibt. Um in Anschluss an Simone de Beauvoir zu zitieren: Man ist nicht als Mensch geboren, sondern wird zu diesem oder jenem Menschen gemacht.
Drittens: Die Suche nach einem (empirisch vorfindlichen und erprobten) Weltethos geht deshalb einen dritten Weg. Sie begibt sich innerhalb der Weltreligionen auf die Suche nach zentralen, vergleichbaren, wenn nicht gar gemeinsamen Aussagen, die für ein gutes Zusammenleben unverzichtbar sind. Diese Suche hat zum Leitprinzip der Goldenen Regel und zu den vier Weisungen geführt, die kurz dargestellt wurden.
Viertens: Gleich, ob man von einer universalen Menschennatur oder von verschiedenen Menschennaturen sprechen will, in jedem Fall erlauben diese besprochenen Prinzipien einen Rückschluss auf vier Grundkonstanten des Menschseins, die mit diesem Regelsystem korrespondieren und es plausibel machen. Möglicherweise lassen sich diese Regeln und diese Grundkonstanten erweitern. Man denke (a) an die Rolle von Umwelt und Nachhaltigkeit[36], (b) an die religiöse Dimension des Menschseins, (c) an Haltungen wie Genugtuung, Vergebung und Versöhnung und (d) an die Frage eines Hochethos, das nicht von jedem Menschen verlangt werden kann, gleichwohl es für eine Gesamtkultur unverzichtbar ist. Die Weltreligionen legen den Schluss nahe, dass man sie auf keinen Fall reduzieren sollte.
Fünftens: Die Rede von vier Grundkonstanten der menschlichen Natur ist im Sinn eines pragmatischen Naturverständnisses zu verstehen. Es meint ein Naturverständnis, das sich aus den Mindesterfordernissen menschlichen Handelns bestimmt. Die Möglichkeit ontologisch begründeter Konzepte wird zwar nicht ausgeschlossen, aber nach dem gegenwärtigen Diskussionsstand behindern sie einen offenen interreligiösen und interkulturellen Dialog.
2. Grundkonstanten der menschlichen Natur
Das PW ist ein induktiv und pragmatisch aufgebautes Unternehmen. Es geht, wie oben beschrieben, vom gemeinsamen Bestand (der gemeinsamen „Schnittmenge“) eines Grundethos aus, das in allen Weltreligionen zu finden ist. Wie schon gesagt, schließt es nicht aus, dass sich auf der Basis eines allgemeinen Konstrukts oder Verständnisses von menschlicher Natur eine Weltethik erarbeiten lässt; das PW hat keinen Grund, an dem Sinn und der Möglichkeit einer solchen Weltethik zu zweifeln. Vermutlich trägt eine jede auf Menschlichkeit bedachte Ethik das Potential einer Weltethik in sich. Aber der pragmatisch empirische Ansatz des PW ergibt sich aus der Frage nach einer empirisch erreichbaren Grundkonstitution, die allen Menschen unabhängig von ihrer ethnischen, kulturellen oder religiösen Herkunft gemeinsam ist. In diesem funktional pragmatischen Sinn kann (gemäß westlicher Diktion) auch ein weltethisches, auf einem Weltdialog gegründetes Projekt von einer „menschlichen Natur“ sprechen. Aus dem Blick des PW stellen sich die Konstanten des menschlichen Lebens wie folgt dar[37].
(1) Lebensexistenz (verletzliche Existenz): Unverrückbar haben alle Menschen ein vitales Da-Sein, das in je bestimmten Raum- und Zeitkoordinaten verläuft. Menschen leben in der hochkomplexen Einheit eines leib-geistigen Organismus, der die Summe seiner Einzelteile um ein Unendliches übersteigt und dessen prozesshafter Charakter Leben genannt wird. Vorgängig zu allen Einzelbedürfnissen kommt es deshalb darauf an, das Leben und Überleben dieser leib-geistigen Existenz zu schützen. Wo dieses Leben vernichtet wird, ist alle weitere Sorge und Vorsorge sinnlos. Im Horizont der Gegenseitigkeit heißt das erste Grundprinzip menschlichen Verhaltens deshalb Gewaltfreiheit und Unverletzlichkeit des Lebens aller. Diese Dimension entspricht den Standards der Gewaltlosigkeit.
(2) Lebenserhaltung (leibliche Existenz): Unverrückbar ist das Leben eines Menschen an materielle Bedingungen gebunden und von ihnen abhängig. Sie beziehen sich zunächst auf die Grundbedürfnisse des Überlebens (Nahrung, Kleidung, Wohnung und Lebensraum), deshalb auch auf die Möglichkeit, sich für dieses Überleben stabile Bedingungen zu schaffen. In den meisten zeitgenössischen Gesellschaften bedeutet das ein Minimum von Besitz, Arbeit und Verdienst. Mit der materiell-leiblichen Existenz des Menschen ist zugleich die Möglichkeit gegeben, zwischen menschlichen Leben zu vergleichen. Leiblichkeit bedeutet konkrete Mitmenschlichkeit, gegenseitige Abhängigkeit und gegenseitige Verantwortung. Dies beinhaltet die Möglichkeit eines besseren und weniger guten, eines mehr geschützten oder mehr gefährdeten, eines von Krankheit bedrohten oder gegen Krankheit geschützten Lebens. Angesichts des Gegenseitigkeitsprinzips ist dieser zweite Aspekt vom ersten Aspekt des Überlebens nicht zu trennen. Der abstrakte Gedanke der Gerechtigkeit (also das Recht, materielle Gerechtigkeit zu erfahren) erweitert sich zur Pflicht der Solidarität. Mit Gerechtigkeit ist hier gemeint: Das Recht und das Bedürfnis, in Verhältnissen zu leben, die den Verhältnissen anderer Menschen (Gemeinschaften, Gesellschaften) vergleichbar und in diesem Vergleich akzeptabel sind, wird hier mit dem Begriff der Gerechtigkeit umschrieben. Diese Dimension entspricht den Standards der Gerechtigkeit.
