In jedem Fall ist der Augenblick gekommen, an dem die Gläubigen selbst, die Gemeindemitglieder die Fackel in die Hand nehmen und auf ihre Weise in die Welt tragen. Diese Folgerung zieht der Referent auf dem desolaten Zustand der Ökumene.
1. Kritische Grenze – eigenes Profil
Der erste offizielle ökumenische Kirchentag auf deutschem Boden fand vor sechs Jahren in Berlin unter dem Titel statt: „Ihr soll ein Segen sein“. Ihm folgte im Mai dieses Jahres in München der zweite. Er war vom Motto getragen: „Damit ihr Hoffnung habt“.
Bekannt wurde er erste Kirchentag wegen eines Eklats: Zwar wollte man ökumenisch miteinander beten, die Bibel lesen, feiern und diskutieren. Man wollte die Annäherung vorantreiben. Aber die Leitung der katholischen Kirche – Bischöfe und Papst – untersagten streng eine gemeinsame Feier der Eucharistie. Sie durfte nicht stattfinden. Gotthold Hasenhüttl, der katholische Priester und Theologe, der das Verbot übertrat und evangelische Christen zu seiner Eucharistiefeier einlud, verlor zur Strafe seine kirchliche Lehrerlaubnis und er wurde suspendiert. Er darf also seine Funktionen als Professor und sein Priesteramt nicht mehr ausüben. Unter der Exkommunikation ist das die schärfste Strafmaßnahme, die Rom und die Bischöfe ausüben können.
Das war in Berlin. Jetzt, nach sechs Jahren, war man vorgewarnt. Offiziell wurde das Verbot nicht übertreten, die Stimmung entsprechend resigniert. Wieder einmal hatte sich die katholische Kirche durchgesetzt. In München wurde viel geredet, gebetet, viele sind sich spirituell näher gekommen. Warum aber muss die katholische Kirche immer Blockaden aufrichten?
Man kann aus diesen enttäuschenden Erfahrungen zwei Dinge lernen:
1. In einem sehr langen Prozess sind sich die christlichen Konfessionen in Deutschland sehr nahegekommen. Weitere Annäherungen verändern die Identität der Kirchen. Davor hat man Angst.
2. In den Kirchen Deutschland haben sich Kirchenvolk und Kirchenleitung stark auseinandergelebt. Wenn wir noch so viele Probleme miteinander haben, dann ist das kein theologisches Problem und kein Glaubensproblem, sondern ein soziologisches und politisches Problem. D.h. ein Problem unserer Gewohnheiten, Sprachformen und Strukturen. Zudem tun Macht, Besitz und wohletablierte Strukturen einem lebendigen Christentum nicht gut.
1.1 Die Konfessionen stehen sich näher denn ja
Viele von Ihnen erinnern sich vielleicht an das Verhältnis zwischen evangelischen und katholischen Christen vor 45-5 Jahren: strenge Distanz und Ablehnung, gegenseitige Unkenntnis und Verachtung, dramatische Auseinandersetzungen, wenn jemand eine Mischehe einging. Dann die großen Hoffnungen, die von katholischer Seite mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einsetzten. Und noch wichtiger: der unumkehrbare Prozess gegenseitiger Annäherung „von unten“, wenn ich so sagen darf. Wir knüpften und intensivierten unsere Kontakte, trafen uns in Bibelkreisen, später in Meditationsgruppen und lernten, die konfessionellen Differenzen besser zu versehen und einzuordnen. Wir feierten miteinander Gottesdienste, verglichen unsere Gebete und unser Liedgut.
Dadurch, dass wir uns den biblischen Quellen angenähert haben, schöpfen wir die christliche Wahrheit nicht mehr (viel weniger!) aus zweiter Hand, sondern aus den gemeinsamen Quellen, der jüdischen Bibel und dem Neuen Testament.
Nicht nur die Kirchenfernen, sondern auch die Engagierten wissen überhaupt nicht mehr, was uns eigentlich noch trennen soll. Das ist jedenfalls die Stimmung, die auf den ökumenischen Kirchentagen überwogen hat.
Manche Gemeindemitglieder bekamen es jetzt mit der Angst zu tun, wir würden unsere konfessionellen Traditionen aufgeben, unsere kirchliche Identität verlieren. Man kann diese Ängste verstehen, denn natürlich ging in den vergangenen 30 Jahren Vieles verloren. Ich nenne einiges aus katholischer Perspektive: eine intensive Heiligenverehrung und entsprechende Gebete, eine überbordende Verehrung Marias, den Rosenkranz eingeschlossen, viele Andachtsformen, etwa vor dem Ausgesetzten Allerheiligsten. Und wir haben vieles aufgegeben, von dem wir meinten, das sei typisch katholisch: Täglicher Messbesuch, Nüchternheitsgebot vor der Kommunion, eine strenge Liturgie in Latein, der Priester mit dem Rücken zum Volk, strenge Sonntagspflicht und Freitagsgebot. Unsicherheit also und die Frage, ob wie unter der Hand nicht unseren katholischen Glauben aufgegeben haben.
Ich muss nicht mehr aufzählen. Ich füge nur hinzu, dass mancher Traditionsverlust nicht nur mit der ökumenischen Annäherung zu tun hat. Wir lebten ohnehin in einer Epoche, in der sich unsere Lebensstile radikal gewandelt haben.
