Joh. 3, 1-15:
[1] Es war ein Pharisäer mit namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden. [2] Der suchte Jesus bei Nacht auf und sagte zu ihm: Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. [3] Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen. [4] Nikodemus entgegnete ihm: Wie kann ein Mensch, er schon alt ist, geboren werden? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites Mal geboren werden? [5] Jesus antwortete ihm: Amen, amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und Geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen. [6] Was aus dem Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; was aber aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. [7] Wundere dich nicht, dass ich dir sagte: Ihr müsst von neuem geboren werden. [8] Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist. [9] Nikodemus erwiderte ihm: Wie kann das geschehen? [10] Jesus antwortete: Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht? [11] Amen, amen, ich sage dir: Was wir wissen, davon reden wir, und was wir gesehen haben, das bezeugen wir; und doch nehmt ihr unser Zeugnis nicht an. [12] Wenn ich zu euch über irdische Dinge gesprochen habe und ihr nicht glaubt, wie werdet ihr glauben, wenn ich zu euch über himmlische Dinge spreche? [13] Und niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen außer dem, der vom Himmel herabgestiegen ist: der Menschensohn. [14] Und wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, [15] damit jeder, der (an ihn) glaubt, in ihm das ewige Leben hat.
Schwestern und Brüder in Christus!
Es sind große und starke Symbole, die hier im Johannesevangelium zur Sprache kommen. Mit ihnen sollte die christliche Tradition eine ganze Symbolkosmos entfalten, der heute noch seine Geltung hat. Dazu gehören Geburt und Wiedergeburt, Wasser, Fleisch und Geist, Sturm, Aufstieg und Abstieg, Himmel und Menschensohn, Schlange, Erhöhung und Ewiges Leben. Im Leidensbericht wird diesen Symbolen neben dem Tod noch das Blut hinzugefügt; sie bilden den ernsten Hintergrund dieses Nachtgesprächs, zu dem Nikodemus, der Wahrheitssucher, Jesus aufsucht, und der beim Tod Jesu wieder zur Stelle sein wird: „Jener“, wie das Evangelium sagt, „der Jesus bei Nacht aufgesucht hatte“ (19,39). Von der Wiedergeburt handelt der Bericht; gemeint ist zugleich und hintergründig eine Geburt „von oben“, wie es der Doppelsinn des griechischen Wortes „anōthen“ (anwqen) zum Ausdruck bringt. Eine paradoxe Vorstellung also, die Johannes dadurch einlöst, dass er eine „Wiedergeburt“ im übertragenen und doch sehr realen Sinne für möglich hält: eine Wiedergeburt, in der Gott seine Hand im Spiel hat, in der gottgegebenes Leben beginnen kann. Zugleich aber weiß Johannes, dass über dieses Neue erst nachzudenken ist; es provoziert Missverständnisse, wie ja auch Nikodemus es nicht verstand. „Wundere dich nicht“, sagt Johannes, was im Grunde heißt: „Es ist der Mühe wert, genauer darüber nachzudenken“.
Nachdenken sollten wir auch deshalb, weil diese Begebenheit des Johannesevangeliums eine wichtige Praxis der frühen Kirche spiegelt. Denn wenn das Glaubensbekenntnis sagt (und wenn Christen aller Konfessionen und Kirchen dies sonntäglich bekennen), dass wir der+ „Vergebung der Sünden“ glauben, dann gehört dies – ganz offensichtlich –zu den Kernüberzeugungen einer christlichen Glaubenspraxis, die wir nicht aus den Angeln heben sollen, ganz offensichtlich deshalb, weil ihr Vergessen dem christlichen Glauben ein Element rauben würde. Wir wissen nämlich, worauf das Glaubensbekenntnis hier zu sprechen kommt. Gemeint ist mit dieser „Vergebung der Sünden“ die Praxis der Taufe, die – neben dem Gebet, der Verkündigung des Wortes und der Feier des Abendmahls – zu den grundlegenden Zeichen der christlichen Gemeinde gehört. Aber als Kern dieser sakramentalen Handlung gilt hier nicht die Aufnahme in die kirchliche Gemeinschaft, wie wir auf den ersten Blick sagen würden, sondern ein Geschehen, das mit Sünde und Schuld zu tun hat. Umso erstaunlicher, dass das später auch von einer Säuglingstaufe gelten soll, die ja sicher noch keine Sünden abzuwaschen hat, oder wie sollen wir hier den Begriff der Sünde und der Sünder verstehen? Offensichtlich haben sich einige Begriffe verschoben; vielleicht bedarf unsere Taufpraxis einer Erneuerung. Was meint also die Schrift mit Sünde, Schuld und Vergebung? Könnten wir – zusammen mit Nikodemus – versuchen, Missverständnisse auszuräumen und falsche Widerstände zu beheben?
