Weltethos, Weltverantwortung, Weltleidenschaft

Können globale Ethosprojekte noch erfolgreich sein?

Das Projekt Weltethos verdankt sein internationales Interesse einer klaren Konzeption, einem hohen Versöhnungspotential zwischen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen und seinem Rückgriff auf elementare Grunderfahrungen des menschlichen Zusammenlebens.

 I. Die Frage

Hans Küng hat mit dem „Projekt Weltethos“ [PW], das bis auf das Jahr 1990 zurückgeht, ein unerwartet erfolgreiches Unternehmen gestartet. Es begann mit der Leitidee „Kein Friede zwischen den Nationen ohne Friede zwischen den Religionen“. Das hohe Interesse hat ihn am Beginn selbst überrascht und der Höhepunkt ist, wie es scheint, noch nicht erreicht. Ich sehe für diesen Erfolg zwei Gründe. Der erste liegt in der thematischen klaren Konzeption der Ausgangpunkte. Seit 1993 liegt ein genauer und durchreflektierter  „Grundriss“ der ethischen Kernforderungen vor, die in den Weltreligionen in einem erstaunlichen Konsens zur Sprache kommen und religiös internalisiert sind. Der zweite Grund für den Erfolg liegt in der Vernetzung der Grundidee eines Weltethos nicht nur mit individualethischen Fragen, sondern auch – und vor allem – mit Fragen einer weltethischen Erziehung, der internationalen Politik, mit Fragen der interkulturellen, globalen Wirtschaftsgestaltung und des Sports, und nicht zu vergessen: den Ausflug in die Musik, den die Stiftung mit einer kürzlich in Berlin uraufgeführten Chorsymphonie gemacht hat.

Bemerkenswert ist nach wie vor die internationale Kooperationsbereitschaft, die sich dieser breiten Basis verdankt. Allein 2010 gab es Veranstaltungen in Indonesien, China (Institutsgründung), Bangladesh, Indien und Australien, in Kolumbien, Mexico und Brasilien, in Kanada und bei der UNO, von Aktivitäten in europäischen Ländern ganz zu schweigen. Präsent und wirksam ist in allen Projekten nach wie vor die interreligiöse Perspektive (im Augenblick gibt es sehr wirksame Kontakte und Kooperationen mit dem Islam, diejenigen mit chinesischen „Religionen“ nicht zu vergessen). Verständlich ist auch, dass in den vergangenen Jahren Fragen der Wirtschaftsethik eine wichtige Rolle spielten. 2009 hat die Stiftung Weltethos das Manifest „Weltethos – Konsequenzen für globales Wirtschaften“ erarbeitet (im UN-Hauptquartier New York, in Peking, Basel und Melbourne vorgestellt). Wichtig in diesem Zusammenhang ist Küngs jüngstes Buch in Sachen Weltethos: Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht (Piper, München 2010). Doch wichtig bleiben in diesem Zusammenhang die zahllosen Vorarbeiten zu den Weltreligionen (Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus und chinesische Weisheitsströme). Es sind zugleich Arbeiten zu den Kulturen ganzer Lebensräume und deshalb ganzer Ethikräume.

Wahrscheinlich ruht auf dieser Basis eine spezifische Überzeugung, die dem Konzept „Weltethos“ sein Alleinstellungsmerkmal verschafft. Man kann dies am Manifest „Globales Wirtschaftsethos“ (2009) gut illustrieren.

Einerseits erklärt das Manifest: „Die in dieser Erklärung ausgesprochenen Prinzipien können von allen Menschen mit ethischen Überzeugungen, religiös begründet oder nicht, mitgetragen werden.“ Das PW tritt gerade nicht mit dem Anspruch einer neuen, schon gar nicht einer religiösen Ethik auf. Behauptet wird eben nicht, diese Ethik müsse neu sein, weil wir in einer neuen Situation leben.

Andererseits greift das PW auf alte Traditionen zurück, die bislang in den Weltreligionen verwurzelt waren. Gefordert werden von allen Wirtschaftsakteuren „wechselseitige Verantwortlichkeit, Solidarität, Fairness, Toleranz und Achtung“, dies unter Berufung auf die „Goldene Regel“, die seit Jahrtausenden in der ethischen Tradition zu finden ist. Es gibt sie nicht einfach als moralischen Appell, sondern als moralisches Handeln, nicht nur als ethische Norm, sondern als Ethos, d.h. als vielerorts realisierte und internalisierte Regel; anders gesagt: als innere ethische Überzeugung oder Haltung, als persönliche Verpflichtung, sich im Leben an bindenden Werten, festen Standards und persönlichen Grundhaltungen oder Tugenden zu orientieren.

So gesehen zielt die Strategie des PW nicht simpel auf Neues und Unerhörtes. Es strebt ein – im besten Sinn des Wortes – bewahrendes, konservatives Ziel an.

