Bei allem Humor und aller verspielten Erzählkunst entfaltet der Roman „Die Entdeckung des Himmels“ des niederländischen Schriftstellers Harry Mulisch eine todernste These: Gott zieht den mit Moses geschlossenen Bund endgültig zurück und überlässt die Welt ihrem Schicksal. Gründe dafür sind der promotheische Anspruch der modernen Wissenschaften und das Grauen von Auschwitz, das Mulisch aus biographischen Gründen nicht kalt lassen kann.
„Ich lasse das nicht auf sich beruhen!“
Einleitung: Ein hinreißendes Buch
„Ich bin der Zweite Weltkrieg“:
Ich halte diesen Vortrag vor einem Publikum das Harald Mulischs epochalen Roman Die Entdeckung des Himmels (1992) kennt[1]. Es ist auch informiert über die Biographie seines Autors, dem 1927 geborenen Sohn eines österreichischen Offiziers und eine Jüdin aus einer Frankfurter Bankiersfamilie. Sie wissen: Harald Mulisch hat den Zweiten Weltkrieg, die Schuld der Nazis, Taten der Verstoßung und der Rettung, schließlich die gnadenlose Ausrottung von Juden in der eigenen Familie miterlebt. Diese Erinnerungen ließen ihn nie mehr los und an ihnen hat er sich unaufhörlich abgearbeitet. Zugleich haben Sie sich mit seiner faszinierenden und zugleich verstörenden Mischung aus bitterem Ernst und ständiger Ironie, unverstellter Eitelkeit und leidenschaftlichem Sachinteresse auseinandersetzt, die imstande waren, seine zerbrechliche Identität zu schützen. „In Holland bin ich weltberühmt“, soll er einmal gesagt haben, aber ebenso: „Ich bin der Zweite Weltkrieg, diese Zeit steckt mir im Blut“.
Gott zieht sich zurück:
Diese Zeit steckt auch dem Roman Die Entdeckung des Himmels im Blut. Es ist eine Art Bildungsroman, das von Mulischs universalem Wissen von Geschichte, Geistes- und Naturwissenschaften zeugt, und er breitet es genüsslich aus. Zugleich haben wir es mit einem scharfsichtigen Gesellschaftsbild der Niederlande der 1970er und 1980er Jahre und einer allgemeinen Kulturkritik zu tun. Konkret geht es um zwei miteinander befreundete Männer, Max Delius und Onno Quist, sowie andere profilierte Mitspielerinnen und Mitspieler, deren Handeln im Grunde von zwei Engeln mit dem atemberaubenden Ziel gesteuert wird, die der Menschheit die zwei Tafeln der mosaischen Zehn Gebote, also des Dekalogs, der Menschheit wieder zu entwinden, weil Gott seinen schützenden Bund mit der Menschheit endgültig zurückzieht. Das Testimonium (Zeugnis) werden sie genannt und sie werden zum Opfer einer höchst skurrilen irdisch-himmlischen Geschichte. Aber Mulisch weiß, welch ungeheuren Plot er mit seinen endlos chaotischen Verwicklungen und verwirrend geplanten Zufällen entfaltet. Er spricht das endgültige Verdammungsurteil über die Welt.
Umso mehr erstaunt mich, wie wenig sich die theologische Szene der Niederlande mit diesem kolossalen Werk von nahezu 800 Seiten auseinandersetzte. Kann man diesen ungeheuerlichen Gedanken als die Spielerei eines extravaganten Zeitgenossen abtun? Hat man Besseres zu tun, als im Gewand der Literatur über den aktuellen Sinn der Weltgeschichte nachzudenken? Das kann ich mir nur schwer vorstellen.
I. Sinn und Grenzen des Dekalogs
Theologie überfordert?
Haben Theologen für diese Auseinandersetzung das angemessene Rüstzeug? Ich weiß es nicht. Auch Theologen sind Menschen und deshalb gehen sie mit Literatur so gut und so schlecht um wie alle Menschen, und wie alle Spezialisten geraten sie natürlich in Schwierigkeiten. Denn aus der Sicht ihres Faches müssen sie hier über ein Thema sprechen müssen, das mit den Worten und Mitteln, den Imaginationen und Verfremdungen, den Überspitzungen und Ironien eines Romans präsentiert wird.
Vielleicht kann die moderne Theologie mit ihren Selbstzweifeln und Überreflexionen, ihren historischen und hermeneutischen Klimmzügen, ihren weltfremden transzendentalen und defensiven Operationen das gar nicht leisten. Oft erinnern mich ihre Resultate an den beklemmenden Roman von Christoph Ransmayr Die letzte Welt (1988). Darin wird das Ende der Welt als die Umkehrung der Metamorphosen von Ovidius Naso präsentiert: Da gibt es keine Entwicklung mehr, die zu einem besseren Verstehen oder nach einer größeren Ordnung führt. Alles wird wieder Stein, eine endlose und tote Wüste von Felsen und Steinen, die den Abhang hinunter dröhnen und die – nachdem das letzte Echo verklungen ist ‑ dort für alle Zeiten liegen bleiben. Mit den Romanen des 19. Jahrhunderts, mit Tolstoj und Dostojewski oder mit den sozialen Romanen jener Zeit können wir noch etwas anfangen. Eugen Drewermann z.B. hat damit Sinnvolles unternommen. Mit der modernen Literatur scheint das jedoch anders zu sein – außer bei Camus oder anderen bekennenden Atheisten, mit denen man sich wenigstens streiten kann. Vielleicht beweist dieses ihr Unvermögen selbst, dass Mulisch mit seiner pessimistischen Botschaft im Recht ist.
Neues steht auf dem Spiel:
Natürlich übertreibe ich hier, und natürlich gibt es Ausnahmen. Aber die Schwierigkeiten zeigen sich, wenn etwa ein Theologe ‑ wie geschehen ‑ an Hand der Entdeckung des Himmels zur Frage spricht, ob die Übertretungen des Dekalogs die Ursache allen Übels sind. Natürlich lässt sich diese moralisierende Frage diskutieren. Aber sie bricht Mulisch’s (und das biblische) biblische Problem auf eine Banalität herunter. Schon die Exodusberichte vom Goldenen Kalb und von der Wut des Moses kennen ja die Frage. Moses zerschmettert die Tafeln, aber sie werden erneuert. Gottes Zuwendung lässt sich nicht so einfach zermalmen. Umgekehrt kann auch die gängige Schlussfolgerung vieler Predigten nicht mehr überzeugen, wenn sie von der bleibenden Güte Gottes sprechen, die alles verzeiht und wieder gut sein lässt.
Die Frage, was im vergangenen Jahrhundert schief lief, was in seiner Geschichte wirklich kaputtgegangen ist, greift wohl tiefer. Um das herauszufinden müssen wir – mit oder ohne Mulisch – schon tiefer in unsere Vergangenheit eintauchen. So einfach kann es auch Mulisch nicht gemeint haben und offensichtlich werden die überlieferten Fragestellungen unserer Theologie nicht mehr dem Problembefund gerecht, der die Erfahrungen früherer Epochen übersteigt und sich nur in der Sprache, in Vorstellungen und Symbolen unserer Gegenwart vermitteln lässt. Die Grauen und Verwüstungen des letzten Jahrhunderts stecken in uns allen.
Gnostisch oder defaitistisch?
Doch haben auch die Theologen schon lange ihre religiöse Naivität verloren. Sie entdecken unschwer, dass die Entdeckung des Himmels einem gnostischen und keinem jüdisch-christlichen Schema folgt. Gemäß dem jüdischen Schema wird die Zukunftsvision eines gerechten Zusammenlebens durch einen handelnden Messias erfüllt; der Gnosis zufolge wird ein Mensch auf die Erde gesandt, der uns mit seiner Botschaft zur wahren Erkenntnis führt. Wissen ist der Schlüssel zum Heil.
Alle anderen sind Schlafende, die aufwachen müssen: durch Glaube und Wissen. Nur dann gibt es für sie einen Weg zurück (210).
Mulisch kehrt diesen Prozess um: die Botschaft der Weisheit wird in den Himmel zurückgebracht; der himmlische Gesandte muss ein Projekt zu Ende führen, das ehemals vergebens begann.
Kommen wir zur ersten Frage zurück: Natürlich hat das Böse – vorsichtig gesagt – mit der beständigen Übertretung der Zehn Gebote, jenem Grundgesetz universaler Menschlichkeit zu tun. Das kann man seit den Thorabüchern bis in die Gegenwart hinein immer wieder sehen. Alles entscheidet sich am Gehör, das die Menschen dem Willen Gottes leihen:
Ich bin Jahwe, Euer Gott. Neben mir sollt ihr keine anderen Götter haben. (Dt 5,6)
Man hört das Echo in der Bergpredigt, bei Augustinus und Thomas von Aquin, bei Luther, Calvin und seinen Nachfolgern; man hört es auch auf bedrückende Weise in einem moralisierenden Katholizismus. Karol Wojtyła etwa, genannt Johannes Paulus II., rief nicht nur dazu auf, den Zehn Geboten zu gehorchen, sondern fand es auch schade, dass niemand mehr an die Hölle glaubt, in der die Übertretung der Gebote bestraft wird.
Eine calvinistische Konstruktion:
Mulisch ist in einem durch und durch calvinistischen Land groß geworden; das mag die zentrale Rolle erklären die für ihn das Testimonium in seiner verdrehten Heilsgeschichte spielt. Ich als römisch-katholischer Zeitgenosse wäre auf das Testimonium als Grundmetapher des Gottesbundes mit den Menschen wohl nicht gekommen, dies aus zwei Gründen. Der erste Grund ist vielleicht konfessioneller Art: Die Zehn Gebote haben für den christlichen Glauben nur eine relative Bedeutung; dafür hat vor allem die Kritik des Paulus am jüdischen Gesetzeswerk gesorgt. Hinzu kommen jüdische und christliche Rahmenbedingungen. Das sind der Glaube an den alles erschaffenden Gott, der alle Einzelgebot übersteigt, und die Hoffnung auf eine messianische Zukunft, in der alle Gesetzt „erfüllt“, als überboten wird.