(3) Lebensorientierung (geistige Existenz): Unverrückbar gehören zum organisch voll entfalteten Menschsein der Gebrauch der Vernunft, die Möglichkeit zu sprechen und die Kommunikation. Daraus folgt das fundamentale Bedürfnis, im Rahmen des Möglichen über sich, über Andere und über die Welt Bescheid zu wissen. Vor diesem Hintergrund das eigene Leben in Gegenwart und Zukunft bewusst einzurichten, zu planen und über sich selbst Bescheid zu wissen. Im Rahmen dieser Lebensplanung treten Menschen mit dem elementaren Bedürfnis auf, die vorfindliche (physische und soziale) Wirklichkeit wahrheitsgemäß abzubilden, sinnvoll zu beeinflussen sowie andere Menschen an ihrer Wahrheit teilnehmen zu lassen. Ohne Teilnahme an der Wahrheit sind Mitmenschlichkeit und Gegenseitigkeit nicht möglich. Dies verpflichtet uns zu einer Wahrhaftigkeit, die den Mitmenschen die Teilnahme am menschlichen Leben als einem Kommunikationsgeschehen ermöglicht. Zur Debatte steht die Wahrheit (sowie und deren Vorenthaltung) in all ihren subjektiven, objektiven und sozialen Dimensionen. Diese Dimension entspricht den Standards der Wahrhaftigkeit
(4) Lebensweitergabe (Kreative Existenz): Unverrückbar gehören zum leiblich und geistig voll entfalteten Menschsein die bewusste Erfahrung und Weitergabe des Lebens. Dazu gehören – als Ecksteine des Zusammenlebens – Sexualität, körperliche Abhängigkeit, Kindheit und Alter, die alle unter dem Gebot der Treue stehen. Diese elementar vitalen Formen des Zusammenlebens entfalten sich in einem komplexen und gegenseitig gepolten Netz von Respekt und Bejahung, von Treue und Fürsorge, von sinnlicher Nähe und Liebe. Kein Einzelner kann sich vom Gesamtschicksal der Menschheit, insbesondere von der Bedürftigkeit der Mitmenschen herauslösen. Diese Dimension entspricht den Standards der Gleichberechtigung und gegenseitigen Treue.
(5) Mitmenschlichkeit: Unverrückbar leben Menschen aller Kulturen und Religionen in Gemeinschaften, d. h. in gegenseitiger Zugewandtheit und Abhängigkeit von verschiedener Qualität und Intensität. Alles, was von Menschen an einzelnen Konstanten auszusagen ist, gilt ausschließlich und immer vor dem Hintergrund dieser gemeinschaftlichen Konstitution, weil Menschlichkeit nur durch Mitmenschlichkeit zu sich kommen kann. Alles, was für das Individuum Mensch oder eine menschliche Gemeinschaft prinzipiell als unverzichtbar gelten kann, ist – im Prinzip der Gegenseitigkeit – für alle Menschen und alle Gemeinschaften unverzichtbar. In ihrer unverletzlichen Würde sind alle Personen gleich. In dieser Überlegung kommen Humanität und die Goldene Regel zu gegenseitiger Deckung. Unter dieser Voraussetzung gelten mindestens vier Konstanten, die in ihrer Konkretisierung einander durchdringen. Diese Dimension entspricht den Standards der gegenseitigen Humanität (Goldene Regel).
Angesichts dieser vitalen, den Menschen vorgegebenen Gegenseitigkeit ergibt sich für das PW die Gleichursprünglichkeit von Sein und Sollen, von Rechten und Pflichten[38]. Menschen stehen nicht auf Grund einer sekundären Verpflichtung, sondern a priori im gegenseitigen Verhältnis von Lebensrespekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Treue, weil sich in ihnen nur die gegenseitige vitale Abhängigkeit auswirkt, die schon vor der Geburt begonnen hat. Diese Struktur macht auch verständlich, dass menschliches Sollen als ursprünglicher Wert erfahren wird.
