Paulus und das Weltethos
1. Können die Gedanken des Paulus zur Grundlegung einer Weltethik beitragen? Warum ist dies der Fall?
Das Projekt Weltethos ist im strengen Sinne kein religiöses, sondern ein säkulares Projekt, denn es richtet sich an alle Kulturen, an alle Völker und an alle Menschen guten Willens. Doch von Anfang an spielen die Weltreligionen in diesem Projekt eine hervorragende Rolle und natürlich kann das Projekt Weltethos von Paulus viele Inspirationen übernehmen, die von hoher anthropologischer und gesellschaftlicher Bedeutung sind. Natürlich formuliert Paulus seine ethischen Gedanken oft leidenschaftlich und als Äußerung seiner inneren Gesinnung. Doch können wir diese Gedanken in die mehr rationale Sprache einer modernen Verantwortungsethik übersetzen, damit sie in einer säkularen Welt verstanden werden. Im einzelnen nenne ich:
– Die Lehre von der Rechtfertigung ohne Werke (Röm 3,28) setzt sich mit der zentralen Frage nach der Gerechtigkeit auseinander. Nach Paulus gibt es eine tiefere Gerechtigkeit, die alle Menschen als Menschen akzeptiert und ihnen deshalb effektiv ihre fundamentalen Rechte zuerkennt. Dies hebt ethische Regeln und Standards nicht auf, sondern insistiert auf einer Grundhaltung, die die konkrete Durchsetzung von Gerechtigkeit ermöglicht. „Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist, in wahrer Gerechtigkeit[!] und Heiligkeit.“ (Eph 4,24).
– Zur Gestaltung des Zusammenlebens gilt für Paulus die Liebe als die höchste, unzerstörbare und immer gültige Regel (1 Kor 13, 1-13). Sein ganzes Schrifttum ist durchzogen von Aufrufen zu Einmütigkeit und gegenseitigem Verstehen, zu Friedfertigkeit und sexueller Treue ( (1 Kor 6), zur Nachsicht mit Schwächeren, zu Milde und Vergebung, zum ehrlichen Freimut und zur Versöhnung (2 Kor 5, 11- 21), zum Schutz der Freiheit (Gal 4, 8-6,10). Was Paulus in der Regel für das Zusammenleben von Christen ausführt, lässt sich mühelos in eine säkulare Sprache für das Zusammenleben von Völkern und Kulturen übersetzen. Er fasst die sozialen Gebote (nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen) im Gebot der Nächstenliebe zusammen (Röm 13, 8-10). Damit konkretisiert er die Goldene Regel bzw. das Prinzip der Humanität, das im Projekt Weltethos als Maß aller anderen ethischen Normen und Werte gilt.
– Paulus wurde zum großen Kritiker der Thora. Wie aber seine sehr differenzierten Überlegungen zeigen, lehnt er die Thora nicht einfach ab, vielmehr reduziert er ihre Regeln auf ein universalisierbares Maß, Beispiel für die Reduktion von Regeln, die ein globales Ethos erfordern. Gesetze, soziale und politische Regeln des globalen Zusammenlebens sind immer neu an den konkreten Bedürfnissen zu messen. Der Anlass seiner Gesetzeskritik war die Inkulturation des Christentums in die griechische Welt.
– Charismatisches Handeln unterliegt nach Paulus zwar dem Gebot der Liebe, doch schätzt er es als Gestaltungsprinzip der Gemeinschaft hoch; dies gilt vor allem für prophetisches Reden, das von anderen verstanden wird (1 Kor 14). In der Sprache eines globalen Ethos heißt das: Die menschenfreundliche Gestaltung eines globalen Zusammenlebens verlangt Phantasie und einen kreativen Einsatz von Menschen, die aus gemeinsamen Werten heraus handeln.
– Für Paulus hat Christus sich entäußert bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,7f.). Die Fachwelt spricht von einer Theologie des Kreuzes, in der man oft den spezifisch christlichen Weg zur Sühne für die Sünden der Welt sah. Paulus sieht darin in erster Linie ein zutiefst humanes Vorbild für eine unbegrenzte Solidarität zwischen Menschen, die auf Leben und Tod füreinander einstehen: „Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus entspricht.“ (Phil. 2,5). Wer sich einem globalen Ethos verschreibt, muss sich mit diesem Grenzfall einer globalen Solidarität auseinandersetzen.