Den zweiten Grund habe ich seit 1968 in den unruhigen, auf Emanzipation ausgerichteten Jahren kennen gelernt. Er lautet: Es gab eine Zeit, da wussten die Menschen aus sich selbst heraus, was gut und böse sei. Der Bund, den Jahwe mit Moses geschlossen hat, kam erst später, sogar eine lange nach dem Bund mit Jahwe und Noah, der als Zeichen den Regenbogen trägt. Nach Paulus ist die Thora „hinzugekommen“ mit dem paradoxen Effekt, dass sich die Übertretungen vermehrt haben (Röm 5.20). Das Gesetz war also eine späte, nicht unbedingt überzeugende Reaktion darauf, dass sich die Menschen, die unser diesem Zeichen des Regenbogens standen, nicht an ihren eigenen Kompass hielten.
Schon lange verschwundene Tafeln:
Auch die Tatsache, dass nach Mulisch das Testimonium zwar am heiligsten und ehrwürdigsten Ort der katholischen Kirche aufbewahrt, aber zugleich auch verborgen und unschädlich gemacht wurde, besagt etwas über die Relativität des Testimoniums in der westlich christlichen Tradition: zudem sind dieser heiligste Ort eben nicht St. Peter mit den Apostelgräbern und der Vatikan, sondern die Capella Sancta Sanctorum[2]. Auch dieses Verschwinden der Zehn Gebote geschah unbemerkt. Niemand wusste mehr von der Existenz der Tafeln, auch nicht Hartmut Grisar SJ., der 1905 und früher schon den Fundort untersucht hatte, um die Reliquien des Petrus zu finden [684; 691f.]. Faktisch war der Dekalog schon verschwunden, bevor die Wirksamkeit von Francis Bacon (gest. 1626) begann. Er wird in Mulisch’s Roman noch eine wichtige Rolle spielen.
II. Der gebrochene Bund
Anti-Assoziationen und ernste Lächerlichkeit:
Mulisch treibt mit christlichen Assoziationen sein Spiel. Soll man das Projekt messianisch oder antimessianisch nennen? Quinten, die Schlüsselfigur des Geschehens wird im Schloss wie Jesus von den drei Königen begrüßt:
Wer hat je so ein Wesen gesehen? Das ist doch nicht möglich! (400: vgl. den Titel des Kapitels: Der Einzug [393])
Er hat quasi messianische Züge. Niemand weiß genau, wer sein Vater ist, und seine Weisheit bedeutet für alle eine Überraschung. In seiner Erziehung wird Quinten wie von einem unsichtbaren Plan gelenkt, aber ausgerechnet er beendigt zum Schluss eine messianische Geschichte.
Auf der anderen Seite zieht sich eine unergründliche Ironie durch die Handlung. Zwar setzt der Autor die großen religiösen Symbole insbesondere der christlichen Tradition ein (Engel und Heilserwartung, Himmel und göttliche Vorsehung), aber gerade an zentralen Punkten des Geschehens beginnt man zu lachen. Die Engel nehmen ihren „Chef“, also Gott, nicht gerade ernst und zu den großen Unglücken fügen sich auf eine lächerlich konstruierte Weise das Unglück mit Ada und der Tod von Max. Voll von Ironie ist auch die Nacht, in der Quinten gezeugt wird. Aus Angst, Max könne ihm sein kosmologisches Geheimnis entschlüsseln, zeigt sich Gott nicht gerade großzügig und verdient es eigentlich nicht mehr, Gott genannt zu werden. Übrigens wird da mit dem Hintergrundrauschen nicht Gott selbst, sondern höchstens eines seiner letzten Geheimnisse vom Beginn des aktuellen Kosmos entdeckt.
Nur die Ironie rettet:
In dieser Verpackung zeigt sich die entscheidende Schwierigkeit: Das Übermaß an Symbolik und Mythologie zwingt zur Frage, wie all das zu entschlüsseln ist. Was könnte der Autor damit gemeint haben? Einerseits scheint der Autor in die Fußstapfen eines Mystagogen zu treten, der sein erstaunlich umfassendes Wissen ausbreitet und dem Publikum vorführt, in welch reichhaltigem imaginärem Kosmos sich seine Kultur eingerichtet hatte. Andererseits müssen diese heile Welt und Überwelt satirisch gebrochen werden, wenn die Leserschaft sie nicht naiv missverstehen soll. Religiöser Ernst erzwingt diesen Spott, ohne den die Entdeckung des Himmels“ nicht in die Schwebe kommt, die ein Nachdenklichkeit erzwingt. Anders gesagt: Für den Autor sind Satire und Ironie die einzige Möglichkeit, die Tragik der Menschheit erträglich zu machen, was wir ja schon in den großen Tragödien – von Shakespeare bis P. Claudel – lernen konnten.
Wahrscheinlich verstehen wir auch das Hiobbuch erst dann, wenn wir es als eine sarkastische Tragikomödie lesen, als ein großes Welttheater mit geradezu despektierlichen und verachtenden Zügen, eingeschlossen das enttäuschende Ende, in dem die Geschundenen wie kleine Kinder doppelt und dreifach belohnt werden. So auch bei Mulisch: Bei den schlimmsten Augenblicken bricht man – mit oder ohne Hoffnung auf die Auferstehung – einfach in Lachen aus. Warum? Weil das Böse – anders als Durchschnittsbürger vermeinen – ohne weiteres weder in der Welterfahrung eines frommen Christen, noch in einem theologisch reflektierten Weltbild unterzubringen ist.
Perfekte Resignation:
Augustinus erklärte das Böse ‑ in der Tradition des Ammonios Sakkas und des Plotin – zur Beraubung des Guten („privatio boni“), also zu einem ontologischen Nichts. Das Mittelalter entdeckte sein Wesen als Sünde, also als Aufstand der Menschen gegen einen sich rächenden Gott.[3] Die Neuzeit meinte, sie könne oder müsse es als die Schattenseite unserer Freiheit begreifen. Erst die Epoche der Aufklärung entwickelte ‑ von Leibniz bis Shaftesbury ‑ eine ziemlich anmaßende Gottesverteidigung, Theodizee genannt, die sich seit 1756 aus Voltaires Feder den Spott eines Sympathisanten anhören musste. Kant eröffnet die Debatte neu, indem er eine „authentische“ Theodizee einfordert, die dem unerlösten Protest und dem wütenden Unverständnis Raum gibt.
Erst nach der Religionskritik von Feuerbach und anderen veränderte sich im 19. Jahrhundert diese Theodizee in eine Verteidigung des Menschen, Anthropodizee genannt. Jetzt wird nicht mehr Gott verteidigt, sondern die Menschheit in ihr Recht versetzt. Aber wer wird jetzt noch angeklagt? Nicht mehr Gott, denn auf seine Existenz kann man nicht mehr setzen, auch nicht mehr das Menschengeschlecht; dazu ist – wie es scheint – die Zeit noch nicht reif. Schuld sind die herrschende Klasse, der Staat, die Entfremdung oder die Ideologie; schuld sind später Geschichte oder Gesellschaft, die Eltern oder die Aggressionstriebe, die noch unvollendete Evolution. Der Geschichtsphilosoph Marquardt umschreibt das Prinzip des 19. Jahrhunderts wie folgt: „Schuld, das sind die Anderen.“ Mulisch, der in seinem biographischen Schmerz Gezeichnete gibt solche Antworten nicht mehr. Er signalisiert nur das Ende. Gottes Bund mit der Menschheit, das abendländische unverbrüchliche Garantiesiegel für unsere Zukunft, ist endgültig zerbrochen.
2.1 Geschichte und Antigeschichte
Deutungen des Bösen:
Oder gibt es noch andere Lösungen? Seit Kierkegaard beschreitet der Existentialismus einen weniger naiven Weg. Das Böse hängt zutiefst mit der Last der menschlichen Freiheit zusammen, denn diese gebiert eine tief eingegrabene Angst vor dem Nichts. Innerhalb der Theologie durchbricht dann Karl Barth als erster die traditionellen philosophischen und theologischen Lösungen. Er siedelt das Böse zwischen dem Sein und dem Nichts an. Zwar macht er das Böse nicht mehr zum Gegenspieler Gottes, wie eine lange Tradition es getan hat. Im Gegenteil, nach K. Barth wird Gott das Böse zwar definitiv überwinden, obwohl dazu noch Zeit nötig ist. Aber dieses Böse wird zwischen dem Sein und dem Nichts jetzt zum dritten Element. Barth nennt es das „Nichtige“, das immer betrügt und immer mehr zu sein scheint, als es in Wirklichkeit ist; es macht sich immer unsichtbar, damit man es vergisst und es umso mächtiger wirken kann. Nach den Regeln der geordneten Logik und nach den Regeln der Ontologie ist diese von K. Barth vorgeschlagene Lösung schlicht absurd und damit Mulisch vergleichbar. Doch Mulisch ist ebenso wenig naiv wie K. Barth; denn beide wissen, was sie uns zumuten. Rational lässt sich die Absurdität des Bösen nicht verarbeiten, auch wenn Barth zum Schluss noch seine Zuflucht zum Ganz Anderen nehmen kann. Diese Lösung ist Mulisch verwehrt. Er nimmt die Regeln der Erzählung zu Hilfe und kommt damit vielleicht weiter.
„Große Erzählung“:
Kehren wir zurück zur Entdeckung des Himmels und zu meinem Problem mit dieser „großen Geschichte“, die die Menschheitsgeschichte umfasst[4]. Wenn wir den Zwischendialogen von Mulischs Engeln folgen, hat der „Chef“ einen Plan, den sie Schritt für Schritt umsetzen. Trotz allem Postmodernismus und Dekonstruktivismus seiner Zeit entwirft Mulisch ein umfassendes Szenario, eine „große Geschichte“, in der – jetzt anti-postmodern ‑ kein Zufall mehr bloßer Zufall ist, denn sie alle, die in den kleinen fragmentarischen Mikrogeschichten erzählt werden, erhalten im Gesamtablauf ihre präzise Bedeutung. Die Kulturphilosophen – auch die Theologen unter ihnen – haben da leicht reden und die linguistischen Fingerübungen dafür sind schnell durchgeführt. Man zitiert dann Derrida und La Bataille vom Ende des Logozentrismus. Doch kann sich damit eine religiöse Fragestellung letztlich nicht begnügen. Man lese nur die konservativen theologischen Bestseller der 1980er und 1990er Jahre. Als Beispiele nenne ich nur das Buch von Karol Wojtyła Erinnerung und Identität – Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden (2005) und das ältere, viel einflussreichere Buch von Joseph Ratzinger Einführung in das Christentum (1967).