1. „… kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod“
Die hebräische Bibel beginnt mit archaischen, zutiefst beeindruckenden Bildern; ihre zentrale Aussage ist einfach: Mann und Frau, von Gott geschaffen, versagen in ihrer Lebensprobe. Danach brechen Bosheit und Zerstörung (um in späteren Bildern zu reden) wie eine Lawine, wie eine große Infektion, wie die Pest über die Menschheit herein. Wie gingen die Menschen von damals – weit vor der Zeit Israels – mit diesem Fiasko um? Die Frage ist kaum von Bedeutung?+ Denn was da beschrieben wird, ist keine vergangene, sondern eine höchst aktuelle Erfahrung. Wir wissen es nur zu gut: Das meiste Unglück beginnt mit menschlicher Schuld und immer mehr wird uns bewusst, dass wir solche Schuld nicht einfach nach außen, auf die Gesellschaft, auf Mitmenschen, auf die Geschichte projizieren können. Es gibt Gründe genug, sie immer auch in den eigenen Reihen, in uns, in den eigenen Herzen zu suchen.
Wir brauchen uns also nicht lange bei der Frage aufzuhalten, wie groß der historische und wie wichtig der mythische Anteil solcher Erzählungen ist: die Ermordung des Abel, der Arroganz der Menschen, die himmelhoch hinauswollen, statt dessen nur eine babylonische Verwirrung zustande bringen, die wachsenden Katastrophen bis hin zur Sintflut. Genau diese Geschichten des Schreckens und des Versagens, genau solche Sintfluten haben in unserer Geschichte unendliche Ausmaße erreicht. Gewiss, wir Westeuropäer leben seit sechzig Jahren auf einer Insel der Seligen. Das haben wir jedoch nicht verdient, denn unser Glück kam auf Kosten anderer Länder zustande. Aber selbst was bei uns davor geschah, holt uns – in geradezu zwanghaften, wenn auch kleineren Wiederholungen – fast tagtäglich wieder ein. Vor wenigen Tagen erst sahen wir den Bischof von Rom in Auschwitz. Viele haben sein Verhalten und seine Worte aufmerksam+ so aufmerksam und so kritisch verfolgt, weil die Geschichte von damals auch die Söhne und Enkel der Opfer, aber die Töchter und Enkelkinder der Täter nicht in Ruhe lässt.
Warum aber hat uns die Vergangenheit so fest im Griff? Bevor wir den vieldimensionalen und den schwer zu fassenden Begriff der Schuld vorschnell mit einer abzubüßenden Tat oder einer sündigen Einzelhandlung identifizieren, sollten wir darüber nachdenken, wie früh sich der Begriff der Schuld schon einstellt. Schuld meldet sich als Verbindlichkeit immer schon in einem Stadium, in dem von Verfehlung noch gar nicht die Rede sein kann. Schuld meint zunächst eine Pflicht, die ich abzuleisten habe. Diese Pflicht hat noch nichts mit den Folgen einer Übeltat zu tun. Aber schon ohne mein Zutun ist die Wirklichkeit so verdreht, grausam, ungerecht, verlogen, wie sie eben ist. Das betrifft vielleicht meine Familie, meine Umgebung, die öffentliche Meinung, die große Weltpolitik. Deshalb verliert diese meine Verbindlichkeit, zu der ich mich gerne stelle, von vornherein alle Neutralität, alle Unbefangenheit, alles unbeschwerte und reine Gewissen. Von vornherein liegt über allem ein Schleier des Versagens. Das Interesse an vergangener Schuld hat mit dieser unbeantworteten, mit dieser unbeantwortbaren Frage zu tun, wie wir uns heute dem Zustand unserer menschlichen Beziehungen, zu Situation von Gesellschaft und Welt, vielleicht stellen sollen, ohne dabei immer schon zu versagen.