1.2 Das Problem einer wohl etablierten Kirche
Besteht diese Angst zu Recht? Ich verstehe sie, aber es gibt viele Gründe, die uns dieser Angst nehmen können. Nehmen wir das Neue Testament. Es zeigt uns, was alles eben nicht unbedingt zum Christsein gehört. Und nehmen wir unsere Alltagserfahrung, die uns zeigt: Vieles hat einfach seinen Sinn verloren, wird einfach nicht mehr verstanden. Warum? Weil die Menschen heute oft ganz andere Fragen haben, weil wir die politische und sozialkritische Dimension eines christlichen Lebens entdeckt haben, weil wir die Lehren von gestern neu übersetzen müssen? Lehre von gestern? Ich höre Ihren Widerspruch, natürlich waren sie nicht einfach falsch, aber heute werden sie nicht mehr verstanden.
Nun ist und wäre es die Pflicht der Theologie und der Kirchenleitungen, zu helfen, aufzuklären, Ängste zu nehmen und neue Wege aufzuzeigen. Ich behaupte nicht, dass dies nicht geschieht. Aber alles in allem geht der Erneuerungsschub doch von unten aus. Und alles in allem wächst die Kirche „unten“ und die Kirche „oben“ mehr und mehr auseinander. Dieses Problem zeigt sich in der katholischen Kirche viel stärker als in den evangelischen. Das hat auch zu Folge, dass sich die Kirchen insgesamt immer mehr polarisieren. Mir stehen viele evangelische Christinnen und Christen viel näher, als meine Glaubensgeschwister aus dem erzkonservativen Lager. In beiden Kirchen habe damit die Kirchenleitungen ein Problem: Es gelingt ihnen nicht mehr auszugleichen, zu vermitteln, einen neuen Weg in die Zukunft zu zeigen. Deshalb haben wir alle das Gefühl, dass die Kirchen selbst auseinanderbrechen und handlungsunfähig werden.
Diese Angst vor der Handlungsunfähigkeit blockiert im Mittellager und in den oberen Etagen unsere Phantasie. In der katholischen Kirche erleben wir unter dem gegenwärtigen Papst ein großes roll-back mit dem Argument, wir müssten wieder die Reihen schließen und uns konsolidieren. Der evangelische Bischof Wolfgang Huber, viele Jahre bis 2009 Ratsvorsitzender der EKD, rief in seinem Buch „Im Geist der Freiheit“ zu einer Ökumene der Profile auf.
1.3 Recht auf ein eigenes Profil
Was will er? Er reagiert genau auf den allgemeinen Stillstand der Ökumene und auf die Ermüdung vieler, die an ihr mitgearbeitet haben. Seine Antwort lautet: Wir, die verschiedenen Kirchen und Konfessionen müssen unsere eigene Profile wieder neu entdecken und stärken. Nur eine Kirche/Konfession, die weiß wer sie selbst ist und was sie will, kann offen und frei gegenüber den anderen Kirchen reagieren.
Im Lauf der letzten Jahre ist mir immer wieder ein wichtiges Grundgesetz des ökumenischen Miteinander in den Sinn gekommen. Gerade wenn man das eigene Profil stärker betont, wie es auch z.B. durch die Hervorhebung der Luther-Übersetzung der Bibel geschieht, gibt es ein gutes Kriterium, nämlich ob und wie wir uns freuen können an der Stärke des Anderen, nicht nur an Bach, sondern am Wiedererstehen der Frauenkirche in Dresden. Aus dieser Anerkennung des Anderen und vielleicht zuerst oder manchmal auch auf längere Strecke Fremden, wird echte und nachhaltige Gemeinschaft, die uns im Geist Jesu Christi enger zusammenführt. Es gibt aber auch große gemeinsame Gestalten, die uns auf dem Weg begleiten, wie z.B. Roger Schutz, dessen tragischer Tod uns nicht von seinen bleibenden Impulsen trennen darf. (Huber zu ökumenischen Profilen)
Ich stimme Bischof Huber zu, denn er geht genau auf die aktuelle Situation ein:
– wir haben entdeckt, dass wir uns bei allen Unterschieden sehr nahe sind, und
– wir haben entdeckt, dass wir uns mit unseren Unterschieden voreinander nicht zu verstecken brauchen.
Wir können also unsere eigenen Profile, Eigenheiten ruhig leben, auch betonen. Wir müssen uns dabei nur darüber über folgendes klar sein: Sie dürfen nicht dazu führen, dass die anderen herabgesetzt und ausgeschlossen werden. Ein Bayer darf ruhig Bayer bleiben, mit Gamsbart und Lederhose, warum auch nicht. Er darf nur nicht mehr die Preußen beschimpfen und meinen, München, sei die einzige deutsche Stadt mit Weltrang.
1.4 In einem Boot
Viele fragen sich dennoch (und vielleicht zu Recht): Wenn sich die Konfessionen nun seit 480 Jahren (Augsburger Konfession,1530) gehalten und ihre eigenen Gestalten ausgebildet haben: Wie kann es sein, dass dies alles innerhalb von wenigen Jahrzehnten relativiert , nur noch zweitrangig werden, oder nur noch zur Hälfte gültig sein soll? Das ist doch ein dramatischer Prozess, den wir im letzten halben Jahrhundert erlebt haben. Dafür muss es mehr Gründe geben als ein bisschen mehr Freundlichkeit.
Ich antworte: Ja, es gibt einen ganz dramatischen Grund. Wir umschreiben ihn mit dem Begriff „Säkularisierung“. Gewiss, die Relativierung unserer Gegensätze hat schon im 2. Weltkrieg und durch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus begonnen. Dort erlebten Christen – katholisch oder evangelisch – zum ersten Mal, wie viel uns zusammenhält, wenn es um ein brutales Regime geht, das unsere Eltern und Großeltern erlebt haben. Die Wurzeln der deutschen ökumenischen Bewegung liegen in dieser Zeit.