Das sind gewiss keine Romane, auch keine literarischen Kunstwerke. Aber für viele, die solche Bücher mit Zustimmung lesen, schöpfen die Autoren ihre Botschaft aus der großen Hintergrunderzählung, die wir alle kennen: Gott hat sich in alten Israel und daraufhin in Jesus Christus geoffenbart. Jesus Christus ist von Gott gesandt, um die Welt zu retten und am Ende der Geschichte wird Er dieses Werk vollenden. Theologen, die sich gerne in Einzelheiten verlieren, müssen sich wieder darauf hinweisen lassen, dass sie nur die Dolmetscher, die Differenzierer, eventuell die Kritiker dieser einen großen Erzählung sind. Sonst verlieren sie ihre spezifische Aufgabe. Von J. Ratzinger bis zu Hans Küng, alle haben sie erzählt. New Age und verwandte Bewegungen modifizieren diese Grundgeschichte. Im Augenblick sehe ich neben H. Mulisch keinen anderen Autor, der diese große Geschichte vom Beginn und vom Ende auf so hohem und zugleich so tiefreichendem Niveau aufgreift und – das ist für Theologen so interessant – mit kundigen, vielleicht lebensnotwendigen Fragezeichen versieht.
Der Kern der Erzählung:
Wenn ich recht sehe, kennt die jüdisch-christliche Tradition zwei große, einander ergänzende Geschichten. Historisch gesehen entstand zuerst die Geschichte vom Auszug aus Ägypten und vom Bund zwischen Jahwe und dem Gottesvolk, der im Dekalog besiegelt wurde. Davon handelt H. Mulischs Roman; das Schicksal des Testimoniums bildet die Achse seiner Plots. Wir erinnern uns: Das Volk hat Verhaltensregeln nötig, die es von Jahwe erhält. Moses empfängt sie auf dem Berg Sinai ‑ das ist der Berg, auf dem Johannes Paul II. (offizieller Repräsentant dieser Geschichte) im Jahr 2000 Juden, Christen und Muslime versammeln wollte. Aber dabei blieb die biblische Tradition nicht stehen, denn um diese Geschichte herum wurde später eine zweite große Geschichte gebaut, nämlich die Schöpfungsgeschichte. Jahwe gab uns nicht nur das Testimonium, sondern auch das Weltall, also die Welt, das Leben, Fleisch und Blut, die Liebe und die Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Jahrhunderte lang haben diese beiden Geschichten einander ergänzt, interpretiert und gemeinsam unsere Kultur bestimmt.
Jetzt, bei Mulisch, scheint die umfassende Geschichte der Schöpfung keinen Platz mehr zu haben. Sie schließt sich in die kleinere Geschichte des menschlichen Verhaltens ein, weil sich der Mensch zum Meister der Schöpfung und zum Entdecker ihrer Geheimnisse aufgeschwungen hat. Dadurch wird die Geschichte vom Dekalog bei Mulisch nicht einfach zu einer moralischen, wohl aber zu einer anthropozentrischen Angelegenheit, denn die Zehn Gebote, das Testimonium also, fasst die Verhaltensregeln unserer Kultur zusammen. Es repräsentiert „Grundregeln für einen buchstäblich elementaren Anstand“. Das beinhaltet nicht nur eine moralische Willensbekundung, sondern auch ein Zeichen für die Nähe Gottes. Damals durften die Menschen zu Wächtern von Gottes heiligem und elementarem Menschheitstext werden. Jerusalem, später Rom waren dafür die privilegierten Orte.
Der Dekalog war auf Erden der entscheidende Dreh- und Angelpunkt: der Vertrag des Chefs mit der Menschheit, abgeschlossen mit ihrem Verwalter, dem jüdischen Volk, vertreten von seinem Führer Moses in der Rolle des Notars. (796)
Aber nach Mulisch ist diese Geschichte gerade wegen des moralischen Zustands der Menschheit abgelaufen; der Nicht-Messias schwingt sich zu einer universalen Anti-Funktionauf; die christliche Tradition hätte ihn den Antichrist genannt. Er repräsentiert die von Menschen herbeigeführte Antiklimax des Heilsgeschehens; endgültig zieht er die Folgerungen, die die Menschheit eigentlich schon gezogen hat.
Christ und Antichrist:
Ich komme noch einmal auf die postmoderne Frage zurück: Ist die eine Geschichte überhaupt sinnvoll, möglich oder gar wünschenswert? Warum könnte eine Theologie nicht auch mit kleinen Geschichten oder Essays weiter kommen, warum nicht hier und da eine kleine Perikope auslegen, warum nicht heute oder morgen auf eine beängstigende Erfahrung eingehen, die ein Mensch macht? M.E. beruhen solche Fragen, von Theologen gestellt, auf einem Irrtum. Sie vergessen nämlich, dass die keinen Begebenheiten – und dass der sie interpretierende Glaube – immer schon die große Weltgeschichte voraussetzt, sonst hätten die kleinen Geschichten überhaupt keinen Ort, der ihnen ihren Platz anweist. Glaube und Religion handeln – implizit oder ausdrücklich ‑ immer vom einen Kosmos und vom einen Zusammenhang von Welt und Geschichte.
Eine überholte Vision?
Doch sind die großen Erzählungen zusammen mit ihren Religionen nicht überholt, also auch nicht mehr unantastbar? Autoren wie Mulisch entziehen ihnen die letzte Energie, die sie noch ausstahlen. Wenn man Mulisch zu Ende denkt oder zu Ende erzählt, bleiben – wie bei Christoph Ransmayr ‑ nur ihre Asche, Steine und deren Echo übrig. Alle seinem Ernst zum Trotzdass beschleicht mich bei Mulisch dieses Gefühl, dass er mit dem Mythos sein Spiel treibt. Der große Coup wird durch komische, oft absurde und höchst unglaubwürdige Geschichten vorbereitet. Die Suche nach dem Testimonium läuft wie ein spannendes kriminalistisches Geschehen ab und nicht grundlos wurde es später auch effektvoll verfilmt. Was sich im großen Mythos als Gottes Vorsehung und Gottes Lenkung präsentiert, degradiert Mulisch zu einer Aufeinanderfolge von unglaubwürdigen Göttertaten „ex machina“. Bäume fallen im plötzlichen Sturm, Meteoriten erscheinen im rechten Augenblick, um Menschen zu töten, sexuelle Triebe verrichten im genauen Moment ihr Arbeit, sei es vor der kubanischen Küste oder anderswo. Der ausführende Engel hat für seine Pläne drei Generationen nötig, aber schließlich kommt er mit solchen Tricks an sein Spiel.
So wie bei Jesus, weiß man auch bei Quinten nicht, wer der Vater ist; Quintens Mutter, Ada, wird zur heiligen Ikone erhoben und zugleich auf einen Brutkasten reduziert. Das alles gerät zur zynischen Entmythisierung der großen biblischen Erinnerungen. Schließlich geben uns der Prolog, die Intermezzi und der Epilog des Buches den Blick frei auf das, was sich für die künstlerische Imagination hinter den Kulissen abspielt. Dort wird der Mythos definitiv verbrannt. Die Schleier verschwinden und was in den Religionen als ein Ritual von Grenzberichten und Grenzerfahrungen erscheint, als der Übergang zum Schweigen und schließlich als ein endgültiges Geschehen, zu dem es kein Früher oder Später, keine Ursache und keine Wirkung mehr gibt, all dies wird hier als Banalität entlarvt, im Grund verhöhnt.
Ein zwiespältiger Gott:
Oder ist mein Urteil ungerecht? Vielleicht empfingen wir die Tatsache als Problem, dass der Dialog zwischen den beiden Engeln formt den Mythos zu einem Experiment umbildet, das natürlich auch misslingen kann. So wie bei Hegel die Philosophie den Schleier von der Religion nimmt und die dahinter liegende Wahrheit enthüllt, so instrumentalisiert Mulisch den großen Mythos von Gottes Willen und von der „Heilsgeschichte“, um darin nun seine Wahrheit zu erzählen.
Dabei übersehe ich nicht, dass Gott selbst sich in diesem Roman nie zeigt. Wie schon im Gnostizismus sind es göttliche Mittler, die das Werk ausführen, und sie tun dies ohne moralische Skrupel. Zollt Mulisch dem Gott der Menschheit einen letzten Respekt? Ja, und dennoch fällt auch auf ihn ein peinlicher Makel. Denn vor Ihm sind der sexuelle Betrug und später der Tod von Max Delius[5] und das Schicksal von Ada[6] nicht verwerflicher als das schreckliche Ende von Helga[7]. Der ganze Plot legitimiert den Untergang von Onno ebenso wie sie die Enteignung von Quinten legitimieren. So wie schon im Garten Eden hat der Eine Gott selbst nur eine egozentrische Eigenschaft. Er kann es nicht zulassen, dass man seine Geheimnisse entdeckt. Warum eigentlich nicht? Oder ist es nur der Engel der höchsten Administration, der findet, das sei des Guten zu viel?
2.2 Überleben oder Untergang
Verharmlosung von Geschichte und Gegengeschichten:
Vielleicht sagen Sie: Da haben wir sie wieder, die typischen Theologenfragen. Ja, es sind Theologenfragen und ich hoffe, dass sie gut sind. Dennoch sollten es nicht die letzten Fragen sein. In dieser Geschichte haben sie nämlich eine Funktion für einen anderen Zusammenhang. Mulisch hat aber begriffen, dass sich die Theologie heute dem Test der Wirklichkeit und der menschlichen Erfahrungen zu stellen hat. Möglicherweise verbrennt die große Geschichte nicht so schnell, wie es ein Romanschreiber möchte. Denn trotz allen Ideologieverdachts bleibt die Frage offen, ob sie trotz aller archaischen Hüllen und trotz aller eingewobenen Interessen, trotz allen Opiums nicht auch alte Zeichen der Wahrheit bewahrt.
Darauf gibt es eine einfache Antwort: Die großen Erzählungen entstehen immer dann, wenn ein (neues) universales Problem entdeckt wird, und diese Problem wird von ihnen durchformuliert, durchgearbeitet und beantwortet. Das eine Problem vieler Religionen sind Erfahrungen des Leidens und Unheils, des Unrechts und der Unterdrückung; wir sprechen von der Überwindung des Bösen. Auch dieses Böse existiert und lebt aus einer eigenen, irreversiblen Macht. Deshalb sind die großen Heilsgeschichten auch immer mit einer großen Gegengeschichte verwoben. Ja, langfristig ziehen sie ihre Kraft sogar aus der großen Gegengeschichte, in der sich der Abgrund der Welt selbst zeigt.