3. Zirkuläre und übergreifende Struktur
Natürlich ist mit diesen Hinweisen die Diskussion nicht abgeschlossen, sondern erst eröffnet. Die genannte Sollensstruktur mit ihren Prinzipien und der Goldenen Regel als steuernder Vorgabe eröffnen nicht nur einen breiten Raum der Gestaltungen, sondern erläutern sich auch gegenseitig. Mit anderen Worten: Sie unterstehen dem Gesetz des Alles oder Nichts. Keine der vier Grundforderungen lässt sich aus dem Gesamt der Prinzipien herausbrechen, wenn die anderen ihren Sinn behalten sollen. Für keine der Grundforderungen bleibt der Wertcharakter garantiert, wenn sie nicht vorbehaltlos auf die Goldene Regel bezogen wird. Gerechtigkeit als Folge der Lebenserhaltung erhält erst ihre volle Bedeutung, wenn Lebensplanung und Lebensweitergabe einbezogen werden. Treue ist nur im Zusammenhang mit Gerechtigkeit und Ehrlichkeit möglich. Die drei Ebenen der Erhaltung, Planung und Weitergabe menschlichen Lebens finden ihrerseits auf der Ebene der Lebensexistenz ihre Zusammenfassung.
Ein weiterer Gesichtpunkt kommt hinzu: Die genauere Analyse der Zusammenhänge zeigt: Die Frage nach dem Weltethos führt nicht von den Grundprinzipien eines primären, örtlich oder kulturell gebundenen Ethos weg, sondern zu ihnen hin. Die Grundforderungen, die sich für die Gestaltung eines Weltethos als unverzichtbar erweisen, erweisen sich zugleich als die zentralen Prinzipien eines menschlichen Ethos überhaupt. Offensichtlich kann dieses Weltethos eine universale Gültigkeit erhalten, weil sie für jeden Menschen auf Grund der genannten fundamentalen Konstanten gültig sind: Mitmenschlichkeit, Lebensexistenz, Lebenserhaltung, Lebensplanung und Lebensweitergabe. Mit dem letzten Prinzip der Lebensweitergabe schließt sich der Kreis zum ersten, der Mitmenschlichkeit, die sich in die nächste Generationenfolge hinein erweitert. Somit erreichen wir einen Punkt, an dem die Rede von einem universalen Naturverständnis des Menschen einen reichen funktionalen Sinn erhalten kann. In diesem Sinn lässt sich der Rekurs auf eine funktional verstandene und induktiv gewonnene Naturrechtslehre nicht ablehnen.
4. Religiöse Dimension
Im Blick auf seine weltethischen Ziele hat das PW in Diktion und Gedankenführung bislang auf säkulare Kommunikation und Verständlichkeit geachtet. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass es seine Kraft in hohem Maße aus seinem interreligiösen Dialog bezieht. Der beschriebene Konsens der Weltreligionen lebt aus einer transempirischen Legitimation und aus spirituellen Tiefenschichten, die sich auf Gott als eine transzendente Wirklichkeit berufen.[39] Dieser Ausgangspunkt bleibt werde der Rolle und Geltung der insgesamt fünf Grundregeln noch den hier entwickelten Konstanten des Menschseins äußerlich. Die Verletzlichkeit menschlicher Existenz wird als Kreatürlichkeit begriffen, die Leiblichkeit des Menschen als begrenzte Zeitlichkeit, der ein Ende gesetzt ist und die sich im Hier und Jetzt verwirklichen muss. Die Grundkonstante der orientierungsbedürftigen Geistigkeit wird als prinzipielle Entgrenzbarkeit von Sein und Sollen sowie als eine grundlegende Orientierung und Sinngebung begriffen. Die Verwiesenheit auf andere Menschen und anderer Menschen auf mich rückt Fragen nach Selbstlosigkeit, Vergebung und Versöhnung in den Blick. Diese Aspekte erweitern und radikalisieren die besprochenen Dimensionen menschlichen Lebens auf einen universalen Sinnhorizont hin und machen die Prinzipien des Weltethos gegen Instrumentalisierung resistent. Sie ermöglichen Erfahrungen von „Selbstbildung und Selbsttranszendenz“, die ihrerseits die genannten Werte und Wertbindungen ermöglichen. Damit behaupte ich nicht, ohne eine religiöse Weltinterpretation seien solche Prozesse unmöglich, aber innerhalb der Religionen sind sie breit entfaltet und die gleitenden Übergänge von innen nach außen sind zwar kaum erkundet, aber in vielfachen Nuancierungen existent.
Schluss
Von diesem Umständen her lassen sich Ziel, Ausrichtung und Einordnung des PW näher beleuchten.
Ziel des PW ist es, unter Rückgriff auf die verfügbaren moralischen Weltressourcen möglichst direkt und ohne Zeitverzug einem Gesamtkonzept näher zu kommen, das die Zukunft einer versöhnten Menschheit ermöglicht und mindestens vor einer Menschheitskatastrophe bewahrt. Dieses Ziel ist von höchster Brisanz und einer Dringlichkeit, die durch den aktuellen Globalisierungsschub mit all seinen unberechenbaren Folgewirkungen in unerhörter Weise erhöht wird. Im Zug dieser Globalisierung zwingt uns die Gesamtsituation dazu, die Verfassung unserer Gesellschaften nicht in statischen Kategorien, sondern unter dem Vorzeichen von langfristigen Prozessen zu betrachten, die sich in hohem Maße verselbständigt haben. Die Dynamik von Militärpotentialen kann – allein durch seine Existenz – in kürzester Zeit zur Vernichtung von Millionen von Menschenleben führen. Das ist nicht hinnehmbar. Die Ressourcenverteilung kann wegen der langfristigen Entwicklungsprozesse in kurzer Zeit zur Verarmung und zum Verhungern ganzer Völker führen; der Verfall ganzer Staaten, mörderische Bürgerkriege und der gegenseitige Hass ganzer Kulturkreise ist nicht mehr auszuschließen. Das ist inakzeptabel. Politische Fehlinformation und Korruption rauben Millionen von Menschen die Möglichkeit, angemessen für ihre eigene Zukunft zu sorgen. Dem ist durch Aufklärung ein Ende zu setzen. Auf weiten Teilen der Welt werden Frauen immer noch marginalisiert und in ihrer Würde verletzt; Frauen- und Kinderhandel sind über alle staatlichen Grenzen hinweg möglich geworden; dieser Zustand ist unerträglich.