2. Könnte der paulinische Universalismus die Grundlage für dieses Weltethos sein?
Niemand sonst hat dem Christentum den Gedanken des Universalismus so tief eingeprägt wie Paulus. Er hat den historisch ersten Prozess christlicher Universalisierung systematisch in Gang gesetzt und explizit begründet. Allerdings hat diese Tendenz seine christliche Verkündigung gegenüber der jüdischen Urgemeinde stark modifiziert. Nur so konnte der Aufruf zur Universalität immer neu wirksam werden.
– Dieser Universalismus zeigt sich in der paulinischen Christologie. Paulus konzentriert seine Verkündigung nicht auf die Erinnerung an Leben und Handeln Jesu, sondern ganz auf den Auferstandenen Herrn. Er interessiert sich nicht für den Jesus „dem Fleische nach“ (2 Kor 5,16), alles Kolorit des jüdischen Alltags tritt zurück. Der Auferstandene Herr aber, der ihm erschienen ist (Apg 9, 1-22), hat eine universal kosmische Bedeutung. Am Ende der Zeiten wird er sich Gott unterwerfen, der ihm alles unterwirft (1 Kor 1,26). Die weltweite Geltung Christi wird sich schließlich in der Auferstehung aller Toten zeigen. In ihr gilt keine jüdische oder christliche Auserwählung mehr, sondern allein noch der Kampf zwischen Tod und Leben, der in jedem Menschen ausgefochten wird: „Tod, wo ist dein Sieg!“ (1 Kor 15,55). Es ist ein Kampf, der in einer globalisierten Welt täglich ausgefochten wird.
– Dieser Universalismus des Auferstandenen spiegelt sich im paulinischen Menschenbild, das die jüdische Anthropologie in dramatischer Weise modifiziert. Paulus fügt alle partikularen Bedingungen der jüdischen Thora in einen universalen Rahmen ein. In den ersten drei Kapiteln des Römerbriefs (1,18-3,20) zeichnet er ein realistisch nüchternes Menschenbild. Die Menschen sind „voll Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier und Bosheit, voll Neid, Mord, Streit, List und Tücke, sie verleumden und treiben üble Nachrede, sie hassen Gott, sind überheblich, hochmütig und prahlerisch, erfinderisch im Bösen …, sie sind unverständig und haltlos, ohne Liebe und Erbarmen. Sie erkennen, dass Gottes Rechtsordnung bestimmt: Wer so handelt, verdient den Tod. Trotzdem tun sie es nicht nur selbst, sondern stimmen bereitwillig auch denen zu, die so handeln.“ (Röm 1, 29-32). Diese Worte lassen sich mühelos als Zustandsbeschreibung der gegenwärtigen Welt verstehen.
– Dank seiner universalen Orientierung relativiert Paulus alle konkreten Orientierungen, die dem Volk Israel durch die Thora zugewachsen sind. Deren Gefahr liegt im Stolz und im Gefühl der Superiorität. Man kennt das göttliche Gesetz, befolgt es aber nicht. Zugleich radikalisiert Paulus das Gesetz zur inneren Verpflichtung. Dadurch erweitern sich die Perspektiven, denn ins Herz sind die Normen und Werte auch den Nichtjuden geschrieben. Modern ausgedrückt: Es gibt ein globales Ethos, das für alle Menschen gilt: Wenn die Nichtjuden, „die die Thora nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie … sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich …“ (Röm 2, 14-15).