Die gnostischen, mit dem Christentum eng verwobenen Geschichten suchen das Heil in der Erkenntnis; denn Unheil bedeutet immer Unkenntnis[8]. Die hinduistische oder buddhistische Geschichte sucht das Heil im Nirwana; ihr Unheil wird als Karma, also als der Versuch dargestellt, sich am Schein dieser Welt festzuhalten. Die monotheistische Geschichte will schließlich die Welt verändern, also besser, menschlicher, mindestens anständig machen. Das Unheil erscheint deshalb als eine Unmenschlichkeit, die zur Vernichtung der Menschen aus Fleisch und Blut führt. Zugleich wird die Verheißung des Heils wird immer von der Gefahr des eigenen Scheiterns begleitet In diesem Bezugsrahmen liegen Glaube und Verzweiflung, Utopie und Depression, die absolute Zukunft und das definitive Ende, Gott und der Satan immer nahe beieinander. Nach meiner Vermutung wurde der europäisch-christliche Glaube m.E. langweilig und er verlor seine universale Dynamik, als Leibniz seine Theodizee entdeckte, als die Aufklärung Welt und Geschichte als einen selbstverständlichen Fortschrittsprozess interpretierte, als man die Abgründe des Weltgeschehens gegen dessen abdichtete Selbstgefährdung abdichte, so dass man Gott – als lenkende oder als rettende Instanz – schließlich nicht mehr nötig hatte.
Werden wir überleben?
Ich glaube, dass Mulisch diese Dialektik verstanden und zum Ausgangpunkt seines Buches gemacht hat. Wegen dieses dunklen Hintergrundes dreht er die große Erzählung von Rettung und Heil um, lehnt sie ab, versieht sie wenigstens mit großen Fragezeichen und mit einem offenen Ende. Man hört bei ihm kein simples „Nein“, kein „hör mal mit diesem Unsinn auf“, oder „wirf diese religiöse Denkweise endlich über Bord“. Man vergleiche dieses Buch mit Nietzsches Ausruf von der Tötung Gottes durch uns, die Menschen. So wie Nietzsche will, dass wir endlich begreifen, was da geschehen ist, so ersetzt Mulisch diese traditionelle ‑ nach ihm überholte – Gegen-Geschichte der Moderne durch eine andere Gegen-Geschichte. Das ist nicht mehr die Erzählung vom statischen, dynamisch aufgefrischten des Bösen sein, das vom Dekalog im Zaum zu halten ist. Seine neue Gegengeschichte wurde zur Triumphgeschichte von universalem Ausmaß. Das Testimonium reicht jetzt nicht mehr aus, denn jetzt ist eine Bewegung entstanden, die auch das moralische Vermögen der traditionellen Gottes unbemerkt überstiegen hat. Kaum jemand entdeckt ja, dass die alte Geschichte von Heil und Unheils abgelaufen ist:
Mach dir doch nichts vor. Wenn sie es wissen, wird kein Schwein es glauben. Die Nachricht wird hier und da erwähnt werden; vielleicht werden ein paar tausend Rechtschaffene, ein paar hundert Theologen und zehn Archäologen sich darüber aufregen, aber dann wird es von der unaufhörlichen Sturzflut neuer Nachrichten überschwemmt, und einige Monate später wird es vergessen sein. (797)
Jetzt werden die Menschen von anderen Sorgen geplagt, obwohl die die Frage völlig offen ist, ob die Menschheit diesen Prozess der Selbstvernichtung überlebt. Mulischs Roman schöpft ihre Verbindlichkeit daraus, dass es sie an Hand der alten Frage durchexerziert und so deren Obsoletheit demonstriert.
Rettung durch Scheitern?
Hat nach den Menschen nun auch Gott den Bund mit der Menschheit gebrochen? Auf diese abstrakte, aus ihrer Geschichte herausgelöste Frage wird auch die Antwort geschichtsfremd bleiben, nichtssagend angesichts der Erfahrungen unserer. Formal können die jüdische und die christliche Tradition darauf verweisen, dass Gott seinen Bund mit der Menschheit nie mehr brechen wird. Aber sobald wir diese weltfremde Zukunftsvision mit konkreten Tatsachen und Erfahrungen konfrontieren, sieht die Antwort schon in den Schriften anders aus.
Nach christlichen Überzeugungen musste vor 2000 Jahren ein neuer Bund kommen, weil – so die christliche Behauptung – das Volk Israel seine Sendung aufgegeben hatte, zugleich wird diese Überzeugung nie bruchlos durchsetzen. Schon kurz nachdem Moses die ersten beiden Tafeln empfangen hatte, schlug er sie wieder in Stücke; im Grund wiederholt sich heute nur dieses mosaische Drama. Schon mit Abraham hatte Jahwe zuvor einen Bund geschlossen, bis er im ägyptischen Elend zu ersetzen war, Mehr noch, auch diesem Abrahambund ging ein weiter voraus; nachdem Jahwe schon in der Noah-Geschichte die Menschheit ihrem Verderben überließ; nur ein minimaler Menschheitsrest entkam in der Arche. Mehr als einmal stand die Menschheit also vor diesem Bundestest, vor der Frage also, ob Gott sich nicht von der Menschheit zurückzieht, weil sie ihren Gott vergessen oder verlassen hat. Mulisch übernimmt als nur diese Frage, die in monotheistischen Religionen schon immer gespielt hat. Oder haben die Christen in unserer Mitte noch nie über die Tatsache nachgedacht, dass Gott seinen Sohn am Kreuz hätte verlassen können? (Mk 15,34)
Ersticken in „Satans Scheiße“:
Ich füge eine letzte Frage an, die noch genauer zu besprechen ist: Möchte jemand unter uns wirklich behaupten, in Auschwitz habe Jahwe sein Volk nicht verlassen? Welcher Jude, Christ oder anderswie Gläubige kann Gottes Solidarität mit uns Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts für selbstverständlich, ein für allemal geregelt halten? Wer daran ohne Kritik und eine Bitte um nähere Auskunft festhält, hat wohl nicht verstanden, wie bedroht solche Aussagen sind. Der Mensch selbst ist der hartnäckigste Feind seines Glaubens. Gewiss, als Christ hoffe ich natürlich, dass Gott den Dekalog nicht zurückzieht; aber man kann das nicht wissen und meine Hoffnung wird täglich widerlegt. Mehr noch, meine positive Erzählung über Gottes Treue gegenüber den Menschen ist nur zu begreifen als der Versuch, die große und täglich erfahrbare Geschichte von Unheil und Bosheit zu überwinden.
Ist eine solche Überwindung möglich? Als Christ und Leser der Entdeckung des Himmels komme ich zum Schluss: Die wirklich religiöse Hoffnung auf eine menschenfreundliche Zukunft ist erst in dem Augenblick möglich, da sie am Scheitern ist, denn nur in diesem Augenblick lässt sich die Tragweite dieses Kampfes ermessen. Natürlich schlägt der christliche Glaube eine positive Antwort vor. Wer aber übersieht, wie sehr diese Antwort täglich bedroht wird, kämpft auch nicht mehr um sie. Für diesen Fall der Blindheit werden Bekenntnisworte repetiert, ohne sie sich anzueignen. Deshalb gebe ich Harald Mulisch recht: Die an sich abstrakten Aussagen eines Glaubensbekenntnisses interessieren ihn wohl kaum. Es ist seine Intention und Aufgabe, deren schwache Grundlage zu prüfen. Seine Frage lautet nicht: Ob Gott stärker ist als das Unheil der Menschen; niemand kann das wissen. Seine Frage lautet: Kann man eine Menschheit, die sich selbst aufgibt oder vernichtet, noch retten? Über diese Frage ist endlich nachzudenken.
Gewiss, nach Mulisch muss die Frage auch lauten: Kann eine Menschheit, die die letzten Geheimnisse von Mensch und Kosmos entschleiern will, noch von Gott beschützt werden? Weiter oben habe ich mich zurückhaltend zum Gedanken geäußert, Gott wolle sich nicht in die Karten schauen lassen (mit dem Tod durch den Meteoren werde ich mich nicht so schnell versöhnen). Jetzt aber ist der Kontext klar, der Mulisch zu diesem Gedanken bringt. Diese Erkenntnis dieser letzten Geheimnisse ist gefährlich, weil die Menschen damit destruktiv umgehen. Nahezu täglich hören wir dazu Beispiele aus der Industrie, der Physik und der Medizin. Unversehens ist die Menschheit gegen sich selbst aufgestanden, um sich schrittweise oder im großen Atomschlag zu vernichten. Mulisch stellt das in den geistesgeschichtlichen Raum, der zu einem prometheischen Handeln führte:
Mit ihrer baconianischen Beherrschung der Natur werden sich die Menschen eines Tages nuklear verheizen, verbrennen durch das Loch, das sie in die Ozonschicht geschlagen haben, sich im sauren Regen auflösen, braten im Treibhauseffekt, einander erdrücken, sich selbst an der Doppelhelix des DNS erhängen, ersticken in ihrem eigenen Müll: in Satans Scheiße, denn dieses Biest hat seinen Pakt nicht auf Liebe zur Menschheit geschlossen, sondern aus Hass gegen uns. Die Hölle wird auf der Erde losbrechen, …(796)
Diese Selbstvernichtung, nicht Gottes Abschied bildet das Problem dieses Romans.
2.3 Die Katastrophe der Neuzeit
Diagnose der Neuzeit:
Lassen Sie mich genauer auf die oben gestellte Frage eingehen: Lässt sich eine Menschheit, die sich selbst aufgibt oder zerstört, noch retten? Ganz unerwartet sind Mulisch’s Antworten wohl nicht. Auch von der biblischen Tradition her ist ohne Abstriche zu sagen: Nein, eine Menschheit, die sich selbst zerstören will, lässt sich auch durch Gott nicht retten. Gott dürfte und könnte sie nicht einmal retten. Für Menschen mit einer anderen Zielsetzung bedeutet der Dekalog schlechthin nichts, weil seine Geltung auf der Entscheidung von Menschen beruht. Das wusste man schon vor Kant und vor der Aufklärung. Die Geltung des Katalogs war schon immer und ist noch immer auf seiner freien Annahme durch die Menschen begründet.
