Hermann Häring im Gespräch mit Philipp Gessler
In dem Moment, in dem Religionen politische Macht gewinnen, kann ein Primat der Gewaltlosigkeit oftmals nicht aufrechterhalten werden, sagt der emeritierte Theologieprofessor Hermann Häring. Dies zeige sich beispielsweise bei den Vertreibungen von Muslimen durch Buddhisten in Birma.
Ralf bei der Kellen: 2011 endete im südostasiatischen Staat Burma die Herrschaft des Militärs. Und wie so oft nach dem Ende solcher Diktaturen brachen auch hier lange unterdrückte Kämpfe zwischen verschiedenen Ethnien und Glaubensgemeinschaften auf. In den letzten Tagen und Wochen tauchten immer wieder Berichte auf, dass die muslimische Minderheit Burmas von der buddhistischen Mehrheit vertrieben wird. Dass der Buddhismus, der von vielen als eine friedliebende Religion wahrgenommen wird, eine solche gewalttätige Seite haben soll – das zu glauben fällt vielen Menschen schwer. Mein Kollege Philipp Gessler hat sich aus diesem Anlass vor der Sendung mit dem emeritierten Professor für Wissenschaftstheorie und Theologie Hermann Häring unterhalten und wollte zunächst von dem Tübinger Gelehrten wissen, ob wir nun unser Bild vom Buddhismus revidieren müssen.
Hermann Häring: Ja und nein. Ich glaube, wir müssen einfach den Buddhismus auch mal in seiner politischen Realität sehen. In der Regel erleben wir den Buddhismus als Religion, als Fluchtpunkt für Aussteiger, die sich dort in Meditationen flüchten, die eben die Idee der Gewaltlosigkeit, des Sich-Zurückziehens im Buddhismus, des Mitleids kennengelernt haben, aber nicht eben die Frage: Wie realisiert sich Buddhismus jetzt zum Beispiel in einer Kultur, wenn politische Mächte von buddhistischer Herkunft seien? Dann wird das natürlich auch sehr nüchtern.
Philipp Gessler: Gerade der Buddhismus – weil Sie von Nüchternheit sprechen – der Gründerzeit, also aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, erscheint ja als eine sehr gewaltfreie Religion. Manchen Überlieferungen aus dieser Zeit zufolge sei es den buddhistischen Gläubigen sogar bei Gefahr des eigenen Lebens verboten, einen Angreifer zu töten. Von dieser radikalen Friedlichkeit scheint der Buddhismus der heutigen Zeit ja ziemlich weit weg zu sein, oder?
Häring: Ja, ich glaube, es ist viel vergleichbar mit der Geschichte des Christentums. Es hat ja mit Jesus Christus auch so angefangen – dem Künder der absoluten Gewaltfreiheit, der lieber selber sich töten ließ als Gewalt anzuwenden. Auch die frühen mönchischen, aszetischen Bewegungen im Christentum haben auch absolute Gewaltlosigkeit verkündet. Und das ist ganz vergleichbar. Es ist aber in beiden Religionen dasselbe geschehen: In dem Moment, in dem so eine Religion kulturellen Einfluss gewinnt, zur politischen Macht wird, sich institutionalisiert, muss es natürlich mit den Gegebenheiten der Welt umgehen.
Und dann fing in beiden Religionen genau dasselbe an, dass man eingesehen hat zum Beispiel: Wenn ich einen anderen schützen muss, muss ich gegebenenfalls Gewalt anwenden oder töten. Wenn ich eine ganze Kultur zu verteidigen habe als Staatsherr, dann muss ich mich mit den Möglichkeiten oder Notwendigkeiten des Krieges auseinandersetzen. Das verhindert nicht, dass sich in beiden Religionen Gruppen absondern, die jetzt mönchisch leben, die sagen, wir sondern uns von der Gewalt der Welt ab und leben unser Ideal der Gewaltlosigkeit. Das gibt es heute genauso und genauso intensiv im Buddhismus wie im Christentum.
Gessler: Sind es dann eigentlich vor allem die Umstände, die eine Religion gewaltbereiter machen als eine andere, oder sind manche Religionen einfach gewaltbereiter als andere, etwa aufgrund ihrer jeweiligen heiligen Schriften?