Nach 1945 setzten aber die ersten Prozesse der Säkularisierung ein, – erst unterschwellig und in den Großstädten, dann immer umfassender, bis sie schließlich ein jedes Dort und die meisten Familien erfasst haben. Mit Säkularisierung meine ich eine allmähliche Entwicklung, die die Religion als umfassende Lebensform immer mehr überflüssig macht, relativiert, manchmal geradezu als Hindernis erscheinen lässt. Wir können eine Industrie aufbauen, ohne Gott zu nennen, Regeln für die Politik finden und Gott dabei aus dem Spiel lassen, eine gute Erziehung geht wohl nicht ohne moralische Regeln, aber diese Moral muss in sich einsichtig sein. Zudem sind es die Wissenschaft und die Technik, die unseren Alltag durch und durch bestimmen, von der Waschmaschine bis zur Medizin, vom Verkehr bis zum Blitzableiter. Der Blasiussegen und die Schutzengel sind zwar schön und gut, aber bei Rachenproblemen gehe ich zum Arzt und bei einer Autopanne kommen die Gelben Engel.
Für eine Religion ergibt sich daraus eine ungeheure Herausforderung. Für eine säkularisierte Kultur muss Gott nicht „Unsinn“ sein, aber er bringt keinen Nutzen mehr; sein Sinn muss sich also auf anderem Wege erschließen. Ich kann nicht behaupten, ohne Berufung auf Gott breche unsere Zivilisation/Kultur zusammen. So haben die Konfessionen aber früher gedacht.
Hier liegt die neue Herausforderung und keine Konfession hat dafür eine Lösung in der Schublade. Sie haben aber zusammen ein Problem, das sie nur gemeinsam lösen können: Fachleute prägten nicht nur das Schlagwort vom „Abschied der Religion“, sondern auch das andere „Ankunft der Religion“. Ein namhaftes Heidelberger religionswissenschaftliches Institut („Religionsmonitor“) behauptet nachdrücklich, Deutschland sei kein atheistisches Land. Wenn das aber der Fall ist, dann müssen die Kirchen die als säkularisiert definierten Menschen auch ernster nehmen. Gemeinsam müssen wir das Gottesbild so umformen, unsere Sprache so neu justieren, philosophische und moralische Zusammenhänge so neu durchdenken, dass der Sinn von „Gott“ und “Glaube“ auch säkularisierten Männern, Frauen und Jugendlichen klar wird. Religionslehrer etwa in weiterführenden Schulen können von der Last, vielleicht auch den Vorteilen dieser Situation ein Liede singen. Ihre Katechismen können sie ebenso zu Hause lassen wie die meisten betulichen, altmodisch formulierten und unverständlichen Verlautbarungen unserer Kirchen. Gewiss, junge Leute feiern gern und die katholischen Massenrituale üben eine große Faszination auf sie aus. Aber ich weiß noch nicht, was so ein Papstjubel auf den Weltjugendtagen mit einer tragfähigen Religiosität zu tun hat. Entgegen der Hoffnung der Bischöfe hat der letzte Weltjugendtag in Köln mit all seiner Euphorie zu keinem einzigen weiteren Priesterberuf geführt. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten lag 2009 die Zahl der Priesterberufe in Deutschland unter 100.
Kommen wir also zurück zur neuen Situation. Die konfessionellen Unterschiede sind für uns deshalb so zusammengeschrumpft, weil sie zur Lösung der aktuellen, gesellschaftlich relevanten Fragen keinerlei Bedeutung mehr haben. Die Kirchen in Deutschland akklimatisieren sich gemeinsam in einer säkularisierten Gesellschaft oder sie werden gemeinsam bedeutungslos, gleich ob sie sich eine evangelische oder eine katholische Schminke auflegen.
Vor diesem Hintergrund wird auch klarer, warum ich von der wachsenden Distanz zwischen Kirchenleitungen und dem Leben ihrer Gemeinden gesprochen habe. Eine Normalgemeinde ist tagtäglich mit einer säkularisierten Gesellschaft (und mit säkularisierten Menschen in ihr) konfrontiert. Die Kirchenleitungen (und viele Theologen an den Universitäten) sind das nicht. Oft bieten sie – immer noch – das traditionelle Glaubensgebäude als heilendes Rezept für unsere gesellschaftlichen Probleme an. Sie haben die Not und das Verstummen ihrer Mitgläubigen vor Ort noch nicht verspürt. Das schafft keine mitfühlende, sondern eine überhebliche Atmosphäre, die niemandem nützt.
2. Eine kritische Situation – asymmetrische Profile
2.1 Der Konsens von Augsburg (1999) und die evangelische Grundposition
Suche nach der je eigenen Identität ist also notwendig. Angesichts einer säkularisierten Gesellschaft kann sie sich aber nicht in Besserwisserei erschöpfen. Wir tun gut daran, selbstkritisch auf die Suche zu gehen. Ich selbst bin katholisch. Ich behaupte, dass ich mit beiden Beinen in dieser Kirche stehe und gerade deshalb große Probleme mit meiner Kirchenleitung habe. Wenn’s um Reformen geht, muss man mit sich selbst beginnen.
Ich beginne mit einem Ereignis, das die Kirchen vor Ort viel zu schnell vergessen haben. Und man kann sich nur fragen, warum wir so vergesslich waren. Sie wissen, im Juni 1530 hat der vom Kaiser geleitete Reichstag in Augsburg die sogenannte Augsburger Konfession (Augsburger Bekenntnis, Confessio Augustana) feierlich verabschiedet. Es ist eine Bekenntnisschrift, relativ knapp gehalten und Durch den Einfluss von Philipp Melanchthon ausgewogen formuliert. Sie wurde von den protestantischen Fürsten akzeptiert und als gemeinsame Grundlage ihrer Kirchen festgestellt. Beinahe hätten auch die katholischen Fürsten zugestimmt, dann wären uns die auseinanderfallenden Konfessionen erspart geblieben. Seitdem genießen die evangelischen Kirchen neben den katholischen ein öffentliches, vom Reich garantiertes Recht. Der zentrale Streit ging um die Rechtfertigungslehre. Luther stellte sehr einfach ein Pauluswort in den Mittelpunkt seiner Verkündigung und Forderungen: Der Mensch wird gerechtfertigt aus Glauben, nicht auf Grund seiner Werke (Röm. 3,28).