So führt Paulus die religiös-kulturellen Unterschiede zwischen Juden und Nichtjuden auf allgemein menschliche Grundlagen zurück. Dazu hilft ihm auch die Unterscheidung von „Fleisch“ und „Geist“. Es gebe, wie er sagt, nicht nur eine Beschneidung (d.h. eine Aufnahme in Gottes Verheißung) am Leibe, sondern auch eine „Beschneidung“ im Geiste. Letztere hängt nicht mehr vom jüdischen Ritus, sondern von der inneren Haltung und Gesinnung der Menschen ab: „Jude ist nicht, wer es nach außen hin ist, und Beschneidung ist nicht, was sichtbar am Fleische geschieht, sondern Jude ist, wer es im Verborgenen ist, und Beschneidung ist ,was am Herzen durch den Geist, nicht durch den Buchstaben geschieht.“ (Röm 2,28). Der paulinische Universalismus behauptet also nicht, eine bestimmte jüdische oder christliche Tradition sei von universaler Bedeutung, denn er schließt keine anderen Menschengruppen aus. Paulus verankert seinen Universalismus in der inneren Haltung der Menschen gegenüber dem Gebot der Liebe, das ihnen von Gott geboten ist. Er fügt keine weiteren Bedingungen, keinen weiteren Leistungsnachweis hinzu. Sein Universalismus lässt sich mühelos und präzise in die Grundlegung eines Weltethos einfügen, was den Dialog über Kulturen und Religionen hin eröffnet. Vor allem zeigt Paulus einen Weg, der den christlichen Universalismus von seinen Superioritätsphantasien befreit. Er lehrt uns, sich – zusammen mit anderen Religionen – einem globalen Ethos unterzuordnen. Die Garantie für diese weltbejahende Haltung findet Paulus in Christus selbst, den er als reine Positivität begreift. Jesus Christus ist „nicht das Ja und Nein zugleich …; in ihm ist das Ja verwirklicht. Er ist das Ja zu allem, was Gott verheißen hat.“ (2 Kor 1,19f.). Deshalb erscheint Christus zugleich als der neue Adam, als Mensch schlechthin (1 Kor 15,45), in dem alle Menschen lebendig werden (1 Kor 15,22). Dieses paulinische Wort könnte für alle Christen als Generalmotiv ihres Engagements an einem globalen Ethos gelten.
3. Wie kann man diesen Universalismus mit der Autonomie und Individualität in unserer Gesellschaft versöhnen?
Wie verbindet Paulus diesen neuen Universalismus mit Fragen der Autonomie und Individualität? Zur Vermeidung einer anachronistischen Argumentation nehmen wir zugleich die Situation der Gegenwart in den Blick. Paulus zeigt schon in seiner Zeit ein auffallend modernes Verhalten.
Natürlich spricht Paulus nirgendwo von Autonomie, aber mit großer Leidenschaft plädiert er für die neue Freiheit, die seine Anhänger gewonnen haben. Im Galaterbrief sorgt er sich nicht in erster Linie um die abstrakte Wahrheit eines Glaubens, von der wir nicht abweichen dürfen. Er verteidigt vielmehr die Befreiung, die seine Anhänger erreicht haben. Die „falschen Brüder“ kontrollieren ihn argwöhnisch wegen dieser ungewohnten Offenheit; sie wollen ihn wieder zum „Sklaven“ machen. Dagegen wehrt er sich vehement (Gal 2,4f.). Die Gemeinde aber steckt er mit seinem Virus der Befreiung an: „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auferlegen!“ (Gal 5,1). Ganz offensichtlich meint Paulus mit Freiheit einen Zustand, der den Menschen nicht mehr von sich selbst entfremdet. Entfremdung entsteht für Paulus durch Unterwerfung unter das äußerlich auferlegte „Gesetz“, das uns in einen ständigen Zwiespalt mit uns selbst treibt, weil wir immer versagen müssen. Paulus benennt diesen inneren Zwiespalt, um ihn zu überwinden.