Deshalb reicht es nicht mehr aus, die traditionellen Regeln des politischen Umgangs – und seien sie auf dem besten Stand der UNO- Menschenrechtscharta der UNO – einfach zu perpetuieren. Wir bedürfen einer neuen und strengen Setzung der nicht hinnehmbaren Grenzüberschreitungen, der Radikalisierung des Gerechtigkeitsprinzips in das Prinzip der Lebensschonung, des Prinzips Hoffnung in das Prinzip Verantwortung, des Prinzips Verantwortung in das Prinzip der strengen Prävention, eine Übersetzung statischer Grenzziehungen in die Dynamik von Strukturen.
Damit ist die Einordnung des PW vorgezeichnet. Wir können nicht warten, bis wir eine Definition über die gemeinsame menschliche Natur gefunden haben. Notwendig ist es, im Sinne des Überlebens konkrete Phantasie und Kreativität zu entwickeln. Kluge Vorschläge zur Gestaltung der Weltwirtschaft, zur Verhütung von Korruption zur Strukturierung der Weltpolitik genießen im PW deshalb großes Interesse. Es geht darum, ein durch und durch weltliches Geschäft zu betreiben, weil die Überlebensfragen der Menschheit durch und durch weltlich sind. Auch in diesem Sinn versteht sich das PW als Katalysator. Es sucht und ermutigt Fachleute, die kraft ihrer Sachkompetenz die Gründe für das klägliche Scheitern bisheriger Globalpolitik analysieren und neue Modelle für ein gedeihliches Zusammenleben von Kulturen und Völkern entwickeln (vgl. „Brücken in die Zukunft“).
Damit sind schon die Grenzen des PW angedeutet. Das PW will keine Theologie, welcher Religion denn auch, ersetzen. Es setzt sie vielmehr voraus und hofft auf eine indirekte Belebung religionsorientierter Selbstreflexion. Das PW setzt dort ein, wo die Religionen und Kulturen miteinander in Berührung kommen, um ihre gemeinsame Sache gemeinsam zu regeln. Das hat nichts mit mangelndem Tiefgang, auch nichts mit Moralismus, aber alles mit kluger und effektiver Konzentration zu tun. Dass der Glaube an Gott, ein tiefes Vertrauen in Mitmensch und Wirklichkeit, dass eine selbstlose, sich ins Geheimnis des Göttlichen vertiefende Spiritualität enorme Kräfte freisetzen kann und muss, ist selbstverständliche Voraussetzung. Dass die großen Kräfte der Selbstheilung zum großen Teil aus den Religionen kommen, ist einer der Gründe für die wichtige Rolle des interreligiösen Dialogs. Im anderen Fall würde sich der Einsatz bei den Weltreligionen nicht lohnen. Dies gehört zu den spezifischen Randbedingungen des PW, von denen sie ihren Ausgang nimmt.
Ein Punkt bedürfte allerdings einer eigenen Überlegung. Gerade die ethos-orientierte Konzentration auf die brennenden Überlebensfragen der Menschheit hat zum erstaunlichen Ergebnis geführt, dass die erarbeiteten vier Weisungen und ihr Leitprinzip nicht erst auf der Ebene etwa internationaler Zusammenarbeit, sondern in der je persönlichen Lebensführung beginnen können und beginnen müssen. So führt die Frage nach dem Überleben der Menschheit zurück zu den Werten eines jeden Menschenlebens und zur politisch bedeutsamen Rolle der Religionen, die das Herz des Menschen berühren.
Anmerkungen
[1] Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990.
[2] Hans Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, 15-35. Grundlagentexte und eine umfassende Bibliographie der Sekundärliteratur sind einzusehen in: www.weltethos.org.
[3] F. Fukujama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992; S. P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996.
[4] Man denke: (1) an die Zeit der Kreuzzüge, die wichtige Handelskontakte mit dem Nahen Osten eröffnet haben; (2) an die Epoche der großen „Entdeckungen“ im 15. und 16. Jh. des gesamten amerikanischen und dem asiatischen Kontinents, seit dem man von einem Welthandel sprechen kann; (3) an die Epoche des Imperialismus mit ihrem Schwerpunkt im 19.und 20. Jh.. Auch sie bewirkte eine erhebliche Bewusstseinserweiterung, auch +wenn+ sie das eurozentrische Bewusstsein nicht überwand und für Europa keine Bedrohung brachte.
[5] H. Lenk/ M. Maring, Globalisierung – Entwicklung und Wirkungen. Dimensionen und Arten der Globalisierung, in: Reinalter, 11-40.