Seitdem galt die „Rechtfertigungslehre“ als der zentrale Streitpunkt. Wirklich? Es fiel schon 1957 auf, als Hans Küng ein Buch über die Rechtfertigungslehre des evangelischen Theologen Karl Barth schrieb und zum Schluss kam, dass über diese Lehre ein ökumenischer Konsens möglich ist, wenn er nicht gar schon besteht. Das hätte beide Parteien in eine mächtige Bewegung setzen müssen. Aber nichts geschah. Plötzlich sagte die katholische Seite: ja, aber da gibt es noch viele andere Problem: Priestertum, Sakramente, Papsttum. Man lenkte vom früheren Kernproblem ab.
Zum Reformationstag (31. Oktober) 1999 erklärten der Lutherische Weltbund und das Einheitssekretariat der römischen Kurie, dass über die Rechtfertigungsfrage zwischen den Konfessionen – bei allen Unterschieden im Detail – ein „differenzierter“ Konsens besteht. Zwar ist damit die Kirchenspaltung nicht aufgehoben, aber (so möchte man sagen) der wichtigste Stolperstein aus dem Wege der Annäherung geräumt. In der offiziellen Erklärung heißt es etwas vorsichtig:
Damit erscheinen auch die Lehrverurteilungen des 16. Jahrhunderts, soweit sie sich auf die Lehre von der Rechtfertigung beziehen, in einem neuen Licht: Die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der lutherischen Kirchen wird nicht von den Verurteilungen des Trienter Konzils getroffen. Die Verwerfungen der lutherischen Bekenntnisschriften treffen nicht die in dieser Erklärung vorgelegte Lehre der römisch-katholischen Kirche.
Was ist geschehen: Nichts, könnte man zunächst sagen. Ausgerechnet die Gemeinden, die „normalen“ Christen also, haben diese Unterzeichnung zur Kenntnis genommen und – vergessen. Warum? Meine Erklärung ist folgende: die Denkschritte, die zum Einverständnis führten, sind so kompliziert, dass heute nur noch der Spezialist sie versteht. Es hat sich also gezeigt: die wirklichen Lebensprobleme, die hinter der Rechtfertigungsfrage stecken, berühren das Spätmittelalter und die beginnende Neuzeit, nicht das 20. und des 21. Jahrhundert. Das ist enttäuschend. Deshalb hätte die Folgerung lauten müssen: Die Problematik ist so vorgestrig, dass wir sie für überholt erklären, – so überholt wie die Frage der Amish-People in den USA, ob ihre Pferdefuhrwerke mit aufgepumpten Gummireifen fahren dürfen.
Wie hat die römisch-katholische Kirche reagiert? Ein Jahr später folgte ein schlimmer Skandal. Es zeigt sich nämlich, dass die katholische Kirchenleitung diesen Konsens entweder nicht richtig verstanden hat oder nicht verstehen wollte. Rom interessieren nämlich keine Gnaden- oder Heils-, sondern Amts- und Strukturfragen. Die Erklärung von 1999 war ja schon sehr vorsichtig formuliert. Ein Jahr später erklärt sich diese Vorsicht. Im August 2000 erklärte Joseph Ratzinger, damals nach Papst Johannes Paul II. im Vatikan die wichtigste Figur, die evangelischen Kirchen seien „nicht Kirchen im eigentlichen Sinne“, sprich überhaupt keine Kirchen, höchstens „kirchliche Gemeinschaften“ (Nr. 17).
„Die kirchlichen Gemeinschaften hingegen, die den gültigen Episkopat und die ursprüngliche und vollständige Wirklichkeit des eucharistischen Mysteriums nicht bewahrt haben, sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn; die in diesen Gemeinschaften Getauften sind aber durch die Taufe Christus eingegliedert und stehen deshalb in einer gewissen, wenn auch nicht vollkommenen Gemeinschaft mit der Kirche. Die Taufe zielt nämlich hin auf die volle Entfaltung des Lebens in Christus durch das vollständige Bekenntnis des Glaubens, die Eucharistie und die volle Gemeinschaft in der Kirche.“
Die evangelischen Kirchen haben auf diesen Affront gelassen reagiert. Denn zu Recht sagen sie: Was interessiert uns die römische Spezialposition. Erstens nehmen uns die katholischen Mitchristen vor Ort sehr ernst. Sie feiern mit uns Gottesdienst und arbeiten mit uns bei sozial wichtigen Projekten zusammen. Zweitens folgen wir der Position der Paulus im Neuen Testament. Dieser zweite Aspekt ist sehr wichtig, denn in der Reformation passierte ja etwas, was der Situation von Paulus sehr vergleichbar (und überdies sehr menschlich) ist.