Diese Strategie trägt ein hohes Versöhnungspotential in sich: zum einen zwischen den Weltreligionen, die sich bislang immer als Konkurrenten betrachtet haben, zum andern zwischen religiösen und säkularen Konzeptionen. Denn aus den Analysen wird klar: Die Religionen sind von einem zutiefst säkularen, weltlichen Kern geprägt; vielleicht musst die Säkularisierung erst kommen, um die Religionen wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Dennoch ist die aktuelle politische und wirtschaftliche Situation zum Verzweifeln. Zwar hat uns alle der Arabische Frühling überrascht, doch gerade die vergangenen Tage haben wieder klar gemacht, mit wie viel Gewalt und Brutalität er erkauft wird. Die Grundstimmung des Westens ist auf Resignation gestimmt. Das Vertrauen in die Politik (wie in die Kirchen) nimmt dramatisch ab und Bücher wie „Empört euch!“ von Stéphan Hessel erzielen über Nacht höchste Auflagen. Die ökonomische Situation in den USA wie im Euro-Raum ist katastrophal. Allmählich frisst sich das Misstrauen bis in die Ökonomie Deutschlands durch. Es gibt keine einheitliche Stimme oder Führerschaft, auf die sich Europa einigen kann, und die normalen Regeln des Euromarktes drohen zu versagen. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Artikel der Politologen und Soziologen COLIN CROUCH (Oxford/Florenz/Warwick) in der ZEIT [Nr. 45, vom 3. November 2011, S. 62] mit der Frage: „Kann der Markt moralisch sein?“ (Bücher: Postdemokratie [2008], Das befremdliche Überleben des Neo-Liberalismus [2011]). Seine These: Der Neoliberalismus hat ausgerechnet jene Instanz geschwächt, über die sich noch moralische Regeln vermitteln lassen, den Staat. Überhaupt gibt es keine Möglichkeit mehr, die Wirtschaft mit moralischen Regeln zu konfrontieren. Sie ist nicht unmoralisch, sondern a-moralisch geworden.

Das ist für das PW und für den Ruf nach einer angemessenen Wirtschaftsethik eine harte Herausforderung. Der Erfolg des PW zeigt: Das Problem eines mangelnden Welt/Wirtschaftsethos wird gesehen, der Gedanke der Verantwortung und der Weltverantwortung wurde philosophisch und im allgemeinen politischen Bewusstsein – nicht nur im Westen – massiv gestärkt (Schönherr-Mann) und an vielen Orten, vor allem in den Religionen, lässt sich so etwas wie eine Weltleidenschaft erkennen. Trotzdem bleibt die Frage: Können globale Ethosprojekte noch erfolgreich sein? Läuft uns die Weltsituation nicht davon? Haben sich Politik und Wirtschaft nicht schon lange zu selbständigen und selbstreferentiellen Systemen, zu egozentrischen Selbstläufern emanzipiert? Hat es überhaupt Sinn, gegen den Moloch dieser Systeme anzutreten?

II. Ethos: Rückgriff, kein Vorgriff

Das PW achtet genau auf die Unterscheidung zwischen Ethos und Ethik. „Ethik“ ist ein Handlungssystem auf der Basis von ethischen Normen. „Ethos“ meint ein empirisch wahrnehmbares, gelebtes, aus Lebenserfahrung entstandenes und in Lebenserfahrung erprobtes Gesamt von Verhaltensweisen. Es wird in begleitenden Texten in unsystematisch zufälliger Weise zu Wort gebracht und kommentiert. Bestimmte Aspekte rücken bei verschiedenen Religionen ins Zentrum des Bewusstseins und der Programmatik. Ein Glücksfall sind der jüdische Dekalog oder das jesuanische Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Der Grundgedanke dieses Ethos lautet „Humanität und Gegenseitigkeit“, also konkret bejahender Vollzug der Tatsache, dass Menschen immer als Gemeinschaft existieren, dass Menschen letztlich eine Menschheit sind. „Wie du mir, so ich dir“, eine zutiefst menschliche Erfahrung. Vermutlich die ethische Grunderfahrung schlechthin, die u.a. religiös erarbeitet wird. Sie kann zu ganz elementaren Verhaltensregeln zwischen mir und dir führen, sie kann aber auch – bei komplexeren Erfahrungen großer Gemeinschaften und Gesellschaften –  rationale Reflexionen über die Frage anstoßen: Wie muss ich mich genau verhalten oder welche Strukturen muss ich organisieren, welche spezifischen Regeln aufstellen, damit diese größeren Systeme der Grundforderung der Gegenseitigkeit entsprechen?

Das PW geht nun entschieden von zwei Voraussetzungen aus:
Erstens, Der Grundwert und der Grundimpuls eines Weltethos gehen von keinen zusätzlichen Prinzipien aus, die den Ansatz eines gemeinschaftsbezogenen Alltagsethos überschreiten. Sie bleiben also in einer moralischen Basiserfahrung verankert, die in jedem Fall verankert ist. Es gibt also keine kräftigere, keine verständlichere und keine flexiblere Motivation. Diese elementare Verankerung sorgt auch dafür, dass alle Menschen – in Bejahung und im Protest, in Handlungsimpulsen und in allen gebotenen Selbstbeschränkungen auf ihre elementaren Intuitionen vertrauen können. In der Moderne funktionierten die moralischen Steuermechanismen deshalb nicht mehr, weil wir unser moralisches Bewusstsein aufgespalten haben. Der staatlichen Obrigkeit wurden z. B. ebenso Sonderrechte eingeräumt wie etwa Kriegssituationen (vgl. Freud, Unbehagen in der Kultur). Die Rettung liegt in der Rückkehr zu einer angestammten Authentizität und zu einem gesunden Urteilsvermögen.
Zweitens, diese Verankerung hat in den Religionen über Jahrhunderte, wenn nicht gar Jahrtausende wirksame kulturelle Ausgestaltungen erhalten. Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und solidarische Gleichberechtigung haben sich in den großen Weltreligionen als Ideale bewährt und wurden dort behütet. Das PW wertet also die Weltreligionen auf, denn sie können als die großen moralischen Weltagenturen gelten; genau deshalb standen sie als prägende Elemente im Zentrum ihrer Kulturen. Ihre Texte sind lesenwert. Aber damit liefert das PW die Menschheit nicht den Weltreligionen aus, denn es wertet die Weltreligionen ja nicht deshalb auf, weil sie mit religiösen Anspruche auftreten, sondern wegen ihres – durchaus säkularen und ohne Religionen verstehbaren – ethischen Kerns und wegen des Ethos, das sie entstehen lassen. Daraus ergibt sich ein eher kritischer Umgang mit den Weltreligionen. Sie müssen sich nämlich fragen lassen, ob sie ihren eigenen moralischen Ansprüchen genügen (und die katholische Kirche der Gegenwart kommt dabei nicht gut weg!). Deshalb setzt das PW in den Weltreligionen auch Prozesse der Selbstreinigung in Gang, damit dieser elementar ethische Impuls auch ungehindert zum Austrag kommt. Die Goldene Regel etwa („Was du nicht willst, dass man die tut, das füg’ auch keinem Andern zu“) harrt ihrer Anwendungen. Es ist Sache verschiedener Erfahrungen, sich diese Anwendungen zu suchen und zu finden.

