Diese Lexikonartikel präsentiert die Inhalte und die Begründungsprobleme der römisch-katholischen UInfehlbarkeitslehre, deren biblische, historischeund systematische Begründungen Hans Küng im Jahr 1970 in Frage stellte und damit eine leidenschaftliche Diskussion auslöste.
1. Die offizielle Lehre:
Das Dogma von der Infallibilität oder Unfehlbarkeit (genauer: Irrtumslosigkeit, Irrtumsunfähigkeit) wurde 1870 als päpstliche Vollmacht definiert und zur (nie definierten) Unfehlbarkeit der Gesamtkirche in Beziehung gesetzt: „Wenn der römische Bischof ,ex cathedra‘ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, daß eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten sei, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistandes jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet sehen wollte; und daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche unabänderlich (irreformabel)“ (DH 3074). Unter bestimmten Bedingungen kann der Papst in Lehrfragen des Glaubens und der Sitte also nicht irren. Diese Vollmacht ist auf dem 2. Vatikanum explizit auch der Gemeinschaft der Bischöfe mit einer entscheidenden Erweiterung zugesprochen: dort ist neben der Unfehlbarkeit des „außerordentlichen“ Lehramts (also ausdrücklicher päpstlicher und konziliarer Entscheidungen) auch die Unfehlbarkeit des „ordentlichen“ Lehramts genannt: Unfehlbar sprechen die Bischöfe auch, wenn sie „in der Welt räumlich getrennt“, jedoch „in Wahrung der Gemeinschaftsbande untereinander“ und in Übereinstimmung mit dem Papst eine Lehre als endgültig verpflichtend vortragen. Dieses unfehlbare ordentliche Lehramt hat in der Frage der Geburtenregelung eine Rolle gespielt und wurde beim römischen Diskussionsverbot zu Fragen der Frauenordination vom 21. 11. 95 ausdrücklich in Anspruch genommen.
Zwar haben die Päpste von diesem Privileg seit seiner Definition nur einmal Gebrauch gemacht (Aufnahme Mariens in den Himmel, 1. 11. 1950; vgl. Unbefleckte Empfängnis Mariens, 8. 12. 1854). Viel wichtiger aber ist seine Wirkung. Es hat eine neue Kirchenspaltung hervorgerufen, die Kluft zu anderen Kirchen vertieft, die katholische Kirche autoritär und zentralistisch geprägt sowie die katholische Theologie bis hin zur Starrheit übernormiert. Nach 1870 ist die Diskussion um die (päpstliche) Unfehlbarkeit nie ganz verstummt. 1970 flammte sie durch die Intervention von H. Küng leidenschaftlich auf; Rom reagierte durch Disziplinierung. Die differenzierenden Stimmen, die sich inzwischen zu Wort meldeten, machten z. T. wider Willen deutlich, welche Aspekte der Unfehlbarkeitslehre aus biblischen, historischen, dogmatischen und hermeneutischen Gründen inakzeptabel sind.
Auf die Mißverständlichkeit der Rede vom „unfehlbaren Papst“ (als könne er überhaupt nie irren, nicht sündigen, als sei er vollkommen) wurde immer wieder hingewiesen. Die einschlägigen Texte stellen klar, dass die Unfehlbarkeit zwar eine Qualität der definierenden Person meint, sich aber streng auf Entscheidungen in Fragen von Lehre und Sitte bezieht, die analog dem Urteil eines Obersten Gerichts unwiderruflich („irreformabel“) sind. Sachgemäß kann man deshalb von „unfehlbar wahrer“ Lehrentscheidung (Aussage, Spruch, Definition) sprechen, die Papst, Konzil bzw. Bischöfe auszusprechen Recht und Vermögen haben. Im Prinzip kann eine solche Aussage verbesserungsfähig sein, im Kern bleibt sie jedoch unabänderlich, weshalb die Überprüfung auf ihre Stichhaltigkeit an ihrer Geltung nichts ändert, ist sie doch „vom Irrtum notwendigerweise(!) frei“ (DH 4534). Das Legitimitätsproblem zeigt sich darin, dass das Konzil mit dieser Definition sich selbst als unfehlbar definierte.