Als Kind oder als Staatsbürger beginne ich ja immer mit einer vorkritischen Situation; ich vergleiche sie mit der katholischen: Sie lautet, das gib es Autoritäten und Institutionen, die Eltern und ein Gesetz. Du tust gut daran, diese Autoritäten zu akzeptieren, denn so ist die Welt mal eingerichtet. Auch Du kannst ohne Ordnungsstrukturen nicht existieren. Dann erst folgt ein kritisches Stadium: Ich bin kein Kind mehr und fange an, Zusammenhänge selbst zu beurteilen. Ich sage nicht: alles Unsinn. Davon bin ich weit entfernt. Aber ich finde bestimmte Verhältnisse sinnlos, zu tiefst ungerecht. Dann fange ich an, nach der Legitimität und den Gründen der gegenwärtigen Zustände zu fragen. Ich will einiges ändern.
Paulus sah Änderungsbedarf in seiner Zeit. Das hochkomplizierte und – für „Ausländer“ – schwer zu verstehende „Gesetz“ der jüdischen Tradition führte ihn zur Frage: worauf kommt’s im Kern des Glaubens eigentlich an? Seine Antwort: es geht nicht um Leistung, sondern um Vertrauen. Bald darauf sehr er sich mit einer uns vertrauten Frage konfrontiert. Er wollte keine Kirchenspaltung, wie Paulus auch keine Trennung vom Judentum wollte. Aber angesichts der haarsträubenden römischen Zustände in seiner Zeit (Fiskalisierung der Heilsfrage, Ablasshandel u.ä.) fragte er sich: Worauf kommt’s im christlichen Glauben eigentlich an? Seine Antwort lautete: nicht auf die Ämter, auch nicht auf die tollen Rituale, erst recht nicht auf den Handel mit der Höllenangst der Leute. Es kommt einzig und allein darauf an, dass wir auf Gott vorbehaltlos vertrauen. Und dieses Gottvertrauen bricht im Konfliktfall alle kirchlichen Regelungen. Da wird für ihn der Papst, dessen Amt er durchaus anerkennt, notfalls zum Antichrist.
Diese Botschaft ist bis heute wichtig. Sie ist wichtig, und sie wird wichtig bleiben, auch wenn sich unser Gottesbild radikal ändern wird. Ich erwarte auch von den evangelischen Kirchen heute, dass sie dieses „ja – aber“, dieses ceterum censeo gegenüber der katholischen Kirche immer wieder einbringen. Solange die katholische Kirche das nicht akzeptiert und solange sie nicht bereit ist, darauf konstruktiv zu reagieren, hat sie die Reformation, allen historischen Studien zum Trotz, nicht verstanden. Der Konsens von Augsburg wurde zwar unterschrieben, verstanden hat ihn die katholische Kirchenleitung aber nicht.
2.2 Das römisch-katholische Unverständnis
Ich spreche von Verweigerung, weil die offizielle römisch-katholische Kirche der reformatorischen Frage immer wieder ausgewichen ist und sich ihr bis heute verweigert. Vielleicht war sie auch unfähig, sie überhaupt zu verstehen. Sie blieb eben immer in einem vorkritischen Stadium ihre Kirchenbildes hängen, da sie das Bestehende, das Entwickelte, die Tradition als Geschenk angesehen hat. Sie hatte immer Angst, mit den Riten und den Formalien würde das Wesentliche vernachlässigt, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Das ist der Hintergrund der Blockaden, mit denen wir noch heute kämpfen:
– offiziell hält sich die katholische Kirche immer noch für die einzig wahre Kirche,
– offiziell behauptet sie noch immer, die Hierarchie von Priestern, Bischöfen und Papst halte die von Christus geschenkten „Gnadenmittel“ in den Händen,
– offiziell hängt von Priestern und Bischöfen immer noch die Gültigkeit der Eucharistie ab, und
– offiziell beanspruchen Bischofskollegium und Papst immer noch die Fähigkeit und das Recht in Glaubensangelegenheiten unfehlbare Entscheidungen zu treffen, als „Dogmen“ festzustellen.
Wenn also reformatorische Fragen gestellt werden, reagiert man nicht positiv, indem man die Frage in sich bedenkt, sondern man stellt die Frage, was dies denn für das eigene Glaubensgebäude bedeutet. Insofern ist die Aura der Unfehlbarkeit immer noch von fundamentaler Bedeutung.
Die Verständigung kommt also nicht zustande, denn die Glaubensmodelle, das katholische und das evangelische, verhalten sich nicht wie ja und nein. Sie sind asymmetrisch. Sie verhalten sich wie der Lehrer, der zu Klasse sagt: ‚ihr könnt doch nicht einfach Schule und Lehrerberuf abschaffen’ (das rufen die katholischen Bischöfe), und die Schüler, die antworten: ‚aber Dein Unterricht ist miserabel’. Wenn die Katholische Kirche die Fragen der Reformationen endlich ernstnehmen will, dann muss sie konkret die protestantischen Fragen beantworten: ist Deine Lehre von Maria wirklich begründet? Wir kannst Du beweisen, dass die Lehre von der Transsubstantiation sinnvoll ist oder gar stimmt? Seit wann wird behauptet, dass der Papst unfehlbar ist?
Das zweite Vatikanische Konzil blieb zwar ein durch und durch katholisches Konzil, aber es hat wenigstens Fragen erlaubt und zur inneren Reform ermuntert, wenn auch in kompromissreichen Texten. Kompromisse bergen aber immer die Gefahr in sich, dass sie falsch interpretiert werden.
Ein schlagendes Beispiel steht in der Kirchenkonstitution (Nr. 8). Dort wird zunächst lange ausgeführt, dass man die Kirche nicht in einfache Worte fassen oder mit einer einzigen Institution identifizieren kann. Dennoch werden für ihre Existenz eindeutige Kriterien aufgezählt. Sie ist z.B.