Als Beispiel könnte die These von Hans Joas mit seinem neuen Buch Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte (Suhrkamp 2011) dienen. Für ihn sind die Menschenrechte weder als universal gültig beweisbar, also in einem philosophischen Konsens der Aufklärung „entdeckt“, noch lassen sie sich abstrakt auf der jüdisch-christlichen Tradition ableiten. Sie sind die Folge eines historischen Prozesses, die Joas als „Sakralisierung der menschlichen Person“ umschreibt. Als Reaktionen auf bestimmte Verletzungen dieser Sakralität haben sich bestimmte Regeln herausgebildet. Joas spricht von komplexen kulturellen Transformationen: „Erfahrungen von Gut und Böse mussten vor dem Hintergrund unterschiedlicher Werttraditionen diskursiv artikuliert, in Rechten kodifiziert und in Praktiken gelebt werden“. Menschenrechte entstammen also einem „langen kulturübergreifenden Gespräch über Werte. Daraus ergibt sich eine Geschichte aus vielen Geschichten. Dieses kulturübergreifende Gespräch ist in einer neuen Weltsituation neu zu beleben und einem neuen Bewusstsein zuzuführen, dass unsere moralischen Grundintuitionen überzeugen muss, sobald es einmal ausgesprochen ist. Damit ist die klassische Begründungsproblematik von neuen Ethiken übersprungen. Neue ethische Regeln können als Rückgriff auf ein allgemeines Menschheitsbewusstsein plausibel gemacht, in diesem Sinn der Erinnerung „begründet“ werden.

Das PW konstruiert also keine neue Ethik, sondern schafft den Anschluss an ein weltweit verbreitetes und deshalb wirksames Ethos, – allerdings auf ein Ethos, das im Blick auf die aktuellen Globalisierungsprozesse in Politik, Ökonomie, Ökologie sowie im Blick auf die Folgeprozesse für Gerechtigkeit und Versöhnung der Menschheit noch schläft.

III. Ethos: Erinnerung und Kräfte der Selbstheilung

In der Regel wird das PW objektivistisch – und rein deskriptiv – als ein statisches Konzept begriffen: Ziel ist die Erreichung eines Idealszustands, messbar an den Kriterien der Humanität bzw. der Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gleichberechtigten Treue, vielleicht noch des Respekts vor außermenschlichem Leben und der nachhaltigen Naturerhaltung. Diese Perspektive schafft aber alles andere als Hoffnung, denn wann und wo wäre dieser Zustand je erreicht? Und schließlich: Heute, in Zeiten des postmodernen Zerfalls von Werten und Regeln, rationaler und konvivialer Standards, zerbröselt auch eine jede Hoffnung auf bessere Zeiten. Gewiss, irgendwann werden diese besseren Zeiten kommen, aber wo, für welche Ethnien und Bevölkerungsschichten? Nach 1648, als der 30-jährige Krieg aus purer Erschöpfung zu beenden war, kam irgendwann natürlich auch wieder ein Aufschwung, schon deshalb, weil es nicht mehr schlimmer werden konnte. Heute könnte es ähnlich gehen. Soll man in einem solchen Moment weltethische Ideale verbreiten?

Dabei vergessen wir, um es noch einmal zu wiederholen: Das PW meint keine konstruierte Ethik, sondern den (systematisierten) Niederschlag weltreligiöser Erfahrungen und Konkretisierungen, deren Lebensfähigkeit in Erinnerung gerufen wird. Genauer gesagt: Das PW ist von keinem deskriptiven, sondern von einem evokativen Ziel getragen. Es wird nicht sine ira et studio vorgetragen, sondern von einer Leidenschaft, die erinnern, Kräfte wecken, eine Änderung der Weltsituation erreichen will. Das PW ist dynamisch und als ein Prozess zu begreifen, der erst dann zu sich kommt, wenn er etwas erreicht. Was will es erreichen? Es kann nicht belehren oder kraft normierenden Redens das Verhalten von Menschen ändern. Ich denke, dass es wirkt, wie eben die Goldene Regel wirkt, wenn sie ernst genommen wird. Ein jeder Mensch wehrt sich gegen alles, das ihn zu Unrecht einschränkt, ihm also den Respekt, die Gerechtigkeit, die Wahrheit oder die menschliche Solidarität, auch zwischen den Geschlechtern, Zusammenhalt verwehrt. Er wehrt sich, indem er an den Respekt, an Gerechtigkeit, Wahrheit oder Treue appelliert. Zugleich ist ein jeder Mensch an ein anderes Wissen zu erinnern, das in ihm schläft, aber geweckt werden muss: Er hat seinen Mitmenschen das zu gewähren, was er selber von ihnen erwartet, denn die eingeforderten Maßstäbe gibt es – in welcher Richtung auch immer, nur als und nur in Interaktion. Genau diese Interaktion will die Leidenschaft des PW erreichen, nicht neu oder aus dem Nichts heraus schaffen, sondern vitalisieren.