[6] Globalisierung bedeutet gerade nicht, dass alles und jedes eine globale Denk- und Lebensform annimmt. Globalisierungsprozesse und deren Entfremdungseffekte führen an vielen Orten zur Rückbesinnung auf die je eigene örtliche Kultur und Religion. Aus diesem Grund wurde der Begriff der „Glokalisierung“ (R. Robertson, Z. Bauman, U. Beck) geprägt.
[7] G. Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, München, Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution (1956) 71992; Bd. II: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution (1980) 41992.
[8] Auf die zahlreichen und intensiven Begegnungen der Mitglieder der Stiftung Weltethos mit Vertretern anderer Weltreligionen sei hier nicht eingegangen. Vgl. die in www.weltethos.org verzeichneten Abhandlungen und Monografien von Hans Küng zu Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und chinesischen Religionen sowie das multimediale Projekt „Spurensuche (München 2005); ferner S. Schlensog, Der Hinduismus. Glaube, Geschichte, Ethos, München 2006, sowie Karl-Josef Kuschel, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007.
[9] Zur Geschichte der Vorbereitung: Hans Küng, Geschichte, Sinn und Methode zu einem Weltethos, in: Dokumentation, a.a.O. 37-67.
[10] Unterzeichnet haben das Dokument insgesamt 14 große Religionsgemeinschaften, deren Untergruppen nicht eigens gerechnet sind. Die Untergruppen folgender Religionsgemeinschaften sind getrennt aufgeführt: Buddhismus mit 5 Untergruppen, Christentum mit 5 Ug., Eingeborenen-Religionen mit 4 Ug., Hinduismus mit 2 Ug., Jainismus+ mit 3 Ug., Judentum mit 4 Ug., Islam mit 3 Ug..
[11] Zum ersten Mal bei Hans Küng, ebd., 61 f., sowie in der inzwischen bekannten, von der Stiftung Weltethos organisierten und abrufbaren, pädagogisch ausgerichteten Wanderausstellung „Weltreligionen. Weltfrieden. Weltethos“.
[12] Nipkow, Weltreligionen – Weltethos – Weltfrieden. Offene Flanken des Weltethos-Programms in religions-philosophischer, pädagogisch-evolutionstheoretischer und anthropologischer Sicht, in: Reinalter, 23-43; vgl. ferner die Beiträge von Figl und Litsch in Reinalter, sowie die Beiträge von Die Beiträge aus der Sicht einzelner Religionen von H. Schüller, Elsayed Elshahed, Bimal Kundu, Theodor Strohal und K.S. Davidowitz in Bader. Zum Hinduismuus vgl. Schlensog 420-422: Der Beitrag des Hinduismus zu einem Menschheitsethos liege vor allem darin, „dass die große ethische Hindutradition für die verschiedenen Menschen in ihren verschiedenen Lebenssituationen gangbare Wege weist, Unwissenheit, Begierde, Haß und Egoismus zu überwinden und den Menschen ‚zu nüchternem, selbstlosem Urteil und zu richtigem Tun zu führen`.“ (422)
[13] Instruktiv ist der Sammelband von Hans Küng und Karl-Josef Kuschel (Hg.), Wissenschaft und Weltethos, München 1998, TA 2001 mit Konkretisierungen für Wirtschaftsethik und Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Naturwissenschaft (einschl. ökologischer Aspekte) und Ethik. Dieser Band kann zugleich zeigen, wie ein allgemein programmatischer Ansatz allmählich wissenschaftliche Analysen initiiert.
[14] Hans Küng, ebd.
[15] G. Theissen spricht von sozial gebundener Moral; vgl. Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Darmstadt 2003, 303..
[16] Vgl. dazu Hermann Häring, Weltethos und Religionen im Zeitalter der Globalisierung, in: H. Reinalter (Hg.), Ethik in Zeiten der Globalisierung, Wien 2007, 41-71.
[17] H.-J. Sander, Der Wille zum Weltethos – ein Wille zur Macht aus der Ohnmacht. Zu Stärken und Schwächen eines globalen religiösen Projektes, in: H. Reinalter (Hg.), Ethik in Zeiten der Globalisierung, Wien 2007, 65-78.
[18] G. Gebhardt, Weltethos – Brücke zwischen Kulturen und Religionen, in: E. Bader (Hg.), Weltethos. Weltfrieden. Weltreligionen, Berlin 2007, 17-29.
[19] N. Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kesterling, Frankfurt 2000.
[20] Es handelt sich bei dieser Formulierung um keine Tautologie, sondern um die Tatsache, dass sich die Globalisierungseffekte nicht mehr auf einige Zentralen des Zusammenlebens beschränken, sondern auf die gesamte Welt ausbreiten. Die sitz- und besitzlosen Seevölker Südostasiens sammeln die Heuschrecken als Gastgeschenke in Colaflaschen.
[21] Im Blick auf die Thematik wird hier nur verkürzt von der Symbiose der Religionen mit „ihren“ Kulturen gesprochen. Wie die Geschichte zeigt, zeichnet die meisten Weltreligionen die Fähigkeit zu Inkulturation mit allen dazu gehörenden komplexen Prozessen des Gebens und Nehmens aus. Die bekanntesten Beispiele finden sich in Buddhismus, Christentum und Islam.