Hatte D. Sölle Recht, die sie vor Jahrzehnten einmal sagte, dass wir mit jeder Banane, die wir essen, die Ausbeutung einer verarmten Bevölkerung unterstützen? Fördern wir nicht schon aus Gründen des Überlebens immer wieder (wenn vielleicht auch in kleinen Teilen) Ausbeutung, Korruption und Lebensverachtung? Diese Frage ist kaum zu ein Ja oder Nein zu beantworten, und das ist kein theoretisches, sondern in zigtausend Varianten ein existentielles Problem. Zudem helfen hier keine moralischen Appelle. In erschütternder Hilflosigkeit sehen wir nur die verheerenden Folgen, die eine mangelnde Verantwortlichkeit aller und Einzelner nach sich zieht und uns alle zugleich überfordert. Ein tragisches Dilemma? Ja, wenn wir in uns nicht so etwas wie eine verantwortliche Freiheit und zugleich einen vom Lebenswillen gesteuerten Pragmatismus spüren würden. So schleift sich diese tragische Grundsituation in uns ab. Unmerklich führt sie zu einer mangelnden Sensibilität, die uns unmerklich – anonym oder benennbar – in immer dichtere Netzwerke einer Schuld einbinden kann, die immer realer und zwingender wird.
Denn vergessen wir nicht, je mehr sich unsere Welt in ihren Globalisierungsprozessen vernetzt und je differenzierter sie sich in ihren Strukturen darstellt, umso weniger werden auch Schuld und Verantwortung benennbar, in die wir hineingeraten. Abgründige Unsicherheiten und Fragen brechen auf, die keinen Sektor unseres Lebens aussparen. So fragte Günter Grass fragte vor wenigen Tagen selbstkritisch, wie sich denn die Literatur vor Verstrickungen hüten könne, gehütet habe: „Als wir uns brav ins Schweigen retteten? Ich spreche aus Erfahrung. Sechzehn zählte ich, als ich Soldat wurde. Mit siebzehn lernte ich das Fürchten. Und glaubte dennoch bis zum Schluß, als längst alles in Scherben gefallen war, an den Endsieg.“ Es ist die Sensibilität, die diese Worte so bemerkenswert macht. Gewiss, keine Schuld hat ihn getroffen, als er 18 war, war das Grauen zu Ende. Dennoch weiß er genau, wie nahe er bei den Verlockungen war, wie wenig ihm gefehlt hat, um in den Schrei der Unmenschlichkeit einzustimmen. Genau das ist, wenn wir ihm glauben dürfen, der Grund für seine spätere, durchaus schuldbewusste Wachsamkeit. „Seitdem will mir der Krieg selbst während Pausen, die Frieden heißen, nicht aufhören.“ Es gibt also nichts, das uns vor solcher Schuld, vor ihrem Beginn bewahren könnte: auch keine Religion und kein Glaube. Im Gegenteil, manchmal denke ich: Gerade Religionen, welche die Frage nach der Schuld kennen und pflegen, die vor ihr warnen und die Wege der Schuldvermeidung anbieten, gerade sie könnten unrettbarer in die Hände des Gewalt und des Fanatismus geraten als andere, die nicht um solche Schuldverflechtungen wissen und die nicht von der Leidenschaft für eine bessere Welt getrieben sind.
Angesichts unseres Weltzustandes also, nicht weil wir von Geburt an böse Wesen wären, wird alle Verantwortlichkeit zum Ungenügens, erhält es in allen Erfolgen auch die Bitterkeit des Versagens, mischt sich in verschiedensten Formen das bei, was wir in der Regel Schuld nennen.