Der Aufruf von Hessel „Empört Euch“ kann der Beginn, noch nicht der Vollzug eines solchen Prozesses sein. Colin Crouch spricht in doppelter Hinsicht eine gute Intuition aus. Er verweist darauf, dass auf dem Markt etwa die Klienten eine wichtige, moralische Funktion haben. Sie kaufen die Waren nicht, die nach ihrer Meinung auf unmoralischem Wege zustande gekommen (produziert, gekauft oder transportiert worden) sind. Zu Recht stellt er auch fest: dieser moralisierende Mechanismus ist in vielen Fällen außer Kraft. Er verweist aber auch auf die Occupy-Bewegung. „Weil die wachsende Amoralität des Kapitalismus eine Vielzahl ethischer Werte verletzt, wird die Konfrontation zwischen den Unternehmen und ihren Kritikern immer heftiger. In der Vergangenheit wäre dieser Streit in der offiziellen politischen Arena ausgetragen worden, und die Debatte hätte nicht direkt auf einzelne Firmen gezielt. Doch gerade weil der Neoliberalismus triumphiert und den Staat geschwächt hat, sind die Unternehmen den Konflikten heute viel unmittelbarer ausgesetzt als noch vor wenigen Jahren. Auch die Anti-Wall-Street-Bewegung hätte ihren Protest in früheren Zeiten an die Regierung gerichtet. Heute richtet sich dieser Protest direkt gegen die Banken. Das ist ein Zeichen für die politische Reife einer neuen Generation.“ Offensichtlich ist es so (und das ist tröstlich): in kritischen Augenblicken der Geschichte brechen sich – entsprechend neuen Moralverletzungen – eine neue leidenschaftliche Moralempörung und ein neues Moralbewusstsein Bahn. Heute ist dies nur noch in weltethischer Perspektive möglich. Die Kräfte also, die ethisches Verhalten durchbrechen und zerstören (nehmen wir den „Raubtierkapitalismus“ von heute, den unkontrollierten Derivatenhandel, den Wucher mit Leerverkäufen …), diese Kräfte schaffen im Sinn von Joas zugleich neue Konkretisierungen des moralischen Bewusstseins.

Es gibt also die pessimistische These „Wirtschaft und Politik laufen einem ethischen Handeln immer davon“. Ich würde sie nicht einfach ablehnen. Das ist und das war einfach schon immer so. Ich würde dieses pessimistische These aber ergänzen: „Jeder spektakuläre Bruch ethischer Maßstäbe der Menschlichkeit hat eine neue Entdeckung sachgemäßer Ethik, ein neues ethisches Bewusstsein zur Folge.“ Die Occupy-Bewegung und der Arabische Frühling demonstrieren im Augenblick diese These. Wäre dies nicht so, hätten wir heute keine Menschenrechte, keine pazifistischen Forderungen und keinen Ruf nach einem umweltverträglichen Handeln. Das PW lebt also nicht davon und rechtfertigt sich nicht dadurch, dass es objektive umschriebene Ziele in nachweisbarer Weise erreicht. Es lebt davon, dass es die genannten Prozesse der steten moralischen Reaktion auf Missstände legitimiert, klärt und ihnen aus der kulturelle Erinnerung aus Religionen, Philosophie und weltanschaulichen Bewegungen Legitimität vermittelt. Ob und wie sich ein messbarer Fortschritt im ethischen Menschheitsbewusstsein zeigt, das muss der Zukunft überlassen bleiben.

IV. Reflexion und konkrete, ethisch inspirierte Phantasie – die Transparenz und die Akzeptanz des Ziels

Doch damit ist der angestoßene Prozess erst an seinem Beginn. Wenn die elementaren, ein Weltethos inspirierenden Impulse wirksam werden sollen, müssen sie erst den Weg der Anwendung finden. Wir wollen soziale Gerechtigkeit, stehen ökonomischen und fiskalischen Systemen gegenüber, die hochkompliziert sind. Wir bewegen in modernen, in hochdifferenzierten Gesellschaften. Wir kennen in ihnen komplexe ökonomische, politische, juridische und edukative Systeme, ein Familien-, Gesundheits− und Mediensystem, des wissenschaftlichen Sektor und den Sektor der Kunst sowie der Erholung. Dabei geht es – ja nach System – um Gewinn und Verlust, um Macht und Ohnmacht, Recht und Unrecht, Kenntnis und Unkenntnis, um Intimität und Verwahrlosung, Gesundheit und Krankheit, um Beweis und Widerlegung, Schönheit und Hässlichkeit, um Kommunikation oder bloßes Rauschen, um Spiel und Nutzen. Das sind die Differenzierungen die uns heute beschäftigen und wichtige Übergänge schon voraussetzen: die von Nomadenstämmen zu sesshaften Stämmen, vom sesshaften Bauern zum städtischen Bürger, von der Bürgerschaft zur Entwicklung von Klassen, zum virtuosen Rollenspieler.

Vor diesen hochkomplizierten Hintergründen können wir es nicht mehr beim einfachen Ruf nach Respekt, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit oder Solidarität belassen, wie es uns eine vormoderne Gesellschaft überliefert hat. Wenn das alles doch so einfach wäre! „Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen, nicht ehebrechen!“ Geben diese Worte noch unsere so komplizierte Wirklichkeit von Respekt und Gewaltlosigkeit, von Gerechtigkeit, von Authentizität von sexueller und familiärer Treue und Solidarität wieder? Wir erwarten Gerechtigkeit, sehen uns aber hochkomplizierten Arbeitsmärkten gegenüber. Wir verlangen authentische Informationen, sind aber mit Mediensystemen konfrontiert, die ihre Informationen nur noch suggestiv, mit überwältigenden Inszenierungen verkaufen können. Nur marktkundige, medienkompetente, juristische versierte oder psychologisch geschulte Personen können dieser Herausforderung begegnen. Als einzelne können wir nicht einmal wie noch vor 100 Jahren unsere erworbene, gar angestammte Identität waren. Wir sind als Spieler verschiedenster Rollen auseinandergerissen und ständig von unserem Selbst (sofern es so etwas noch gibt) entfremdet. „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ (R. D. Precht)