Selbstverständlich gibt es für ihn keine absolute Autonomie im modernen Sinn des Wortes. Selbstverständlich ist aber auch, dass die Unterwerfung unter den Willen Gottes – der für ihn der Geist der Liebe ist (2 Kor 3,17) – diese Autonomie nicht aufhebt, sondern ermöglicht. Genau hier liegt die Verwandtschaft mit einem Grundgedanken des Weltethos. Die Gesetze eines guten und friedvollen Zusammenlebens (des gegenseitigen Respekts, der Gerechtigkeit, der Wahrhaftigkeit und der Treue) sind die Grundbedingungen wahrer, hier und jetzt realisierbarer Autonomie. Eine absolute Autonomie ist nicht nur irreal, sondern für das Zusammenleben gefährlich, denn Rechte sind nur als Kehrseite von Pflichten sinnvoll. Gerade die starke Selbstbindung des Paulus an das Christusereignis schafft eine orientierte Autonomie, deren wir auch heute wieder bedürfen.
Im öffentlichen Bewusstsein unserer Völker stehen die christlichen Kirchen nicht unbedingt für die Individualität und die unbedingte Geltung des Subjekts. Für Paulus trifft das Gegenteil zu. Paulus kam nicht in der Gemeinschaft mit Anderen, sondern als „Einzelkämpfer“ zum christlichen Glauben. Ein radikal individuelles Erlebnis machte Saulus zum Paulus. Wiederholt beruft er sich auf jene Erscheinung vor den Toren von Damaskus (Apg 9,4). Erst in dieser Begegnung findet er zu sich. Jetzt tritt er in Distanz zu seinem bisherigen Leben; die neue Wahrheit konzentriert sich in jenen entscheidenden Augenblick. Jetzt geht er einen Weg, den er ganz aus seiner eigenen Erfahrung heraus entwickelt. Im Augenblick seiner Berufung haben sich seine Treue zu Christus und seine Treue zu sich selbst zu einem individuellen Geheimnis verschränkt.
Später trägt er (Augustinus und Luther vergleichbar) seine zahlreichen anthropologischen Analysen als Selbstbeobachtungen vor: „Denn ich begreife mein Handeln nicht: Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, erkenne ich an, dass das Gesetz gut ist.“ (Rom 7, 15-20). So kann nur jemand schreiben, der sich seiner gespaltenen, aber unentrinnbaren Individualität bewusst ist. Er weicht ihr aber nicht aus. Paulus sieht sich mit sich selbst konfrontiert, weil er seine Berufung zugleich als Verantwortung für diejenigen versteht, die mit ihm gehen: „Ihr habt den gleichen Kampf zu bestehen, den ihr früher an mir gesehen habt und von dem ihr auch jetzt hört.“ (Phil 1,30). „Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben … auf Tafeln – in Herzen von Fleisch.“ (2 Kor 3,3).
Heute kann ein globales Weltethos seine Kraft nur von Menschen aus entfalten, die in großer Treue zu sich stehen und sich ihrer Verantwortung stellen. Die Erklärung von Chicago (1993) spricht – in durchaus moderner Weise – vom „Wandel des Bewusstseins beim Einzelnen und in der Öffentlichkeit“ [mudanças de consciência no indivíduo e na opinião pública] sowie von der „unabweisbaren Verantwortung“ eines jeden Einzelnen „für das, was er tut und was er nicht tut“ [uma responsabilidade irrefutável pelo que faz ou deixa de fazer]. Ohne sie werden wir keine Fortschritte erzielen. Wie das möglich wird, können wir bei Paulus lernen.
4. Welche Aspekte des Paulus von Tarsus können uns helfen, den interreligiösen und interkulturellen Dialog zu inspirieren?
Die paulinische Theologie ist wesenhaft eine interkulturelle Theologie. Die paulinische Leistung besteht darin, dass er für die jüdische Tradition die Wege für deinen paradigmatischen Inkulturationsprozess bahnte. Doch war, aus der Retrospektive betrachtet, an diesem Prozess nicht auch ein eigenständiger christlicher Impuls, nämlich der Glaube an Jesus Christus beteiligt? Diese Frage ist nicht mit einem eindeutigen Ja oder Nein zu beantworten. Die Erinnerung an Jesus von Nazareth war ja schon im Judentum als eine eigenständige Kraft wirksam. Doch war damals noch nicht entschieden, ob sich diese glaubende Jesuserinnerung wirklich zu einer eigenständigen Religion entwickelt. Genau diese Schwierigkeit zeigt: Inkulturationsprozesse verlaufen nicht als statisch isolierbare Übersetzungsprozesse. Sie verlaufen in inneren Konfrontationen und Assimilationen zugleich. Wenn sie gelingen, bilden sich neue Räume der Begegnung aus, in denen sich verschiedene Kulturen in gegenseitigem Respekt begegnen können. Es entstehen Räume für interreligiöse und interkulturelle Dialoge.