2. Problematik:
Eine Reihe wichtiger Einschränkungen darf nicht übersehen werden, obwohl keine von ihnen als bindende Bedingung wirksam wird.
(1) Papst und Bischöfe genießen keine „absolute“ Unfehlbarkeit, deshalb ist der Beistand des Heiligen Geistes notwendig.
(2) Sie können keine „neuen“ Lehren definieren, sondern nur solche, die Bestand der christlichen Offenbarung (d. h. der Schrift) oder unmittelbar damit verbunden sind.
(3) Sie besitzen nur die Unfehlbarkeit, die der Kirche als solcher zukommt; dieser gesamtkirchliche Bezugsrahmen kann als ein unbestritten altes und ökumenisch lebendiges Erbe gelten.
(4) Der Papst ist nur unfehlbar, wenn er „ex cathedra“ spricht und dies in Anspruch und Handlung formell zu erkennen gibt.
(5) Es ist vorauszusetzen, dass er gegebenenfalls die Meinung der Bischöfe erkundet.
Diese Einschränkungen dienen der theologischen Klärung (1-3) und dem innerkirchlichen Konsens (5), aber sie können, die formalen Regeln der Rechtssicherheit vorausgesetzt (4), einen als unfehlbar intendierten Spruch nicht überprüfbar oder unwirksam machen.
Das zentrale theologische Problem der Unfehlbarkeitstheorie liegt also in der Lösung einer Wahrheitsfrage durch einen Rechtsspruch, das zentrale institutionelle Problem in der undifferenzierten Überordnung von Papst bzw. Bischöfen über Kirche und gesamtkirchliches Handeln, das zentrale rechtliche Problem in der mangelnden Vorsorge gegen den Missbrauchsfall einer höchst kostbaren und sensiblen Befugnis. Unfehlbare Definitionen sind nicht ‑ wie in der Alten Kirche üblich ‑ abhängig von einer gesamt-kirchlichen Rezeption, also „aus sich, nicht aber auf Grund der Zustimmung der Kirche unabänderlich“ (DH 3074). Diese Passage macht deutlich, dass die Unfehlbarkeitspraxis nach dem Modell eines Richtspruchs konzipiert ist, gegen den keine Berufung mehr möglich ist. Die Unfehlbarkeitstheorie fügt sich nahtlos in das noch immer absolutistische Rechtsgefüge der katholischen Kirche ein. Im Gefolge des römischen Primats (DH 3064) eignet dem Papst in Glaubens- und Sittenfragen die Kompetenz der Kompetenz.
Die Begründungsprobleme lassen sich nach exegetischen, historischen und systematisch-hermeneutischen Gesichtspunkten beleuchten.
(1) Die Unfehlbarkeitsdefinition macht auffallend wenig von der Schrift Gebrauch. Zitiert wird nur das Herrenwort, das sich kaum für ein unfehlbares Lehramt heranziehen lässt: „Ich habe gebetet für dich, dass dein Glaube nicht wanke; du aber … stärke deine Brüder“ (Lk 22,32). Dasselbe gilt für die Zusage der Binde- und Lösegewalt (Mt 16,19), die auch der Gemeinde als ganzer gilt (Mt 18,18). Ebenso wenig tragen die Worte vom Beistand des Geistes (Joh 14,16) und der Gegenwart des Herrn (Mt 28,20) für unsere Frage bei. Von der neutestamentlichen Überzeugung, dass die Kirche als Gemeinschaft der Nachfolge von Gottes Wahrheit getragen bleibt, bis hin zur lehramtlichen Unfehlbarkeit ist ein sehr weiter Weg.
(2) Ähnliches ergeben historische Erwägungen. Gewiss, nach früher Überzeugung hat die Römische Kirche in den Lehrstreitigkeiten des Altertums immer den rechten Glauben bewahrt. Der Gedanke der Irrtumsfreiheit bleibt aber auf die Gesamtkirche bezogen. Eine Theologie von der päpstlichen Unfehlbarkeit wurde erstmals 1280 von Petrus Olivi aufgestellt, der in innerfranziskanischen Streitfragen die Nachfolgepäpste an die Entscheidungen ihrer Vorgänger binden wollte, worauf Johannes XXII. diese Theorie 1324 als ein Werk des Teufels verdammte (B. Tierney). Erst in nachtridentinischer Zeit wurde sie zur Stützung päpstlicher Autorität herangezogen.