An diesem Punkt entscheidet sich: Bleibt ein PW hinter seinen Zielen zurück und verkümmert es zum naiven Moralruf? Oder stellt es sich der intellektuellen Aufgabe, der er sich jetzt zu stellen hat? Aus diesem Grund besteht das PW darauf, dass es nicht bei einer ersten Programmatik (etwa der Erklärung von Chicago, 1993) stehen bleibt. Rückgriff und Erinnerung auf klassische Texte allein genügen nicht, denn sie sind auf die Text der Gegenwart hin zu vermitteln. Aus diesem Grund konkretisieren Hans Küng und sein Stab das PW als Frage nach der Politik oder als Frage nach einem aktuellen Wirtschaftsethos, als religionspädagogische Aufgabe oder als Auseinandersetzung mit dem Sport, der Gewalt, der Ökologie oder aktuellen Korruption.

Ein weltethisches Engagement und die Orientierung an dessen zentralen Grundsätzen kann also nicht die Frage ersetzen, wie konkret heute in einer international vernetzten Politik oder in einer international vernetzten Wirtschaft zu handeln sein. Im Gegenteil, von je mehr Leidenschaft ich getrieben werde und je intensiver mich die Vision von einer versöhnten Weltgesellschaft beseelt, umso rationaler muss ich mich um die hochkomplexen sachlichen Zusammenhängen, auch mit seinen kulturellen und psychologischen Komponenten kümmern. Ethisches Engagement ersetzt keinen Sachverstand. Umgekehrt kann ein ungeheures Faktenwissen (und es kann heute nicht große genug sein) ein grundlegendes Orientierungswissen, eine leicht einsehbare „Navigationskarte“ sowie einen zuverlässigen Kompass nicht ersetzen. Wer sich diesen Kompass und die Koordinaten seiner Fahrtrichtung zu eigen, also internalisiert hat, kann von dem Gewissen reden, nachdem er/sie sich richtet. Nur dort also, wo Engagement und Sachkenntnis zusammenkommen, kann ein neues und effektives Welt- und Verhaltensbewusstsein entstehen.

Dennoch gibt es zwischen Sachverstand und einem solchen Engagement wirksame Zusammenhänge. Denn eine jede rationale Reflexion wird von vorrationalen Vorentscheidungen und Vorurteilen gelenkt. Gelenkt wird z.B. die Frage, was für Zusammenhänge ich entdecken will: Geht es mir um eine Gewinnmaximierung, die nicht gerade so brutal ausfällt, dass Widerspruch entsteht, oder such ich Strukturen und Handlungsmodelle, die eine Versöhnung, zumindest den Ausgleich zwischen einer effektiven, meinetwegen gewinnbringenden Produktion und sozial verträglichen Arbeitsverhältnissen schaffe? Die andere Frage wird zu anderen Antworten führen. Will ich den Lande ohne größere Katastrophen weiterlaufen lassen, oder bin ich zu einer programmatischen Änderung der Produktionssystematik entschlossen? Will ich die perfekte Systematik eines Wirtschaftsprozesses verwirklichen, oder lasse ich mich auf Inkonsequenzen ein, um den Arbeitnehmern und dem Allgemeinwohl zu Hilfe zu kommen?

Mit solchen Bemerkungen renne ich vielleicht offene Türen ein. Seit den sechziger Jahren sind wir über den Zusammenhang von Vernunft und Interesse hinreichend aufgeklärt. Wenden wir es also auf in unsere Frage an. Deshalb reicht es nicht, von einer (instrumentalen) Reflexion zu sprechen. Gerade an den Religionen lässt sich ablesen, dass und in welcher Weise eine beflügelte und reiche Phantasie Handeln, Denken und Wahrheitserkenntnis beflügeln kann. In allen Entwürfen und Handlungsplänen wird es um eine größtmögliche Transparenz zu den Zielen hin gehen. Das Ziel und dessen Formulierung müssen deutlich bleiben. Zielvorgaben und Kriterien müssen möglichst eindeutig sein. Die perfekten Modelle wird es vermutlich nicht geben, doch kommt es darauf an, dass weltethisch inspirierte Modelle den Gegenmodellen immer um eine Nase voraus sind. Nur dann besteht die Chance, dass sie auch Akzeptanz finden.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird sich ein Unternehmer heute nicht einfach auf seine ökonomische Kompetenz zurückziehen können, wie sich ein Mediziner nicht einfach auf seine medizinische oder ein Jurist nicht einfach auf eine juristische Kompetenz zurückziehen darf. Fachkompetenz im Blick auf das je eigene Fach darf also nur fehlen. Aber hinzukommen müssen für die Gestalter/innen der zukünftigen Gesellschaft eine politische Kompetenz im Hinblick auf die Institutionen, je nach eigener Aktivität mehr auf lokale, regionale, nationale Regierungen oder internationale Organisationen. Schließlich braucht es aber auch einer ethischen Kompetenz im Hinblick auf Persönlichkeit und Charakter. Ein Unternehmer, ein Mediziner oder ein Jurist an führender Stelle etwa muss nicht nur strategisch denken, sondern auch vorleben, was er von anderen verlangt. Seine Vorbildfunktion ist wichtig.