– hierarchisch organisiert, aber auch ein geheimnisvoller Leib,
– eine sichtbare Versammlung, aber auch eine geistliche Gemeinschaft,
– irdisch, aber mit himmlischen Gaben beschenkt,
– alles in allem eine „komplexe“ Wirklichkeit aus menschlichen und göttlichen Elementen,
– göttlich und gesellschaftlich zugleich.
Nach einem Zwischeneinschub kommt dann der – für Insider – berühmte Satz:
„Die Kirche, in dieser Welt und Gesellschaft verfasst und geordnet, ist verwirklicht [subsistiert, existiert] in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente des Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Kirche hindrängen“
Entscheidend ist also der Satz, die Kirche Christi existiert in der katholischen Kirche. Die konservativen Konzilsteilnehmer waren zufrieden, denn da stand doch, was sie schon immer meinten (und was Papst Benedikt noch immer glaubt). Halt, rufen zurecht die Reformer: ausdrücklich und nach langer Diskussion wird gerade nicht da, dass die Kirche Christi allein in der katholischen Kirche existiert. Genau das ist aber der springende Punkt. Joseph Ratzinger führte im Jahr 2000 deshalb ein weiteres Argument ein. Er sagte: Kirche kann nur dort sein, wo es auch die Sakramente, insbesondere die Eucharistie gibt. Und jetzt plötzlich wird klar: aus dem Schatz des katholischen Glaubens ein anderes Stützargument auf, das für die Erneuerer fragwürdig, die Bewahrer jedoch selbstverständlich ist. Was sich den ersten also als Verweigerung, geradezu als Beleidigung anderer Kirchen erschließt, ist für die harten Reaktionärkatholiken nur die Konsequenz aus einem anderen Argument, dass die evangelische Kirche ja schon lange vergessen habe.
So streitet man in offiziellen Gremien weiter und die Frage ist, wer da eigentlich vermitteln kann. Gibt es nicht eine entsprechende Instanz, die von beiden Parteien anerkannt wird?
2.3 Vermittelnde Instanzen
(a) Schrift:
Ich biete drei vermittelnde Instanzen an. Die erste ist eigentlich selbstverständlich, die zweite wird immer wichtiger.
Die erste lautet: die Heilige Schrift, insbesondere das Neue Testament. Wie wir wissen, hat Luther ganz auf sie gesetzt und sich – notfalls gegen die kirchliche Lehre – auf sie berufen. Für ihn ist sie der Schiedsrichter, als alles scheidende Schwert. Davon hat das Konzil gelernt. Gemäß der Offenbarungskonstitution muss diese Schrift zur Seele der Theologie werden.
Doch dieses Argument wird von Theologen wie Benedikt XVI. und Kardinal Kasper elegant und asymmetrisch unterlaufen. Auch für sie gilt die Schrift als erste Instanz, aber mit scheinhermeneutischen Überlegungen fügen sie hinzu: Auch die Schrift verlangt eine Auslegung, sie sei in der Tradition der Kirche zu suchen. So bleibt eine Dauerdiskussion, denn für diesen konservativen Katholizismus fungiert eben die offizielle katholische Lehre als oberste Instanz. Also führt die Diskussion keinen Schritt weiter.
(b) Volk Gottes:
Die zweite Instanz, die immer nachdrücklicher ins Spiel kam, lautet: Letzte ernstzunehmende Instanz ist das allgemeine Glaubensbewusstsein, das die Praxis des Glaubens einschließt. Man kann sie auch „Volk Gottes“, „Kirche von unten“ oder die „Glaubenspraxis der Gemeinden“ nennen.
Diesem kritischen Ansatz steht aber nach wie vor eine weitverbreitete hierarchische Mentalität gegenüber. In ihr wird die „Kirche“ unreflektiert mit der Kirchenleitung identifiziert. Man hört „die katholische Kirche“ und denkt: Bischof, Bischöfe oder Papst. Dafür gibt es viele Gründe. Der Papst und Bischöfe sind oft in den Weltmedien präsent und wie selbstverständlich geben sie sich als „Kirche“ aus. Die katholische Gesamtkirche kann diesem Sog aber nicht widerstehen, denn sie ist polarisiert. Die kräftige und argumentationsstarke Opposition kann und will kein Monopol beanspruchen. Zudem beruft sich auch eine konservative Theologie regelmäßig auf die Schrift und Ähnliches gilt für den Heiligen Geist. Zwar wissen wir alle, dass wir im Geiste getauft sind, denn verorten wir ihn vor allem in der Lehre und im Handeln der Hierarchie.
In den Kirchen (der katholischen wie in den evangelischen) herrscht noch immer eine Mentalität aus feudalen Zeiten, in denen der Adel oder titelgeschmückte Akademiker die Stimmführerschaft inne hatten.
(c) Mensch und Menschlichkeit:
Die säkulare Frage nach Mensch und Menschlichkeit bietet sich als dritte vermittelnde Instanz an und damit kommen wir auf das Phänomen der Säkularisierung zurück. Dabei zeigt sich schon lange, dass Christen und Nichtchristen sehr gut miteinander ins Gespräch kommen können. Denn auch jede Religion und jede Religiosität, die diesen Namen verdienen, lassen sich gerne an ihren zutiefst humanen Impulsen messen. Es ist die Frage nach unserem Menschsein, die uns in unseren Gesellschaften, Kulturen und globalen Kommunikationen letztlich verbindet.
Auf dieser Ebene haben unsere Kirchen ihre Wortführerschaft schon lange drangeben müssen. Auch der global player Katholische Kirche kann Diskussionen und Entwicklungen nur noch bedingt steuern. Früher oder später wird auch in ihr der Durchbruch zu einem echten, human gesteuerten Gespräch erreicht.