Deshalb belässt es Mulisch auch nicht bei moralistischen Antwort, als komme es eben darauf an, Gottes Willen mehr oder weniger untertänig zu erfüllen. Auch interessieren ihn nicht die genauen Inhalte des Dekalogs. Er setzt sich mit der Frage auseinander, welchen Realitätswert dieses Symbol faktisch noch hat. In den zahlreichen kulturphilosophischen Passagen des Romans entwickelt er eine Diagnose der Neuzeit.
Die Grenzen theologischer Analysen:
Bevor ich darauf mit einigen kritischen Bemerkungen eingehe, möchte ich einiges zu den gängigen Analysen sagen, die sich heute aus theologischer Sicht finden. Lassen Sie mich – vielleicht verkürzt, aber im Kern sicher korrekt – feststellen: Die gängigen theologischen Analysen zur Neuzeit und Moderne n der sogenannten „Neuzeit“ sind schlicht unzureichend. Entweder übernehmen sie die Analysen anderer Wissenschaften – der Soziologie, der Psychologie oder der Kulturphilosophie ‑, oder sie führen spezifisch theologische Gesichtspunkte ein, ohne diese in unsere Wirklichkeit zu übersetzen.[9] Wir können diese theologischen Analysen in zwei Arten einteilen:
Die erste Art beschränkt sich auf innertheologische Aspekte. Man begreift die Säkularisation als „Gottesfinsternis“; der neuzeitliche Mensch wird als ein Mensch dargestellt, der sich selbst produziEren will oder einer falschen Autonomie-Idee nacheifert; nach K. Barth ist das Problem der modernen Technik im Grunde das Problem des Menschen. Schließlich laufen diese Analysen auf eine moralische Verurteilung des Menschen hinaus.
Die zweite Art theologischer Analysen beschränkt sich auf kirchliche oder religiöse Gesichtspunkte. Man begreift Säkularisierung als eine sich abnehmende Bezogenheit auf Religion und Kirche.
Doch Analysen bleiben an der Oberfläche hängen, denn mangelnde Religiosität und abnehmende Kirchlichkeit und Religiosität sind eher die Folgen als die Ursachen eines umfassenden Prozesses. Deshalb kommen sie zum Schluss, die Schwächung religiöser und kirchlicher Beziehungen seien an sich schon vom Übel oder führten in den Untergang. Zugegeben, es gibt noch keine befriedigende kritische Diagnose, die – im Verbund mit einer allgemein akzeptierten kritischen Philosophie ‑ die spezifische Art religiöser Rationalität untersucht. Deshalb hat die Kritik an der Säkularisierung die systematische Theologie noch kaum weitergebracht.
Bringt uns Mulisch weiter? Man hat auf die Ausgangspunkte von Mulischs Kritik aufmerksam gemacht. Man findet sie in früheren Werken und sie kehren in der Kritik des Onno am Rückschritt der modernen Moral wieder. Helga muss sterben, weil man ohne weiteres eine Telefonzellen zerstören kann. Die Macht, die für die öffentliche Ordnung sorgt, wird nicht mehr beschützt und instand gehalten durch das, was er „die goldene Mauer“ nennt (Kapitel 51). Aber noch weiter reicht seine Kritik an der modernen Wissenschaft. F. Bacon[10] fungiert für Mulisch als das Symbol für eine katastrophale, geradezu apokalyptische Entwicklung (s. das Erste Intermezzo).
Francis Bacon:
Angesichts der Komplexität des Problems „Neuzeit“ ist die Diagnose von Mulisch sicher einseitig. Die beiden Engel wissen in ihrer kindlich-kindischen Naivität nichts Besseres als die Geschichten von schlimmen Ereignissen und Teufelspakten zu berichten. Dennoch ist diese Einseitigkeit für eine theologische und eine anthropologische Analyse sicher produktiv. Von F. Bacon (1561-1626) weiß der Naturwissenschaftler sicher mehr zu erzählen als der Theologe. Bacon entwickelt neben der induktiven Methode für den Bereich der „civil knowledge“ das Ideal einer anti-idealistischen, pragmatisch-utilitaristischen Ethik der „external goodness“ (man erinnert sich an Machiavelli). Karl Marx nennt ihn den wahren Stammvater des Englischen Materialismus und aller experimentellen Wissenschaft. Hobbes, Locke und Hume bauen auf ihm auf; seine Theorien sind rundum akzeptiert. Genau das ist nach Mulisch das Problem:
Das ist die Gefahr des Rechthabens: kaum ein Mensch ist sich noch bewusst, dass es je anders war. Stell dir vor, das wissenschaftliche Experiment war zu Bacons Zeit noch so gut wie unbekannt. (218)
Die Mythisierung dieser – gewiss nicht freundlichen – Figur zeugt auch davon, dass damals in unserer Geschichte etwas Neues und Gefährliches begann. Es ist die Entdeckung der naturwissenschaftlichen, der technischen Wahrheit, die uns zugleich Macht über unsere Existenz verlieh und uns dazu befähigte, in unbegrenztem Maße über uns, über Mitmenschen und Gesellschaft, über die physische Welt (Leben, Natur und in gewissem Sinn auch den Kosmos) zu verfügen. Höhepunkt und Ende davon sind die moderne Wissenschaft und die moderne Technik, die Informatik, die moderne Biologie, Nuklearphysik und Astronomie.
Defizite der Theologie:
Doch sollten wir Mulisch hier nicht als einen Philosophen oder Wissenschaftstheoretiker begreifen, obwohl er einen solchen Anspruch wiederholt angemeldet hat. Im gängigen theologischen Diskurs kommt es auf einen anderen Aspekt an. Es ist der Perspektivenwechsel, auf den sich die Theologie in den vergangenen Jahrzehnten eingelassen hat. Ungezählte anthropologische, psychologische und soziologische, ideologiekritische, sozialistische und befreiungstheologische Bosheitsanalysen haben ins theologische Geschäft Eingang gefunden. Sie haben die Fragen zugespitzt und konkretisiert. Aktuelle Erfahrungen von gesellschaftlicher oder globaler Bedeutung wurden übernommen, aber ihre innere Verbindlichkeit, deren existentielle Bedeutung für die Betroffenen wird kaum erkannt. Anthropologische Überlegungen bleiben oft vage, gelangen nur zu moralischen oder agogischen Folgerungen. Psychologische Überlegungen belassen es bei der objektiven Beschreibung bestimmter Zusammenhänge. Ideologiekritische Erwägungen entdecken das Böse jeweils bei der anderen ideologischen Partei. Befreiungstheologische, feministische und sozialistische Analysen suchen den Fehler nicht nur bei anderen, sondern erfüllen auch eine Alibi-Funktion, die Fehlfunktionen der Gesellschaft erklären soll. Wie schön kann man über die Befreiungstheologie nachdenken, wenn man die entsprechende Praxis (z.B. ein Leben in den Favelas von Sao Paolo) nicht auf sich nehmen muss.
Nicht besser ist es bestellt mit der Analyse der dominierenden Gesellschaftssektoren, die uns alle bestimmen, mit der Analyse von Wissenschaft und Technik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte man dazu Ansätze entwickelt. Ich erinnere an Romano Guardini und andere Denker mit ihren kritischen Überlegungen zur „Dämonie der Macht“[11]. Ich erinnere an die sehr allgemeinen Erwägungen M. Heideggers, die über einige intuitiv-kulturkritische Intuitionen nicht hinausreichten.[12] Nach 1945 war der Hauptstrom der protestantischen Theologie im Gefolge von der führenden Theologen Karl Barth (1886-1969) mit einer allgemeinen Kulturkritik beschäftigt. Sein Programm lautete: „Zwischen den Zeiten“, da er die alte Zeit im Grunde für beendet hält. Seine Zeitkritik lässt sich im Begriff „Säkularismus“ zusammenfassen. Der Hauptstrom der katholischen Theologie erstrebt noch immer das Ideal einer Kultur, die zu humanisieren und bei gutem Willen humanisiert werden kann. Gott müsse in unserem Zusammenleben Mensch werden. E. Schillebeeckx ist dafür ein später Zeuge. Er begreift Säkularisierung geradezu als die letzte Folge einer universal-christlichen Haltung. Doch niemand hat mit einer angemessenen philosophisch-theologischen Analyse der modernen, auf Technik, d.h. auf Veränderung angelegten Wissenschaft begonnen.
Was ist das Problem der Moderne?
Gleichwohl versucht die Theologie, die neuen Theorien des Bösen in die große biblisch-religiöse Tradition einzuordnen. Man könnte den Kern dieser Tradition als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten beschreiben: sowohl mit dem Individuum als auch mit der Gesellschaft ist etwas verkehrt gelaufen. Das Böse geht als Macht, als Potenz, als etwas Verführerisches oder als ein kybernetisches Modell allem voraus, was Menschen an gutem Willen und an Rationalität aufzubringen hatten. So lässt sich auch das Böse der Modernen Zeit als eine Verlängerung menschlicher Schwäche und Bosheit verstehen, auch als die Reproduktion des Unrechts, das in Wirklichkeit allen Individuen vorangeht.
Wo aber liegt nun das spezifische Problem der modernen Zeit? Warum bietet gerade eine auf Technik ausgerichtete Naturwissenschaft die Gelegenheit zu allem Elend, das im 20. Jahrhundert produziert wurde? Sind Naturwissenschaft und Technik nur die Instrumente, die das menschliche Vermögen zur Destruktion verdoppeln, verzehnfachen oder verhundertfachen? Oder gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen David, der mit einer Steinschleuder den Philister Goliath tötete, und dem Piloten, der im Zweiten Weltkrieg zur Zerstörung einer ganzen Stadt beiträgt? Gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Hippokrates, der – wie man vermutet – vielleicht auch mal zu viel Gift geben hat, und dem Biogenetiker, der die Informationen der menschlichen Keimbahn zu verändern weiß oder mit Absicht einen neuen tödlichen Virus schafft?