Als Illustration möge ein Auszug aus Hans Küngs Düsseldorfer Universitätsrede 2011 vom 4. Mai 2011 dienen. Er erklärte:

„Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein: Eine gute, womöglich ethisch fundierte Unternehmenskultur ist nicht selbstverständlich, ein Unternehmen muss aktiv etwas dafür tun – und zwar immer wieder neu. Es genügt nicht, auf Hochglanzbroschüren Leitlinien und Unternehmensziele zu definieren, in der Annahme, sie würden damit auch umgesetzt und man hätte seiner Verantwortung damit genüge getan. Eine Wertekultur entsteht nur in einer Atmosphäre des Vertrauens, das wiederum die Grundlage ist für Fairness und Loyalität.
Das heißt konkret:

1. »Compliance«, die Befolgung von Gesetzen ist, wie bereits angedeutet, zurecht eine Grundanforderung an heutige Unternehmenskultur. Denn selbst in renommierten westlichen Unternehmen wurde und wird möglicherweise noch immer betrogen, manipuliert und korrumpiert. Aber ohne einen Sinn für Integrität und ohne ein echtes Verständnis für Werte wie Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit, für die auf allen Unternehmensebenen aktiv geworben werden muss, wird es langfristig kaum Besserung geben.

2. Dass sich heute immer mehr Unternehmen zu ihrer sozialen Verantwortung, der »corporate social responsibility«, bekennen, ist zu begrüßen. Doch nicht selten erschöpft sich dieses Bekenntnis in punktuellen sozialen, kulturellen oder ökologischen Initiativen. Echte soziale Verantwortung geht weit darüber hinaus. Sie betrifft die gesamte Geschäftstätigkeit eines Unternehmens, die Mitarbeiter und alle vom Unternehmen betroffen Menschen. Und sie gründet in einem Bewusstsein für Werte wie Menschlichkeit, Verantwortung und Solidarität, die zur Grundlage einer wirklich verantwortlichen Unternehmenskultur werden müssen.

3. Ungezählte Unternehmen haben in den letzten Jahren aufwendige Leitbildprozesse durchlaufen, haben Strukturen implementiert, Institutionen geschaffen und Dokumente verabschiedet. Oft hat sich dadurch an der Unternehmenskultur aber wenig geändert. Leitbilder brauchen ein Fundament. Sie brauchen die Bereitschaft aller Beteiligten, diese Leitbilder im Unternehmensalltag auch umzusetzen. Den Leitbildern sollte die innere Haltung derer entsprechen, für die sie gedacht sind. Deshalb muss man über diese inneren Haltungen sprechen, müssen ethische Überzeugungen und Werte, auch in den Führungsetagen, offen und ehrlich thematisiert und vor allem gelebt werden.
Damit ist erneut deutlich geworden: Eine besondere Rolle kommt dabei den Führungskräften zu. Wertvermittlung ist immer ein »Top-Down-Prozess«, der oben anfangen muss, wenn er nach unten gelingen will. Wie in der Erziehung so lebt auch in einem Unternehmen die Wertevermittlung von Vorbildern. Von den Verantwortungs- und Entscheidungsträgern müssen die Werte vorgelebt werden, sie müssen unternehmensintern kommuniziert werden und sie müssen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfahrbar gemacht werden.
Dass solche Prozesse am besten in »flachen« Hierarchien und in möglichst kleinen Einheiten mit möglichst gut qualifizierten und motivierten Mitarbeitern gelingen, liegt auf der Hand. Je größer, unüberschaubarer und anonymer die Strukturen, desto schwieriger sind solche Prozesse. Doch spielen überall die Auswahlkriterien sowie die Beförderungspraxis für das Führungspersonal eine besondere Rolle.

V. Leidenschaft, Tugend und elementare Intuition

Die Moderne unseres Kulturkreises hat das Ideal der Objektivität und des nüchternen Abwägens zum Siege geführt. Wir haben gelernt, unsere Wissenschaften mit Sachlichkeit voranzutreiben. Dieses Ideal hat sich sogar in den historischen Wissenschaften durchgesetzt. Sine ira et studio [ohne Zorn und Eifer] wollte schon Tacitus seine historischen Studien (58-120) vorantreiben. Er wurde zum Vorbild der freien Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Der Exeget Rudolf Bultmann (1884-1976) wurde sich unter dem Einfluss von S. Kierkegaard dieser Engführung bewusst und unterschied zwischen einer historischen und einer geschichtlichen Betrachtung von Texten. Historisch geht die wertfreie Geschichtswissenschaft vor und setzt sich dem Verdacht aus, dass sie sich auf objektive Fakten beschränkt. Sie kann zwar etwas von den biographischen Daten Napoleons berichten. Wie aber will sie seine Gestalt würdigen, gar beurteilen? Die moderne Hermeneutik ist auf dieses Problem eingegangen, indem sie Zusammenhang und Interaktion von Subjektivität und Objektivität reflektierte. Natürlich muss bei historischen Beurteilungen etwas des Nationalsozialismus die eigene wertende Position einfließen. Dies wird bei allen Themen der Fall sein, in denen ich selbst mitbetroffen bin, also auch in weltethischen Fragen.

Deshalb hat es auch keinen Zweck, bei ethischen, die Zukunft der Menschheit betreffenden Fragen die eigene Leidenschaft unterdrücken zu wollen. Im Gegenteil, Leidenschaft ist beim Ingangsetzen einer guten Sache höchst angebracht. Allerdings sollte diese Leidenschaft transparent werden. Es muss zur Sprache kommen, wofür ich stehe, wofür ich mich einsetzen und was ich durchsetzen will, denn Sprache teilt nicht nur neutrale Inhalte mit. Sprache ist immer auch Handlung, Transporteurin von Absichten, Inspiratorin von Zukunftsmodellen. Leidenschaft ist das Gegenmittel schlechthin gegen Aversion und Verweigerung und spielt bei der Überwindung von Widerständen eine wichtige Rolle. Ich bin der Überzeugung: Langfristig und bei Erfüllung der genannten Vorbedingungen können Weltprojekte auch heute (noch) erfolgreich sein, wenn sie mit ethisch reflektierter und gesteuerter Leidenschaft durchdacht, vorgetragen, auf komplexe Sachfragen komplex angewandt und vermittelt werden.