(3) Die erkenntnistheoretische Problematik des Unfehlbarkeitskonzepts ist nur ungenügend aufgearbeitet. Sie bündelt sich in der Frage, wie sich Glaubensaussagen mit ihren narrativen, symbolischen, analog-imaginativen und performativen Komponenten überhaupt definitiv in logisch und juridisch fixierbare Formeln fassen lassen. Offensichtlich liegt der Unfehlbarkeitsvorstellung ein rationalistisches und von institutionellen Interessen geleitetes Wahrheitsverständnis zugrunde, das sich mit neueren hermeneutischen, linguistischen und kontext-kritischen Wahrheitskonzepten kaum vereinbaren lässt.
3. Paradigma einer Glaubensform:
Wie die 1970 durch H. Küng ausgelöste Diskussion zeigte, fungiert die Unfehlbarkeitslehre als Symbol und Garant für die soziale Glaubensform, die kirchensoziologisch mit dem Begriff Katholizismus umschrieben wird, in der u. a. römischer Zentralismus und der lehrjuridisch abgesicherte Neuthomismus eine enorme Rolle spielen (K. Gabriel). Im Rahmen eines hermeneutisch unsensiblen Wahrheitsverständnisses werden die breit gefächerten Formen christlichen Redens (z. B. Zeugnis, Verkündigung und Kommunikation, Schriftauslegung und situationsbezogene Neuformulierung, polemische Abgrenzung und gesamtkirchliche Rezeption) ignoriert. Die lebenspraktische Glaubensgewissheit hat sich zur Vorstellung verengt, ein einziger Amtsträger könne die Wahrheit des Glaubens verbürgen, damit die Gläubigen nicht „durch jeden Windstoß der Lehre … der Arglist des Irrtums in die Arme getrieben werden“ (DH 2781). Diese Konzeption steht in einer gesprächsfähig, geschwisterlich und multikulturell gewordenen Kirche unter schwerem Plausibilitäts- und Argumentationsdruck.
Deshalb berufen sich Verteidiger der Unfehlbarkeitsdoktrin in einer Art Beschwichtigungsstrategie oft auf die Grenzen und Bedingungen der Unfehlbarkeit. Man sieht die ungeschichtliche Tendenz und den Mangel an hermeneutischer Reflexion, den zentralistischen Bezugsrahmen und dessen nur halbherzige Korrektur im 2. Vatikanum. Man gibt zu, dass es nicht auf definierte Sätze, sondern ‑ durch die Sprachhandlung der Amtsträger vermittelt ‑ auf deren Sinn, Wirkkraft und Schaffung von Identität ankommt. Statt von irreformablen spricht man vorsichtiger von letztverbindlichen Aussagen. Betont werden die Interpretationsfähigkeit, der Dienst am Glauben sowie die Rückbindung an die Schrift. Auch irreformablen Sätzen könne Irrtum beigemischt sein, die intolerante Atmosphäre des 1. Vatikanums (A. B. Hasler) gereiche nicht zum Ruhm der Kirche und eine „Rezeption“ der Unfehlbarkeitsdefinition sei geboten.
In der Regel bleiben praxisorientierte Aspekte ausgeblendet: ökumenische Unverträglichkeit, unkirchlicher Autoritarismus und ideologische Anfälligkeit. Den anderen Kirchen wird im Finden der Wahrheit jede wirksame Mitsprache entzogen. Der eigenen Kirche wird eine engagierte Meinungsbildung untersagt. Der Schutz römischer Geltungsinteressen durch die Aura der Unfehlbarkeit ist unverkennbar; die Gefahren der Instrumentalisierung sind enorm.
4. Klärungen:
Eine Glaubenswahrheit lässt sich nicht auferlegen, sondern muss aus vielfältiger und gemeinsamer Glaubenspraxis zum Leben erwachsen: Erinnerung und Kommunikation, Erfahrung, Zeugnis, Gebet und gemeinschaftliches Handeln. Damit werden öffentlich verbindliche Sprachhandlungen nicht überflüssig, aber sie setzen den stets bedrohten Konsens der kirchlichen Gemeinschaft voraus. Dabei sind einige Regeln zu beachten.