[22] Weltreligion wird hier nicht im quantitativen Sinn einer weitverbreiteten, sondern im qualitativen Sinn eine Religion verstanden, in deren Zentrum die Frage nach dem Menschen als solchem steht. Damit werden alle anthropologischen, geographischen und historischen Partikularismen verbunden. Hier kann die Frage offen bleiben, ob diese Leitidee einer universalen Humanität Grund, Folge oder die hermeneutische Schwester eines transzendenten Gottesbildes ist.
[23] G. Dresen, Wat gij niet wilt dat u geschiedt …. Spreekwoorden als expressie van alledaags ethos en bron voor intercultureel gesprek, in: Tijdschrift voor Theologie 40(2000), 32-42; A. Dihle, Die Goldene Regel: Eine Einführung in die Geschichte der antiken und frühchristlichen Vulgärethik Göttingen 1962; P. Ricoeur, Soi-même comme un autre, Paris 1990; C. Theobald, La règle d’or chez Paul Ricoeur: Une interrogation théologique, in: Paul Ricoeur: L’herméneutique à l’école de la phénoménologie, ed. J. Greisch, Paris 1995, 139-158; Ch. Mandry, Von Liebesgebot und Goldener Rege zur Verhältnisbestimmung zwischen theologischer und philosophischer Ethik? Überlegungen im Anschluss an die Ethik von Paul Ricoeur, in: A. Holderegger, J.-P. Wils (Hg), Interdisziplinäre Ethik. Grundlagen, Methoden Bereiche, Freiburg Schw./ Freiburg i.B. 2001, 124-147. Im Blick auf die Diskussion zum Projekt Weltethos sind die Überlegungen von G. Dresen höchst interessant. Im Gespräch mit P. Ricoeur und Ch. Theobald zeigt sie, wie sich Funktion und Bedeutung der Goldenen Regel in verschiedenen gelebten, philosophischen und theologischen Kontexten ändern und gerade in dieser Pluralität eine globale Bedeutung erlangen können. Leider unterliegt auch G. Dresen einem verbreiteten Missverständnis, das ganz nebenbei auftaucht und deshalb auch nicht reflektiert wird. In der Erklärung von Chicago geht es weder um eine „universale Moral“ noch wird die Goldene Regel dort als ‚universale Grundregel proklamiert (a.a.O. 24,25). Es wird lediglich folgendes festgestellt: Diese Goldene Regel und – in Verbindung damit – die vier folgenden Regeln (Lebensschutz, Gerechtigkeit, Wahrheit, Partnerschaft) finden sich in den durch Unterschrift bezeugten Religionen faktisch vor; sie bilden einen jetzt schon gelebten, deshalb wirkmächtigen Ansatz zur Gestaltung und Durchsetzung von Verhaltenscodes, die das Überleben der Menschheit in der gegenwärtigen Situation sichern. Insofern tut die Tatsache, dass H. Küng kein Ethiker ist, nichts zur Sache, denn diese Tatsachenfeststellung geht den gewiss sinnvollen ethischen Überlegungen voraus.
[24] Vor diesem Hintergrund erstaunt es sehr, dass das Programm von J. B. Metz (Compassion – Weltprogramm des Christentums: Soziale Verantwortung lernen, Freiburg 2000) bisweilen als „Provokation“ für das PW präsentiert wird (vgl. H. Haker, ‚Compassion’ als Weltprogramm des Christentums?, in: Concilium 37 (2001), 436-449). Vom PW aus stellt sich das Verhältnis jedenfalls anders dar, zumal das PW erklärtermaßen die spezifischen Profile der Religionen weder ersetzen noch einebnen will. Umgekehrt geht die Frage an das ‚Compassion’-Programm, wie sich der Anspruch auf christliche Exklusivität rechtfertigen lässt. Christen haben in dieser Sache keinen Alleinanspruch auf Welterlösung. Für das PW wäre es allerdings reizvoll, die vier Prinzipien noch intensiver, d.h. in einem spirituell vertieften Sinn (wie oben beschrieben) auf die Grundregel hin auszulegen. Gewaltlosigkeit erschiene dann intensiviert als Empathie für die Bedrohten, als eine Fundamentaloption für sie, Gerechtigkeit als Einsatzbereitschaft und Verzicht auf eigene Vorteile zu ihren Gunsten, Wahrhaftigkeit als Entlarvung der großen Weltlügen und als Kampf um ein besseres Verständnis der Verkannten, Gleichberechtigung als gelebte Solidarität mit den Schwachen. Auch dies ist im säkularen Raum und aus säkularen Motiven möglich, aber unbestreitbar liefern die Religionen zu einer solchen Hochethik ausdrückliche Motivationen und nachahmenswerte Beispiele.
[25] Ricoeur ebd.
[26] G. Neuhaus, Kein Weltfrieden ohne christlichen Absolutheitsanspruch: eine religionstheologische Auseinandersetzung mit Hans Küngs „Projekt Weltethos“, Freiburg 1999.
[27] Hans Küng, Christ sein, München 1974, 239-267. Im Jahr 1990 hat er das Humanum, das „wahrhaft Menschliche“, die „gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen“ als ein allgemein ethisches Grundkriterium dargestellt, das im heute allgemein akzeptierten Begriff der „Menschenwürde“ ein unüberhörbares Echo findet. Dort ist von einem „ökumenischen Kriterium“ die Rede. „Sittlich gut wäre also, was menschliches Leben in seiner individuellen und sozialen Dimension auf Dauer gelingen und glücken lässt.“ Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990, 119.