Stephen Green, langjähriger CEO und Verwaltungsratsvorsitzender der Hongkong Shanghai Banking Corporation (HSBC, mit 300 000 Angestellten in 88 Ländern) erklärte im Dezember 2010 in seiner Tübinger Weltethosrede zur Bedeutung des Ethos des Alltags, es sei klar, dass die Hauptdefizite der aktuellen fiskalischen Weltprobleme „im Vorfeld der Krise die Verhaltens- und Kulturmuster und nicht die organisatorischen Strukturen betrafen. Allzu oft hatten die Menschen das Gebot der Redlichkeit und eines ehrlichen und vertrauenswürdigen Geschäftsgebarens aus den Augen verloren. Bei einigen Finanzinstituten herrschte vor der Krise die Einstellung ›wenn der Markt es zulässt, wenn es einen Vertrag gibt, dann erübrigen sich alle weiteren Fragen‹. Ganz gleich wie viele neue Gesetze, Regelungen oder Bilanzierungsvorschriften wir bekommen, sie werden niemals ausreichen, wenn sich nichts an der Kultur ändert – wenn es kein Wertesystem gibt, das jedem Einzelnen als Entscheidungsgrundlage dient.«

Die Weltreligionen selbst sind für die enorme Bedeutung einer vorbildhaften elementaren Alltagsethik gute Beispiele. Sie begannen in der Regel als kleine Bewegung oder als kleiner Reformimpuls. Aber die „Religionsstifter“ (einzelne oder Gruppen) waren immer leidenschaftliche Personen und es war die Leidenschaft zu Sache, die Anhänger gewonnen, Durchbrüche erzielt und schließlich ganze Kulturräume geprägt hat. Leidenschaft ist immer das Ergebnis von hoher Identifikation mit einer für den Betroffenen wichtigen Sache. Natürlich kann Leidenschaft auch irrational, egozentrisch und selbstreferentiell, unmoralisch und destruktiv werden, wenn sie sich nicht vom ethischen Grundimpuls der Gegenseitigkeit leiten lässt. Auch solche fehlgeleitete Leidenschaft kann hohe Wirkung erzielen und in mythische Sprache reden wir dann vom Kampf des Guten mit dem Bösen.

Ich persönlich habe Hemmungen, die Ziele des PW in solch pathetische Worte zu kleiden. Aber wir müssen uns schon darüber klar sein, dass sich die Weltgesellschaft heute zwischen zwei Extremen entscheiden muss: der umfassenden Katastrophe und einem umfassenden Frieden in Gerechtigkeit, Wahrheit und Freiheit. Solche Überlegungen rücken das PW nicht gleich in einen religiös-apokalyptischen Kontext (wobei die Apokalypse heute den religiösen Raum schon längst überschritten hat, weil sie real möglich ist). Aber sie machen klar, warum die real existierenden Weltreligionen im PW doch eine wichtige Rolle spielen. Religionen sind Institutionen von Leidenschaften, die individuell und kulturell wirksame Transformationen in Ethos, Hoffnung, Angst, umfassenden Weltdeutungen erlebt haben. Dabei sind solche Leidenschaften oft (oder zum Teil) zu Tugenden geronnen, stabilisiert, vor exstatischen Grenzüberschreitungen geschützt.

Deshalb haben die aktuell noch lebendigen, die „heißen“ Weltreligionen alle noch Kontakte zu ihren archaischen Ursprüngen. Ihrem jeweiligen Ethos wohnt immer etwas Archaisches inne, das allen Menschen gemeinsam ist. Man denke an die Nächstenliebe, die Barmherzigkeit, der Eifer für Gerechtigkeit. So können Religionen für einen wichtiges Element allen wirksamen Ethos sorgen: Selbst eine hochkomplizierte und globalisierte Wirtschaft braucht im Prinzip keine Sonderethik. Die Brücke zwischen den elementaren Grundintuitionen und den hochreflektierten, hochentwickelten ethischen Zielen bleibt begehbar und erhalten.

David Graeber (Schulden: Die ersten 5000 Jahre, Brooklyn 2011) entwickelt die These, dass es bei den meisten Aufständen und Revolten, politischen Massenbewegungen in der Menschheit um die Frage der Schulden ging. So interpretiert er die athenische Demokratie oder die römische Republik als Wege zur Beilegung von Schuldenkrisen. Politische Regime mussten sich Lösungen gegenüber der Gefahr einfallen lassen, dass Teile der Bevölkerung in einer Schuldenfalle hängen blieben. Wie ist heute diese Befreiung aus der Schuldenfalle möglich? Nach Graeber gelingt das immer weniger. Geld wurde nach ihm als Kredit erfunden. Unser Problem ist, dass die gesamt Welt in ein Netz von Verschuldung geraten ist, dass wir – gut kapitalistisch- durch Arbeit ausgleichen müssen.