Häring: Ich glaube, es gibt eine Graduierung, aber die ist qualitativ nicht so stark. Alle großen Religionen, die wir heute mit dem Begriff Weltreligionen umschreiben – also ich nenne jetzt Buddhismus, Hinduismus, Islam, Christentum, Judentum -, die haben alle eine ganz entschiedene Position der Gewaltlosigkeit.
Es wird dann schon differenzierter, wenn man die Frage stellt: Welche Ausnahmen gibt’s da? Wo fängt sozusagen Notwehr an? In welchem Sinn und wie weit beziehe ich das Lebensrecht der Tiere ein? Da ist der Buddhismus zweifelsohne weiter als wir in westlichen Religionen sind. Es ist aber, glaube ich, noch ein anderen Punkt, der viel wichtiger ist: Religion tritt ja immer da sozusagen in Aktion auch, wo es um Grenzerfahrung, um Leid, um Elend, um Verunglücken geht, wo also etwas nicht in Ordnung ist. Das heißt, es gibt eine interne Gewaltaffinität im Sinn von ein Sich-Auseinandersetzen mit Gewalt in jeder Religion. Sonst könnte sie kulturell überhaupt nicht wirksam werden.
Und da, denke ich, da geht es wie in der Homöopathie: In dem Moment, in dem ich mich mit Gewalt auseinandersetze, Gewalt überwinden will, überlege ich mir, wie weit ich mich von der Gewalt affizieren, infizieren lasse. Wie viel Hassenergie übernehme ich selber im Gegenhass? Wie viel Gewalt nehme ich, um andere Gewalt einzudämmen? Es ist also nicht so sehr die positive Affinität von Gewalt, es ist eher die Tatsache, dass jede Religion sich im Moment auf den Plan gerufen fühlt, wo Menschen mit Gewalt nicht mehr zurechtkommen.
Gessler: Es ist ja interessant, dass der Ägyptologe Jan Assmann schon 1998 die These aufgestellt hat, gerade die großen monotheistischen Religionen, also das Judentum, das Christentum und der Islam, seien besonders gewaltschwanger. Der Grund: Der Glaube an den einen Gott trage in sich den Dualismus von wahr und falsch, der aber führt zwangsläufig zu Intoleranz, mindestens gegen andere Götter, bestimmt aber gegen die Vielgötterei. Was halten Sie von Assmanns These?
Häring: Ich glaube, dass die These sehr ernstzunehmen ist. Ich glaube, dass ja auch gerade für Christen, die sich natürlich großräumig gegen die These damals gewehrt haben, dass sie doch einige Wahrheitsgehalte hat. Man muss einfach sehen: In dem Augenblick, in dem Religionen zu Weltreligionen werden, ich sage es mal so ein bisschen vereinfacht – also in der berühmten Achsenzeit, wie das Karl Jaspers nannte -, in dem Augenblick, in dem man nicht nur die Frage stellt, wer ist für mich und gegen mich, von Volk zu Volk, sondern sagt, Gott ist der Schöpfer der Welt, alle Menschen sind dem einen einzigen Gott untertan, stellt sich natürlich die Frage der Wahrheit.
Dann wird zum Beispiel Hass, Ablehnung und Gewaltausübung nicht nur eine Aktion gegen mein Nachbarvolk, sondern gegen alle, die meinem Glauben nicht folgen. Dann bekommen Hass, Aberglaube, Unglaube, Häresie, Intoleranz, all diese Worte, die dann kommen, bekommen alle eine universale Dimension. Und das ist eine ganz gefährliche Geschichte. Und in der Geschichte des Christentums kann man das ja deutlich machen: Warum musste man in den Kreuzzügen nach Israel gehen? Das wäre doch unnötig gewesen. Nur, weil man sagte, wir müssen sozusagen die Wahrheit der ganzen Welt retten, nicht nur die Wahrheit des Abendlandes.
Gessler: Sie haben ja einmal geschrieben: „Es gibt, von Stalinismus und Faschismus abgesehen, wohl keine zweite Institutionengruppe in der Geschichte der Menschheit, die so viel Intoleranz und Unduldsamkeit, so viel Rechthaberei und Kriegslust, so viel Fanatismus und zerstörerischen Eifer losgetreten hat beziehungsweise legitimiert hat wie die monotheistischen Religionen Christentum und Islam.“ Zitat Ende. Sind diese beiden Religionen besonders zur Gewalt neigend, weil sie so dynamische, missionierende und wachsende Religionen sind?