[28] K.-H. Hillmann, Wertwandel. Ursachen – Tendenzen – Folgen, Würzburg 2004; H. Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997; J. B. Müller, Werteverfassung und Werteverfall. Eine kulturkritische Betrachtung, Berlin 2000; P. Prange u.a., Werte. Von Plato bis Pop, München 2006; F. Werner, Vom Wert der Werte. Die Tauglichkeit des Wertbegriffs als Orientierung gebende Kategorie menschlicher Lebensführung. Eine Studie aus evangelischer Perspektive, Münster 2002;
[29] Zum spezifischen Unterschied zwischen Wert und Norm sowie eine angemessen Definition von beiden vgl. H. Schnädelbach, `Werte und Wertungen‘, in: ders., Analytische und postanalytische Philosophie: Vorträge und Abhandlungen, 4, Frankfurt 2004, 242‑265.
[30] Daraus erklärt sich die Tradition des – meist recht oberflächlich verstandenen – Werterealismus und M. Schelers materialer Wertethik. Scheler spricht zwar von Wertesehen und Wertefühlen, aber er versteht dies im Sinne einer Intuition. Zu warnen ist auch vor der Verdinglichung des Denkens (Adorno), der die Rede von Werten oft zum Opfer fällt. Dagegen ist eine hermeneutische Annäherung vorzuziehen und auf der Linie eines ständigen praktischen Diskurses weiter zu entwickeln (vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns 2 Bd., Frankfurt 1981, insbes. I 369-452). Ziel dieses Diskurses wäre es, zu konsensuellen Sprachregelungen bzw. zu Konsensen in der Willensbildung zu gelangen. Übrigens ist dies auch das Ziel des PW, wenn man es als ein performatives Unternehmen betrachtet bzw. seine illokutionären Aspekte betrachtet. Hier wird es als argumentativ informierendes Unternehmen dargestellt.
[31] Dazu E. Cassirer: „Die Ausdrucksfunktion und das Leib-Seele-Problem“: „So weit wir in den Gestaltungen des sinnlich-geistigen Bewußtseins auch hinabgehen mögen – niemals treffen wir dieses Bewußtsein als ein schlechthin Gegensatzloses, als ein absolut-Einfaches, vor allen Scheidungen und Unterscheidungen an. Immer erscheint es als ein Lebendiges, das sich in sich selber trennt. … Aber wenn diese Differenz besteht, so ist sie doch damit noch nicht als solche gesetzt; vielmehr erfolgt diese Setzung erst, sofern das Bewußtsein aus der Unmittelbarkeit des Lebens in die Form des Geistes und in die des spontanen geistigen Schaffens übergeht. Erst dieser Übergang lässt alle jene Spannungen, die als solche schon dem einfachen Bestand des Bewusstseins angehören, zur Entfaltung kommen: was zuvor, ungeachtet aller inneren Gegensätzlichkeit, eine konkrete Einheit war, das beginnt jetzt auseinanderzutreten und sich in analytischer Sonderung „auszulegen“( Philosophie III, a.a.O. 109f.).
[32] Offensichtlich lassen sie sich am besten umschreiben in der Kombination einer allgemeinen Sinnkategorie und der Ablehnung dessen, was man nicht will, vergleichbar den Geboten des Dekalogs in ihrer negativen Form: „Nicht töten“ bezeichnet in indirekter, aber so genau möglicher Weise den Wert des Leben, der zur Debatte steht.
[33] Anschaulich wird der situationsbezogene, immer plurale und umstrittene Charakter der Wertefrage schon illustriert bei Prange. Er zeigt an Hand sog. Europäischer Werte, dass sie sich nie als reine Entitäten, Zielgebungen oder Intuitionen, sondern immer als umstrittene Diskurse präsentiert haben. In diesem Sinn setzt das PW Akzente in Diskurse, über deren konkrete Realisierung es sich keine Illusionen macht. Wäre die Sache klar, wären die dargelegten Werte also unbestritten, würde sich die Mühe einer Programmatik und von deren Ausarbeitung überflüssig.
[34] Wertegeneralisierung ist für die Erweiterung einer Kommunikation unverzichtbar, aber man muss um die Begriffsverschiebungen wissen, die dieser Prozess in Gang bringt: Nipkow 30; vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt 1999)
[35] Zum prozessualen Charakter dieser Universalität vgl. E. Schillebeeckx, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg 1975, 533-538; ders., Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg 1977, 772-787.
[36] H.-J- Höhn, Zwangssolidaritäten der Globalisierung, in: Reinalter 161-176; Höhn spricht von ökologischen Gefährdungslagen (173).
[37] Zur Frage der „Konstanten“ des menschlichen Lebens: E. Schillebeeckx spricht von Leiblichkeit, Gesellschaft, Kultur, Gemeinschaft und Praxis (Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg 1977, 715-725).
[38] Vgl. H. Schmidt (Hg.), Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, München 1997; Parlament der Weltreligionen, Aufruf an unsere führenden Institutionen, in: H. Küng (Hg.), Dokumentation zum Weltethos, München 2002, 151-196.