Banale Hybris (Hannah Arendt):
Auch Mulischs philosophischen Ansatz kann man kritisieren, denn definitionsgemäß greift eine jede Theorie des Bösen zu kurz, da sich das Böse definitionsgemäß der Rationalität entzieht. Es ist das Unmenschliche schlechthin; es zielt auf Vernichtung und Destruktion; es bedeutet die Perversion von Leben und Zukunft. Deshalb mündet auch jede Erklärung in einem Dilemma: Entweder man unterwirft das Böse einer rationalen Erklärung, dann wird die Essenz des Bösen aufgelöst und bagatellisiert. Oder man bagatellisiert das Böse gerade nicht, dann behält die Erklärung selbst widersprüchliche Züge, die in einem rationalen Diskurs nicht aufgehen. Die treffendste Annäherung finde ich bei de jüdischen Philosophin Hannah Arendt finden. Im Anschluss an den Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961) spricht sie von der Banalität eines Bösen. Diese Banalität wird für sie zum (enttäuschenden) Charakteristikum für die schrecklichsten Abgründe, derer das Böse fähig ist. Das letzte Problem des Bösen in der Moderne ist deshalb nicht in der Tatsache zu suchen, dass es immer größere Dimensionen erhielt. Zwar führt die Anhäufung von Wissen, Macht oder Vermögen zu erschreckenden, geradezu apokalyptischen Dimensionen, doch entscheidend ist die Tatsache, dass diese Anhäufung zur einer fürchterlichen Gedankenlosigkeit, zu Mechanismen eines gesteuerten Handelns und zu einer Selbstüberschätzung führt, die über nicht mehr nachdenkt, geschweigen denn sich davon Rechenschaft gibt. Diese Hybris weiß nicht, dass sie Hybris ist.
Im Rahmen dieser Gedankenlosigkeit wird auch verständlich, warum die technischen Werkzeuge der Moderne den Einfluss unseres menschlichen Körpers nach Belieben in un-menschliche Dimensionen hinein vergrößern; wir sind für die neuen Möglichkeiten nicht gerüstet. E. Fromm unterscheidet – wie G. Marcel vor ihm und E. Jüngel nach ihm – zwischen „Haben“ und „Sein“. Die Beziehungen von Haben und Besitz entgleiten uns, sie verderben unser Sein. Das Auto wurde für viele zum Teil ihrer Identität. Zugleich hat uns die wachsende Differenzierung unserer Gesellschaft uns von uns selbst entfremdet und uns – unter dem Schein entgrenzter Freiheit ‑ alle Steuerungsmöglichkeiten nimmt. Das Problem liegt also im „Fortschritt“, den man immer noch preist: Er schafft eine wachsende vertikale, horizontale und ideologische Mobilität, möglich gemacht durch die absolute Loslösung von allen Verankerungen, aus denen die Identität lebt.
Fehlende Verantwortung (H. Jonas):
Unverzichtbar war für eine neue Bewusstseinsbildung deshalb das Buch von Hans Jonas Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“ (1979). Er setzte damit einen bewussten Gegenpol zum Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch, weil es Blochs Programm einer endlosen, immer weiter strebenden Utopie für gefährlich hält. Jonas beginnt sein Vorwort mit einem Verweis auf Prometheus, der jetzt endgültig entkettet sei. Die Wissenschaft habe unbeschränkte Kräfte, die Ökonomie ruhelose Impulse vermittelt. Die Verheißung der modernen Technik werde zur Bedrohung des Fortbestehens der Menschheit. Geboten sei deshalb eine Ethik der freiwilligen Zügel, begründet auf einer Hermeneutik der Angst. Eine solche Ethik muss Grenzpfähle errichten und sagen: So geht es nicht weiter. Wir müssen uns treiben lassen vom Schrecken über das Ausmaß, in dem wir (jedenfalls die Menschen von West-Europa) ins Böse verstrickt sind.
Hat H. Jonas damit das letzte Wort gesagt? Auch er beschränkte sich auf die Ebene der rationalen Analyse, für die alle banal Denkenden unsensibel bleiben. Die großen Religionen besprechen dieses Problem in Erzählungen, gleich von welchen historischen oder von welchen mythischen Elementen sie gespeist sind. Vermutlich ist die erzählende Bearbeitung des Bösen die angemessenste, weil sie die Fallen der rationalen Versachlichung vermeidet und im Erzählakt die Hörenden in Anspruch nimmt. Das führt uns wieder in die Nähe von Mulisch, der seine Auseinandersetzung mit dem Bösen als großen Erzählakt präsentiert. Zwar wird dessen Ernst immer wieder auf die Probe gestellt, seine unverrückbare Grundbotschaft dadurch eher erhärtet als unterlaufen, eher auf seinen unzerstörbaren Kern verdichtet als aufgelöst. Dies zeigt sich an einer Erzählschicht des Romans, über den bislang noch nicht gesprochen wurde. In ihr sind wir nicht mehr die Genießer oder Figuranten eines wohl komponierten Schauspiels, das über uns hinweggeht. Wir werden vielmehr zu Zeugen eines Geschehens, das die Geltung des Testimoniums endgültig geschändet hat.
2.4 Apokalyptische Realität
Die Rahmenerzählung, Anfang und Ende:
Die „Entdeckung des Himmels“ hat nicht nur viele Seiten, sondern präsentiert auch eine komplexe Struktur. Die äußerste Struktur bildet die Rahmenerzählung voll paradoxer Zusammenhänge: In ihr berichtet der zweite Engel dem ersten über das, was im Auftrag des Chefs schon geschehen ist. Es geht um das Testimonium und um die unerwarteten wissenschaftlichen Fortschritte in der menschlichen Wissenschaft voller Hybris.
Sie haben unser ausgefuchstestes Konzept entschlüsselt, nämlich dass Leben letztendlich Lesen heißt. Sie selber sind das Buch der Bücher. Im Jahr 1869 ihrer Zeitrechnung entdeckten diese verflixten Wesen die DNS im Zellkern, und wir redeten uns damals ein, dass das wenig zu bedeuten habe, weil sie nie auf die Idee verfallen würden, diese Säure könnte einen Code enthalten, den sie würden knacken können – aber hundert Menschenjahre später hatten sie die genetische Geheimschrift bis in die letzten Feinheiten entziffert. Mit genau diesem Code haben wir sie viel zu schlau gemacht. (8)
Es geht um den Beginn eines ganzen Plots im Ersten Weltkrieg. Aber dazu gehören zwei widersprüchliche Aspekte. Einerseits besagt dieser Krieg etwas über den beklagenswerten Zustand der Menschheit:
In absehbarer Zeit ist von unserer Organisation nur noch eine Leichenhauskonstruktion übrig, danach wird der Himmel zugeklappt wie ein Buch. (10)
Andererseits musste dieser Weltkrieg kommen, um die Vorbereitung des großen Plans in Gang zu setzen. Das Ergebnis der Rahmenerzählung ist bekannt. Das endlose Licht wurde zur Dämmerung. Die Scherben der beiden Tafeln sind von der städtischen Müllabfuhr von Jerusalem geholt und zusammen mit all dem anderen Schutt aus dem Kettendom zu einer Mülldeponie gefahren worden. (795) Dennoch weigert sich der zweite Engel, in den Ruhestand zu treten. In einer Aufwallung von Wut und Stolz gibt er nicht auf. Es war kurz, nachdem Nietzsche, dieser Nihilist
die Geschichte verbreitete, der Chef sei tot. Nun, er war nicht weit von der Wahrheit entfernt – aber dass der Boss nicht sterben kann, ist nun gerade die abscheulichste Einschränkung seiner Allmacht. Er existiert durch das Paradoxon, aber dadurch muss er auch ewig existieren, ewig sterben. (11)
Das Ergebnis der Rahmenerzählung ist bekannt.
Consummatum est. Es ist vollbracht. Ich bin am Ende meiner Kräfte. Wir haben ausgedient. Die Welt hat ausgedient. Die Menschheit hat ausgedient. Alles hat ausgedient – nur Luzifer nicht. (795) Von jetzt an hat Luzifer freie Hand. Lass ihn die Menschendinge doch holen, es ist mir inzwischen eigentlich ziemlich egal. (796) Finis comoediae. (797)
Das ist das Ende der paradoxen Rahmenerzählung. Der Roman ist fertig, aber die Geschichte der Menschheit geht vielleicht weiter – auch ohne das Testimonium. Dennoch weigert sich der zweite Engel, in Pension zu gehen:
Dann werde ich es eben allein versuchen! Hören Sie mich? Ich lasse das nicht so einfach auf sich beruhen! Was bilden die sich eigentlich ein! Was meinen die eigentlich, wer sie sind, diese Emporkömmlinge! Antworten Sie! (797)
Der Satan und die moderne Technik:
Verwoben in diese Rahmenerzählung sind die Überlegungen zur Geschichte Satans, der vor 400 Jahren mit den Menschen einen Bund geschlossen hat (218-220), sowie zur Auswirkung der modernen Technik:
Mit jeder neuen Erfindung haben uns die Menschen einen Teil unserer Allmacht abspenstig gemacht und auf diese Weise Schritt für Schritt ihre eigene Realität dämonisiert. (382f.)
Schließlich zur Theodizee und der Bedeutung der Maschine:
Das Gespräch über das Vorhandensein des Übels in der Welt wird bis in alle Ewigkeit geführt werden – an der ungeheuerlichen Frage der Theodizee beißt sich die Menschheit seit Jahrhunderten die Zähne aus. Das Getreide braucht nun mal den Dreschflegel, ehe es sich in heiliges Brot verwandeln kann. (597)
Aber die Maschinen führen nicht zu einem so heilsamen Ziel:
Aber es ist genau diese Art Maschine, die Maschine an sich, die das noch viel größere, das Grundübel verkörpert. Dieses technologisch-luziferische Böse steht eben nicht optimistisch im Dienste des Chefs in der besten aller möglichen Welten, wie das vorhergesehene Unheil, das du anzurichten beauftragt bist, sondern es nährt sich von ihm, es verzehrt es, es nimmt seinen Platz ein wie ein Virus den Zellkern: ein niederträchtiger Putsch, ein infamer Coup d´Etat [Staatsstreich]. Krebs! Königsmord! (598)
Neben einem paradoxen Geschehen haben wir es also mit einer eindeutigen Interpretation von Bacon, der Wissenschaft und der Maschine zu tun, aber je weiter die Überlegungen in die Nähe des Chefs kommen, um so mehr beginnt auch eine Paradoxie wirksam zu werden. Die zwei Engel scheinen zwei Seiten Gottes zu zeigen. Über die Alternative zwischen Heil und Unheil, Warnung und endgültigem Ende, zwischen äußerster Drohung und endgültiger Rache ist das letzte Wort gerade noch nicht gesprochen.