Gegenüber einer hermeneutischen Idealisierung ist die Unfehlbarkeitslehre ideologiekritisch an der Praxis zu messen, die sie legitimiert: nicht Schutz, sondern Abbruch kirchlicher Kommunikation. Deshalb sind ihr andere Konzepte christlicher Wahrheitsfindung entgegenzustellen. Nur eine offene ökumenische Diskussion kann zu einer Vitalisierung und Neuregelung kirchlicher Lehrverbindlichkeit führen.
Gegenüber einem institutionellen Zentralismus sind Sinn und legitime Funktion eines der Kirche dienlichen Leitungsdienstes herauszuarbeiten. Er ist daran zu messen, ob er die Suche nach der Wahrheit stimuliert und schützt. Das Starren auf Irrtum oder Richtigkeit einzelner Definitionen kann die Größe dieser Aufgabe pervertieren. Nur eine gesamtkirchliche Mitsprache und nur die Garantie öffentlicher Kommunikation können die christliche Botschaft als einen lebendigen Prozess erhalten.
Gegenüber der juridischen Verengung ist die volle Dimension christlicher Wahrheit im Blick zu halten. Die christliche Wahrheit entspringt der Erinnerung an Israel sowie an die Geschichte Jesu; Bekenntnis und Leben gehen der christlichen Lehre voraus. Deshalb kann der verbindliche Glaubenssatz nie aus sich selbst heraus christliche Wahrheit garantieren.
Sind wir also dem Irrtum ausgeliefert? Nein, denn gemäß gesamtkirchlicher Überzeugung bleiben der Herr (Mt 28,20) und der Geist (Joh 14,16) bei ihrer Kirche. Deshalb werden die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen (Mt 16,18). Wer dem Geist die Größe zutraut, dass er seine Kirche auch durch Irrtum hindurch in der Wahrheit erhält (Küng), der kann die Unfehlbarkeitsdefinition durch die Überzeugung ablösen, dass die Kirche unzerstörbar ist (Indefektibilität), also aus der Wahrheit Gottes nicht herausfallen kann. In welcher Gestalt sie aber weiterlebt, kann getrost eine sekundäre Frage bleiben.
Literatur:
Neben den einschlägigen Texten des 1. und des 2. Vatikanischen Konzils:
– Aubert, Vatikanum I, Mainz 1965;
– Butler, H. Lang, Das I. Vatikanische Konzil, München 2/1971;
– Fastenrath, Papsttum und Unfehlbarkeit, Frankfurt 1991;
– Fries, Fundamentaltheologie, Graz-Wien-Köln 1985, 480-496;
– K. Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Postmoderne, Freiburg 1992;
– A. B. Hasler, Pius IX. (1846-1878). Päpstliche Unfehlbarkeit und 1. Vatikanisches Konzil. Dogmatisierung und Durchsetzung einer Ideologie, Stuttgart 1977;
– ders., Wie der Papst unfehlbar wurde. Macht und Ohnmacht eines Dogmas. Mit einem Geleitwort von H. Küng, München 1979;
– A. Houtepen, Onfeilbaarheid en hermeneutiek: De betekenis van het infallibilitas-concept op Vatikanum I, Brügge 1973;
– H. Küng, Unfehlbar? Eine Anfrage, Zürich-Einsiedeln-Köln 1970;
– ders. (Hg.), Fehlbar? Eine Bilanz, Zürich-Einsiedeln-Köln 1973;
– H. J. Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts, Mainz 1975;
– K. Rahner (Hg.), Zum Problem Unfehlbarkeit. Antworten auf die Anfrage von Hans Küng, Freiburg 1971;
– P. Scharr, Consensus fidelium: zur Unfehlbarkeit der Kirche aus der Perspektive einer Konsenstheorie der Wahrheit, Würzburg 1992;
– B.Tierney, Origins of Papal Infallibility, Leiden 1972.
Erschienen in:
Johannes B. Bauer. Die heißen Eisen in der Kirche, Graz 1997 (Hg.)287-293