[39] Mit Rücksicht auf den Buddhismus spricht die Erklärung von Chicago (I) von Menschen, „die ihr Leben auf eine Letzte Wirklichkeit gründen und aus ihr in Vertrauen, in Gebet oder Meditation, in Wort oder Schweigen spirituelle Kraft und Hoffnung schöpfen“.
(vgl. Ch. Böttigheimer u.a. (Hg), Sein und Sollen des Menschen. Zum göttlich-freien Konzept vom Menschen, Münster 2009, 275-295; ungekürzter Text)
Literatur
Anders, Günther, 1992, Die Antiquiertheit des Menschen, München, 2 Bd.
Annan, Kofi (Hg.), 2001, Brücken in die Zukunft, Frankfurt 2001.
Bader, Erwin (Hg.), 2007, Weltethos. Weltfrieden. Weltreligionen, Berlin.
Bibliographie Weltethos: www.weltethos.org.
Cassirer, Ernst, 1994, Philosophie der symbolischen Formen III, Darmstadt.
Gebhardt, Günther, 2007, Weltethos – Brücke zwischen Kulturen und Religionen, in: Bader 2007, 17-29.
Habermas, Jürgen, 1981, Theorie des kommunikativen Handelns 2 Bd., Frankfurt.
Haker, Hille, 2001, ‚Compassion’ als Weltprogramm des Christentums?, in: Concilium 37, 436-449.
Häring, Hermann, 2002, Het mens-zijn als centrale waarde. Waarover gaat het gesprek tussen de culturen?, in: Tijdschrift voor Theologie 42 (2002), 268-288.
— , 2007a, Weltethos und Dialog der Weltreligionen, in: Reinalter, 2007, 41-71.
— , 2007b, Verantwoordelijk voor de wereld. Culturen en hun oriëntering op waarden, in: Tijdschrift voor Theologie 47 (2007), 363-388.
Hasselmann, Christel, 2002, Die Weltreligionen entdecken ihr gemeinsames Ethos, Mainz.
Huntington, Samuel P., 1996, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München.
Hillmann, Karlheinz, 2004, Wertwandel. Ursachen – Tendenzen – Folgen, Würzburg.
Höhn, Hans-Joachim, 2007, Zwangssolidaritäten der Globalisierung, in: Reinalter 2007, 161-176.
Joas, Hans, 1999, Die Entstehung der Werte, Frankfurt.
Küng, Hans , 1990, Projekt Weltethos, München.
— , 1997, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, München 1997.
— , Karl-Josef Kuschel (Hg.), 2001, Wissenschaft und Weltethos, München.
— (Hg.), 2002a, Dokumentation zum Weltethos, München.
— , 2002b, Geschichte, Sinn und Methode zu einem Weltethos, in: Küng 2002a, 37-67.
Kuschel, Karl-Josef, 2007, Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007.
Lenk, Hans /Matthias Maring, 2007, Globalisierung – Entwicklung und Wirkungen. Dimensionen und Arten der Globalisierung, in: Reinalter 2007, 11-40.
Luhmann, Niklas, 2000, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. A. Kesterling, Frankfurt.
Metz, Johann Baptist, 2000, Compassion – Weltprogramm des Christentums. Soziale Verantwortung lernen, Freiburg.
Müller, Johann Baptist, 2000, Werteverfassung und Werteverfall. Eine kulturkritische Betrachtung, Berlin.
Neuhaus, Gerd, 1999, Kein Weltfrieden ohne christlichen Absolutheitsanspruch. Eine religionstheologische Auseinandersetzung mit Hans Küngs „Projekt Weltethos“, Freiburg.
Nipkow, Karl Ernst, 2006, Weltreligionen – Weltethos – Weltfrieden. Offene Flanken des Weltethos-Programms in religions-philosophischer, pädagogisch-evolutionstheoretischer und anthropologischer Sicht, in: Reinalter 2006, 23-43.
Prange, Peter u.a., 2006, Werte. Von Plato bis Pop, München.
Reinalter, Helmut (Hg.), 2006, Projekt Weltethos. Herausforderungen und Chancen für eine neue Weltpolitik und Weltordnung, Innsbruck.
Reinalter, Helmut (Hg.), 2007, Ethik in Zeiten des Globalisierung, Wien.
Sander, Hans-Joachim, 2007, Der Wille zum Weltethos – ein Wille zur Macht aus der Ohnmacht. Zu Stärken und Schwächen eines globalen religiösen Projektes, in: Reinalter 2007, 65-78.
Schillebeeckx, Edward, 1975, Jesus. Die Geschichte von einem Lebenden, Freiburg.
— , 1977, Christus und die Christen. Die Geschichte einer neuen Lebenspraxis, Freiburg.
Schlensog, Stephan, 2006, Der Hinduismus. Glaube, Geschichte, Ethos, München.
Schmidt, Helmut (Hg.), 2002, Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten, München.
Schnädelbach, Herbert, 2004, Werte und Wertungen, in: ders., Analytische und postanalytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen IV, Frankfurt, 242‑265.
Theißen, Gerd, 2003, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Darmstadt.
Werner, Folke, 2002, Vom Wert der Werte. Die Tauglichkeit des Wertbegriffs als Orientierung gebende Kategorie menschlicher Lebensführung. Eine Studie aus evangelischer Perspektive, Münster.