Dies führt jedoch nicht zu einer dritten Kultur, die von den anderen isoliert ist. Zwar entsteht neben dem Judentum und griechischen Denkräumen die christliche Kirche, in der Alten Kirche das „Dritte Geschlecht“ genannt. Aber Paulus sieht neben Juden und „Heiden“ gerade keine dritte Einheit. Vielmehr unterscheidet er Juden und Nichtjuden zwischen „Fleisch“ und „Geist“. Diese Unterscheidung geht quer durch beide Gruppen. Wer sich also für den Auferstandenen Christus entscheidet, muss nicht sein Judentum oder sein Griechentum, sein Römertum oder sein Germanentum aufgeben, sondern er wird Jude, Grieche, Römer oder Germane, Argentinier oder Koreaner, Indio oder Afrikaner bleiben. Entscheidend ist, dass er (wie wir sahen) „im Geiste“ lebt.
Der neue Glaube, den Paulus verkündet, ist so auf keine bestimmte Kultur festgelegt, denn in jeder Kultur können wir „im Geiste“ leben, d.h. „im Verborgenen“ oder „im Geist“ Beschnittene sein. Mehr noch, seit Paulus gehören diese Offenheit für neue Kulturen und interkulturelle Gespräche sowie der Weg zur immer neuen Inkulturation zum Kriterium christlicher Existenz. Sonst geben wir (vergleichbar der nur fleischlichen Befolgung der Thora) die Freiheit der Kinder Gottes auf. Wenn Christen also wirklich im Geiste Christi leben wollen, müssen sie sich für andere Kulturen, soziale Situationen und Problemlagen öffnen.
Gilt diese Offenheit auch für andere Religionen? Kann Paulus auch unser interreligiöses Verhalten inspirieren? Hier wird eine Antwort schwieriger, denn mit großem Eifer bestand Paulus auf der Alleingültigkeit des Glaubens an Christus. Gemäß seiner Kreuzestheologie ist der christliche Glaube für die Juden ein Skandal und für die Heiden eine Torheit (1 Kor 1,23). Leidenschaftlich ruft er aus: „Wer den Herrn nicht liebt, sei verflucht.“ (1 Kor 16,22). Mit demselben Eifer schreibt er: „Alle, die nach der Thora leben, stehen unter dem Fluch.“ (Gal 3,10). An diesem Punkt müssen wir realistisch sein. Auch Paulus war ein Kind seiner Zeit, in der sich der Glaube an den Einen Gott von den vielen polytheistischen Glaubensformen, die er kannte, qualitativ unterschied.
Doch ist Paulus an diesem Punkt gespalten. Sobald er nicht formal von seiner Vergangenheit her, sondern inhaltlich vom Ziel der Menschheit her argumentiert, kommt er zu entgegengesetzten Aussagen. Wenn es um die Universalisierung des Heils geht, reduziert er die Verpflichtung auf die Thora massiv: nur vier der vielen Regeln bleiben übrig; sogar die Beschneidung wird aufgegeben. Die ganze Spannung des interreligiösen Problems trägt er am eigenen Leibe aus. Die führt ihn zu paradoxen, aber höchst authentischen Aussagen: „Ich möchte selber verflucht sein und von Christus getrennt sein um meiner Brüder willen, die der Abstammung nach mit mir verbunden sind.“ (Röm 9,3). Trotz aller Enttäuschungen hofft er auf den Tag, da ganz Israel gerettet wird (Röm 11,25). Und er, der in Christus seine Identität und radikale Subjektivität gefunden hat, stellt diese Identität immer neu auf die Probe. Er wurde den Juden ein Jude, den Gesetzlosen ein Gesetzloser, den Schwachen ein Schwacher. „Allen bin ich alles geworden, um auf jeden Fall einige zu retten.“ (1 Kor 9, 20-23). Solcher Eifer für eine gemeinsame Zukunft muss unsere interreligiösen Gespräche heute bestimmen.