Ich kann hier nicht die ganze Geldtheorie von Graeber entwickeln, aber doch auf einen Punkt hinweisen, auf den einige Theologen auch schon gekommen sind. Immerhin ist Schuld nicht nur ein fiskalischer, sondern auch ein moralischer Begriff. Geld hat mit Versprechen und Abhängigkeiten, auch mit gegenseitiger Großzügigkeit, mit Geben und Vergeben zu tun. Für Graeber steht die Occupy-Bewegung an einem Punkt, an dem über die grundsätzlichen zwischenmenschlichen Beziehungen nachzudenken ist. Dazu muss man nicht das Geld abschaffen, aber dessen Grenzen erkennen: Erkennen, dass die Visionen der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der gegenseitigen, gleichberechtigten Solidarität die aktuell gängigen Regeln eines unbarmherzig gerechten, aus Zinsen lebenden Geldmarkts brechen, überwinden müssen. Das ist ein Beispiel, das von archaischen zwischenmenschlichen Beziehungsmustern und der aktuellen Finanzmisere eine Brücke schlägt. Es sind die Betroffenen, die Opfer, die eine neue Weltmoral anmahnen. Deshalb brauchten die Anhänger eines PW nicht zu verzweifeln. Im Gegenteil, globale Ethosprojekte werden in Zukunft erfolgreicher sein denn ja und die offiziellen religiösen Apparate tun gut daran, dieses Zeichen der Zeit zu erkennen.


Weltethos, Weltverantwortung, Weltleidenschaft

Thesen

  1. Das PW verdankt sein internationales Interesse einer klaren Konzeption, einem hohen Versöhnungspotential zwischen Religionen, Kulturen und Weltanschauungen und seinem Rückgriff auf elementare Grunderfahrungen des menschlichen Zusammenlebens. Dennoch läuft die Entwicklung der Weltverhältnisse einem erwachenden moralischen Weltbewusstsein davon. Die großen Systeme der Weltgesellschaft sind zu Selbstläufern geworden.
  1. Das PW lebt nicht von einem Erfolg oder Misserfolg, sondern aus seiner Verankerung in elementare Grunderfahrungen und grundlegenden Verhaltensweisen des Menschen (ihrem „Ethos“). Diese haben im Verlauf großer Zeiträume zu moralischen Standards, also zu umfassenden Grundregeln und konkreten Ausgestaltungen geführt. Die wichtigsten, dabei beteiligten Moralagenturen waren und sind die Weltreligionen. Der weitreichende interreligiöse Konsens auf dieser Ebene wird meistens übersehen; er bezieht sich auf Respekt vor dem Leben, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und der Würde der Geschlechter. Seit der Aufklärung ist in der Neuzeit des Westens die Führerschaft in ethischen Fragen faktisch auf säkulare Wortführer und Institutionen übergegangen. Dies muss den Religionen nicht zum Schaden gereichen.
  1. Das PW präsentiert weder objektivistisch einen gebotenen Endzustand der Menschheit, noch prognostiziert es apokalyptisch die große Weltkatastrophe. Es will Prozesse eines problembewussten und „heißen“, auf die Gegenwart bezogenen Moralbewusstseins in Gang setzen, ist also evokativ auf das Ziel einer versöhnten Menschheit ausgerichtet. Dieses Ziel ist vermutlich nicht als Ist-Zustand erreichbar. Es ist auch nicht unrealistisch, weil der Weg dorthin immer neu ins Auge genommen wird. Die Betroffenen und Opfer einer schlechten Moral (von Gewalt, Ungerechtigkeit, Lüge und sexueller Unterdrückung) werden die verletzten Grundsätze immer neu entdecken und mit aus der Taufe heben.
  1. Das PW nähert sich seinem Ziel an, indem es die bislang formulierten vor-modernen und elementaren Grundregeln evokativ in die konkreten Herausforderungen der aktuellen, hochkomplexen, sich globalisierenden Gesellschaft übersetzt im Umgang mit einer international vernetzten Welt. Dies erfordert eine hohe und differenzierte Sachkompetenz.
  1. Sachkompetenz an sich führt zu keinem moralischen Grundwissen oder Bewusstsein. Wenn das PW zum Erfolg, d.h. zu einem völkerverbindenden moralischen Zukunftsbewusstsein führen soll, bedarf es zugleich eines Orientierungswissens und einer wohl-orientierten Leidenschaft. Uns muss klar werden: Alle menschlichen und gesellschaftlichen Interaktionen führen zu kollektiven Folgen. Die zu lösende Alternative lautet: ein Überleben oder eine Katastrophe der gesamten Menschheit.

Hans Küng, Projekt Weltethos, Piper, München 1990.

Hans Küng, Weltethos für Weltpolitik und Weltwirtschaft, Piper, München 1997; Lizenzausgabe: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997; Taschenbuchausgabe: Serie Piper 3080, München 2000.

Klaus M. Leisinger, Unternehmensethik. Globale Verantwortung und modernes Management, C. H. Beck, München 1997.

Hans Küng (Hrsg.), Globale Unternehmen – globales Ethos. Der globale Markt erfordert neue Standards und eine globale Rahmenordnung, FAZ-Buchverlag, Frankfurt 2001.

Picco, R. v. Weizsäcker, H. Küng (u.a.), Crossing the Divide. Dialogue among Civilizations, Seton Hall University, South Orange/NJ 2001. (Deutsche Ausgabe: Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan, S. Fischer, Frankfurt 2001.)

Hans Küng (Hrsg.), Dokumentation zum Weltethos, Piper, München 2002.

Hans Küng, Wozu Weltethos? Religion und Ethik in Zeiten der Globalisierung (im Gespräch mit Jürgen Hoeren), Herder, Freiburg 2002.

John H. Dunning (Hrsg.), Making Globalization Good. The Moral Challenges of Global Capitalism, Oxford University Press, Oxford 2003.

Küng – K. M. Leisinger – J. Wieland, Manifest Globales Wirtschaftsethos. Konsequenzen und Herausforderungen für die Weltwirtschaft; Manifesto Global Economic Ethic. Consequences and Challenges for Global Businesses, dtv, München 2010.

Hans Küng, Anständig wirtschaften. Warum Ökonomie Moral braucht, Piper, München 2010.