Damit beginn in einem jeden Menschen ein fataler Prozess, dessen Bedeutung wir kaum überschätzen können:
- Diese Schuld, die immer schon geschehen und in unsere Geschichte eingegangen ist, bindet uns an die Vergangenheit. Schuldige Menschen können sich der Gegenwart nicht zuwenden, weil sie immer mit dem Vergangenen beschäftigt sind.
- Diese anonyme Schuldenlast isoliert uns von anderen Menschen, von Ereignissen, von Beziehungen. Sie führt zu Projektionen. Gerne sind die Anderen oder das Andere schuld. Man selbst verdrängt seine Abhängigkeiten und Einflüsse. Man steht allein und wird zum Solipsisten.
- Eine solch deprimierende Schulderfahrung entwickelt in uns in eine Dynamik die zu immer mehr Schuld und Bosheit führt. Sie träufelt destruktive Elemente in unseren Charakter ein, die immer mehr das Böse (das vermeintlich Böse) zerstören als das Gute fördern wollen. Schuld wird zum Erbe, das sich immer mehr anhäuft.
- Eine solch verwirrende Schuldverstrickung betriff nicht immer unser moralisches Handeln; es schränkt unsere Freiheit eher ein. Aber Schritt auf Tritt des-orientiert es unsere Zukunftsplanung. Viele Menschen, die in neuer Freiheit handeln möchten, Verfehltes vielleicht wieder gutmachen wollen, stoßen auf inneren Widerstand, denn sie kennen jetzt nur noch einen Maßstab, der heißt: Ja nichts Verkehrtes mehr tun! Oft bedeutet das den Verslust der Authentizität und der Eindeutigkeit. Zum Schluss wissen wir überhaupt nicht mehr, was wir wollen.
- Schuld insgesamt, in welcher Form auch immer, nimmt uns schließlich unsere Freiheit und Identität. Es gibt nicht nur eine Infektion durch die Schuld, die Einzelleben und ganze Gemeinschaften zerstören kann. (Man denke an die Stadt Theben, die wegen Inzest und Vatermord von der Pest heimgesucht wird, wie es der Ödipus-Mythos beschreibt. Man denke an die verbrennenden Städte Sodom und Gomorrha). In unserer Not legen wir uns oft eine zweite Haut zu. Wir legen unsere Intentionen nicht mehr offen, lassen uns nicht mehr ins Herz schauen. Wer eigentlich können wir noch sein?
Ver-Schuldung ist also ein unmerklicher Prozess, der nicht nur Individuen, sondern Gemeinschaften vergiften kann, schon längst vergiftet hat. Wir haben das in unserer Geschichte hinreichend erlebt. Es ist Paulus, der in größter Schärfe dieses Grundgesetz menschlichen Versagens entdeckt hat. Diese Schuldfrage können wir moralisch, mit noch größerer Anstrengung und noch besseren Programmen nicht mehr beantworten oder lösen können. Der Grund liegt nicht darin, dass etwa unsere Schuld irgendwie zu groß wäre, dass sie gegen Gott gerichtet ist, oder dass Gott sie nur durch Vermittlung seines Sohnes vergeben könnte. Gerade die Thora, und das heißt: Gerade der sorgfältige und treue Wille, alles richtig zu tun,: treibt uns oft in die Katastrophe hinein. Die Sachlage ist so vertrackt; sie hat uns und unsere Gemeinschaften so sehr in ihrer Identität beschädigt, dass wir uns selbst nicht helfen können. Ganz zu schweigen davon, dass die Schuldfrage, in dieser Radikalität verstanden, gerade von den monotheistischen Religionen erkannt wird und ihnen deshalb eine besondere Verantwortung auferlegt. Wenn nun Paulus zurecht sagt, dass die „Sünde“(wie er diesen Weg in die menschliche Katastrophe nennt) mit Adam – also mit dem Menschen – begonnen und sich über die ganze Welt verbreitet hat, gibt es dann überhaupt nicht einen Ausweg? Was würde Jesus in einem Nachgespräch des Jahres 2006 sagen? Wie würde er sein Wort von der Wiedergeburt, vom Wasser und vom Geist, vom brausenden Sturm wiederholen? Was haben wir als Christinnen und Christen heute einzubringen?