Das ist auch gut so, denn dieses Weltgespräch ersetzt jetzt schon auf vielen Ebenen die Definitionsmacht der Religionen. Insbesondere die Kirchen des nordatlantischen Raums befinden sich heute in einer außerordentlich kritischen Situation, vor der unsere ökumenischen Probleme verblassen. Die kirchlichen Traditionen, die Kenntnis der Schrift, die Kenntnis des allgemeinen christlichen Glaubensguts – von der Schöpfungsidee über die Frage nach Jesus Christus, bis hin zur Frage nach dem Ende von Leben und Welt – schwindet dramatisch. Im katholischen Raum bricht die klassische Seelsorge ohnehin zusammen, weil es keinen Priesternachwuchs mehr gibt. In jedem Fall der Augenblick gekommen, an dem die Gläubigen selbst, die Gemeindemitglieder die Fackel in die Hand nehmen und auf ihre Weise weitertragen. Das ist keine speziell katholische und keine speziell evangelische, sondern eine gemeinsame ökumenische und interreligiöse, gesamtmenschliche Aufgabe. Viele Christen machen zwischen den beiden Konfessionen ohnehin keinen Unterschied mehr. In den vergangenen Monaten traten wegen der katholischen Missbrauchsfälle etliche Protestanten aus ihrer Kirche aus. Und unsere Medien interessieren sich kaum noch, für christliche Binnenprobleme. Interessant hingegen ist die Frage geworden, was die Religionen zu Gewalt und Gewaltvermeidung beitragen. Vor diesem Hintergrund gebührt der Stimme der Ökumene große Bescheidenheit. Offensichtlich hat sich ihre Zeit erschöpft.
3. Ökumene nach außen: Religionen und säkulare Welt
Ich habe schon darauf hingewiesen: die Säkularisierung unsere Gesellschaft hat Kirchen und Christentum zutiefst verändert und die Veränderungen verliefen so unterschwellig, dass wir es kaum bemerkten. Meistens nahmen wir nur die negativen Signale wahr. Der Kirchenbesuch nimmt ständig ab, die Zahl der Kirchenmitglieder schwindet, Christen werden in der Öffentlichkeit immer weniger gehört. Die Wiedervereinigung von BDR der der ehemaligen DDR (1989) zwang uns zu einem ernüchterten Blick auf die inneren Verhältnisse der „östlichen Ländern“. Auch die wichtige Rolle der Kirchen in der ehemaligen DDR bei der Überwindung des kommunistischen Regimes half da nicht weiter. Diese Prozesse der Entkirchlichung verlangen von uns eine neue Haltung.
3.1. Eine neue Haltung
Ich deute die Erfordernisse dieser neuen Haltung nur kurz an. Vergessen wir nicht: Im gesamtwestlichen Diskurs sind wir Christen sind inzwischen eine Minderheit. Deshalb müssen wir inzwischen offen und geduldig argumentieren; wir haben keine Definitionskompetenz mehr. Innerchristlich und innerkirchliche stehen wir vor der Alternative: Lassen wir uns in eine Sektenmentalität mit ihren fundamentalistischen Verführungen drängen oder lernen wir es, gut „post-modern“ unsere Ideen und Vorschläge auf gleicher Augenhöhe mit Andersdenkenden einzubringen: in Fragen des Weltfriedens, der sozialen Gestaltung unserer Gesellschaft, des Umgang mit Alten, Kranken, Benachteiligten, von Ausländern und Asylsuchenden. Es sind in erster Linie die sozialen, die karitativen, die diakonischen Aufgaben, in denen Christen mit anderen Gruppierungen zusammenarbeiten könnten.
Vor diesem Hintergrund müssen sich auch die Sprache, viele Lieder und Riten unserer Gottesdienste ändern. Ich spreche hier als Katholik: wir haben wunderbare, durch die Jahrhunderte erprobte Gottesdienstformen. Wir sollten sie nicht einfach abschaffen. Aber sorgsam müssen auch sie umgestaltet werden. Vor allem bedürfen sie der Ergänzung durch Jugendgottesdienste, durch „Events“, die der Situation einer Großstadt oder außerordentlichen Ereignisse angepasst sind; denken wir an den Tod von Lady Di, von Johannes Paul II., an die Trauer der letzten Tage in Duisburg. Gewiss, es gibt genügend kreative Seelsorgerinnen und Seelsorger, die an solchen Augenblicken zur Stelle sind. Aber genau genommen haben solche Ereignisse immer einen zweiten Rang.
Insgesamt lässt es sich nicht vermeiden, dass zumal wir die offiziell gezogenen Grenzen konsequenter durchbrechen und überschreiten. Es ist ein Unding, wenn eine einzige Weltzentrale die Gottesdienstformen und Gottesdiensttexte der ganzen Welt steuern und regulieren will. Wer in Erinnerung an Jesu Tod und Auferstehung Jesu in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten das Brot bricht und den Kelch mit andern teilt, ruft Jesus und keine römische Liturgiekongregation in seine Mitte. Dagegen sollte auch kein römischer Erlass etwas ausrichten. Dies alles sind keine Aufrufe von wildgewordenen Reformern, sondern ernste Appelle an unsere Glaubwürdigkeit vor dem Forum von Gesellschaft und Welt.
3.2 Neues Interesse an Religion
Zu den bizarrsten und verständlichsten Reaktionen einer säkularisierten Gesellschaft gehört es, dass sie sich neu und unbefangen für Religion interessiert. Gewiss, mancher Beitrag der Journalistik wirkt naiv; er zu sehr auf Sensation getrimmt. Dennoch sollten wir auf solches Interesse wachsam reagieren. Schon ihre politischen Implikation sind ernst genug und ihre Bedeutung wird noch zunehmen.