5. Wie lässt sich das wachsende Interesse von Philosophen wie Žižek, Agamben, Badiou, Lyotard und Taubes für Paulus von Tarsus erklären?
Das wachsende Interesse der genannten Denker ist in der Tat ein faszinierendes Phänomen. Hier kann keine erschöpfende Antwort gegeben werden. Die christliche Theologie hat diese neuen Diskurse leider noch kaum rezipiert, doch sind diese Reflexionen über Paulus für ein Weltethos höchst interessant.
Das Projekt Weltethos verfolgt ein säkulares, zutiefst humanes Ziel, nämlich die Regelung des globalen Zusammenlebens nach ethischen Standards und Haltungen, die für eine Menschheit in Frieden unabdingbar sind. Zugleich spricht dieses Projekt (neben säkularen Weltanschauungen) die Weltreligionen auf ihr Ethos und ihre ethischen Potenzen an, denn im globalen Zusammenspielt der politisch relevanten Kräfte gehören sie zu den Hauptakteuren moralischen Handelns. Hinzu kommt, dass viele Vertreter des weltethischen Gedankens aus spezifisch religiösen Überzeugungen und Motivationen handeln. Es hat seinen guten Grund, dass die Erklärung zum globalen Weltethos im Jahre 1993 vom Parlament der Weltreligionen proklamiert wurde. Religiöse und säkulare Ziele gehen eine Verbindung ein, die bis dahin unbekannt war.
Was geschieht nun bei den genannten Denkern? Sie alle entdecken in Paulus eine aktuell relevante politische Kraft. Sie sehen in Paulus nicht den Denker einer religiösen Innerlichkeit, sondern einer universalen und weltweiten Zukunft, auch wenn er in einem religiösen Sprachspiel agiert. Auch seine Kritik am Versagen der Menschen (Juden wie Nichtjuden) ist von politischen Perspektiven geprägt. So denkt er die religiös so hochmotivierte Lehre von der Rechtfertigung eben als Frage der Gerechtigkeit sowie als die Frage, welcher Macht wir Menschen unterworfen sind. Seine paradoxe Antwort lautet: Kraft der Versöhnung und gegenseitigen Akzeptanz sind unter den Menschen Versöhnung und Friede möglich, obwohl wir ständig versagen. Das ist ein Hoffen „gegen alle Hoffnung“ (Röm 4,18), für unsere Gegenwart eine säkulare, global politische Aussage, die ein enormes Hoffnungspotential in sich birgt. Nur wer darauf hofft, kann den Einsatz für ein globales Ethos sinnvoll finden.
Ist aber der Rückgriff auf Paulus für ein globales Weltethos nicht eine ambivalente Angelegenheit? Paulus beruft sich ja grundsätzlich auf Jesus Christus und auf den christlichen Gott. Gerät dieser paulinische Universalismus nicht zu einem Imperialismus, der den christlichen Glauben für die beste aller Religionen hält? Genau an diesem Punkt lohnt es sich, die genannten Denker genauer zu studieren, denn sie zeigen mit großer Überzeugungskraft dies: Die aktuelle säkulare Relevanz der paulinischen Botschaft lässt sich auch ohne ausdrücklichen Rückgriff auf seine religiösen Kategorien verstehen. Wer der Auferstandene und wer der Gott Jesu Christi auch immer sei: Paulus begründet einen Universalismus, dessen Elemente aus sich selbst heraus überzeugen:
(1) Paulus gelingt, wie wir sahen, eine Überwindung kultureller und religiöser Gegensätze, die nicht zu weiteren Spaltungen führen muss, weil er nach der Gesinnung der Menschen fragt, die nicht jüdisch, griechisch oder christlich ist, sondern sich nach einer verfügbaren Welt oder nach der unverfügbaren Liebe richtet.