2. „… für alle eine Gerechtsprechung, die Leben gibt“
Es ist es an der Zeit, uns vor diesem Hintergrund mit der Vergebung auseinander zu setzen. Wir selbst können uns nicht einfach durch ein besseres Leben retten, das ist nicht nur eine christliche, nicht nur eine biblische, sondern eine allgemein menschliche Einsicht. Ist es also Gottes Sache, zu vergeben, während es der Menschen Last ist, sich in die Netze der Schuld zu verfangen? Nein, kein Fatalismus hilf weiter. Wie es scheint, lohnt es sich dennoch, über sie zu sprechen. Genau besehen ist ja auch Vergebung ein vieldimensionales Geschehen. Sie ist Ereignis, Prozess, eine Haltung und Weltinterpretation. In uns wird sie real als eine menschliche, mich zutiefst prägende Situation, die alle Sektoren meines Lebens durchzieht. Sie ist das Gegenbild all dessen, was sich über unsere Schuldverstrickungen sagen lässt.
So gibt es nicht nur isolierte Taten des Vergebens wie es isolierte Taten der Sünde gibt. Wenn Vergebung eine Wirkung haben soll, dann muss sie uns – genau und in vollem Umfang – aus der verlorenen Situation holen, die unsere Geschichte zur Katastrophe macht. Letztlich geht es um Versöhnung und Versöhntsein mit der Geschichte, zwischen Menschen, zwischen Kulturen und Kontinenten. Müssen wir uns also einfach von Gott vergeben und versöhnen lassen, also wissen und vielleicht glauben, dass wir in Christus erlöst sind? Nein, so einfach kann die Lösung nicht sein. denn in vielfachen Variationen hält die Schrift daran fest: Wir Menschen sind und wir bleiben es, die bei allen Verstrickungen anderen auch vergeben, mit den Wegen der Vergebung einen Beginn machen können. Auch mitten in unserer Schuld spricht Gott uns auf unsere Freiheit an. Wir erinnern uns an die vorletzte Bitte des Vaterunsers: „Vergib uns unsere Schuld“, die Matthäus mit einer bemerkenswerten Wendung abschließt. Bei ihm steht: „…wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben“ (6,12). Ebenfalls bei Matthäus lesen wir: „Wenn du nun deine Opfergabe zum Altar bringst und dich dort daran erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar. Geh zuerst hin und versöhne dich mit deinem Bruder. Dann kommt und bring deine Gabe dar!“ Das ist eine drastische, für allen Opferkult sehr kritische Aussage, denn wenn du zurückkommst, wird dein Opfer nichts mehr wert sein, weil das Blut des getöteten Tieres geronnen ist. Also, „willfahre schnell deinem Gegner, während du noch mit ihm unterwegs bist, damit dich nicht der Gegner dem Richter, der Richter dem Justizvollzug übergibt und du ins Gefängnis kommst. Wahrlich ich sage dir: Du wirst von dort nicht herauskommen, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast.“ (5,23-26) Für Matthäus ist Vergebung durch uns Menschen unabdingbar.
Hängt die Vergebung durch Gott also doch an einer Vorleistung, die der Gnade vorausgehen muss? Seit der Reformation hat diese Frage die evangelische und die katholische Tradition immer wieder gespalten. Doch weder das eine noch das andere ist, wie mir scheint, eine angemessene Folgerung. Denn beides gilt zugleich, ohne Abstriche und mit derselben Entschiedenheit gilt. Wir haben mit der Vergebung zu beginnen und dass bedürfen dazu der Hilfe Gottes, der Eingebung seines Geistes. So sehr es auch an uns liegt, Versöhnung zu gewähren, so sehr müssen uns versöhnen lassen: „Wir bitten an Christi Statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ (2 Kor 5,20), – mit Gott und durch Gott mit unseren Mitmenschen, mit dieser Welt. Bewegen wir uns also nicht ein einem Zirkel, in dem wir uns von Gottes Vergebung abhängig machen, Gott aber unsere Vergebungsbereitschaft voraussetzt? Das ist gewiss nicht der Fall. Mit Versöhnung und unseren zerbrochenen Verhältnissen, mit Schuld und Vergebung bewegen wir uns in einer Tiefe menschlicher Erfahrung und menschlicher Freiheit, in der die Kategorien von Ursache und Wirkung versagen. Viele von Ihnen können das bestätigen. Sooft uns Vergebung gelungen ist, erfahren wir zugleich, dass Gott schon lange in uns gehandelt hat.