Innerhalb der Rahmenerzählung beginnt dann die Geschichte mit all ihren interessanten, bisweilen spannenden, teils lächerlich ironischen Facetten. Die Vermischung zwischen einem höheren Plan und einem Kontingent weltlichen Geschehens scheint die Ursache zu sein für alle außerordentlichen, schönen, schrecklichen und unbegreiflichen Ereignissen. Es scheint, als streue der Autor immer neue verwunderliche Ereignisse in den Ablauf der Dinge ein. So bleibt das Bewusstsein für die großen Zusammenhänge wach.
Das unterste Niveau, Auschwitz:
Für unsere Fragestellung ist ein drittes Niveau viel interessanter und eigentlich von entscheidender Bedeutung. Nennen wir es das unterste Tiefenniveau. Ich meine damit Elemente, die den großen Gang der Dinge kaum beeinflussen: Erinnerungen, biografische Elemente von Onno, Max oder den anderen. In der Dramaturgie scheinen sie keine Rolle zu spielen, aber für die große Geschichte bieten sie wichtige Interpretationsschlüssel. Da können wir lesen, worum es eigentlich geht, warum die Zeit abgelaufen ist und warum das Testimonium zurückzubringen ist. Diese Untergrundgeschichten beziehen sich auf Westerbork (den Sammelplatz der Juden in den Niederlanden) und Auschwitz, den Tod Helgas, das Ende von Max Delius. Das Zentrum bildet die Erinnerung an Auschwitz, ein Stück Biografie von Max. Hier fallen auch alle Hüllen der Ironie und Verfremdung
Max nähert sich nur langsam Auschwitz. Den ganzen Tag blieb er in Krakóws.
Am nächsten Morgen fuhr er in aller Frühe mit dem Bummelzug … zurück nach Katowice … und irrte da ziellos durch die stillen Straßen. (126)
Erst am dritten Tag fuhr er noch einmal in Richtung Katowice, stieg in Trzebinia um und fuhr mit klopfendem Herzen mitten in das Dreieck hinein. (127)
Ein Taxi brachte ihn zum Eingang des Lagers:
Arbeit macht frei. (127) … Ein stilles Dorf aus dreiunddreißig Ziegelsteingebäuden, drei Reihen zu je elf, wo Zehntausende totgeschlagen, erschossen, totgespritzt, zu Tode gefoltert worden waren und mit Gas an verwundeten russischen Kriegsgefangenen und Kranken aus den Krankenhäusern der Umgebung experimentiert wurde. (127f.)
Aber das ist noch nicht das höllische Terrarium von zwanzig Metern Länge und drei Meter Tiefe, mit Frauenhaar gefüllt:
War auch das Haar seiner Mutter dabei? (128)
Da stellt er die existentiellen Fragen, die in der Rahmengeschichte in mythischer Form wiederkommen:
Da lag es. War es tatsächlich so, dass letztendlich nichts mehr zählte? War alles möglich und konnte alles getan werden, weil es eines Tages unwiderruflich beiseite gelegt würde? Konnte die himmlische Seligkeit im Himmel nur wegen dieses verbrecherischen Gedächtnisschwundes genossen werden? Sollten die Glückseligen dafür nicht mit der Hölle bestraft werden? Alles war offenbar bis in alle Ewigkeit verpfuscht, nicht nur hier, sondern auch bei tausend vorangegangen und nachfolgenden Gelegenheiten, an die keiner mehr dachte. Ein Himmel war unter diesen Umständen unmöglich, nur die Hölle gab es vielleicht. Wer an Gott glaubte, dachte er, und schaute in die riesige Vitrine mit Spielzeug, sollte vor Gericht gestellt werden – an die schwarz geteerte Hinrichtungswand, die er neben Block 11 gesehen hatte. (128)
Er geht den Weg nach Auschwitz II (Birkenau)
Er hätte auch ein Taxi rufen können, aber da auf diesem Weg Abertausende in den Tod getrieben worden waren, fand er, dass er zu Fuß gehen sollte, wie die Christen über die Via Dolorosa. (128)
Alles versank, was ihn band:
Amsterdam, Onno, seine Freundinnen, seine Kollegen, seine Arbeit, die Sternwarte, die absurden Tiefen des Weltalls. Nur er selbst blieb übrig, auf dem Weg nach Birkenau. Dort lag das Zufahrtsgebäude von Auschwitz-Birkenau: anus mundi. (128f.)
Wut kommt in ihm auf, die Eisenbahnbrücke und das Zufahrtsgebäude wirken auf ihn wie
ein schwarzes Loch, aus dem es kein Entrinnen gab. Dies war der Altar, die eigentliche Kraftzentrale des Faschismus. Gab es irgendwo auf Erden einen Ort, an dem im selben Maße das Gute getan worden war wie hier das Böse? Und wenn das die Filiale der Hölle auf Erden war, wo war dann die des Himmels? Einen solchen Ort gab es nicht, es gab nur die Hölle. Dieser Ort war das genaue Gegenteil des Paradieses, auch wenn es das Paradies nie gegeben hatte. (130)
Er ist allein und durfte nicht hineingehen:
Die verfluchte Erde, wo Millionen von Menschen getötet worden waren, war heilig geworden: er durfte sie nicht betreten….. Schlächter und Opfer – verschwunden, sein Vater genauso wie seine Mutter. War er selbst dann nicht die Personifikation des Lagers als Ganzes? (130)
Kapitel 12 berichtet die reale Erinnerung, die in der Rahmenerzählung mythisch übersetzt wird. Schlimmer noch, die Erinnerung an Auschwitz, wo die Mutter von Max blieb, setzt den Verrat seines Vaters voraus, der an den Kriegsgräueln der Nazis mitgearbeitet hat (Kapitel 11). Nur wer den Ernst dieser Kapitel begriffen hat, vermag auch die Ironie des Mythos zu begreifen, denn verglichen mit der Realität besagt die mythische Geschichte zwar alles, aber doch auch so gut wie nichts. Sie weist nur auf die Dramatik unserer Wirklichkeit hin, die man jedoch unmittelbar, aus eigener Erfahrung kennen muss.
Chaos und Selbstzerstörung:
Ein anderes Tiefenniveau erscheint beim Tod von Helga Hartmann, die Raub und Vandalismus zum Opfer fällt. Man hätte sie noch retten können, aber das Telefon war zerstört. (516) Onno verlässt in seiner Verzweiflung die Niederlande und Quinten entdeckt ihn wieder in Rom in einem beängstigenden Zustand. Auch Onno repräsentiert also eine Erfahrung des Chaos und einer Zeit, in der es sich nicht mehr leben lässt, so wie der astronomische Spiegel von Westerbork Auschwitz und die Allmacht der Technik in beinahe unerträglicher Weise miteinander konfrontiert.[13]
Gewiss, diese Zusammenhänge lassen sich nicht von den „normalen“ Problemen und Abgründen des Menschseins und der Menschlichkeit trennen. Aber sie bilden zugleich sehr spezifische Probleme unserer Zeit. Es geht um Macht und Niedergang der Moral. Ich verstehe diese Tiefenschicht, diesen Abgrund der Erinnerungen und aktuellen Ereignisse als dasjenige, worum es in dem ganzen Roman eigentlich geht. Unter der Oberfläche der Handlung verbirgt sich ein apokalyptisches Szenario, in ihm die große Bedeutung des Romans für eine zeitgenössische Theologie. Nur wem die konkreten Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu Herzen gehen wird begreifen, warum es so nicht weitergehen kann.
Die Selbstzerstörung wurde durch die Nuklearwaffen und die Biologie möglich. Je näher wir uns dem Geheimnis der Wirklichkeit nähern, umso destruktiver wirkt sich der Bund mit Satan aus. Nur, niemand weiß es, zu Beginn der Lektüre lacht man. Aber ich erinnere daran, dass auch bei Nietzsche die Menschen auf dem Markt lachen, als der “tolle Mensch” den Tod Gottes verkündet. In ihrer Naivität haben sie die Bedeutung der Worte noch nicht begriffen. 1966 beruft sich M. Foucault darauf, als er seinerseits das Ende des Menschen verkündet.[14] Auch jetzt finden viele diese Passage aus „Die Ordnung der Dinge“ [„Les Mots et les Choses“] lächerlich (Foucault selbst spricht vom „homerischen Gelächter“). Ist die Behauptung, der Mensch sei tot, denn kein Unsinn? Vielleicht verurteilen diejenigen, die über diese apokalyptischen Geschichten lachen müssen, nur sich selbst.
Apokalypse konkret:
Der Philosoph G. Anders hat über Die Antiquiertheit des Menschen (1956 und 1980) zwei Bücher geschrieben. Nach ihm sind wir nicht auf der Höhe der Zeit, denn wir vermögen uns die Katastrophe nicht mehr vorzustellen; wir haben unsere Phantasie getötet. Anders hat recht und seine Kritik bezieht sich u.a. auf die Theologie. Während die Apokalyptik nach dem Urteil wichtiger Exegeten als die „Mutter der Theologie“ gelten kann (E. Käsemann), ist die dazu notwendige Phantasie durch die Theologie zum Tode verurteilt. Warum? Weil wir uns davor fürchten, dass sich unsere Ängste (über Vergangenheit und Gegenwart) melden. Diese Botschaft von den realen nuklearen, sozialen, weltwirtschaftlichen und biologischen Vernichtungsmöglichkeiten ist kaum mehr zu ertragen, denn diese Apokalyptik ist inzwischen reale Möglichkeit. Komplizierte Definitionen des Bösen brauchen wir nicht mehr, denn seine Folgen sind überdeutlich: Wir vernichten uns selbst. In diesem Sinne ist Auschwitz für Mulisch keineswegs überholt. Deshalb zwingt uns das apokalyptische Szenario zu einer letzten Frage zwischen Hoffnung und Verzweiflung: Zieht Gott seinen Vertrag zurück? Lässt er es zu, dass sich die Menschheit selbst vernichtet?