Häring: Ja, ich glaube, man müsste eigentlich von der Struktur das Judentum dazuzählen, aber das ist nicht so wichtig, weil das Judentum immer zur Minorität gehörte bis ins 20. Jahrhundert hinein. Aber das sind die beiden großen Religionen, die Weltveränderungen, Weltverbesserungen, aktive Weltgestaltung sich auf die Fahnen geschrieben hatten, und die das mit dem universalen Wahrheitsanspruch tun – und die lange nicht sozusagen die Grenze gesehen haben, die eben meinten, wenn ich im Namen des wahren Gottes Gewalt ausübe, bin ich auf der rechten Seite. Das ist eine ganz große Last dieser beiden Religionen, und diese Gewaltausübung hat sich ja indirekt in säkularisierter Weise ja bis in die Gegenwart ausgewirkt, Stichwort Imperialismus, was haben eigentlich westliche Mächte in Asien zu tun und solche Fragen, die alle noch aus diesem Impuls leben: Wir müssen für die Wahrheit und das Recht in der ganzen Welt schauen, indem wir notfalls brutal zuschlagen.
Gessler: Wie kann man denn nun angesichts dieser Lage, die Sie beschreiben, die destruktive Dynamik der Religionen, vor allem der monotheistischen Religionen, bändigen, wie ihre friedlichen Passagen, die es ja in allen drei Religionen gibt, stärken?
Häring: Ich glaube, wir sind auf dem besten Weg, einfach deshalb, dass zum Beispiel in unserem Kulturkreis das Christentum nicht mehr die dominierende Religion ist und der Islam auch nicht ewig dominierende Religion in ihrem Kulturkreis bleiben wird. Wir sind gezwungen, nach den Ursprüngen zurückzugehen, und wir entdecken jetzt sozusagen die Unterseite und die Kehrseite, die Botschaft Jesu, die eben wichtiger ist als das, was mittelalterliche Theologen daraus gemacht haben – dass Widerstand gegen Gewalt im Grunde nur durch Gewaltlosigkeit geschehen kann, also die Paradoxie, die in den großen Religionen steckt.
Übrigens ist das ein großes Thema, was Hans Küng in seinem Projekt „Weltethos“ aufgreift, indem er diese paradoxe Wahrheit – Wahrheit in Frieden, Wahrheit in der Gewaltlosigkeit, Wahrheit darin suchen, dass wir miteinander für Gerechtigkeit kämpfen -, dass er dieses politische Potenzial in allen Weltreligionen wieder zum Bewusstsein erheben will, sodass da überall wieder Leute aufstehen und sagen: Leute, Wahrheit geschieht nicht, indem wir draufschlagen und für Wahrheit sorgen, im Gegenteil: Wahrheit geschieht dadurch, indem wir unser eigenes Problem selbstkritisch sehen. Wenn man es religiöser, frömmer sagen will: Jede der Religionen redet auch von Bekehrung, und Bekehrung heißt immer, die Grenzen, die Fehler, die Missverständnisse der eigenen Überzeugung erst entdecken und sich derer bewusst werden, bevor wir mit dem Anspruch sozusagen nach außen gehen können, wir seien die Friedensengel der Welt.
Gessler: Es scheint ja, als hätten nicht nur im Judentum und im Islam, sondern auch im Christentum nun aber in letzter Zeit fundamentalistische Bewegungen immer mehr Einfluss in ihren jeweiligen Religionen. Wächst damit für die Zukunft die Gefahr, dass diese Religionen noch gewalttätiger werden?
Häring: Ja, jedenfalls wird innerhalb der einzelnen Religionen … und die Auseinandersetzung und der Streit darum, wo darf Gewalt einsetzen und wo hört sie auf, was sind die Gewaltpotenziale, wird schärfer. Fundamentalisten sind Leute, die keine Orientierung mehr sehen, die meinen, sie könnten nur weiterkommen, indem sie sagen: Das stimmt und das ist wahr, da wird nicht mehr diskutiert, und wer mir nicht folgt, der ist auszurotten. Das ist die große Gefahr, das ist sozusagen die dunkle Hinterseite der Religionen. Um das ein bisschen globalpathetisch zu sagen: Je besser und je hochstehender eine Religion ist, umso schlimmer und abgründiger ist ihre Hinterseite, und die müssen wir aufdecken, um sozusagen immer zur Sprache bringen.
(10.11.2012, in: Deutschlandradio Kultur)