In unserem verantwortlichen Handeln zu erfahren, Dass Gott, der Verborgene, der Gewährende, der „Barmherzige“ (wie der Islam ihn nennt) immer schon da war, das ist ein Herzstück gelungenen Glaubens. So bin ich auch davon überzeugt, dass wir den Beginn unseres Glaubensweges in der Urgemeinde mit diesem Bild nachvollziehen können. Historisch gesprochen geht es doch einfach darum, dass die Jüngerinnen und Jünger der ersten Stunde in dem Augenblick eine unerwartete Freiheit erfuhren, als sie sich nach aller Verzweiflung wieder in der Überzeugung trafen, dass Jesu Versöhnungstat nicht umsonst gewesen sein kann. „Friede sei mit Euch“, sagte er Auferstandene: Empfangt den Heiligen Geist! Wem ihr die Sünden vergebt, dem sind sie vergeben …“ (Joh 20 22f.). Diese Vergebungsbotschaft ist also nicht für Gestrandete und moralische Versager bestimmt, sondern – mit Blut und Tod erkauft – eine Variante der Auferstehungsbotschaft selbst, so wie sie das Johannesevangelium versteht. Denn aus freien Stücken ist dieser zu Unrecht Gekreuzigte für das Versagen der Versager eingestanden. Für die Frauen und Männer der ersten Stunde bedeutet die Auferstehungsbotschaft deshalb lebendiges Wasser, Geist und Erhöhung, Brausen des Sturmes, Wiedergeburt, Überwindung des umfassenden Schuldgeflechts. Mit ihr beginnt Neues Leben.
- Diese neue Lebenspraxis fixiert die Glaubenden der ersten Stunde nicht mehr auf die Verfehlungen der Vergangenheit. Im Handeln Jesu, im Eingedenken an diese Geschichte, erfahren sie reine Zukunft. Diese Geschichte, aus der sie jetzt leben – und aus der wir immer noch leben -, ist so stark, sie ist eine so machtvolle, erfreuliche, geradezu unzerstörbare Botschaft, dass in ihr die ersehnte Wahrheit zur Wirklichkeit wird. Das Reich Gottes, das alle Menschen und die ganze Welt umspannt, wird als Versöhnung greifbar.
- Sie erfahren: Ihre Isolierung zu Einzelkämpfern, zu einer kleinen Gruppe von aussichtslosen Eiferern, von übereifrigen Sektierern ist jetzt aufgebrochen, denn sie haben in Jesus erkannt, dass Versöhnung möglich ist. So werden sie zu einer neuen Gemeinschaft nicht von Dienern, Vätern und Herrn, sondern von Geschwistern fähig. In ihr können sie ihr Versagen und alle Schuldenlast besprechen. Sie erkennen in der Geschichte Jesu, dass Vergebung nicht nur als kultische Einzeltat, sondern auch als befreiende, versöhnende Lebenshaltung möglich ist. Aus diesem Grund wird die Taufe „zur Vergebung der Sünden“ zugleich zum Zeichen der neuen Gemeinschaft, die wir Kirche nennen.
- Sie erkennen in der Auferstehungserfahrung, dass und wie plötzlich ein Neubeginn möglich wird. Die Ketten des Todes sind für sie durchbrochen, der innere Zwang zur Bosheit, der Teufelskreis von Schuld ist aufgebrochen. Jetzt erst können sie die erschütternden und zugleich wunderbaren Lieder vom „Diener Gottes“ im Buch Jesaja neu und in voller Tiefe verstehen: „Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Straße erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht. (Jes 42, 2f.). Wer genau dieser Diener ist, bleibt in der Auslegung offen: Es kann der Gerechte sein, Israel kann es sein. Für die junge Kirche war es ganz gewiss Jesus. Doch vergessen wir nicht: Heute sind ganz gewiss wir es, denen diese Botschaft anvertraut ist und die um diese Gnade wissen.