Es fällt auf, dass in den Szenarien der Apokalypse (also des letzten Buches des Neuen Testaments) eine Katastrophe auf die andere folgt; es sind meistens sieben. Die Dramaturgie liegt fest, aber vor der siebten und endgültigen Katastrophe wird jeweils eine Verzögerung eingefügt (z.B. Apk 10 und 11). Die Menschen bekommen noch etwas Zeit, ein letztes „Vielleicht doch“ wird nicht ausgeschlossen. Auch in der Apokalypse gehen – so wie bei Mulisch – Ankündigung und Realisierung ineinander über. Der zweite Engel denkt an einen weiteren Versuch:
Dann werde ich es eben allein versuchen! Hören Sie mich? Ich lasse das nicht so einfach auf sich beruhen! (797)
III. Zum Schluss: Zurück zum Noahbund
Rückgriff auf die Natur:
Die mir gestellte Frage lautet: „Könnte die christliche Theologie auch von einem gebrochenen Vertrag als Ursache des Bösen sprechen?“ Sicher muss auch die Theologie diese Frage stellen können. Reicht der Mosesbund noch aus? Ich gestehe meine Zweifel. Aber zu Beginn habe ich schon darauf hingewiesen, dass der Dekalog in der biblischen Tradition nur eine relative Bedeutung hat. Immerhin ist der Mosesbund auf jüdischer Sicht nicht der erste, aus christlicher und muslimischer Sicht nicht der letzte von einer ganzen Reihe von Bünden. Das Hauptproblem des Dekalogs besteht nicht in irgendwelchen Inhalten, denn diese sind noch immer von universaler und zutiefst humaner Bedeutung. Aber dieser Bund wurde mit einer auserwählten Gruppe von Menschen geschlossen, die heute unsere Welt zu vernichten drohen. Wenn man an einem solchen Augenblick auf mythische Erzählungen zurückfallen darf und vielleicht sogar muss (Psychologen mögen das Regression nennen), dann ist jetzt auch die Zeit gekommen, um auf frühere Verträge zurückzugreifen, die das Fundament unserer Existenz auf eine noch fundamentalere Weise berühren. Ich meine nicht den zweiten Bund mit Abraham, dem noch keine Thora verbunden war, sondern an den ersten Vertrag oder Bund mit Noah. Das war und ist ein Bund mit der Natur und der ganzen Menschheit, nicht mit einer auserwählten Gruppe. Die Bibel beginnt ja nicht mit dem Dekalog. Deshalb bedeutet der Bruch des Bundes mit Moses eine „Regression“, d.h. einen heilsamen Rückfall auf den ersten und elementaren Bund. Vielleicht hängt das Elend der Neuen Zeit damit zusammen, dass das Christentum diesen ersten Bund mit Noah vergessen, sich in elitärem Selbstbewusstsein nur noch auf seine Auserwählung durch Moses berufen hat.
Bescheidenheit und Besinnung:
Angesichts unserer Situation verfällt denn auch der Gegensatz zwischen einem gnostischen, auf Erkenntnis gerichteten und einem monotheistischen, auf Handeln gerichteten Entwurf. Unser Problem ist nicht (mehr) der mangelnde gute Wille, sondern der Mangel an Kenntnis, an Vorstellung und an Phantasie. Das Gesetz gründet auf einem Appell an unser Gewissen. Dieses Gewissen ist nicht mehr imstande, angemessen zu reagieren. Deshalb ist es gut, wenn Engel uns über unsere Situation aufklären. Kenntnis und Vorstellung, Phantasie und eine begründete Angst (die wir nicht moralistisch instrumentalisieren dürfen) sind die Vorbedingung für ein angemessenes Handeln.
Was aber wird die Zukunft von Gott und Mensch sein? Glücklicherweise tritt in Mulisch’s Roman nie Gott selbst auf. Auch seine Engel geraten, wie es scheint, in einen Zwiespalt. Klar sind weder die endgültigen Pläne noch das definitive Ende. So bleiben uns noch Möglichkeiten, die selbst Mulisch noch nicht entdeckt hat und die vielleicht im Noahbund verborgen liegen. Damals schloss Gott nicht nur einen Vertrag mit einer Gruppe von Menschen. Der Regenbogen wurde zum Zeichen des Friedens zwischen Jahwe „und allem, was auf der Erde lebt“. Doch gerät auch diese Antwort zur Banalität, wenn wir die vorhergehende Sintflut vergessen.
Deshalb bedeutet auch die Neuentdeckung des Noahbundes nicht nur Regression, sondern zugleich auch voranschreitende Erinnerung an einen sehr grundsätzlichen Tatbestand, an den ein jeder Glaubensversuchs erinnert. Glaubende befinden sich nicht nur auf einem endlosen Weg, sondern sie bleiben auch immer auf den Beginn des Glaubens, auf dessen erste Fundamente, auf die allerersten und immer wieder bedrohten Versuche des Vertrauens verwiesen. Wir sind alle Davongekommene, vom verdienten Untergang Gerttete. Was die christliche Tradition in den Begriff der Vorsehung gefasst hat, das bietet Hoffnung, keine Sicherheit. Wer darauf setzt, dass Gott mit ihm einen unverbrüchlichen Bund geschlossen hat, der kann in der Schrift sowie in seinem Verstand die Bedingungen erkennen, an die seine solche Unverbrüchlichkeit gebunden ist. Für diese Weisheit ist der Roman von Mulisch eine Lehrschule, die aus der Katastrophe von Auschwitz ihre Folgerungen gezogen hat. Denn Mulisch musste nach Auschwitz und dort durch die Lager gehen, um zu entdecken, wer er ist.
Anmerkungen:
[1] Harry Mulisch, Die Entdeckung des Himmels. Roman. Aus dem Niederländischen von Martina den Hertog-Vogt, München-Wien 1993. Der Roman wurde 2001 unter dem gleichnamigen Titel unter der Regie von Jeroen Krabbé verfilmt. Der vielschichte Inhalt und die komplexe Struktur des Romans werden als bekannt voraugesetzt.
[2] Die Capella Sancta Sanctorum, Teil des ehemaligen Lateranpalastes in Rom. Rompilgern ist sie durch die dazugehörige Heilige Treppe bekannt.
[3] Zu den zahlreichen Hinweisen zur Philosophie und Theologie des Bösen in der abendländischen Tradition: H. Häring, Das Problem des Bösen in der Theologie (Darmstadt 1985), sowie ders., Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht? (Darmstadt 1999).
[4] Der Begriff und die Theorie vom „grand récit“ geht auf den französischen Philosophen Jean-François Lyotard zurück, der das Ende der Großen Erzählungen proklamierte.
[5] Max Delius wird von einem Meteoriten erschlagen, weil er als Physiker ein göttliches Geheimnis (die Hintergrundstrahlung) entdeckt hatte.
[6] Ada Brons wird von in Kuba von Max Delius oder von Onno Quist schwanger, fällt aber bei einem Autounfall ins Koma. Das Kind wird durch Kaiserschnitt geboren. Die Mutter stirbt später an einer Überdosis Insulin.
[7] Helga, eine Freundin, zeitwiese mit Helga liiert, stirbt während eines Raubüberfalls.
[8] Barbara Aland, Die Gnosis, Stuttgart 2014.
[9] Bea Lundt, Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Primus,(Darmstadt 2009)
[10] Francis Bacon gilt als der erste programmatische Verfechter des Empirismus und als Kritiker der induktiven Methoden im Sinne von Aristoteles. Als Ziel der Wissenschaft sieht er die Beherrschung der Natur. So gesehen ist Wissen für ihn Macht. Zur Hinführung: Steven Matthews: Theology and Science in the Thought of Francis Bacon (Ashgate 2008).
[11] Als Beispiel kann dienen: Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit (Stuttgart 1947).
[12] Zur Illustration seien einige Autoren genannt, die das katholische Lexikon für Theologie und Kirche (3. Aufl. Bd 9, (Freiburg 2000) unter dem Lemma Technik nennt: O. Spengler, Der Mensch und die Technik (Mü 1931), M. Schröter, Philosophie der Technik (Mü 1934), F.G. Jünger, Die Perfektion der Technik (Fr 1946), M. Heidegger, Die Frage nach der Technik (Pfu 1954), H. Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters (St. 1955), A. Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter (Hamb 1957).
[13] Das „Judendurchgangslager“ Westerbork, im Norden der Niederlande, etwa 50 km südlich von Groningen gelegen, war die zentrale Sammelstelle aller jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die später von dort aus in die Vernichtungslager transportiert wurden. Die Ironie der Gescichte will es, dass später ausgerechnet auf diesem Gelände ein riesenhaftes Synthese-Radioteleskop mit 14 meist feststehenden Parabolantennen von je 25 m Durchmesser installiert wurden. Für Mulisch symbolisiert dieser Zusammenfall die innere Nähe zwischen technischem Machtwillen und menschlicher Selbstzerstörung.
[14] Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt 1977/reprint 2003). Original: Les mots et les choses, 1966): „Wenn die Entdeckung der Wiederkehr das Ende der Philosophie ist, ist das Ende des Menschen dagegen die Wiederkehr des Anfangs der Philosophie. In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raums, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.“ (412)
Gliederung
Die Entdeckung des Himmels als die Entdeckung der Welt
Einleitung: Ein hinreißendes Buch
„Ich bin der Zweite Weltkrieg“ – Gott zieht sich zurück:
I. Sinn und Grenzen des Dekalogs
Theologie überfordert? – Neues steht auf dem Spiel – Gnostisch oder defaitistisch? – Eine calvinistische Konstruktion – Schon lange verschwundene Tafeln:
II. Der gebrochene Bund
Anti-Assoziationen und ernste Lächerlichkeit – Nur die Ironie rettet – Perfekte Resignation
2.1 Geschichte und Antigeschichte
Deutungen des Bösen – „Große Erzählung“ – Der Kern der Erzählung – Christ und Antichrist – Eine überholte Vision? – Ein zwiespältiger Gott
2.2 Überleben oder Untergang
Verharmlosung von Geschichte und Gegengeschichten – Werden wir überleben? – Ersticken in „Satans Scheiße“
2.3. Die Katastrophe der Neuzeit
Diagnose der Neuzeit – Die Grenzen theologischer Analysen – Roger Bacon – Defizite der Theologie – Was ist das Problem mit der Moderne? – Banale Hybris (Hannah Ardendt) – Fehlende Verantwortung (H. Jonas)
2.4. Der Mut zum apokalyptischen Denken
Die Rahmenerzählung – Anfang und Ende – Der Satan und die moderne Technik – Das unterste Niveau, Auschwitz – Chaos und Selbstzerstörung – Apokalypse konkret:
III Zum Schluss: Zurück zum Noahbund
Rückgriff auf die Natur ‑ Bescheidenheit und Besinnung
Vortrag am 09.12.94 in Amsterdam (niederländisch),
am 03.07.2004 in Mainz (deutsch)