Dabei müssen wir uns jeden belehrenden Gestus abgewöhnen. Nein, wir wissen nicht alles besser und wir wissen nicht im Voraus, was die Fragen unserer Mitmenschen sind. Die Kunst einer christlichen und religiösen Weltökumene besteht in der Kunst, die neuen Fragen der Menschen herauszuhören, ernst zu nehmen, zu besprechen.
Jürgen Habermas hat schon vor einigen Jahren darauf aufmerksam gemacht, dass auch eine säkularisierte Gesellschaft eben nicht alle Fragen beantworten kann. Seine Botschaft: wir, Gläubige und alle Anderen, wir sitzen in einem Boot. Alle haben im öffentlichen Diskurs ein Rederecht und vielleicht führen religiöse Menschen auch eine Sprache, die eine säkulare Welt bisweilen nötig hat. Habermas nennt dafür die Frage nach Gerechtigkeit, nach den Lücken, die erlittenes Unrecht hinterlässt und nach der Kraft der Vergebung, für die eine formelhafte „Entschuldigung“ nicht ausreicht.
Zugleich sind wir keine Besserwisser zu reagieren, sondern – ebenso wie andere – in Sachen Menschlichkeit, Friedfertigkeit und Versöhnung – immer Lernenden.
3.3. Nichtchristliche Religionen
Ein letzter Punkt ist noch einmal ausdrücklich zu nennen, der die Ökumene nach außen entscheidend verändert hat. Das Vatikanische Konzil hat schon 1965, also vor 45 Jahren, die Existenz und die Bedeutung anderer Religionen thematisiert, für eine vorbehaltlose Religionsfreiheit und das Recht einer freien Religionsausübung plädiert. Es hat unmissverständlich klargemacht: auch andere Religionen sind Trägerinnen von Weisheit, Wahrheit und göttlichem Heil.
Inzwischen wurden diese Perspektiven konkreter denn je. Andere Religionen sind uns auf den Leib gerückt, die abstrakte Toleranz und Freundlichkeit hat sich in die tagtägliche Aufforderung verwandelt, Konflikte auszuhalten und gewaltfrei auszufechten. Ich kenne ökumenische Gruppen – und es gibt sie in Frankfurt – die im Umgang mit Muslimen verschiedenster Herkunft, mit Buddhisten und Hindus, vieles von der Weisheit und Wahrheit dieser Religionen erfuhren.
Der Umgang mit ihnen macht uns auch die kulturellen Grenzen des Christentums deutlich und zeigt uns, wie minimal die innerchristlichen Unterschiede angesichts der interreligiösen Differenzen sind. Wir entdecken die Unterschiede zwischen monotheistischen und anderen Religionen und stellen fest, dass auch diese grundunterschiedlichen Gotteserfahrungen aus einer letzten gemeinsamen Tiefe schöpfen. Am monotheistischen Islam erkennen wir viele unserer eigenen Probleme wieder: die Neigung zur Gewalt, Rechthaberei und die Drohung mit ewiger Verdammnis. Zugleich lernen wir von der unglaublich fruchtbaren Mystik des Islam, die die mystische Kraft des Christentums oft überstiegen hat.
Herausfordernd bleibt unser Gesprächsprofil mit dem Hinduismus, dem Buddhismus, vielleicht mit den chinesischen Weisheitssystemen. Dort geht es um tiefes Verstehen, um die Grenzen des eigenen Verstehens und um deren Überschreitung. Es geht um die Achtsamkeit für alles Leben, eine tiefe Liebe zu und Solidarität mit der gesamten Welt. Es geht um die Kunst, sich ins Nichts fallen zu lassen und Gott nicht schon wieder als letzten Schutzmechanismus zu verrechnen. Die Ehrfurcht vor seiner Größe und Unaussprechlichkeit führt ja dazu, dass der Buddhist Gott und die Ewigkeit als Nirwana eine Art unendlichem Nichts, Unaussprechlichen begreift.
4. Was tun?
Was ist angesichts der Fülle diese neuen Begegnungen, Herausforderungen, Erweiterung unseres Horizonts zu tun?
Erstens:
Wir sollten unser Christentum schlicht und vor allem anderen als Tat begreifen: Was ihr dem Geringsten meine Geschwister getan habt, das habt ihr mir getan. Glaubwürdig wird Christentum durch Solidarität.
Zweitens:
Wir sollten uns (nach dem Beispiel des Weltkirchenrats) in die Fragen der Weltpolitik und Weltwirtschaft, in die Problemen der globalen Verteilung von Armut und Reichtum ein mischen, uns im Interesse der Ausgegrenzten engagieren. Wenn Christentum etwas bedeuten soll, muss es endlich glaubwürdig mitkämpfen für ein menschliches Antlitz der Welt. Ich halte wenig vom Argument: Alles Unglück, alle Gewalt, alle Verarmung der Menschheit gehe von den christlichen Kulturen aus; die Verhältnisse sind unendlich komplizierter. Aber ich kenne auch zu viele, dies sich Christen nennen und an der wachsenden Ungleichheit unter den Nationen mitwirken. An diesem Punkt muss wahre Ökumene ansetzen. Die Zeit der Nabelschau und der Selbstbeweihräucherung ist vorbei.
Hans Küng hat dieses Problem vor Jahren erkannt. Seine intensiven weltweiten Studien über Weltreligionen gingen geradezu organisch in den Aufbau des „Projekt Weltethos“ über. Er seinem Interessen an Christentum und Weltreligionen nicht den Abschied gegeben, aber erkannt, dass sie alle aus einer zutiefst säkularen und humanen Intention leben. Genau aus diesem Grund will er dieses Weltprojekt als säkular verstanden wissen.
(Vortrag am 02.08. 2010)