- Das alles sind die Gründe, weshalb in diesem Neubeginn gläubiges Handeln eine neue Orientierung erhält: Alle Menschen können dem Kommen des Gottes Reiches entgegen gehen. Wir dürfen wissen, dass es eine reale Möglichkeit ist.
- Schließlich wächst ihnen so eine neue Identität Es gehört (menschlich gesprochen) zu den großen Geheimnissen der Religionsgeschichte: Ausgerechnet aus dem Tod eines gescheiterten Nazareners, aus einem Ort also, aus dem ohnehin nichts Gutes kommen kann; (Joh. 1,36), ausgerechnet aus diesem Justizirrtum entsteht eine neue Religion, die trotz allen Versagens Neues über Gott und Mensch zu sagen weiß. In dieser versöhnten Freiheit gehen die ersten Christinnen und Christen jetzt einen „neuen Weg“, wie es in der Apg. 9,2 heißt.
Das also ist die Erfahrungswelt, das ist der Bezugsrahmen einer umfassend neuen Lebenspraxis, nennen wir sie eine neue Menschlichkeit, in der Vergebung zwischen Menschen möglich (nicht Pflicht, sondern Selbstverständlichkeit) und die Versöhnung der Menschheit zum großen Ziel wird. Deshalb ist es gar keine Frage, ist es völlig nachvollziehbar und verständlich, dass Christinnen und Christen damals wie heute in gleicher Weise sagen: In dieser neuen Zukunft, in dieser neuen Fähigkeit zur Gemeinschaft, im Ausbruch auf diesem Teufelskreis, in dieser neuen Gesamtorientierung und Identität wird für mich und für viele Gottes Handeln greifbar. Es ist genau jenes Handeln Gottes, das mir schon im Handeln, in der Praxis und im Geschick Jesu greifbar, in seiner Auferstehungsbotschaft bestätigt wird.
Bei allem Bezug auf Gott, dem Quell aller Güte, haben Vergebung und Versöhnung im einschränkungslosen Sinn eine zutiefst menschliche und humane Seite. Wir können sie in unsere Welt hinein übersetzen mit der Bereitschaft, andere – ohne Ansehen ihres Versagens – so anzunehmen, wie sie sind und ihnen dieselbe tiefe Freiheit zu gewähren, die wir für uns selbst ersehnen. Das heißt aber auch, dass eine solche Vergebung und eine solche Freiheit nicht das Vorrecht von uns Christen ist. Im Übergang vom Judentum zum Christentum wurde diese Tiefenstruktur des Glaubens an Gott in besonderer Weise formulierbar, seien wir nicht zuletzt Paulus dafür unendlich dankbar. Aber es ist eine Tiefenstruktur, die wir auch im Judentum und im Islam ausgesprochen finden. Es ist zudem eine Tiefenstruktur, die überhaupt eine jede religiöse Grenze sprengt, – so sehr, dass unsere gemeinsame, christlich-menschliche Orientierung nur die Versöhnung der gesamten Menschheit einschließen kann, – in der heutigen Weltsituation mehr denn ja. Wenn wir uns also vom Gedanken der Sündenvergebung, der Vergebung von Schuld und der Versöhnung leiten lassen, dann liefern wir für den Weltfrieden einen unverzichtbaren Beitrag.
So gesehen, ist die Hoffnung darauf, dass Gott uns aus den Ketten der Schuld befreit, zugleich eine höchst persönliche wie eine weltpolitische Tat. In einem ganz anderen Bild ausgedrückt: Nac dem Lukasevangelium sah Jesus den Satan „wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18). Das ist ein kosmisches Bild, das ich zum Schluss den genanten hinzufügen möchte. Wer auf Gottes Zukunft vertraut, kann und wird – ganz im Widerspruch und im Widerstand zum Gang der Welt – von dieser umfassenden Weltperspektive, von dieser umfassenden Welthoffnung, von dieser Utopie der Weltversöhnung keinen Abstand nehmen. Arbeiten wird daran gemeinsam und mit der Bitte um Gottes Hilfe.
Amen
(Predigt am 11.06.2006)