(2) Paulus lebt seit seiner Auferstehungserfahrung eine enorm starke Subjektivität, deren Kraft – durch die paulinischen Briefe vermittelt – viele Jahrhunderte geprägt hat. „Auferstehung“ wird zum Symbol eines schöpferischen Neubeginns, der Zeiten überwindet.
(3) Paulus entfaltet ein Menschenbild, das alle Erfahrungen innerer Entfremdung und Spaltung aufnimmt und ihnen standhält. Dies wird zur Quelle späterer Universalität.
(4) Paulus denkt die Fülle der Zeiten, also von Vergangenheit und Zukunft, in einer Gegenwart zusammen, so dass sie zum Beginn einer neuen Weltepoche werden kann.
(5) In seiner Analyse der Kreuzestodes Jesu und seiner eigenen Situation nimmt er die moderne Erfahrung des von aller Gemeinschaft ausgeschlossenen, von allen verachteten Menschen vorweg.
Gewiss, für die meisten dieser Denker werden „Auferstehung“, „Gottes Sohn“ oder „Gott“ zu überholten Metaphern. Darüber wird an anderem Ort zu diskutieren sein. Entscheidend ist für das Anliegen des Weltethos, dass wir viele paulinische Impulse in einen interreligiösen und in einen säkularen Dialog übertragen und in ihm fruchtbar machen können. Sie machen – gewollt oder ungewollt – Paulus zu einer zentralen Figur unserer Gegenwart.
6. Was sind die Beiträge des Paulus von Tarsus für ein kritische Betrachtung des aktuellen Christentums?
Diese Frage sprengt den Rahmen dieses Interviews. Niemand kann bestreiten, dass das Christentum allen Gefahren erlegen ist, die Paulus in seiner Kritik am damaligen Israel schon angeprangert hat. Die Kirchen sind ihnen erlegen. Zumal muss sich die katholische Kirche den hochaktuellen Fragen des Paulus stellen. Ich nenne kurz folgende Punkte: Bei Paulus kann man lernen:
– seine eigene Identität und Sicherheiten immer wieder zur Diskussion zu stellen, den Schwachen ein Schwacher zu werden. Die offizielle katholische Kirche hat mit dieser Selbstkritik große Probleme.
– Inkulturation und Interreligiosität so einzuüben, dass andere Religionen und Kulturen wirklich ernstgenommen werden. Wer seine eigene religiöse und kulturelle Tradition immer für überlegen hält, verdorrt und verliert eine jede prophetische Inspiration.
– immer neu zu fragen, ob wir den eigenen Glauben, die Verkündigung und die Sakramente wirklich dem Fleische oder dem Geiste nach leben. Nur im letzten Fall wird uns eine Zukunft verheißen.
– uns der Tatsache bewusst zu werden, dass kulturelle Umbrüche auch zu Umbrüchen in den eigenen Optionen und in der Formulierung des eigenen Glaubens führen. Die offizielle Kirche scheint heute nicht bereit zu sein, dieses Wagnis einzugehen. Vor Paulus kann sie so nicht bestehen.
Paulus, diese starke, auf sich gestellte, auf Freiheit bedachte und in Freimut [2 Kor 3,12: parresia] agierende Persönlichkeit, hatte schließlich die Kraft, auch dem Kephas ins Angesicht zu widerstehen (Gal 2,11). Wir brauchen in der Kirche einen neuen Freimut des Redens und des Handelns, – dies allerdings nicht aus einem destruktiven Geist des Widerspruchs, sondern aus der Kraft des Heiligen Geistes. Viele unter uns sind in tief eingreifenden Erfahrungen schon dem Herrn begegnet. Sie hat Christus zu neuer Freiheit befreit. Nur die Kraft solcher Mitchristinnen und Mitchristen kann die Kirche für die globale Zukunft einer versöhnten Menschheit stärken.
(Erschienen am 22.12.2008 in portugiesischer Sprache in der brasilianischen Zeitschtrift Revista do Instituto Humanitas Unisinos VIII, Nr. 281, 6-11 unter dem Titel Paulo, o universalismos e a Ética Mundial)